© 2020, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-78-1

 

Lektorat: Elvira M. Gross

Cover: Jürgen Schütz

Coverbild: © iStock-CHDB

Fotos: Ralph C. Doege

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-91-5

 

 

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Ralph C. Doege

wurde 1971 in der Nähe von Osnabrück geboren und studierte in Leipzig. Doege ist Verfasser von mehreren Essays und Erzählungen, die in verschiedenen Magazinen und Anthologien veröffentlicht wurden, einige davon wurden bereits ins Englische übersetzt. Seine Erzählung »Schwarze Sonne« brachte ihm 2005 Nominierungen für den Kurd-Lasswitz-Preis sowie den deutschen Science-Fiction-Preis ein. 2010 erschien sein viel beachteter Erzählband Ende der Nacht. 
Doege ist Mitherausgeber der Anthologie Fantomas gegen die multinationalen Vampire (Septime, 2009) und zeichnet für die Auswahl eines Großteils der vorgestellten Texte verantwortlich, vorrangig für die Titelgeschichte. In der Anthologie Die Großstädter (Septime, 2012) schrieb er die Lissabon-Erzählung. 2020 erschien seine Tokio-Erzählung YUME bei Septime. Er lebt in Leipzig.

 

Klappentext


»Tokio, Traum eines glücklichen Gottes.«

Ein Zwillingsbruder
Ein Unfall
Ein Koma
Ein Experiment
Ein Flug nach Tokio 

Eine Wanderung durch Japans Weltmetropole zwischen Traum und Trauma beginnt, gefüllt von Erinnerungen in einer fremden Welt zwischen Halbschlaf und Jetlag. 

»Stört es Sie«, sagt sie zu mir, »wenn ich meinem Sohn etwas vorlese?« Ja, denke ich, sehr sogar! Und sage: »Nein, kein Problem. Ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren, bin viel zu nervös.« Sie beißt an: »Was, wieso?« – »Lange Reise vor mir, langer Flug. Elfeinhalb Stunden.« – »Oh, Asien? Da war ich auch schon …« Ich: »Ja, Tokio. Meinen Bruder besuchen. Der wohnt da«, hatte einen Unfall, liegt im Koma, aber das erzähle ich ihr natürlich nicht. Ich erzähle auch nicht von seiner Forschung, der Visualisierung von Traum- und Gedankeninhalten, einer Forschung, an der ich unfreiwillig teilnehmen werde. Das bedeutet wohl, dass ich die meiste Zeit meines Japanaufenthaltes schlafen werde. Zumindest habe ich so Maris E-Mail verstanden. Noch zwanzig Minuten bis Frankfurt, die Frau beginnt zu lesen. Die Welt rast am Fenster vorbei, und ich bange, bange, dass der Zug Verspätung hat, bange, dass ich den Flug verpasse … 

»Ein großartiges Vexierspiel, das den Leser stets an der Hand behält und dabei ganz nebenbei durch ein mit profundem Wissen geschildertes Tokio führt.« 
BJÖRN LAUER, JURY DEUTSCHER BUCHPREIS 2019

 

Ralph C. Doege

YUME

Träumen in Tokio

 

Erzählung | Septime Verlag

 

 

 

Unfall in Akihabara Station

verärgert Morgenpendler

Japan Times, 11.3.2025

 

 

Ein Verletzter bei Unfall

in Akihabara Station – Ursache ungeklärt

Tokyo Tribune, 11.3.2025

 

 

Akihabara-Unfallopfer liegt

weiterhin im Koma

NHK, 13.3.2025

 

 

 

I

 

… Vogel …

Konzentrier dich!

(Was ist ihm wohl passiert?)

Blauer Himmel, und das Rauschen der Klimaanlage, ein endloses und beruhigendes Ausatmen des Eisdrachens. Erneut die angenehme Erinnerung an die Tokioter Metro, die meditative Stille, selbst zur Rush Hour, selbst wenn die Waggons überfüllt oder Kinder mit an Bord sind, auch hier ein kühler Hauch von oben. In weiter Ferne schreien Krähen ihr harm harm. Das gelbe Licht der Neonlampen, Licht, das sanft auf mich fällt, ähnlich dem der Bahnwaggons und des Haneda-Flughafens, warm wie Kerzenlicht.

… total übermüdet …

… total überfüllt …

… ein Flugzeug im Landeanflug (ladies and gentlemen, please fasten your seatbelts), noch gerade zu sehen durch die Glasfassade.

… Kerze …

(Ihm? Was meinst du wohl, was ihm passiert ist? Sein Bruder …)

Seit gut siebenunddreißig Stunden kein Schlaf, und sogar davor nur wenig, die Aufregung: Ich verreise doch nie – und dann auch noch gleich so weit, und die Sorge, die Sorge – mein Bruder …

Der irgendwie sanfttürkise Teppich … und wie peinlich ich doch war, da hat die Dame wenigstens was zu lachen gehabt, ein reibendes Lachen, ein gurrendes, wie gedämpftes Krähen, tief unten im Hals, da hinter der weißen Gesichtsmaske (harm, harm), schöne Augen hat sie, sieht jung aus, was ich da erkennen kann, blamiere ich mich auch hier in der Erinnerung ein weiteres Mal, im Traum, träume ich denn? Wieder weist sie auf den kleinen Spiegel. Er ist in Kopfhöhe am Tresen angebracht. Über der Spiegelfläche, da leuchtet ein roter Punkt, direkt neben einer Kameralinse. Meine Augen brennen. Sie sagt: »Try again, it didn‘t work.«

… Bett …

(Ja, klar, sein Bruder, aber ich meine, davor?)

Ich interpretiere falsch und nehme die Brille ab, führe mein Auge zur Kameralinse. Retinascan – wer bin ich denn, James Bond? Die junge Frau lacht, sie lacht hinter dem weichen Stoff (wie Kopfkissenbezüge, wie das Kopfteil am Sitz im Flugzeug, wie medizinisches Personal), weicher Stoff, der Mund, Kinn und Nase bedeckt, ihr Kopf, ein Kissen, wahrlich gern würd ich auf ihr ruhen, bin so müde, lieber noch auf ihrer Brust, denn wer weiß, was sich hinter der Maske verbirgt, kann mir eigentlich egal sein, erkältet wirkt sie nicht, lacht und lacht … War es ein freundliches Lachen? War es ein Auslachen? »No! Just face«, sagt sie. Ich lache ebenfalls, eine Farce, das alles; mein Lachen ist allerdings verschämt, da hat sie nun etwas, das sie ihren Kollegen erzählen kann … vermutlich noch Jahre später …; aber bedenkt man, weswegen ich hier bin, in Tokio, da erscheint einem so eine Geheimagenten-Erkennungsmaßnahme nicht mehr allzu absonderlich. Dennoch winde ich mich innerlich in Schmerzen über meine Beschränktheit. Sie gibt mir den Pass, den Reisepass, zurück … so war das … und dann weiter im trüben Licht, in die überfüllte, trübe Gepäckhalle, keine Fenster, keine Flugzeuge, keine Vögel, nein, nur die seltsamen, die hier ihre Kreise ziehen, auf einem Bein stehen oder um sich picken und hacken auf der Suche nach ihren Koffern, Eulenaugen; aber das Fließband dreht sich langsam und unbeirrt, wenigstens das, wie die Yamanote-Linie (wie ich später erfahre), immer im Kreis, es fließt leise dahin, zieht seine Bahnen, das Gepäckband, manchmal quietscht es, und imitiert dabei sehr leise das Geräusch der Metro, das monotone Rattatatatt; kaum hörbar, denn hier gibt es Horden von Ausländern, hier ist es nicht so still wie in den Waggons, aber es gibt ebenfalls ab und zu Durchsagen. Auf Japanisch und Chinesisch.

Ich kenne mich nicht aus, ich kenne mich nicht aus, finde trotzdem meinen Koffer, meinen kleinen Koffer, extra neu gekauft, angeschafft – irgendwie geschafft –, nur für diese Reise, und obwohl er so klein ist, hatte ich dennoch Probleme, Probleme, genügend Klamotten zu finden, ihn auszufüllen. Vielleicht hätte auch mein Handgepäck-Rucksack genügt. Aber wie würde das aussehen? – Schein ist alles. Und wie lange werde ich überhaupt bleiben, hier, in diesem unbekannten Land, in diesem Moloch? Dieser Riesenstadt, die, wie sich noch herausstellen wird, gar kein Moloch ist? Eine Frage, schon im Flugzeug zu beantworten, auf dem Einreiseformular. Angegeben habe ich: eine Woche; eine Woche, aber was soll ich hier so lange tun?

Das Adrenalin hält mich wach, nein, ich träume, ich träume, zumindest bin ich im Halbschlaf, manchmal höre ich noch das Piepsen der Überwachungsgeräte meiner Vitalfunktionen, und das Rauschen in den Ohren, ist das noch vom Flug? Oder doch die Klimaanlage? Und die Krähen weit entfernt, die Krähen krähen, stummes Flattern in der Luft. Sie haben es sehr leise gestellt, das Piepen, wohl um mich nicht übermäßig zu stören im Schlaf, in meinem induzierten Schlaf. Eigenartig trüb alles, die Erschöpfung kommt in Wellen, brandet gegen mein Wachbewusstsein, versetzt es in dieses bebende Gefühl von Sommersonne, Sommersonne an einem erschöpften Nachmittag, wie taumelnde Staubpartikel im rauschenden Elektroatem der Klimaanlage, Staubpartikel, ganz hinten im trockenen Rachen, dieses ganz leichte kitzelnde Kratzen, nur weiter oben, vielleicht im Occipitallappen, und vorne hinter der Stirn: ein leichtes Drücken. Meditative Trance. Schlafen im Reich der aufgehenden Sonne. Alles fließt, nein, alles vibriert, das Bett ist angenehm hart, das Bett, mein Schiff, mein fliegender Teppich, mein Flugzeug, meine Traummaschine. Ich spüre die Elektroden am Kopf, an der Brust, die Infusion im Arm, nur ein leichter Druck, mehr nicht. Intravenös ist irgendwie ein schönes Wort.

(Ich meine, wieso sind seine Bilder so dunkel, während die seines Bruders so positiv, hell, sind?

Trauma, vielleicht.

Sollte das nicht eher sein Bruder haben?)

… Tür …

Wie oft bin ich nun schon meine Ankunft durchgegangen? Wie oft habe ich meinen lächerlichen Retinascan wiederholt, dabei jedes Mal einen Stich in der Brust verspürt und gleichzeitig lachen müssen (auch jetzt, aber ich unterdrücke es, das Lachen, ich muss schlafen, schlafen). Retinascan: mein Tor zu Japan, ein Erröten, wie blöd kann man sein? Ich meine, selbst wenn man siebenunddreißig Stunden nicht geschlafen hat … ich erinnere mich, noch gedacht zu haben: Ganz schön schlimm, sogar sowas muss man machen … Überwachungsstaat. Ich Geheimagent, ich.

Was dann? Was dann?

Man hat mich nicht abgeholt. Nicht einmal das. Hätte ich das vor meiner Zusage gewusst, ich wäre vielleicht nicht gekommen; nein, ich wäre vermutlich trotzdem … man muss ja. Aber dass sie mir zutrauen, den Weg alleine durch eine Millionenstadt zu finden, eine Stadt, in der ich nicht einmal die Schilder lesen kann, wie ich dachte, ja, dachte … Zum Glück ist inzwischen doch alles auch in Englisch ausgeschildert. Wohl ein Ergebnis der Olympiade 2020, damals, wer weiß. Ich nicht. Ein Wunder, dass sie nach der Olympiade noch immer Ausländer ins Land lassen.

Der letzte Zollbeamte winkt mich durch, die Türen gleiten zur Seite, und ich trete in die Halle, tatsächlich in Japan, hinein in einen Fluss aus Menschen, einen Fluss, der sich durch offene Türen ergießt, und dann in diverse Ströme verzweigt oder aufgeht in einem Meer mit Unterströmungen. Hier warten weitere Leute, warten auf Verwandte oder Freunde, auf Arbeitskollegen oder Feinde.

Auf mich wartet niemand. Niemand.

Und ich lasse mich mittreiben, treiben bis zu einem Bereich, in dem die Menschenflut versiegt, und setze mich erst einmal, setze mich auf einen der lederüberzogenen Stühle. Ist das echtes Leder? Wohl kaum. Ein junger Japaner schaut mich an, ich bin zu müde, um zu reagieren. Er schaut ja auch einfach nur. Ich versuche, mich zu erinnern: Was soll ich noch mal machen? Irgendwo hier muss ein Stand sein, ein Stand, an dem Sachen für mich hinterlegt sind. Sachen, Zeug, ich hatte nicht verstanden, was genau. Ich schaue auf dem Handy nach: Was hat Mari mir geschrieben? Mari, eine der beiden Stimmen; Stimmen, die ich höre, hier in meinem Traum, in meiner Erinnerung, in meinem Halbschlaf, Mari, die Frau meines Bruders.

Durch die hohen Fenster fällt Sonnenlicht und blendet mich. Meine Ohren rauschen. Elf Stunden Flug. Einfach sitzen bleiben. Nicht bewegen. Wie im Flugzeug, da starrte ich auch nur vor mich hin, vollkommen leer. Mit dem Touchscreen des Monitors am Vordersitz kam ich nicht zurecht, er wollte mir keinen vernünftigen Film zeigen, reagierte nicht auf meinen Finger.

Meinem ledernen Sitzplatz gegenüber ist ein Raucherraum, die Tür öffnet sich ab und zu, und ich fühle mich wie die Rauchschwaden, die dort zurückbleiben.

Durchsagen.

(Wir werden ihn nachher befragen.) Da ist sie wieder, Maris Stimme. (Jetzt ist er wieder bei seiner Ankunft. Die scheint ihn am meisten zu beschäftigen.)

… Schrein …

Ich bin müde, zu müde, um aufzustehen. Aber sitzen kann ich nach dem langen Flug eigentlich auch nicht mehr. Ich fühle mich verloren. Fremder in einer fremden Welt. Hilft ja nichts, also raffe ich mich auf, zuerst den Rücken, und dann bringe ich mich mit einem Ruck zum Stehen, schließlich rolle ich den Koffer in eine Richtung, irgendeine Richtung, in der ich den Stand vermute, den Stand, an dem Zeug hinterlegt ist, Zeug, von dem ich noch immer nicht genau weiß, was es eigentlich ist. Vielleicht bin ich ja doch ein Agent. Bereit zur Übergabe des MacGuffins, des heiligen Koffers mit der Lösung aller Probleme der Welt.

Zufällig habe ich die richtige Richtung erwischt.

Meine üblichen Hemmungen, englisch zu reden, sind vom Schlafentzug unterdrückt, geradezu nicht mehr vorhanden, und ich frage, ob ich tatsächlich richtig bin, und ja, indeed, das bin ich, und ob hier etwas für mich hinterlegt wurde, ja, das wurde es. Ein vielleicht zwanzigjähriger Mann gibt mir eine graugrüne Plastikkarte und die blauweiße Visitenkarte eines Hotels. Und ein Gerät, das er Pocket Wifi nennt. Er erklärt mir, wie ich mein Handy mit dem Wifi verbinde und dann, wozu die graugrüne Chipkarte gut ist und wie ich sie zu benutzen habe. Sie ist bereits mit 3000 Yen aufgeladen, sagt er. Suica steht darauf geschrieben, neben der Schrift ist ein freundlicher Pinguin abgebildet. Er winkt. Und mit dieser Karte kann ich so ziemlich alle innerstädtischen öffentlichen Verkehrsmittel benutzen – erklärt er, der junge Mann – und sogar in vielen Geschäften und an Getränkeautomaten bezahlen. Entwickelt wurde die Karte, damit es bei der Abwicklung von Millionen Metrofahrenden nicht zu größeren Staus kommt. Was er mir so alles erzählt, der Typ … Er scheint stolz zu sein. Man geht also einfach auf das Gate zu (die beiden Klappen – manchmal grün, manchmal grau, manchmal eventuell auch andersfarben, ich vermute: je nach Linie), hinter dem sich die Bahnsteige der gewählten Linie befinden, und führt den Chip über den Abtaster, wodurch sich der Durchgang öffnet (es piepst, wie meine Herzfunktion, die Klappen (… Valva und Valvula …) klappen zur Seite (nicht wie im Herzen, hoffe ich) und funktionieren wie Ventile, verhindern einen Rückstrom der Menschen/des Blutes in die falsche Richtung; auf einem kleinen Feld am Gate wird angezeigt, wie viel Yen sich noch auf der Karte befinden) und man kann durchgehen, durch das Tor. Keine Verzögerung, einfach und unkompliziert. Fast wie die Hoteltür (warum wollte ich »Höllentor« denken?) zu meinem Zimmer.

 

… und … Schlüssel …

Hätten sie mir vorher gesagt, was genau mit meinem Bruder geschehen ist, ich hätte vielleicht einen anderen Weg zum Hotel genommen. Aber so folge ich der Empfehlung, mit der Monorail bis Hamamatsucho Station zu fahren. Die Monorail, obwohl umständlicher und teurer, dennoch ratsam: allein schon wegen des Ausblicks, sie wirkt auf mich wie aus einem Film, einem Film aus den Sechzigern oder frühen Siebzigern, in einer Ecke sitzt sogar ein alter Mann mit seinem Mafiahut und typischem Yakuza-Anzug, Goldringen und Gehstock … und das Ruckartige der Fahrt, das Retroartige der Holzfarben an den Wänden … Nach der Monorail dann weiter mit der Yamanote-Line bis Akihabara Station und dort von Gleis 6 aus bis zur Kameido Station. Gleis 6, das verflixte Gleis 6, sie ließen mich vermutlich diesen Weg nehmen, damit ich unvoreingenommen einen Blick auf die Szenerie werfen konnte. Das hat funktioniert, allerdings, als ich dort stand, da kam mir eine Assoziation zur Anfangsszene eines Films von Sion Sono in den Sinn: Suicide Circle. Wurde die Szene hier gedreht? Zu lange her, dass ich den Film gesehen hatte, muss ich eines Tages nacharbeiten. Vielleicht, wenn ich zurück bin. – Die Monorail lieferte tatsächlich einen schönen Ausblick, einen Ausblick, den ich nicht zu würdigen wusste, trotz der glänzenden Wolkenkratzer mit Glasfassaden und des spiegelnden Wassers mit Anglern an den Seiten und einigen wenigen Booten auf ruhigen Wellen; hier und da alte Schreine und Tempel zwischen den modernen Gebäuden. Blauer Himmel, keine Wolken. Und in Akihabara dann ein paar schwarze Vögel.

Den Namen hatte ich schon gehört: Akihabara; interessierte ich mich auch nicht für Elektronik, Manga, Anime oder dergleichen. Obwohl ich, meinem Bruder zuliebe, vor einigen Monaten einen Anime gesehen habe; einen Anime, der mir ein wenig von der Arbeit erklären sollte, mit der mein Bruder sein Leben verbrachte: Paprika. Ich mochte den Film, aber realistisch betrachtet hatte er natürlich gar nichts mit der Forschung meines Bruders zu tun, ich glaube, er wollte nur einen Vorwand finden, damit ich den Film sehe; so war er, mein Bruder. Früher auch schon, als Kind. Dachte sich immer irgendwelche Vorwände aus, damit ich etwas sah oder hörte oder las, anstatt einfach zu sagen, dass er es mochte und ich es auch versuchen sollte.

In Akihabara am Bahnsteig ist es recht voll gewesen, und jetzt (mit dem jetzigen Wissen) wundere ich mich, dass es zwar einen behandschuhten Schaffner gibt, aber nicht die Vorsichtsmaßnahmen mit den Toren vor den Gleisen; den fehlenden Toren, Absperrungen zum Fahrbereich, die verhindern sollen, dass man unfreiwillig oder auch freiwillig auf den Gleisen landet, wie gut, dass die Metro auf den Zentimeter genau hält, genau an den Markierungen, und, wenn vorhanden, eben an den Türen der Schranken, die, sobald der Zug zum Stehen gekommen ist, zur Seite gleiten, um die Passagiere hineinzulassen. Aber ausgerechnet an einem der meistgenutzten Bahnsteige der Welt fehlt diese Vorrichtung. Dennoch stellen sich alle Reisenden ordentlich in Reihen an den Markierungen auf, wie die Lemminge.

Mein Bewusstsein schwappt über Erinnerungssplitter, einige scharf: das Lachen hinter der Gesichtsmaske, einige stumpf: der etwas buttrig-ranzige Geruch Tokios. Waschtinknhierso? Vermutlich ich, seit fast vierzig Stunden ungewaschen.

 

Den Weg von Kameido Station zum Hotel, den hab ich mir bereits zuhause so häufig angeschaut, dass ich nicht einmal das Handy hervorholen muss, um ihn zu finden. Obwohl ich zunächst unsicher bin, ob West Exit oder East Exit vom Bahnsteig aus. Den in Fahrtrichtung oder den auf der anderen Seite? Ich entscheide mich für die Fahrtrichtung, man möchte ja nicht zurückgehen, gehe eine Treppe hinunter. Auch hier ist alles geregelt, rechts für die Reisenden, die abwärts gehen, links für die Aufsteigenden; die Trennungslinie führt einen steinernen Korridor mit Werbeplakaten an den Wänden entlang und nach einer Kurve sehe ich Tageslicht. In der Mitte wieder die Schleusen, auf einer steht majestätisch eine Krähe, ich krame meine Suica-Card hervor. Der Pinguin winkt. Links sitzt auf Höhe der Schleusen ein Bahnangestellter in einem kleinen Raum hinter einem Glasfenster. Rechts geht es zu den Toiletten. Der Abtaster piept, die Klappen klappen, die Krähe fliegt auf, und ich trete hinaus in die Sonne, eine Sonne, die, trotz der angenehmen Kühle der Luft, wärmt. Links eine Reihe Automaten, die etwas von Bankautomaten haben, dann ein kleines Geschäft, das von Zeitschriften bis hin zu Lebensmitteln alles zu haben scheint. Eine schmale Straße vor mir, gleich hinter geparkten Fahrrädern. Und ein taubenblaues, vielleicht vierstöckiges Haus. Ich gehe nach rechts, an Getränkeautomaten vorbei, Getränkeautomaten, wie sie allem Anschein nach überall zu finden sind, um das vierstöckige Haus herum, an einem kleinen Restaurant entlang, das angenehm dunkel und heimelnd wirkt, eine kurze Gasse entlang, und dann stehe ich an einer vierspurigen Straße. Mein Herz beruhigt sich ein wenig. Genau hier muss ich hin, ich erkenne alles wieder von Street View. Warten. Warten, warten, dass die Ampel grün wird, und dann immer geradeaus. Einen Weg mit kahlen Bäumen und weißrosafarbenen Lampions entlang. Der Weg zu meinem Hotel. Sehr schön.

 

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Mein Zimmer dann im vierten Stock nach japanischer Zählung; der Zimmerschlüssel eine Chipkarte aus Papier. In der Lobby keine besonderen Vorkommnisse, Reservierung war okay, alles erledigt. Ich weiß erst einmal nicht, wie der papierene Schlüssel funktioniert. Trotzdem klappt es auf Anhieb, die Tür geht auf. Mein Refugium, klein, aber ausreichend. Den Schlüssel lege ich in eine Plastikschale, die dafür neben der Tür angebracht ist. Ich schaue in den Wandspiegel gegenüber und sage: »Ich bin in Tokio«, gefolgt von einem »tss«. – Ich trage einen Bart. Man sieht nicht viele Bartträger in Tokio, wie mir scheint. Ich nehme den Papierschlüssel aus der Vorrichtung und stecke ihn in meine Geldbörse, besser so, sonst vergesse ich ihn, dann setze ich mich aufs Bett. In Rezensionen zum Hotel hatte ich gelesen, dass die Betten zu hart sind. Ich lege mich hin. Nein, es ist angenehm, gut für den Rücken.

Ich muss duschen, ich darf jetzt nicht einschlafen.

Schlafe ich nicht?

Ich muss gleich weiter.

Nur eine Unterhose und ein frisches T-Shirt und die Kulturtasche im Rucksack verstauen. Brauche ich sonst noch etwas?

Dann setze ich mich aufs Klo. Oh! Die etwas zu kleine und zu niedrige Klobrille ist beheizt, wie angenehm. Allerdings ist sie vergilbt Beige, irgendwie wächsern, und ich muss die Tür auflassen, um mich nicht zu sehr zu stoßen, so klein ist das Bad, und sie verrutscht ein wenig unter mir, die Klobrille, während ich die richtige Position zum Verweilen suche. Das Licht ist farblich identisch mit den Wänden, die sind in mattem, verblichenem Gelb gestrichen, abgesehen von der Wand, an der die weiße Badewanne montiert ist, die ist aus dunklem Holz, laminiert. Die Wanne ist kurz, dafür aber tief. Ich dusche auf westliche Art und frage mich, ob man hier auf japanische Art vorgehen sollte, nur ist der Raum zwischen Toilette, Waschbecken und Wanne zu eng, um sich dort zu waschen, der Abfluss am Boden jedoch weist darauf hin, dass es so gedacht sein könnte. Unter dem lauwarmen Wasserstrahl denke ich an die Vergangenheit, die nahe, die ferne, und an die mögliche Zukunft, und rekapituliere schließlich, was ich tun muss. Habe ich alles? Was braucht man denn schon zum Schlafen? Ich sollte vielleicht auch noch frische Socken einpacken. Und mir die Füße extrem gründlich waschen, muss man nicht überall die Schuhe ausziehen? Auch hier im Hotelzimmer gleich hinter der Tür, da ist ein Bereich vom Teppich abgegrenzt, um die Schuhe abzulegen. Ich meine gehört zu haben, dass, wenn man die Schuhe nicht auszieht, ein Geist kommt und … Ich schaue nach oben, japanische Geister, die Frauen mit den langen schwarzen Haaren, haben so eine Angewohnheit, an der Zimmerdecke entlang zu krabbeln; ich stelle den Wasserstrahl kälter, nicht zu kalt, nur so kalt, dass ich gedanklich nicht weiter abdrifte. In zehn Minuten werde ich abgeholt. Ich muss mich beeilen.

(Wie lange wollen wir noch …?

Ich denke, wir haben genug Daten. Jetzt können wir ihn einfach schlafen lassen.)

Schlafe ich? Ich höre sie doch? Höre das Piepsen, das Rauschen, den Wind.

Das Hotel ist ein einfaches Hochhaus, genau genommen sind es zwei Hochhäuser, die sich gegenüberstehen, jeweils neun Etagen. Dazwischen zwei schmale Straßen, die getrennt sind durch einen Streifen für Fußgänger, eine Art Minipark mit Sitzbänken, Bäumen und kahlen Sträuchern. Dort sitze ich und warte.

Den Jetlag ausnutzen, so hat sie geschrieben. Mari, die Frau und Kollegin meines Bruders, sie schickt einen Wagen, mich zu holen. Und ich sitze da, Vogelkot neben mir, auf der weißen Bank, die schwarzen Schuhe auf japanischem Boden, er ist rötlich gepflastert. Die wenigen Bäume sind größtenteils blätter- und blütenlos, aber ein paar Knospen kündigen sich schon an. Sind das Kirschbäume? Bestimmt. Der Himmel ist blau, die Äste sind schwarz, nur eine einzige Wolke ist zu sehen. Eine Gruppe Schulmädchen kommt vorbei in ihren nachtblauen Uniformen, die Röcke in Plaidmuster, gefolgt von einem alten Mann, der mich fixiert. Ich fühle mich unwohl, wie ein Fremdkörper.

 

 

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Das Auto, das mich holt, ist ein Mehrsitzer von Mitsubishi, es sieht auf den ersten Blick erstaunlich klein aus. Die Sitze sind hellbeige. Ich sitze hinten. Alleine. Der Fahrer ist ein junger Mann. Ich verstehe sein Englisch kaum. Er lächelt freundlich. Ich versuche, auch zu lächeln. Wir gestikulieren mehr, als dass wir sprechen. Ab dem Moment, als er auf das Gaspedal tritt, sitzen wir still und starren vor uns hin, er nach vorne, ich zur Seite. Was, wenn er gar nicht mich abholen sollte, wenn es der falsche Fahrer wäre … Schlafen, ich werde bestimmt schnarchen, deshalb konnte ich auch im Flugzeug nicht schlafen, die Angst vor dem Schnarchen; deshalb und wegen der allgemeinen Aufregung. Warum bin ich nur immer so aufgeregt? Der Blutdruck vielleicht. Der ist immer zu hoch. Die Stadt zieht an mir vorbei. Erstaunlich wenig Autos unterwegs, zumindest für so eine große Stadt. Keine Staus. Alles ein wenig surreal. Ein goldener Klumpen auf einem Hochhausdach. Er sieht aus wie ein exkrementenförmiges UFO aus einem Film aus den Siebzigern, einem Film, an dem Salvador Dali beteiligt gewesen ist. Alles leuchtet und glitzert in der Sonne: Brücken, Wolkenkratzer, Wasser, Shuttleboote, hier und da Bäume … Und alles funktioniert, alles funktioniert, alles ist sauber, alles ist auf seltsame Art entspannt. Garten Eden. Tokio, der Traum eines glücklichen Gottes. Irgendwo hatte ich mal gehört, Tokio sei wie ein Spielplatz oder besser noch: ein Vergnügungspark. Disneyland und Jahrmarkt in einem. Das kann ich natürlich noch nicht beurteilen, dazu bin ich noch nicht lange genug hier. Aber es sieht schon irgendwie nach Spielzeug aus, da draußen. Ein seltsames Gefühl. Normalerweise frage ich mich, was ich irgendwo soll, verreise deshalb nie, aber hier, das muss ich zugeben, wirkt alles schon irgendwie interessant … nur … ich störe, ich, der ewige Fremdkörper. Der Mitsubishi taucht in eine Tiefgarage, wir sind wohl angekommen. Die Seitentür öffnet sich, und ich steige aus, allerdings mit ein paar Schwierigkeiten. Ich bin zu groß, ich bin zu unbeweglich, ich merke schmerzhaft meinen Rücken. Es riecht, es riecht nach Abgasen, aber nicht schlimm. Tiefgaragengeruch. Tief unten. Die Fahrertür gibt ein tieferes Piepen von sich als der Monitor, der meine vitalen Funktionen überwacht, es hat etwas von einem elektronischen Glockenton. Der Fahrer, dessen Namen ich sofort vergessen habe, zieht den Schlüssel ab, das Geräusch verstummt, er schlägt die Tür zu, Tauben fliegen auf; und ich drifte kurz ab in ein Meer, Wellen um mich, ich schwimme, ich kann nicht gut schwimmen, Kirchenglocken im Hintergrund, wenn ich nicht umkehre, ertrinke ich, aber das Mädchen, ich erreiche es nie, und es schwimmt davon, das Echo der Autotür, doch kein Rauschen, doch keine Tauben, nur die Klimaanlage, keine Wellen, kein Mädchen. Schlafen im Stehen.

 

 

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Mein Begleiter führt mich zu einem Fahrstuhl, dessen Inneres klinisch grün leuchtet. Im Spiegel an der Wand sehe ich, dass ich blass bin wie ein Geist, dass meine wenigen Haare platt am Kopf kleben, dabei hatte ich sie extra so kurz schneiden lassen, damit ich nichts zu tun brauche, kürzer als meinen Bart. Der Fahrstuhl summt und beginnt zu fahren. Nach oben. Immer weiter nach oben.

(Okay, wecken wir ihn.)

 

 

II

 

»Geschlafen habe ich nicht wirklich«, sagte ich. Halbschlaf, bestenfalls Halbschlaf, wie stilles Nachdenken, Wachträumen. »Das Medikament hat auch nicht viel geholfen. Ich bin viel zu müde, um zu schlafen.« Mari nickte lächelnd, als glaube sie mir kein Wort. Ein wohlwollendes Lächeln, an das ich mich auch jetzt noch klammere. Jetzt, wo ich aus dem Fenster starre und mich eigentlich schon im vierten Kapitel befinde, aber ich sollte doch die Dinge erzählen, die vorher noch geschehen sind. So stehe ich also weiterhin schlaftrunken neben dem Bett, starre aus dem Fenster und erinnere mich.

Da ist eine Cafeteria hier im Institut. Die Möbel sind im westlichen Stil gehalten, so wie es Anfang des zwanzigstens Jahrhunderts in Wien vielleicht Mode war, mit einem Hauch Japonismus. Man sitzt hier zwischen dunklen Holzmöbeln unter einem Baum, der irgendwie hier in den zwölften Stock geschafft worden war, und der neben einem kleinen Brunnen steht. Im Wasser schwimmen Koi. Ein kühler, angenehmer Ort.

Mari, die schöne Mari. Sie hatte mich am Fahrstuhl abgeholt. Ich sah sie zum ersten Mal im wirklichen Leben. Zwar hatte mir mein Bruder vor Jahren ein Foto geschickt, aber das wurde ihr bei weitem nicht gerecht. Ich wusste über sie nur, dass sie Halbjapanerin ist und in Deutschland Neurowissenschaften studiert hat. Dort ist sie meinem Bruder begegnet. Zusammen sind sie dann nach dem Studium nach Tokio gezogen, für ihre Forschungen und einfach, weil sie es wollten. Und da leben sie jetzt schon seit gut zwanzig Jahren.

 

 

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Sie führte mich nach meiner Ankunft durch das neurowissenschaftliche Institut und betrieb dabei etwas Infodumping: »Unsere Forschung beruht auf den Experimenten von Guohua Shen, Tomoyasu Horikawa, Kei Majima und Yukiyasu Kamitani von der Universität Kyoto, die schon vor gut zwanzig Jahren visuelle Wahrnehmung des menschlichen Hirns dekodieren und darstellen konnten. Sie haben gezeigt, dass sich visuelle kortikale Aktivitäten, die mit funktioneller Magnetresonanztomographie gemessen werden, übersetzen lassen in die hierarchischen Eigenschaften eines vorher trainierten … tiefen … neuronalen Netzwerkes, DNN.« Pause. Dann: »Mir fällt es echt schwer, auf Deutsch darüber zu reden. Unsere Arbeitssprache ist Englisch.«

Ich verstand ohnehin kein Wort und dachte, es sei besser, sie auf ein anderes Gesprächsthema zu lenken: »Gerne hätte ich etwas zu trinken, falls das möglich ist.«

»Natürlich. Wir gehen in die Cafeteria. Da kann ich dir dann alles genauer erklären. Wir duzen uns doch? Wir sind ja Familie.«

Familie.

Sie führte mich weiß gestrichene Gänge entlang.

»Du siehst ihm gar nicht so ähnlich«, sagte sie.

»Ja, man glaubt kaum, dass wir Zwillinge sind … Ich hatte schon immer das Gefühl, ich sei eher adoptiert worden, und das mit dem Zwilling war nur ein schlechter Scherz.« Und, mehr gemurmelt, weil ich den Drang hatte zu spezifizieren: »Zumindest, wenn man sich unsere Lebenswege anschaut.«

Wie ein Lehrer mal zu mir gesagt hatte, als er mich für irgendetwas Unwichtiges tadelte: »Die guten Gene sind wohl an deinen Bruder gegangen. Du hast bekommen, was übrig blieb.« Und: »Man sollte dich ungespitzt in den Boden rammen«, etwas, das ich bis heute nicht verstanden habe. Was hätte man davon?

Die Atmosphäre der Cafeteria wirkte beruhigend. Wir setzten uns.

»Was möchtest du?«

»Einen Kaffee?«

Sie schüttelt den Kopf. »Vielleicht nicht so gut. Sonst haben wir nachher Probleme mit dem Verfahren. Wir wollen ja, dass du schläfst.«

»Wasser dann?«

Sie nickte.

 

Dann erzählte sie mit ruhiger, fester Stimme – ein leichtes Zittern nur ganz kurz, als es um die Details des Unfalls ging und um dessen Folgen: Mein Bruder stand am Gleis 6 in Shibuya, auf den Überwachungskameras konnte man nicht ganz genau erkennen, warum er das Gleichgewicht verloren hat, so erklärte sie, und von der Markierung bis zum Gleisbett war es noch gut ein Meter oder mehr, er hat also vielleicht einen Stoß bekommen oder etwas sehr Seltsames ging vor sich. Die Bahn war zum Glück schon beim Abbremsen gewesen, sonst wäre er jetzt vermutlich tot. Die körperlichen Verletzungen beschränkten sich auf Prellungen, Abschürfungen und den Bruch des linken Unterarms, waren aber inzwischen gut verheilt, nur hatte er das Bewusstsein seit dem Unfall nicht zurückerlangt. Nun lag er seit Wochen in dem Bett, umgeben von Maschinen.

»Bist du … conscious?«, fragte Mari. »Bewusst?«

»Mehr oder weniger.« Eher weniger. Ich wusste im ersten Moment nicht genau, was sie meinte. Wollte sie mich fragen, ob ich bei der Sache bin, jetzt und hier, ihr zuhörte? Oder meinte sie das eher ganz allgemein?

»Ja, jeder wird normalerweise sagen, er sei wach, bewusst. Er nimmt seine Umwelt war, hört Geräusche, sieht Farben und Gegenstände und kann das alles zu einer Welt zusammenfügen.« Sie machte eine kleine Pause und wies in Richtung Theke. »Siehst du den Kellner da hinten?«

Ich nickte.

»Woher wissen wir, ob er bewusst ist? Wir können von hier aus nicht in sein Gehirn schauen. Vielleicht ist er nur ein Roboter, der einer Programmierung folgt.« Dramatische Pause, in der wir den Kellner betrachteten, der einfach da stand und wartete.

»Unser Verfahren ist ein Schritt, in das Bewusstsein anderer Wesen zu schauen. Wir können zumindest die bildlichen Inhalte ihrer Gedanken visualisieren. Und möglicherweise können wir inzwischen sogar noch einen Schritt weiter gehen.«

»Also«, fragte ich, »denkt er? Ist er bei Bewusstsein?« Ich meinte mit »er« meinen Bruder, Mari begriff das sofort, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, es auf den Kellner zu beziehen. Mein Bruder, so nannte ich ihn immer. Merkwürdigerweise hatte ich von Kindheit an eine Abneigung dagegen verspürt, seinen Namen auszusprechen. Ich versuchte stets, es zu umgehen.

»Genau diese Frage stellen wir uns. Wir glauben, dass er bei Bewusstsein ist, vielleicht in einer Art Traum.«

»Kann man das nicht feststellen?«

»Man kann Hirnfunktionen sehen. Aber selbst in einem vegetativen Zustand kann der Cortex noch immer reagieren. Das Hirn kann schauen, aber nicht sehen. Hören, aber nicht zuhören. Deshalb zeichnen die Geräte Hirnfunktionen auf, allerdings wissen wir nicht genau, was vor sich geht. Dennoch ist das schon einmal ein gutes Zeichen, es lässt hoffen. Sogar der obere Cortex ist häufig aktiv, was zeigt, dass komplexe Vorgänge in seinem Hirn ablaufen. Aber er reagiert nicht auf die Außenwelt, und wir können ihn nicht wecken.«

»Aber ihr könnt doch in sein Hirn schauen mit eurer Erfindung – oder verstehe ich das falsch? Sehen, was er denkt?«

»Genau das ist das Problem, das wir gerade zu lösen versuchen. Deshalb bist du hier. Unsere Erfindung, wir nennen sie das YUME-Interface … damit ist leider alles nicht so einfach. Das neuronale Netzwerk muss erst trainiert werden, es muss lernen die individuellen Muster des Probanden richtig zu interpretieren. Es braucht eine Schablone. Dieses Muster ist bei jedem Menschen anders, so wie ein Fingerabdruck. Zwar haben wir natürlich Daten einiger Sitzungen im Wachzustand deines Bruders und somit ein Abgleichmuster, aber er befindet sich ja nicht in einem normalen Wachbewusstsein. Wir brauchen eine Art Übersetzung seiner Traumsprache. Alle Versuche, seine Hirnvorgänge im jetzigen Zustand zu dekodieren, sind fehlgeschlagen. Auf den Visualisierungen, die YUME erzeugt hat, war nichts zu erkennen.«

»Okay«, sagte ich, ohne viel verstanden zu haben, »und was nun?«

»Da kommst du ins Spiel. Einige Kollegen würden das, was ich jetzt erzähle, vermutlich für sehr esoterisch halten, und ich gebe zu, dass wir nur ein wenig im Dunkeln herumstochern damit, aber unser Gedanke ist, dass wir den Vorteil eines Zwillingsbruders haben. Ihr seid nicht nur zusammen aufgewachsen, sondern teilt im Grunde auch körperlich die gleichen Strukturen, oder zumindest sind sie so ähnlich wie sonst höchstens bei einem Klon. Wenn wir die Struktur deines Hirns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen als Schablone nehmen, um YUME zu trainieren, können wir vielleicht Vorlagen generieren, die zu erkennbaren Mustern bei der Visualisierung der Hirnfunktionen deines Bruders führen. Und wenn nicht, dann haben wir da noch die Verschränkungshypothese …«

Ich glaubte, einen leicht rötlichen Schatten auf ihren Wangen zu erkennen. War es ihr peinlich oder erhitzte sie einfach das Gespräch über ihr Lebensthema?

»Verschränkung?«, sagte ich, und es klang für mich wie Quantenphysik.

»Ja, es war eigentlich nur unsere Spinnerei, aber privat dachten wir die ganze Zeit über die Möglichkeit nach, in die Träume und Gedanken anderer Personen einzusteigen.«

»Dreamscape«, murmelte ich. »Ich habe eigentlich keine Lust, Freddy Krueger zu begegnen.«

»Wir werden sehen«, sagte sie und stand auf. »Wir sollten beginnen. In etwa einer Stunde essen wir dann was. Und dann kommt der längere Part. Du müsstest dann hier heute übernachten, das hatte ich dir ja schon geschrieben.«

 

Wir gingen in den Raum, in dem das MRT steht. Ich legte mich auf die Liege, die mich langsam in die Röhre fuhr.

»Wir zeigen dir jetzt sechs Bilder, bitte konzentriere dich auf jedes, so gut du kannst. Versuch alle Ablenkungen auszublenden.«

Durch eine besondere Vorrichtung wurden die Bilder direkt über mir an die weiße Oberfläche des MRT projiziert. Man gab mir Kopfhörer und spielte angenehme Musik, die mich gleich in eine Art Trancezustand versetzte. Es war ein Album mit dem Titel Acid Mt. Fuji. Ich nahm mir vor, es zu kaufen, sobald ich die Chance dazu hatte.

 

BILD 1:

VOGEL, eine Möwe vielleicht, im Flug, weiße Flügel, tiefblauer Himmel, ich kenne mich mit Vögeln nicht aus.

 

BILD 2:

BETT, es erinnerte mich an mein Hotelbett, über der weißen Bettdecke liegt im unteren Teil eine rote Überdecke.

 

BILD 3:

KERZE, eine weiße Kerze, sie brennt, umgeben von Schwärze.

 

BILD 4:

TÜR, eine einfache schwarze Holztür, einen Spalt weit geöffnet, mit Rahmen und Schwelle, sie steht in weißer Leere.

 

BILD 5:

SCHREIN, braunrotes Holz mit gelben Einlagen an den Stellen, die mit Mustern versehen sind.

 

BILD 6:

SCHLÜSSEL, ein Haustürschlüssel auf weißem Untergrund.

Konzentrieren. Durch die Nase einatmen, tief einatmen, und durch den Mund wieder ausatmen, wie bei einem Kreislauf, wie die Yamanote-Linie, wie das Gepäckband. Und der Vogel hat einen flammenförmigen Bart, und die Tür ein Bett und eine Schwelle, der Schrein ist der Schlüssel, und wächserner Geruch steigt mir in die Nase … wachbleiben …

Attenzione!

Ich hebe die Decke, lüfte sie, öffne die Tür, gleiche Bewegung, dieselbe Bewegung, eine einzige Bewegung, öffne das Türbett, trete über die Schwelle. Schwarzes Haar in Finsternis, durchwühlt von Krähenklauen, Vogelflattern – Krähenlaut – Möwenschrei – Fischplätschern – Netzeknistern – Möwen über rauschenden Wellen, ihre Rufe, ihr Abtauchen ins Meer, ich drehe mich um (wachbleiben, konzentrieren! Ruhig liegen, nicht bewegen!), die Tür, die Balkontür, ich gehe zurück in den Raum, ein Schlafzimmer, die Tür fällt zu, ich liege auf dem Bett, dem Schnee der Kissen, das Reiben der Beine an Stoff, die Netze, erneut ein Knistern, wie das der Kerzenflamme, das perlende Wachs (ich muss wach bleiben, und das MRT ist laut wie ein Flugzeug, konzentrier dich) und das flammende Zinnoberrot der Lippen, des Schreins, des Seins, und eine Schüssel mit Wasser, eine Perle darin, ein flackerndes Spiegelbild, der Schein der Flamme und die Tür – die Tür – die verschlossene Tür – ein Reiben – ein Klopfen – ein Bein findet das andere, verfängt sich im Netz, und das Bett – ein Rascheln im warmen Schnee – ein Knarren unter Bewegungen – ausgezogen – und die Kerze – ein Knistern – ein Träufeln des Wachses – und der Schrein – ein Ruhen – und ein Braun, ein Schwarz und Zinnoberrot – und das Tor – weitgeöffnet – und das Schloss – und die Tür – auseinandergezogen, aber auf eine Wand gemalt …

– und der Schlüssel –

– der Schlüssel

Und der Lärm, den das MRT machte … – und die Musik …

Er lullte mich hypnotisch ein, der Krach, hielt mich nicht wach … Und nun erinnerte er mich auch an Bahnwaggons, an die angenehme Tokioter Metro, die wächserne Stille (silenzio!), meditativ, egal, wie voll sie waren, auch wenn sie in die Tunnel eindrangen. – An den Stationen dann die Durchsagen und die kleinen, individuellen Melodien. Großstadtdschungel, von wegen, Beine wuselten durcheinander, und dennoch: Alles so fantastisch geordnet, selbst die Tauben flogen in Escherschen Mustern über den blauen Himmel; die Türen der Bahn stoppten zentimetergenau an den Türen der Absperrungen, die Schwelle und die Lücke zwischen Bahnsteig und Bahn, alles klappte reibungslos, auch mit den elektronischen Schlüsseln ohne Bart, und das Schloss für das Hotelzimmer mit wunderbar hartem Bett …

 

Mari rüttelte an mir. Die Augen brennen. Mein Bewusstsein hat sich vollends nach hinten verzogen, lass mich doch schlafen …

»Sollen wir das Essen ausfallen lassen?«, fragte sie. »Du kannst auch sofort schlafen, wenn du möchtest.«

»Ist vielleicht besser.«

Ich stand von der Liege des MRT auf und merkte, wie mir leicht schwindelig war, ein schläfriges Wummern in der Brust, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Nach ein paar Schritten sagte ich dann: »Vielleicht doch eine Kleinigkeit zu essen, nur etwas, das ganz schnell geht.«

Mari bestellte mir in der Cafeteria einen Cheeseburger, den besten Burger, den ich je in meinem Leben gegessen hatte. Auch wenn alle Sinne abgestumpft waren, der Burger war so gut, dass ich es bemerkte; mir kamen fast die Tränen.

Nach dem Essen und Waschen und Zähneputzen war ich dann wieder so wach, dass Schlafen illusorisch erschien.

III

 

Jetlag, keine Chance zu schlafen.

Zeitdifferenz: Sieben Stunden.

Mari bot mir Melatonin an, ein Hormon, das den Tag-Nacht-Rhythmus des menschlichen Körpers steuert und für gewöhnlich von der Zirbeldrüse hergestellt wird, wie sie erklärte. Denn Zeitverschiebung bringt den Rhythmus völlig durcheinander.

Die Klimaanlage rauschte, sie war etwas zu kühl eingestellt, ich hatte Gänsehaut an Armen und Beinen.

Ich blickte in die Abenddämmerung, keine Sterne, ein paar Wolken, viel zu viel Licht, um den Sternenhimmel sehen zu können, unten: Alle Passanten, alle Autos bewegten sich zielgerichtet in den selben Abend hinein, ohne Geräusche, die zu mir drangen, jeder folgte seinem Weg, geleitet von einem unsichtbaren Faden, einer Essenz, die sein Leben ausmacht; ich wüsste nicht, wohin; ich weiß nicht, wohin. Mein einziges soziales Gefüge lag hier im Koma neben mir, abgesehen von Arbeitskollegen, und selbst wenn er wach gewesen wäre, verbände uns nichts außer Vergangenheit; Vergangenes, Gewesenes: Nachmittage auf der Terrasse eines Hauses, das längst verkauft worden war; Tage in einer Schule, die vermutlich inzwischen abgerissen und durch eine neue ersetzt worden war. Aber selbst damals waren wir uns fremd. Oder sage ich, wie es ist: Ich war fremd. Er, der Erstgeborene, ich die Nachhut, der Nachzügler, der lange Zeit glaubte, er würde auch die Dinge erreichen, den Vorsprung aufholen, halt nur mit etwas Verzögerung (mein persönlicher Jetlag), aber ich warte immer noch, auch heute noch. Unlängst hatte sich mein Leben in ein einziges Warten verwandelt, bis es zu spät geworden ist, denn … Leben muss geformt werden, es kommt nicht von allein. Oder irgendein anderer Ratgeberquatsch.

 

 

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Wo ist das Melatonin für mein Leben? – Mein Umfeld war letztendlich seins, immer schon gewesen, ich nahm daran nur Teil. – Bis er weggezogen war.

Die Autos da unten, bald waren nur noch ihre Scheinwerfer zu erkennen. Es wurde rasch dunkel. Auch an meinem letzten Arbeitstag vor der Reise saß ich in meinem Büro und schaute aus dem Fenster. Drei Stockwerke unter mir ein Teil der Fußgängerzone. Für März war es ungewöhnlich warm gewesen und leer. Ein türkisches Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt mit einer Schnur in der Hand; sie zog ein gelbes Auto hinter sich her, während die Mutter, einen Kinderwagen schiebend, langsam voranging.

 

Mari kam ins Zimmer. »Bist du bereit?«

»Also schlafen kann ich vermutlich nicht.«

»Versuchen wir es. Eben im MRT hat es doch auch ganz gut geklappt.« Sie lächelte. War das Sarkasmus?

Ich ging zurück in mein Bett, das neben dem meines Bruders stand. Ich trug ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift UBIK und karierte Boxershorts.

Die zweite Assistentin, deren Namen ich vergessen habe, kam herein mit einem jungen Mann, den ich bisher noch nicht gesehen hatte. Er nickte zur Begrüßung. Die beiden begannen, mich zu verkabeln. Mari hantierte an einem Monitor herum. Sie lächelte mir erneut zu und sagte: »Wir sehen, was du denkst, also pass auf!«

Ich lachte gekünstelt.

»Und morgen machen wir zur Entspannung ein wenig Sightseeing.«

 

So, alles bereit, alle Kabel an Ort und Stelle. Ich, ein Spielzeug verrückter Wissenschaftler.

»Wäre toll, wenn du anfangs beim Einschlafen wieder an die sechs Bilder denken könntest, das würde helfen.«

Sie dimmte das Licht. »Wir kommen ab und zu herein, um nach dir zu schauen. Aber lass dich nicht stören. Ich werde dann jeweils eins der Wörter nennen, in der Hoffnung, dass dir das hilft.«

Ich versuchte, meine abdriftenden Gedanken zu fokussieren, aber ich fühlte mich wie ein Zombie. Wie fühlen sich Zombies? So wie ich. Zu denken fiel mir zunehmend schwerer. Vogel, Tür, Bett, Kerze, Schrein, Schlüssel. Schon klar. Die weißen Flügel des Vogels verschmelzen mit der Bettwäsche und der Boeing 747, in der ich hier angekommen bin, kerzengelbes Licht, Tür und Schrein sind plötzlich ohnehin eins, unwiderruflich, nicht zu unterscheiden, eindeutig das Gleiche, und der Schlüssel hat einen Bart und liegt im Schrein, beträufelt von Wachs; der Schrein, der eine Tür war, bezogen mit weißem Leinen, ein kurzer röhrenartiger Gang, der ins Flugzeug führt … und wieder hinaus. An … gekommen. Blauer Himmel.

 

 

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IV

 

Sightseeing. Geschlafen habe ich dann wohl doch ein wenig, nicht sehr viel, aber genug, genug, um nicht tot umzufallen. In der Cafeteria gab es ein einfaches Frühstück. Mari schwatzte mir zwei Onigiri auf, die ich hinunterschlang. Sie waren okay, aber nicht umwerfend, ich hatte mir mehr darunter vorgestellt.

»Kaffee?«, fragte ich, für den europäischen Teil.

»Den nehmen wir draußen vom Automaten.« Das klang nicht sehr verlockend.

Dann zerrte sie mich zum Fahrstuhl. Sie schien es eilig zu haben.

Da fahren wir nun, hinab in die Lobby.

Im Spiegel sehe ich nicht mehr ganz so blass aus wie … gestern (war das wirklich gestern oder vorgestern?), immerhin.

Die Luft ist frisch und angenehm, der Himmel zwischen den Hochhäusern ungetrübt, die Straßen sauber, ungewöhnlich sauber sogar. Kein Graffiti, keine Papierfetzen, kein Hundekot, nichts. Fast schon unnatürlich.

»Ich rate dir zu einer der Boss-Kaffeesorten. Die mit dem roten Schild sind warm, die mit dem blauen, kalt.«

Wer will denn kalten Kaffee? – Da stehen wir vor einem der vielen tausend Automaten, wie sie an fast jeder Straßenecke zu finden sind. Weil ich keine Ahnung habe, welche Sorte schmeckt, ziehe ich mir den Boss Coffee in der cremefarbenen Dose und bezahle mit der Suica-Card. Café au Lait, das klingt aufmunternd: ¡Kaffee Olé! Er zischt beim Abziehen der Metallschlaufe. Die Dose liegt angenehm warm in der Hand. Ich koste vorsichtig.

Lecker. Genau richtige Trinktemperatur.

Mari will mir ein paar Orte zeigen, an denen sich mein Bruder gerne herumgetrieben hat, und natürlich ihr kleines Haus, das sie seit zwei Jahren besitzen. Wir gehen die Straße entlang. Der Bürgersteig ist relativ leer, ab und zu ein Passant, Autos fahren auch nur wenige vorbei.

Schließlich frage ich nach den Ergebnissen der vergangenen Nacht. Es scheint so weit alles gut geklappt zu haben, sagt sie, zumindest die Aufnahmen im MRT, auch wenn ich nicht ganz bei der Sache gewesen bin und manchmal geschlafen habe, aber die Dekodierung meiner Hirnfunktionen sowie die Aufzeichnungen in der Nacht sind zufriedenstellend verlaufen. Allerdings war der Abgleich der Daten mit denen meines Bruders nicht so ganz erfolgreich wie erhofft. Es gab da noch gewisse Problemfelder. Vielleicht sind diese Unterschiede im Traumzustand nicht mehr allzu groß, aber es braucht eine Weile, bis die Daten vollständig verarbeitet sind. Wach, so verstand ich es, scheine ich eher alles negativer einzufärben als mein Bruder.

Das brachte mich zum Lachen.

Die Zeit, in der wir nun die Stadt besichtigen, die wird im Institut für Rechenzeit genutzt, Rechenzeit, um aus den Daten neue Schablonen zu erstellen, und die KI zu trainieren. Vielleicht, so der Gedanke, können wir dann die Daten der Hirnvorgänge meines komatösen Bruders dekodieren.

Vielleicht.

Wir fahren mit einer langen Rolltreppe hinunter in die Metrostation.

»Bitte links stehen«, sagt Mari. Ich sehe, dass ich mal wieder aus der Reihe tanze, alle stehen sie links, nur ich nicht. Auf der Stufe hinter Mari ist Platz, da stelle ich mich hin, während wir in die Tiefe gleiten, in das Unbewusste der Stadt. Dann mit der Suica-Karte durch das Gate und noch einmal eine Rolltreppe nach unten zum Bahnsteig.

Hier gibt es wieder diese Absperrungen mit den elektronischen Türen, die verhindern, dass man ins Gleisbett fällt. Das ist auch gut so, denn der Bahnsteig ist sehr eng. Und wer möchte schon auf Gleisen schlafen?

 

In Asakusa dann, umgeben von Touristenhorden. Das Wetter ist angenehm. Frühlingshaft. Der leichte Wind erfrischt, lüftet die Decke der Erschöpfung. Dennoch wirkt alles unwirklich, traumhaft; nicht wie ein Alpdrücken, auch nicht surreal, obwohl eine seltsame Verschmelzung stattfindet, eine Verschmelzung dieser städtischen Aufgeräumtheit mit meiner … Seele, meiner Psyche, so als überlagere diese Stadt mein Innerstes, sie glättet die Wogen. Gleichzeitig aber unterdrückt sie eine Energie, die irgendwann auszubrechen droht. So wie das große Beben, auf das Tokio seit Jahren wartet, so wie der Ausbruch des Fujiyama.

Mari reißt mich aus meinen Gedanken:

»Das ist ein torii, ein Eingangstor, wie es bei jedem Schrein steht. Es markiert die Grenze vom Profanen zum Sakralen.«

arbeito