Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

ENTSEELT - DAS SEELENBUCH

Text © Celine Trotzek, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Tina Köpke

Lektorat & Korrektorat: Sandra Florean, Enrico Frehse

Satz & Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken: © Shutterstock
eBook: Grittany Design

(eBook) ISBN 978-3-96443-748-8

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Als wir uns auf den Weg machten, reichte sie Keegan ihre Telefonnummer und bat ihn, sie doch mal anzurufen.

Er versprach, es zu tun.

Für meinen Bruder konnte ich nur hoffen, dass sie es ernst meinte. Denn bei ihr wusste man nie und seine erste Erfahrung mit Frauen sollte ihm nicht sein Herz brechen. Dafür trug er schon genug Last mit sich herum.

Wieder im Camp angekommen schnappte ich mir meine Tasche und kam bis zum Eingang, als auch schon Kaydens Vater vor uns auftauchte. Sein Blick war auf mich geheftet, weswegen es deutlich war, dass es um mich ging.

»Wir sollten uns unterhalten«, sagte er und wartete wohl auf eine Antwort.

»Öhm … Okay. Wann?«

»Jetzt.«

Ich drehte mich zum Parkplatz um, wo Kayden noch immer am Kofferraum stand und nach irgendetwas suchte.

Er drehte sich um und ging vor. Als Keegan und ich ihm folgten, fuhr er herum und sah Keegan an.

»Alleine.«

Keegan blieb stehen. »Ich werde dann mal auf Kayden warten. Wir sehen uns später.«

Ich nickte und machte mich daran, Kaydens Vater zu folgen. Er ging geradewegs ins Hauptgebäude und von dort aus in eins der Büros mit der Aufschrift Mr. Torres´ Büro. Hinter mir schloss er die Tür.

»Sie sollten sich setzen. Es könnte ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.«

Der Raum war von Bücherregalen ausgenutzt. Am Ende des Raumes stand ein großer Eichentisch und auf beiden Seiten stand jeweils ein Stuhl. Dahinter war eine Fensterwand, die mitten auf eine Wiese zeigte. Es roch nach Kiefernadeln, ich konnte den Erzeuger jedoch nicht ausfindig machen. Hinter dem großen Tisch ließ ich mich nieder und wartete, dass er es mir gleichtat.

Aber er blieb vor der Fensterfront stehen. »Sie machen mir eine Menge Arbeit, Kira. Sie bringen den Plan vollkommen durcheinander.«

»Es war nicht meine Absicht, Ihnen so im Weg zu stehen.«

»Warum tun Sie es dann?«

»Warum ist es Ihnen nicht egal?«

Er stützte sich am Tisch ab. »Sie sollten mir zuerst antworten. Vorher werde ich Ihnen keine Antwort auf Ihre Fragen geben.«

»Ihr Sohn möchte nicht mit April zusammen sein. Und ich möchte nicht, dass er es ist. Ganz einfach.«

»So einfach ist das nicht. Es gibt keinen Grund, warum Sie etwas gegen die Beziehung zwischen meinem Sohn und April haben sollten. Außer Sie sind eine Schwindlerin und nicht seelenlos.«

Er unterstellt mir einen Betrug? Nein, er sucht nur nach Antworten. Er sorgt für Kaydens Zukunft, dafür, dass seine Blutlinie weiter bestehen bleibt und dann komme ich und mache alles kaputt. Er möchte nichts weiter als wissen, wieso sich Kayden für dich entschieden hat und warum du dich für ihn entscheiden musstest.

Kaydens Vater war ihm ähnlicher, als man denken konnte. Beide hatten dieselben Gesichtszüge. Besonders, wenn sie etwas zu begreifen versuchten.

»Ich bin keine Betrügerin. Aber ich kann Ihnen auch keine Antwort auf Ihre Frage geben.«

Mr. Torres schloss die Augen. »Seien Sie sich bewusst, dass mein Sohn April heiraten wird. Daran wird sich nichts ändern. Wir Seelenlosen mögen nicht aus Liebe heiraten, aber auch wir benötigen eine sichere Zukunft. Bei Ihnen wird mein Sohn sie nicht erhalten. Bei April schon.«

Also würde er niemals hinter uns stehen. Ich musste wirklich damit rechnen, dass das zwischen Kayden und mir nur kurzzeitig war. Bereits jetzt ein Enddatum hatte. Wir hatten höchstens noch zwei Jahre miteinander.

Eine verdammt kurze Zeit …

»Ich werde jetzt gehen.« Dieses Gespräch war meiner Meinung nach beendet.

Er nickte lediglich und kehrte mir dann den Rücken zu. Ich stand auf und verließ den Raum, um an der nächsten Wand stehenzubleiben und meinen Kopf dagegen zu lehnen.

Kayden wird eine andere heiraten … Wie willst du mit dem Gedanken, zwei Jahre lang mit ihm zusammen zu sein, leben?

Für mich kam nicht infrage, dass ich ihn verließ. Ich konnte aber auch nicht dabei zusehen, wie er eine andere zur Frau nahm. Verzweiflung übermannte mich, die mir ein paar Tränen entlockte, bis ich vor Schmerz bebte. Es gab nur einen Weg, wie ich Kayden nicht verlieren würde. Dieser Weg würde ihm das vertraute Umfeld nehmen, sein jetziges Leben. Es wäre nicht fair.

Nichts im Leben ist fair. Warum also nicht einmal egoistisch sein?

Es war an der Zeit, dass ich für mein Leben kämpfte. Kayden war das Einzige, was mir wirklich etwas bedeutete. Das konnte ich unmöglich aufgeben. Ich war mir sicher, dass es ihm ähnlich erging.

Und das mit April? Er hatte es sicher verdrängt. Er würde es weiter verdrängen, bis es irgendwann über ihn hereinbrechen würde. Nur dann würde es zu spät sein.

Nein. Wir mussten uns jetzt entscheiden, welchen Weg wir gehen wollten. Wenn er es genauso sah wie ich, dann würden wir nach dieser Mission abhauen. Irgendwohin gehen, wo sie uns nicht finden konnten. Uns ein eigenes Leben aufbauen, in dem wir normal sein konnten.

Ich verließ das Hauptgebäude und kehrte zur Hütte zurück. Es gab Wichtigeres zu tun, als wie ein kleines Mädchen zu flennen. Kaydens Zukunft, unsere Zukunft, lag nämlich nicht in den Händen seines Vaters.

Als ich am See vorbeikam, stellte sich mir ein brünettes Mädchen in den Weg. Sie zog ihre Brauen hoch und musterte mich von unten bis oben.

»Sieh mal einer an, wer wieder da ist«, sagte April.

Die hatte mir gerade noch gefehlt. »Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für dich, April. Ich habe wichtigere Dinge zu erledigen.«

»Wichtigere Dinge als ein für alle Mal zu klären, wer sich von uns beiden zurückziehen sollte?«

»Ich dachte schon, du sagst, den Schwanz einziehen.«

Sie packte meinen Arm. »Mir kannst du nichts vormachen. Du hast irgendetwas mit Kayden gemacht, was ihn verändert hat. Aber ich lasse mir nicht meine Zukunft stehlen. Und wenn ich dich dafür aus dem Weg räumen muss.«

»Das hat sie gesagt?«, fragte Kayden.

Ich saß in seiner Hütte auf der Couch. Er saß mir gegenüber und hörte sich an, was eben geschehen war.

Ich nickte. »Kayden, sie wird immer seltsamer. Sie und dein Vater stehen so stark hinter dieser arrangierten Ehe, dass ich es nicht ganz verstehe. Klar, deine Eltern wollen eine gute Zukunft für dich, aber es … na ja …«

»Ich verstehe, was du sagen möchtest. Aber was deutest du an? Dass meine Eltern und auch April gar nicht so unschuldig sind?«

»Keiner von uns ist so unschuldig, wie er tut. Die meisten von uns sind sogar Mörder. Ich bin ein Mörder. Ich möchte ja nicht andeuten, dass deine Eltern Böses im Schilde führen, aber denk doch bitte mal einen Moment darüber nach.«

Ich konnte es mir einfach nicht anders erklären, warum die beiden diese Ehe so sehr wollten, dass sie bereit waren, mir zu drohen. Niemand, der keine Gefühle empfand, handelte so.

»Du tust ihnen unrecht, Kira. Mein Vater und du versteht euch nicht besonders. Das macht alles nicht einfach, doch das gibt dir nicht das Recht, sie schlechter zu machen, als sie sind.«

Ich starrte ihn mit halb geöffnetem Mund an. »Was unterstellst du mir?«

Er fuhr sich durch die Haare und suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Es tut mir leid, das wollte ich gar nicht sagen, aber denkst du nicht, dass du dich zu falschen Behauptungen verleiten lässt?«

»Ich habe deine Mutter noch nie gesehen und dein Vater droht mir, wo er kann. Was denkst du, habe ich für ein Bild von ihnen? Und April, sie würde mich sogar töten, wenn ich nicht von dir ablasse!« Ich war verletzt. Das war ich bereits gewesen, als ich vor zehn Minuten in seine Hütte gekommen war.

»Ich spiele die Dinge doch auch nicht runter, mein Gott! Aber ich versuche nicht, anhand einer falschen Wortwahl und leeren Drohungen einer Person, dieser Dinge zu unterstellen«, erwiderte er aufgebracht.

Ich zuckte zusammen. »Leere Drohungen? Du nimmst sie nicht einmal ernst?«

Er mahlte mit den Kiefern. »April wird niemals so weit gehen.«

»Was macht dich da so sicher?«, fragte ich mit bebender Unterlippe.

»Damit würde sie eine Grenze überschreiten, die selbst sie sich nicht leisten kann. Du bist im Camp sicher.«

Ich schnaubte. »Sie hat mich schon einmal gewürgt. Und sie war so kurz davor, mir mein Leben aus dem Körper zu quetschen.«

»Übertreibst du nicht ein wenig? April hatte sich in diesem Moment einfach nicht unter Kontrolle. Das wird nicht wieder vorkommen.«

»Du widersprichst mir immer nur. Warum siehst du die Sache nicht objektiv?« Ich verlor mit jedem Satz mehr die Kontrolle über meinen jetzt noch zitternden Körper.

Er seufzte. »Kira, ich sehe es objektiv. Ich finde keinerlei Hinweise darauf, dass meine Eltern zu der bösen Seite übergewechselt sind oder April dich tatsächlich umbringen möchte.«

Ich drehte den Kopf zur Seite, damit er meine Tränen nicht sehen konnte. Aber er hatte sie anscheinend gesehen, denn er überwand die wenigen Schritte zwischen uns und zog mich an sich, damit er seine Arme um mich legen konnte. Seine Hand strich beruhigend über meinen Rücken.

»Ich hab das alles doch nicht so gemeint. Natürlich möchte ich nicht, dass dir etwas geschieht. Aber du musst verstehen, dass du über meine Eltern sprichst. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie das nicht tun würden. Auch, wenn sie nicht so liebevoll mit dir umgehen mögen, würden sie dir niemals den Tod wünschen«, erklärte er leise und küsste mich auf den Kopf.

»Ich habe Angst, Kayden. Was ist, wenn sie uns doch auseinanderbringen?«, gestand ich schluchzend.

Er drückte mich noch fester an sich. »Das können sie nicht, solange ich es nicht zulasse.«

So standen wir Arm in Arm da. Ich weinte und ließ zu, dass er mich tröstete. Es tat allein schon gut, von ihm gehalten zu werden.

»Eine Zukunft mit April ist Geschichte. Existierte nur in einem Leben vor dir. Bevor du meine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt hast«, sagte er.

Seine Worte berührten mich. Sie schenkten mir wenigstens ein bisschen Trost. Irgendwann stützte er das Kinn leicht auf meinem Kopf ab. Seine Wärme kroch in meinen Körper über und hinterließ eine angenehme Gänsehaut.

Die Tür öffnete sich. Kylie trat herein, begrüßte mich und nickte Kayden zu. Kayden löste sich von mir. Kylie kam sofort zu uns und setzte sich auf die Couch. Kayden nahm meine Hand und zog mich ebenfalls zu seiner Schwester. Wir ließen uns ihr gegenüber nieder.

»Ich habe mit Mum gesprochen. Sie ist bereit, mit Kira zu sprechen, aber nur, wenn sie es alleine tun darf. Ohne dich«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, ob das gerade ratsam wäre …«, erwiderte Kayden.

»Warum soll ich mit eurer Mutter sprechen?«, wollte ich wissen.

»Wenn du Mum überzeugen kannst, dann wird sich die Sache mit Dad auch beruhigen«, erklärte sie.

»Das klingt doch gut«, erwiderte ich verwirrt darüber, dass Kayden es für nicht ratsam hielt. »Oder glaubst du, dass es nichts bringt?«, fragte ich ihn daher.

»An Vater heranzukommen, ist nie leicht. Er ist von Natur aus skeptisch und an Gewohnheiten angepasst. Da ist Mutter leichter zu erreichen. Aus diesem Grund habe ich mir überlegt, dass du mit ihr sprechen solltest. Aber nach dem Gespräch mit Vater …«

»Frag nach, wann es ihr passt«, beschloss ich an Kylie gewandt.

Das Gespräch mit Kaydens Mutter stand erst am nächsten Tag an. Daher verbrachten Kayden und ich den restlichen Tag damit, in der Bibliothek nach weiteren Anhaltspunkten zu suchen. Jedoch fanden wir in den Büchern nichts, was uns weiterbrachte, weshalb wir uns in die Hütte zurückbegaben und beschlossen, auf Keegan zu warten. Vielleicht hatte er mehr Erfolg gehabt.

Wir saßen gerade eingekuschelt auf der Couch und knabberten Chips und Schokolade, als er hinzukam. »Während ich Forschungen anstelle, sitzt ihr gemeinsam auf der Couch und schmust?«

Ich hatte mir gerade ein Stück Schokolade in den Mund gestopft und sprach daher etwas undeutlich. »Schmuffen? Wir schmuffen nischt. Wir eschen.«

Keegan hob seine Brauen. »Ihr entspannt, während ich arbeite.«

»Beruhige dich und pflanz deinen Hintern auf die Couch, statt uns Vorwürfe machen zu wollen«, mischte sich Kayden ein.

»Geschnau!«

Keegen grinste mich an. »Du klingst wie ein Kleinkind, das die Wörter nicht richtig aussprechen kann.«

»Wasch?«

Statt mir zu antworten nahm er sich ein paar Chips. »Ich habe übrigens etwas Interessantes in der Bibliothek herausgefunden.«

Wir horchten auf. »Und das wäre?«

»Wie es aussieht, suchen unsere Vorfahren schon sehr lange nach einer Lösung. Einige vermuteten, dass wir uns eine gewisse Anzahl von Seelen einverleiben müssen, um uns selbst eine zusammenzustellen«, erzählte Keegan

»Das hast du ja widerlegt«, murmelte ich, nachdem ich das Stück Schokolade heruntergeschluckt hatte.

»Eine weitere Vermutung liegt darin, dass wir uns die Seele wieder verdienen müssen. Also mit Nächstenliebe und so. Wir müssen den Alphas beweisen, dass wir besser sind, als unsere Vorfahren es waren.«

»Schwachsinn. Weiter«, sagte Kayden.

»Die dritte und letzte Behauptung liegt darin, dass unsere Seelen einem extra dafür erschaffenen Menschen gegeben wurde. Dieser Mensch würde unsere Seele verwahren, bis wir sie uns wiederholen. Daran glauben auch die Ausgestoßenen. Aber darüber, wie man an die Seele kommt, gibt es auch wiederum nur sehr wenige Denkansätze, die wieder alle ins Nichts führen.« Er zuckte mit den Schultern.

»Also ist deine interessante Information, dass die Ausgestoßenen mit ihrer Vermutung recht haben, es aber keine Anleitung gibt, wie wir sie ausführen können?«, fasste Kayden zusammen.

Keegan sah ihn böse an. »Wenigstens habe ich etwas getan. Und du?«

Kayden verdrehte die Augen. »Ich auch. Unter anderem habe ich herausgefunden, dass mein Vater nach etwas sucht, was eine Anleitung sein könnte. Er hat mit seinem Vertrauten darüber gesprochen.«

Ich drehte den Kopf in seine Richtung. »Um was geht es?«

»Um eine Art Karte. Er ist der Ansicht, dass sie einem den Weg zu den Seelen weisen kann. Ich weiß nicht, wie viel er darüber weiß, aber er wirkte überzeugt.«

»Dein Vater sucht nach einem Weg, die Seelen der Seelenlosen zurückzubekommen?«, sprach Keegan die Frage aus, die auch in meinem Kopf herumschwirrte.

Kayden schnaubte. »Das klingt wie ein Vorwurf. Er möchte deinen Leuten zuvorkommen, damit sie ihren Plan nicht durchsetzen können.«

Wir unterstützten die falsche Seite. Kayden arbeitete gegen seinen eigenen Vater. Seltsamer Gedanke.

»Denkt ihr, dass uns die Karte weiterhelfen könnte?«, änderte ich den Fokus des Gesprächs.

Keegan nickte. »Wenn sie existiert, dann könnte sie ihren Zweck erfüllen.«

»Dann hoffen wir doch mal, dass sie existiert und wir sie finden.«

Keegan stimmte zu, aber Kayden blieb stumm. Er sah an die gegenüberliegende Wand und dachte angestrengt nach. Als ich ihn anstupste, reagierte er nur mit einem Kopfschütteln.

Er wollte nicht darüber sprechen und ich räumte ihm diesen Freiraum ein, verabschiedete mich und ging zurück zu Laceys und meiner Hütte. Sie war gerade dabei, eine Pizza anzustarren, die im Ofen vor sich hinvegetierte und verkohlt roch.

»Nicht meine Beste«, sagte sie.

Ich stimmte ihr zu. »Wir machen dir wohl lieber etwas anderes. Toast?«

»Ja.« Sie machte den Ofen aus und holte das schwarze Etwas heraus.

Unterdessen öffnete ich das Fenster und legte das Toastbrot, Käse und Wurst auf den Tisch. Lacey holte Gläser und Orangensaft.

»Wie lief das Gespräch mit Kaydens Vater?«, begann sie die Unterhaltung.

»Woher weißt du davon?«

»Keegan war vorhin hier und fragte, ob du bereits zurückgekommen wärst.«

Ich stellte mir Keegan vor, wie er an die Tür klopfte und Lacey versuchte auszufragen, ohne zu viel zu verraten, es dadurch aber erst recht tat. Manchmal war er etwas unbeholfen.

Ich erklärte ihr die Situation.

Lacey legte eine Scheibe Salami auf ihr Toast. »Klingt ziemlich ernst. Hast du das gemeldet?«

»Ja, Kayden. Aber er sieht die Gefahr nicht. Er meint, dass April niemals so weit gehen würde.«

Lacey sah mich vielsagend an. »Du solltest das auch nicht ausgerechnet bei dem Kerl erzählen, mit dem du was hast. Geh zu der Schulleitung.«

»Seinem Vater?«

»Oder seiner Mutter. Du kannst aber auch zu den Vertrauenslehrern gehen, wenn du dir davon mehr versprichst.«

Ich überlegte.

Kaydens Vater wollte, dass April an meiner Stelle mit Kayden zusammen war. Aber er dürfte eigentlich nicht so weit gehen, dass er eine Morddrohung mir gegenüber tolerierte. Trotzdem sollte ich lieber nicht zu ihm. Vielleicht sah er die Gefahr ebenfalls nicht.

»Ich habe morgen ein Gespräch mit seiner Mutter. Ich spreche es wohl da an. Mit ihr habe ich wenigstens keine Vorgeschichte.«

Laceys Blick ruhte auf mir, als ich dies erwähnte. »Du sprichst mit seiner Mutter?«

Nickend kaute ich an meinem Toast.

Sie räusperte sich. »Viel Glück. Ich habe sie selten gesehen, aber es könnte sein, dass sie mit Kaydens Vater spricht und sich daher schon eine Meinung über dich gebildet hat.«

»Das ist mir egal, solange wenigstens sie nicht gegen Kayden und mich ist.«

»Das widerspricht sich, Kira.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie sind nur seine Eltern. Letztendlich haben sie keine Macht über uns.«

»Sie können es einen aber unnötig schwer machen. Oder Kayden zum Zweifeln bringen. Mal davon abgesehen, dass sie seine Eltern sind. Sie haben ihn großgezogen und mit so jemanden bricht man doch nicht so einfach.«

»Weil sie es nicht verdient hätten … Es wäre falsch …«

Sie stimmte mir zu.

»Das muss aber nicht zwangsläufig dazu führen, dass sie ihn so sehr beeinflussen. Es war seine Entscheidung, April abzuservieren, damit er mit mir zusammen sein kann. Er hat sich da schon gegen seine Eltern gestellt und deren Konsequenzen in Kauf genommen«, redete ich weiter, mehr um mich selbst zu beruhigen.

»Jugendlicher Leichtsinn«, murmelte Lacey.

Wortlos ließ ich mein Toast auf den Teller fallen und nahm den Teller. Ich sah Lacey nicht an, als ich die Treppe hinaufging, um in meinem Zimmer weiter zu essen. Sie rief mir etwas hinterher, doch ihre Worte hatten mich zu sehr getroffen.

Jugendlicher Leichtsinn …

In ihren Augen war das zwischen Kayden und mir dumm und nur von kurzer Dauer. Es würde zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Sie konnte nicht wissen, dass ich davor Angst hatte, aber sie musste mir auch nicht so etwas ins Gesicht sagen.

Ich knallte die Tür unabsichtlich laut zu und ließ mich am Bettende nieder. Den Teller stellte ich neben mir ab.

Lacey kam nur wenige Sekunden später.

»Warum bist du denn jetzt so eingeschnappt?«, fragte sie und blieb in der Tür stehen.

»Denk an deine Worte zurück. Du kommst sicher selbst darauf!«, erwiderte ich zickig.

Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. »Dein Verhalten ist echt kindisch, Kira. Ich spreche nur das Offensichtliche aus und du bist gleich eingeschnappt. Ich habe dir geholfen, seitdem du hier bist, stand immer hinter dir, habe mir die letzten Wochen Gedanken über dich gemacht, als du verschwandest und nun bekomme ich so ein Verhalten als dank? Lern mal, mit deinen Gefühlen klarzukommen. Du bist der Beweis dafür, warum wir alle keine Gefühle haben wollen.«

Ohne auf meine Antwort zu warten, verließ sie mein Zimmer und machte die Tür zu.

Ich fuhr mir durch die Haare. Lacey hatte recht. Mein Verhalten war übertrieben und dumm. Lacey hatte nichts getan als mir die Wahrheit vor Augen zu halten. Hatte ich Kayden nicht selbst einmal gesagt, dass es dumm sei, sich gegen seine Familie zu stellen?

Wie konnte ich Lacey nun einen Vorwurf deswegen machen?

Um nicht weiter die zickige Kira zu sein, die ihre Gefühle nicht im Griff hatte, stand ich auf und ging zu ihr rüber. Sie räumte gerade ihr Zimmer auf.

»Entschuldige. Ich habe mich daneben benommen. Du hast ja recht, aber ich weiß nicht, wie ich … Es tut mir weh, wenn ich nur daran denke, dass in meinem Hinterkopf ein Timer läuft, der das Ende unserer Beziehung vorhersagt.«

Lacey hörte auf aufzuräumen und sah mich an. »Du musst dich nicht entschuldigen. Das hat eh keinen Wert. Aber du solltest lernen, damit umzugehen und deine Gefühle, die für Kayden bestimmt sind, nicht an anderen auszulassen.«

Mir war gar nicht aufgefallen, wie daneben ich mich benommen hatte. Sobald die Gefühle über mich kamen, dachte ich nicht mehr richtig nach. Ich ließ mich von ihnen leiten. Und nicht mehr von meinem Verstand, mit dem ich die vergangenen Jahre deutlich besser klargekommen war.

»Das alles ist echt zu viel für mich. Wie ein Geschwür in meinem Kopf. Ein schönes Geschwür und dennoch überfordernd.«

»Ich weiß nicht, ob ich das wählen würde, wenn ich die Wahl hätte. Einerseits wäre es mal eine etwas andere Erfahrung, aber man sieht ja, dass es uns überfordern würde, schließlich kennen wir das nicht. Wir werden nur von Energie angezogen, nicht von Gefühlen geleitet. Du musst dich sicher nur etwas damit anfreunden und auseinandersetzen. Letztendlich wirst du dann damit klarkommen. Es ist wie bei allem anderen. Übung macht den Meister«, erwiderte sie und begann wieder mit dem Aufräumen.

Ich dachte über ihre Worte nach, während ich mein Toast aß und anschließend ins Bett ging.

Am nächsten Morgen waren Lacey und ich gerade erst mit dem Frühstück fertig, als Kaydens Mutter zu uns kam. Sie hatte haselnussbraunes Haar und ebenso meerblaue Augen wie Kayden. Nur ihre Wangenknochen waren spitzer. Dennoch würden die Menschen sie durchaus als schön bezeichnen.

Lacey zog sich dezent zurück, nachdem sie ihr ein Glas Orangensaft angeboten hatte, sie es aber nett ablehnte.

So saßen wir uns nun gegenüber auf der Couch. Ich wartete darauf, dass sie mit der Unterhaltung begann, denn ich wusste beim besten Willen nicht, womit ich beginnen sollte.

Hallo, ich bin Kira und die neue Freundin ihres Sohnes! Übrigens, wir halten nicht nur Händchen und es ist mir egal, ob sie etwas dagegen haben!

Besser nicht.

Schließlich setzte sie ein Lächeln auf. »Ich habe gehört, dass du deinen Eltern nahestehst.«

»Nahestehen? So würde ich das nicht bezeichnen. Aber ich würde alles dafür tun, damit ihnen nichts passiert. Auch, wenn sie mir die Wahrheit verschwiegen haben. Letztendlich haben sie mir damit ein richtiges Leben gegeben und mich großgezogen, als wäre ich ihr Kind«, verbesserte ich.

Ihr Lächeln wurde breiter. »Loyal? Das ist eine gesunde Eigenschaft. Das richtige Leben … Wie meinst du das?«

Ich versuchte ihr, so gut es ging, zu erklären, dass meine leiblichen Eltern Ausgestoßene waren und Menschen wie selbstverständlich das Leben nahmen, was meiner Meinung nach der falsche Weg war. Wäre ich dort, wäre ich genauso geworden und hätte gegen das Gesetz gehandelt. Ich wäre genauso geendet wie mein Bruder.

Sie nickte hin und wieder, gab aber ansonsten keinen Kommentar ab, bis ich fertig mit dem Erklären war. »Was ist mit deinem Bruder geschehen?«

»Er war dazu gezwungen, jemandem die Seele zu nehmen, um dessen Leid zu lindern. Ethan, also sein Vater, hat diesem Mädchen Leid zugefügt und Keegan hat das beendet, bevor sie weiter gequält werden konnte. So ist er zu seiner Seele gekommen und fühlt sich noch immer schuldig deswegen, obwohl er das Richtige in der falschen Situation getan hat.«

»Er wurde in der falschen Welt geboren. Nicht umsonst heißt es, dass wir Menschen das Spiegelbild derer sind, die uns aufgezogen haben. Aber er ist noch jung, er kann seinem Leben noch eine andere Richtung geben.«

Allerdings war er in dieser Mission gefangen, so wie wir auch. Es konnte gut sein, dass er die Chance gar nicht erst bekam.

»Sind Sie hergekommen, um mit mir über meine Familie zu sprechen?«, fragte ich, ehe ich zu sehr darüber nachdachte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Kind. Deswegen nicht, aber ich kann mir auf diese Weise schon einmal ein Bild von dir machen. Trotzdem möchte ich erfahren, was du dir für die Zukunft wünschst. Wie möchtest du, dass deine Zukunft aussieht?«

Ihre Fragen verwirrten mich. Sie schienen so wenig mit dem zu tun zu haben, was ich dachte: Kayden. Sie gingen eher darum, wie mein Leben war und werden sollte.

»Mit etwas Glück wird meine Zukunft unproblematischer als momentan. Ich werde mehr über mich selbst verstehen und dementsprechend leben können. Ohne, dass ich mir um viel Gedanken machen muss.«

Sie sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht ganz verstand. »Du hast kein einziges Mal den Plural benutzt. Du stellst dir deine Zukunft also ohne meinen Sohn vor?«

Ich war in eine Falle getreten. Das war ein Test gewesen, den ich nicht bestanden hatte.

»Die Zukunft ist schwammig. Ich kann nicht für Ihren Sohn sprechen, zumal Ihr Mann seine Zukunft ohne mich sieht. Kayden kann sich immer noch gegen mich entscheiden, auch wenn ich es mir nicht wünsche.«

Sollte ich ihr sagen, dass ich mir wünschte, dass er und ich einfach abhauen würden? Irgendwohin, wo sie ihn nicht finden konnten?

Mir kam es gefährlich vor, das zu erwähnen. Und dumm, da sie mir dann noch mehr misstrauen und denken würden, ich wollte ihnen Kayden entreißen.

»Du glaubst, dass er dich verlassen würde?«

»Ich glaube, dass er schon zu lange in der Rolle feststeckt, April zu heiraten, dass er das nicht einfach so ignorieren kann.«

Erneut nickte sie. »Es ist tatsächlich schon länger in Planung. Vermutlich ist es daher leichter, dem nachzugehen, als ihm einen anderen Weg einzuräumen. Aber es wäre falsch. Kayden ist alt genug, seinen eigenen Weg zu gehen. Und sein eigener Weg schien ihn zu dir geführt zu haben. Deshalb bin ich auch heute hier. Aus irgendeinem Grund liegt ihm viel an dir. Wir verstehen es nicht, aber ich denke, dass es richtig wäre, ihn herausfinden zu lassen, welcher Weg für ihn der richtige ist.«

Nur, dass er es bereits wusste. Genauso wie ich. Nur dürfen wir es jemanden sagen? Wäre es ratsam?

Ihre Worte kamen nur langsam bei mir an, da mein Gehirn etwas brauchte, um die Informationen zu verarbeiten. »Sie haben also nichts dagegen?«

»Nein. Ich werde es beobachten, mich aber nicht einmischen, solange es nicht nötig ist. April ist nicht das einzige Mädchen auf dieser Welt. Um ehrlich zu sein, hat sie momentan nicht gerade ihre beste Seite gezeigt.«

»Wo wir schon beim Thema sind …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Sie hat mich vor ein paar Wochen schon einmal angegriffen. Als ich neu hier war. Gestern ist sie mir erneut aufgelauert und hat mir gedroht, ich zitiere: ‚mich aus dem Weg zu räumen‘. Ich weiß momentan nicht, ob ich es ernst nehmen sollte oder nicht.«

Mrs. Torres rümpfte die Nase. »Dieses Mädchen mag gut erzogen sein, aber manchmal hat sie gar keinen Anstand. Ich denke nicht, dass sie dich tatsächlich ’aus dem Weg räumen‘ möchte. Sie weiß nicht mehr, wie sie dich von Kayden fernhalten soll. Nicht zu vergessen, dass sie die letzten Tage nicht sie selbst war.«

Langsam wurde ich skeptisch. Fast jeder sagte mir, dass April es nicht ernst meinte. Ich wurde den Gedanken jedoch nicht los, dass sie es sehr wohl vorhatte.

»Wie kommt es, dass du dich für unseren Sohn entschieden hast?«

»Das klingt ja, als würde ich ihn heiraten. Ich denke, dass ich es schon wollte, seitdem wir uns begegnet sind, es aber erst später wirklich begriff. Er hat nicht losgelassen, obwohl ich nicht wollte, dass er mit Ihnen beiden in einen Konflikt gerät.«

Ihr Gesicht verzog sich fragend. »Was heißt denn, ’ich wollte es schon, seitdem wir uns begegnet sind‘?«

In der Tat klang die Aussage recht seltsam und falsch. Sie musste denken, dass er ein begehrtes Objekt für mich wäre.

»Ich meinte damit nichts Böses. Sie müssen verstehen, dass es zwischen Kayden und mir von Anfang an anders war und dass wir uns das nie erklären konnten. Ich habe mich immer irgendwie zu ihm hingezogen gefühlt und anders herum war es genauso. Nur hatte ich Angst, dass es nur von kurzer Dauer wäre, und dann meinte er, dass wir diese Bindung lieber trennen sollten. Wir waren damit überfordert, weil wir es nicht einfach geschehen lassen haben.«

»Ihr seid in einer Situation, die keinem von uns bekannt ist. Wir sind es gewöhnt, ohne Gefühle zu leben und anhand unseres Verstandes zu handeln. Gefühle beeinflussen unseren Verstand und genau das ist der Grund, warum ihr überfordert seid. Wir können euch dabei nicht helfen«, erzählte sie und machte dabei nicht klar, ob sie es gut oder schlecht finden würde.

Ich nickte. »Genau das ist das Problem.«

Lacey fragte mich nicht, wie das Gespräch gelaufen war. Sie tat einfach so, als wenn es gar nicht stattgefunden hätte. Auch Kayden ließ sich nicht blicken.

Als es gegen Mittag wurde, beschloss ich, zur Bibliothek zu gehen und mein Glück dort zu versuchen. Tatsächlich ließ man mich in die Abteilung für die Stufe drei. Ich begann mich durch die Regale zu wühlen und herauszufinden, wo etwas über den besagten Mann stehen könnte.

Etliche Bücher deuteten auf unsere Geschichte hin. Mir war nicht klar, ob er in einem dieser Bücher erwähnt werden würde. Es war vermutlich leichter, Kayden oder Keegan zu fragen, aber das würde nur Verdacht schöpfen. Das wollte ich nicht. Auch, wenn es nicht richtig war, so ein Geheimnis vor ihnen zu haben.

Ich nahm das erste der Geschichtsbücher heraus und legte es auf den kleinen Tisch. Der Titel war ganz schlicht und hieß einfach nur: Die Geschichte der Seelenlosen. Die ersten Seiten beinhalteten lediglich, was ich bereits wusste: Dass die Alphas uns die Seele nahmen als Bestrafung für die Sünde, die unsere Vorfahren begangen hatten.

So ging es weiter über die Fähigkeiten bis zu der Aussage, dass wir ohne Seelen besser leben würden. Seelenlose seien die klügsten Wesen auf der Erde, weil wir unseren Verstand nutzten.

Als ich merkte, dass mir das Buch nicht weiterhalf, legte ich es zurück und nahm ein neues. Dasselbe tat ich ganze vier Mal, ehe ich auf die Bücher berühmter Persönlichkeiten zusteuerte. Wenn er für die Seelen bekannt war, dann musste er hier zu finden sein.

Ich fand ein Sammelbuch der Leute und legte es mir beiseite. All die Namen, die im Inhaltsverzeichnis standen, waren mir neu. Da bei keinem dabei stand, für was er geläufig war, musste ich jede Person einzeln nach Anhaltspunkten durchsuchen.

Das Buch war dick, weswegen ich mehrere Stunden daran saß und selbst dann nur ein Drittel geschafft hatte - ohne Erfolg. Die bisherigen Persönlichkeiten waren für die Entdeckung der Fähigkeiten, der Ursache, warum wir so anders waren – unsere fehlende Seele –, der Gründung des ersten Camps und vielen mehr bekannt.

In der Hoffnung, dass die Person, die unsere fehlende Seele entdeckt hatte, mich auf den richtigen Weg brachte, las ich die vielen Seiten intensiv durch. Schließlich fand ich ihn.

Illoriel war Mitte zwanzig gewesen, als er die Ursache entdeckte. Nach vielen Forschungen bestätigte er seine Annahme und erntete zuerst viel Spott, da niemand ihm Glauben schenken wollte. Nur sein Bruder glaubte an ihn. Sein Bruder wurde jedoch nicht namentlich erwähnt.

Ich schlug das Buch wieder zu und beschloss, es mitzunehmen. Da ich es aber nicht ausleihen durfte – keine Bücher aus dieser Bibliothek durfte man entleihen – steckte ich es heimlich unter meine Jacke und schlich mich hinaus. Zu meinem Glück unterhielt sich die Dame am Tresen mit einem jungen Mann.

Ohne Umwege lief ich in mein Zimmer und versteckte es genauso wie das Seelenbuch unter meinen Klamotten im Schrank. Ich würde mich nachher weiter damit beschäftigen, doch jetzt musste ich erst einmal ein klärendes Gespräch mit April führen.

Ich kannte ihre Hütte nicht. Aber ich fand April bei Kayden.

Sie stand Kayden gegenüber, mit dem Rücken zu mir, und hatte ihre Hände auf seine Brust gelegt. Leise sprach sie mit ihm und er antwortete ihr im Flüsterton, weswegen ich sie nicht verstand. Aber es gefiel mir überhaupt nicht.

Als Kayden mich bemerkte, nahm er ihre Hände von seiner Brust. Daraufhin drehte sie sich zu mir um und zog ihre Brauen hoch. »Was machst du denn hier?«

Ihr Ton war gleichgültig, doch ihre Augen zeigten mir, dass sie es tatsächlich wissen wollte. Dabei sollte ich sie das fragen.

»Ich müsste mit dir reden.«

»Mit mir?«, fragte sie.

»Ja.« Mein Blick glitt zu Kayden. »Alleine, wenn es geht.«

Kayden zögerte. Es war ihm anzusehen, dass er mich nicht mit April allein lassen wollte. Daher versuchte ich es erneut. »Ich möchte nur mit ihr reden. Du kannst ja direkt vor der Tür warten.«

Er gab nach und zog sich zurück. Vorher warf er April noch einen warnenden Blick zu, welchen sie nicht beachtete. Dafür war sie zu sehr auf mich fixiert, als wäre ich ihre Beute.

Kaum hatte Kayden die Tür angelehnt - ja, er hatte sie keineswegs geschlossen –, setzte sie sich auf die Lehne der Couch. »Was möchtest du?«

Ich blieb stehen, wo ich war. »Mit dir reden. Wegen dem, was sich zwischen uns angestaut hat.«

»Du möchtest über Kayden sprechen?«

Kopfschüttelnd legte ich eine Hand aufs Herz, das Symbol für Gefühle. »Nein, sondern darüber, dass wir beide offensichtlich dasselbe möchten, wobei ich allerdings weiß, dass meine Gefühle stärker sind als deine und das soll nicht beleidigend sein.«

»Beleidigend? Es ist nicht beleidigend. Es ist nicht gut durchdacht von dir. Kayden ist mir versprochen und du mischst dich da ein. Das wird dir das Genick brechen«, erwiderte sie lässig. »Er ist mein Verlobter.«

Ihr letzter Satz saß. Ein Teil in meinem Herzen riss an mir und wollte mich zum Weinen bringen, doch ich schluckte die Tränen herunter. Sie waren nicht verlobt. Es war ein Versprechen ihrer Eltern, kein Versprechen zwischen ihr und ihm.

»Ihr seid nicht automatisch verlobt, nur weil eure Eltern möchten, dass ihr in zwei Jahren heiratet. Solange er dich nicht gefragt und dir keinen Ring an den Finger gesteckt hat, gilt es nicht als Verlobung.«

Sie zappelte mit ihren Fingern. »Sicher? Nur, weil da kein Ring dran ist, heißt es ja nicht, dass er mich nicht bereits gefragt hat. Du kannst ihn ja mal fragen.«

Ich schluckte. April schaffte es, Zweifel zu schüren, wo keine hingehörten. Kayden zu vertrauen, sollte ich schaffen, aber wie konnte ich ihr Worte ignorieren?

Sie schien meinen Zweifel zu sehen und kam mit einem spöttischen Grinsen auf mich zu. »Genieß die Zeit, die dir mit ihm noch bleibt.« Sie ging an mir vorbei.

Schnell hielt ich sie am Arm zurück. Ihre Augen wanderten zu meinen Fingern, die ihren Oberarm berührten. »Ich wollte dieses Gespräch, damit wir uns vertragen und nicht länger gegenseitig drohen.«

April schüttelte meine Hand ab. »An mir soll es nicht liegen. Es ist mir egal, ob wir uns verstehen oder nicht. Aber solange du Kayden nicht einfach gehen lässt, ihm die Zukunft zugestehst, die ihm gebührt, wird das, fürchte ich, nichts.«

Dieses Mal hielt ich sie nicht zurück, als sie die Hütte verließ. Ich selbst wollte nicht mehr mit Kayden sprechen. Ihre Worte nagten an mir, weswegen ich geradewegs an ihm vorbeilief, als er ins Zimmer kam.

Er rief mir nach, trotzdem blieb ich nicht stehen.

Keegan traf ich auf den Weg zur Hütte. Er folgte mir schweigend und nahm mich erst in den Arm, als wir sie betreten hatten und niemand sehen konnte, wie ich weinte. Er sagte nichts dazu, hielt mich einfach nur fest und wartete, bis ich alle Tränen verbraucht hatte.

Er führte mich zur Couch und wickelte mich in eine Decke ein. Mit einem Tee versuchte er, mich besserzustimmen. Es war nicht nötig, dass ich ihm sagte, warum es mir so schlecht ging. Denn es gab nur einen Menschen auf dieser Welt, der solch ein Gefühlschaos in mir auslösen konnte.

Warum muss jedes Mal ich darunter leiden? Warum nie Kayden? Warum hat er noch immer Geheimnisse vor mir?

Die Tür wurde aufgestoßen und Kayden trat ein. Keegan sprang sofort auf, um zu verhindern, dass er mir zu nahe kam. Ich hielt ihn nicht zurück.

»Was hat sie gesagt?«, wollte Kayden wissen und klang dabei äußerst bestürzt.

Ich nagte an meiner Unterlippe. Er wollte zu mir kommen, doch Keegan hielt ihn davon ab.

»Was hat sie gesagt?«, wiederholte Kayden.

Mit meinem Handrücken fuhr ich mir über die Wangen. »Hast du sie gefragt?«

Er sah mich fragend an. »Was gefragt?«

»Ich möchte wissen, ob April und du verlobt seid.«

Kayden sah mich fassungslos an, bestritt es aber nicht. Keegan schlug ihm heftig ins Gesicht, sodass seine Nase knackte. Ich starrte die Jungs einfach nur an.

»Was soll der Scheiß?!«, blaffte Kayden ihn an und hielt sich die Nase. Sie blutete.

Keegan verkrampfte sich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Nasenflügel blähten sich auf.

»Was soll das alles? Bist du nur mit meiner Schwester zusammen, um ein wenig Spaß zu haben? Wie kannst du sie so ausnutzen, wenn du eine andere heiraten wirst und genau weißt, wie das auf sie wirkt!«, schrie er Kayden an.

Mein Herz pochte unaufhörlich gegen meine Brust. Ich wollte nicht glauben, dass Kayden so etwas tatsächlich abzog. Aber er stritt es nicht ab. Die Splitter in meinem Herz bohrten sich immer tiefer hinein.

»Spinnst du, mir gleich eine reinzuhauen?! Ich wollte mich gerade erklären!« Er wischte sich über die Nase, wobei etwas Blut an der Hand kleben blieb. Sein Blick ruhte auf mir. »Als April und mir klarwurde, was unsere Eltern vorhatten, akzeptierten wir das. Wir hatten nichts dagegen. Deshalb haben wir uns gegenseitig gesagt, dass wir das tun werden, sobald wir alt genug sind. Wir haben es unter vier Augen besprochen, aber nie als Versprechen formuliert. Wir haben es auch nicht schriftlich festgehalten. Es war keine Verlobung. Es war gar nichts, hat nichts bedeutet. Ansonsten würde ich das hier doch niemals tun!«

Ich atmete mehrmals tief durch und ließ die Informationen sickern.

»Wenn dem so ist, dann ist es deine Schuld, dass April mich tot sehen möchte«, sagte ich kalt und setzte mich wieder auf die Couch.

Kayden starrte mich weiterhin an. »Es gibt keinen Grund, warum sie es als Versprechen sehen sollte.«

»Sie tut es aber und wer muss darunter leiden?«

Er knirschte mit den Zähnen. »Ich werde mit ihr sprechen.«

Ich nippte am Tee.

»Gut. Komm am besten wieder, wenn das geklärt ist und ich mir nicht jedes Mal von ihr böse Worte einfangen muss.«

»Es sind keine bösen Worte. Sie weiß nur, wo sie dich treffen kann«, verbesserte er mich.

Ich verdrehte die Augen, lehnte mich zurück und sah ihn nicht mehr an. Mein Herz schmerzte noch immer unaufhörlich.

Was, wenn doch mehr dahintersteckt? Wenn dieses Versprechen unter vier Augen mehr Folgen nach sich ziehen würde, als Kayden sich eingestehen wollte?

Kayden seufzte und verließ die Hütte. Keegan entspannte sich erst dann und kehrte zur Couch zurück. »Du warst etwas zu hart zu ihm.«

»Ich weiß.«

»Warum tust du es dann?«

»Weil ich es nicht einsehe, andauernd der Spielball zwischen den beiden zu sein. Wenn sie der Meinung ist, dass er ihr ein Versprechen gegeben habe, dann kann nur er sie vom Gegenteil überzeugen. Das ist nötig, damit sie mich in Ruhe lässt.«

»Das wird, denke ich, nicht reichen«, merkte Keegan an. »Mit dieser April stimmt etwas nicht.«

Ich drehte mich zu ihm. »Wie meinst du das?«

»Sie verhält sich merkwürdig, findest du nicht? Sie und auch Kaydens Vater hängen zu stark an dieser geplanten Ehe. Ich will ihnen nichts unterstellen, besonders nicht seinem Vater. Dafür müsste ich seine Beweggründe kennen. Aber ich kenne Aprils und Mr. Torres‘ Taten. Es passt nicht zu einem Seelenlosen, wie Lacey es zum Beispiel ist. Sie ist zu … temperamentvoll«, erklärte er mir sein Unbehagen.

»Du meinst also, dass etwas mit April nicht stimmt?«

Er nickte.

»Was tun wir dagegen?«

Keegan winkte ab. » Wir können unsere Zweifel höchstens weitergeben. Aber, ob das was bringt … Kira, wir haben unsere eigene Mission, unsere eigenen Probleme. Ich sage dir das nur, damit du vorsichtig bist. Denn wenn es stimmt, ist sie unberechenbar und ihr Ziel bist eben du. Sie lässt ihre Wut und Eifersucht an dir aus. Sie kann genauso wenig damit umgehen, wie du mit deinen Gefühlen umgehen kannst, wenn Kayden in der Nähe ist. Denn, was geschieht, wenn du Gefühle empfängst?«

Das war nicht schwer zu beantworten. In den vergangenen Tagen hatte sich die Antwort sehr deutlich gezeigt. »Ich neige dazu, die Dinge zu übertreiben …«

Aber was sagt das über Kaydens Vater aus? Habe ich recht und auch er nimmt Seelen?

Wenn das stimmte, dann waren die Dinge ganz anders, als ich dachte. Schließlich war meiner Meinung nach dieses Camp ein Ort von Seelenlosen, die sich an das Gesetz hielten und gegen die Ausgestoßenen arbeiteten.

Und wenn sie in Wahrheit zusammenarbeiten? Nein. Warum sollten sie dann Kaydens Eltern suchen? Unter den Umständen würden sie ja wissen, wie und wo sie sie erreichen konnten.

Ich steigerte mich da einfach in etwas hinein.

»Pass einfach auf dich auf, ja? Mehr verlange ich nicht. April ist nicht unser Problem, solange du vorsichtig bist. Sollte sie dir noch einmal drohen oder dich angreifen, sag mir Bescheid. Ich kümmere mich dann darum«, bot Keegan an.

Für mich war es leicht übertrieben, dass Keegan sich auch noch einmischte. Aber okay. Er wusste schon, was er tat.

Keegan verließ mich, als Lacey zurückkam. Wir aßen gemeinsam Abendbrot und verkrochen uns in unsere Zimmer.

Ich nahm mir das Persönlichkeitenbuch zur Hand und blätterte zu Illoriel vor. Immer und immer wieder las ich die Seiten durch und suchte zwischen den Zeilen nach hilfreichen Informationen. Er war gerade einmal Anfang vierzig, als er starb, was zu seiner Zeit schon als alt galt. Er lebte nämlich im sechszehnten Jahrhundert. Laut dem Buch sollte er in Italien aufgewachsen sein, aber es war nicht bekannt, wo er geboren wurde. Auch, wo genau in Italien er gelebt hatte, war nicht vermerkt.

Er entdeckte die Ursache für die Seelenlosigkeit durch eine Forschung, die nicht näher beschrieben wurde. Auf ein Stück Pergament schrieb er seine Entdeckungen nieder und wollte damit an die Obersten der Gefühlslosen treten, die ihn als verrückt erklärten. Zu der Zeit bestand bereits eine Gemeinschaft zwischen den Seelenlosen. Aber niemand wollte ihm Glauben schenken. Sie waren der Meinung, dass man doch ohne Seele nicht leben könne.

Schließlich erzählte Illoriel seinem Bruder von seiner Entdeckung. Er gab ihm den Rat, seine Forschung sicher zu bewahren und in ein paar Jahren noch einmal vorzulegen, sobald ein neuer Oberster herrschte. Doch so weit kam es nie, denn bis zu Illoriels Tod wurden die Obersten nicht gewechselt. Seine Entdeckungen nahm sein Bruder an sich. Er kämpfte weiter für die Wahrheit und sorgte dafür, dass schließlich die Gefühlslosen den Entdeckungen von Illoriel Glauben schenkten und die Wahrheit anerkannten.

Mein Verstand sagte mir, dass ich weiter nach seinem Bruder forschen sollte. Er musste doch in diesem Buch namentlich erwähnt werden. Nur dafür musste ich weiter jede Person durchsehen, die mir noch übrig blieb, und das war noch mindestens die Hälfte des Buches.

Mir blieb noch genug Zeit, um weitere fünf Personen durchzusehen. Keiner von ihnen war Illoriels Bruder. Als ich gerade mit der sechsten beginnen wollte, klopfte es an der Tür. Schnell versteckte ich das Buch.

Lacey öffnete sie und kam zu mir ans Bett. »Kayden ist unten. Möchtest du ihn sprechen?«

Er wollte wiederkommen, sobald er mit April gesprochen hatte. Gerade machte es mir nichts aus, mit ihm zu reden, aber wie sah es aus, wenn ich ihm gegenüberstand? Das konnte ich nur auf einen Weg herausfinden.

»Schicke ihn hoch.«

Lacey lächelte zaghaft und verschwand. Sie wusste, dass ich es mit Kayden noch nie leicht hatte. Daher war es richtig, dass sie mich fragte, bevor sie ihn hier heraufbat. Kayden ließ nicht lange auf sich warten. Ich schaffte es gerade einmal, das Buch besser unter dem Kopfkissen zu verstecken, da tauchte er schon auf. Er grinste siegessicher.

»Ich habe mit ihr gesprochen.«

»Und?«

»Es hat etwas gedauert, ihr klarzumachen, dass ich ihr tatsächlich nichts versprochen habe, doch dann hat sie es verstanden. Ich denke, sie wird dich in Zukunft in Ruhe lassen.«

Ist er wirklich so naiv?

»Glaube ich nicht, aber es ist einen Versuch wert. Im Übrigen war das Gespräch mit deiner Mutter ganz gut.«

»Ganz gut?« Er runzelte die Stirn. »Was ist passiert?«

Im Groben erzählte ich ihm alles. Bei dem Teil mit der Zukunftsvorstellung tippte er mit den Fingern auf seinem Oberarm herum.

»Klingt ganz nach ihr. Sie hat dich etwas ausgefragt, um sich ein besseres Bild von dir machen zu können. Aber wie es aussieht, steht es doch gut für uns.«

»Sie gibt uns eine Chance. Das heißt nur, dass wir es noch verbocken können«, stellte ich klar.

Er zuckte mit den Schultern. »Und? Wichtig ist nur, dass sie Vater etwas beruhigt. Mission erfüllt.«

Langsam dämmerte es mir, warum ich mit ihr sprechen sollte. »Du wolltest, dass ich mit deiner Mutter rede, damit sie deinen Vater überredet, alles zu überdenken?«

Er antwortete mit Ja.

»Kayden, ist dir irgendetwas an April aufgefallen? War sie anders?«

»Anders?« Er überlegte. »Sie war wie immer.«

Nur was ist »wie immer«?