Über Roxane van Iperen

Foto: Jan Willem Kaldenbach

Roxane van Iperen, 1976 geboren, ist Juristin und Publizistin. Für ihren Debütroman Schuim der Aarde wurde sie 2016 mit dem Hebban-Debütpreis ausgezeichnet. Für Ein Versteck unter Feinden wurde ihr 2019 der niederländische Opzij-Literaturpreis verliehen, der an Autorinnen vergeben wird, die sich in ihrem Werk für die Emanzipation von Frauen einsetzen.

 

 

Der Übersetzer

Stefan Wieczorek, geboren 1971 in Koblenz, ist Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist. Sein Engagement gilt insbesondere der Gegenwartsliteratur aus Flandern und den Niederlanden. Er lebt in Aachen.

Als wir auf den Waldweg einbiegen und sich das Haus zwischen den Bäumen zeigt, hat es uns verzaubert. Die Redensart »ein Häuschen im Grünen« – und genau danach hatten wir gesucht – entspricht nicht ganz der Realität, denn dieses Haus ist riesig und trägt sogar einen eigenen Namen: Das Hohe Nest. Unser Blick gleitet über die stattliche Fassade, die mit Efeu bewachsenen Steinmauern und die alten Fensterläden. Aus allem hier spricht Geschichte, Größe, aber ohne das Prätentiöse oder Steife, das damit oft einhergeht. Im Gegenteil: Der verwilderte, waldähnliche Garten, das hochstehende Gras, die Strickleitern, die hin und her baumeln, die Obstbäume weiter hinten – all das verlangt geradezu danach, herumzurennen, zu spielen, ein Feuer zu machen und bis in die Nacht unter dem Sternenhimmel zu reden, ungestört von der bewohnten Welt. Wir schauen uns an und denken das Gleiche. Wenn wir hier leben könnten.

Das Unvorstellbare wird Wirklichkeit. Im Spätsommer des Jahres 2012 ziehen mein Mann und ich mit unseren drei kleinen Kindern, einem Altdeutschen Schäferhund und drei Katzen mit einem Mobile Home in den Garten des Hohen Nestes. Vor uns liegt ein langer Weg, an dessen Ende wir diese ganz besondere Villa wieder im alten Glanz erstrahlen lassen wollen. Wände werden restauriert, Treppen abgeschliffen, Verkleidungen entfernt, unter denen sich Decken mit einfallsreichen

Mit meinen Fragen löchere ich die ehemalige Besitzerin des Hauses, Nachbarn und Ladenbesitzer in den umliegenden Dörfern, ich stürze mich auf Kataster und Archive, und eine verblüffende Entdeckung folgt auf die nächste. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs – die Züge in die Konzentrationslager sind ausgelastet und die »Endlösung der Judenfrage« wird Realität – errichten zwei jüdische Schwestern im Hohen Nest ein Zentrum des Widerstands und verstecken viele Verfolgte. Nach und nach lerne ich deren Nachfahren kennen, und die damals untergetauchten Kinder kehren ins Haus zurück. Sie teilen ihre Erinnerungen mit mir, geben mir persönliche Dokumente. So bekommt die Geschichte Farbe, kann ich den Schwestern eine Stimme geben.

Langsam, aber sicher, Zimmer für Zimmer, finden die Puzzlestücke zueinander, bis die unglaubliche Geschichte jetzt, sechs Jahre später, auf dem Papier steht: Dieses Haus ist größer als wir. Wir sind nur Passanten, die das Glück haben, es bewohnen zu dürfen.

»Wenn gekämpft werden muss, muss gekämpft werden. Man kann sich selbst nicht untreu werden. Man kann sich selbst auch nichts vormachen. Wir standen für etwas ein. Wir haben getan, was wir tun mussten, was wir tun konnten. Nicht mehr und nicht weniger.«

Janny Brandes-Brilleslijper

Amsterdam, 1912. Wenn die Schlacht um den Nieuwmarkt anders ausgegangen wäre, hätte es die Familie Brilleslijper wahrscheinlich nicht gegeben. Dort, auf dem Platz im jüdischen Viertel, dem sogenannten Jodenhoek, zu Füßen des jahrhundertealten Stadttors De Waag, kämpft Joseph Brilleslijper um die Hand von Fijtje Gerritse.

Ihre Familien könnten gegensätzlicher nicht sein: Joseph stammt aus einem Zirkusgeschlecht von umherziehenden, jiddisch sprechenden Musikern, und obwohl sein Vater mittlerweile beruflich Obst importiert, sind für den Haushalt Brilleslijper noch immer die ausschweifenden Freitagabende zu Hause in der Jodenbreestraat typisch, wenn sich alle Familienmitglieder versammeln, um zu musizieren und Theater zu spielen. Fijtje Gerritse hingegen stammt aus einer Familie frommer friesischer Juden, alle groß und eher mürrisch, alle mit rotblondem Haar, die ihre sechs Kinder mit eiserner Disziplin inmitten der Gottlosigkeit des Amsterdamer Zeedijk erziehen, in dem sich Hafenarbeiter, Huren und Seemänner tummeln. Schon in jungen Jahren arbeitete Fijtje dort im Geschäft ihrer Eltern, das abends geöffnet war. Sie stand auf einer Kiste hinter der Kasse, neben sich die drei Brüder als Rausschmeißer. Sie ist bis über beide Ohren in den immer zum Lachen aufgelegten Joseph Brilleslijper verliebt, aber ihre Eltern wollen von dem jungen Kerl nichts wissen: ein Nichtsnutz ohne Beruf, der bei jeder

Nachdem Joseph sich von den drei Gerritse-Brüdern wiederholt eine heftige Abreibung eingefangen hat, als er bei Fijtjes Eltern um ihre Hand anhalten wollte, ja von ihnen sogar aus dem Haus gejagt wurde, wobei sein Gesicht unsanft auf dem Pflaster landete, weiß er, dass er nur noch eine Chance hat. Er fordert die ungeschlagenen Riesen des Zeedijk-Viertels auf, von ihrem Thron herabzusteigen, sodass er der Familie Gerritse ein für alle Mal zeigen kann, zu was er imstande ist. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ruben trommelt er einige Freunde aus der Jodenbreestraat und den Joden Houttuinen zusammen. Darunter ist ein Junge namens Stummer Öpie, der noch nie ein Wort gesagt hat, der aber so bärenstark ist, dass niemand es auch nur wagt, laut ein Wort darüber zu verlieren. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Kiefern halten sie auf De Waag zu. Vor der Fischhalle auf dem Nieuwmarkt kommt es zu einem spektakulären Faustkampf, und zum ersten Mal in ihrem Leben werden die Brüder Gerritse in die Knie gezwungen. Joseph wischt sich das Blut von den Fingerknöcheln, holt seine »Fietje« im Laden ihrer Eltern ab und zieht mit ihr bei Ruben und dessen Frau ein. Ob es nun ein taktisches Kunststück, brutale Gewalt oder Glück war: Der Sieg ist das Startzeichen eines liebevollen Zusammenlebens. Sie heiraten am 1. Mai 1912 und Josephs Vater organisiert ein Häuschen für das junge Paar im ärmlichsten Teil des Jodenhoek. Dort bei den Joden Houttuinen, auf der Ecke zum Uilenburgersteeg, erblickt am 13. Dezember 1912 ihr erstes Kind, Rebekka – »Lientje« – Brilleslijper das Licht der Welt.

Die Familie ist arm, aber glücklich. Nach ein paar mageren Jahren können sie mit Hilfe von Josephs Vater, Opa Jaap, einen Laden in der Nieuwe Kerkstraat übernehmen. Mit der kleinen Lien ziehen sie über dem Geschäft ein. Fietje arbeitet Tag und

Während Joseph und Fietje rund um die Uhr arbeiten, damit es auch am Ende des Monats noch reicht, erzieht der Jodenhoek die Kinder. Große Familien leben in Häusern, die eigentlich nur bessere Schuhkartons sind – mit Schlafplätzen unter Spülbecken und neben der Fußbodenleiste in der Diele; das Leben der Kinder spielt sich daher vor allem auf der Straße ab. Um die Ecke des elterlichen Hauses befindet sich das Theater Carré, dort beobachten sie stundenlang die hübsch herausgeputzten Menschen, die in die Revue strömen. Etwas weiter in der Jodenbreestraat gibt es das Tip-Top-Theater, ein beliebter Treffpunkt, wo Stummfilme gezeigt werden und bekannte Künstler wie Louis und Heintje Davids auftreten. In diesem Viertel kennt jeder jeden; Brüder helfen, das tägliche Brot zu verdienen, Schwestern, die Kinder groß zu bekommen. In den Straßen hängt Essensgeruch; vom Waterlooplein bis zur Jodenbreestraat sind Stände aufgebaut, an denen geröstete Maronen, frischer Fisch, scharfe Gewürze und saure Gurken angeboten werden. Freitags kocht Fietje, genau wie einige andere Frauen aus der Nachbarschaft, für die Armen immer einen großen Topf Suppe über dem Feuer. In den Kriegsjahren, als plötzlich viele belgische Flüchtlinge im Laden auftauchen, gibt sie besorgten Müttern auch ohne Geld deren Einkäufe mit – »Ich schreib das an«, sagt sie dann und lächelt ihnen zum Abschied zu. Freitags trifft man sich abends mit dem Rest der Familie Brilleslijper im Haus von Opa Jaap an der Jodenbreestraat.

So spielt die frühe Jugend der drei Brilleslijper-Kinder sich in der bedürftigen, aber geschützten Umgebung des Amsterdamer Jodenhoek ab, in einer Familie voller Liebe und Musik. Aber im Laufe der zwanziger Jahre wird das Leben schwieriger. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Familien haben nichts zu essen, und als Fietje einmal freitags bei einer Nachbarin vorbeischaut, besteht deren traditioneller Eintopf für die Armen bloß noch aus kochendem Wasser. Das Gebäude, in dem sich ihr Laden und darüber ihre Wohnung befinden, wird an eine große Firma verkauft, und notgedrungen müssen sie in die Rapenburgerstraat umziehen. Das ist nur ein Block entfernt von ihrem alten Haus, aber die Mutter verliert ihr Geschäft, und dieser Verlust trifft sie schwer. Joseph allein verdient zu wenig, um das Haus zu halten, und die Familie zieht nochmals um, in zwei kleine Zimmer in der Nähe der Marnixstraat. Vor Tagesanbruch verlassen Fietje und Joseph die Wohnung, um Geld als Obst- und Gemüsegroßhändler zu verdienen.

Nach dem Tod von Opa Jaap 1925 ändern sich die Zeiten ein wenig: Joseph übernimmt mit der Unterstützung seines Bruders Ruben den Großhandel, und sie ziehen zur Familie in ein Gebäude in der Marnixstraat, wo sie das erste Geschoss bewohnen. Janny und Lien haben ein wunderbares gemeinsames Zimmer. Aber den Mädchen scheint der vertraute Jodenhoek Meilen entfernt; sie vermissen ihre Umgebung, die Menschen und das vertraute Jiddisch Amsterdams, mit dem gelispelten »S«. Abgeschnitten vom Jodenhoek verstehen die Mädchen zum ersten Mal, warum der stetig wachsende Strom jüdischer Flüchtlinge aus Russland und Polen in derart winzigen Gebäuden aufeinanderhockt. Im Straßenbild um die Nieuwe Prinsengracht, in der

Die Schwestern sind nicht nur äußerlich kaum auseinanderzuhalten, sie sind auch unzertrennlich und genießen die Freiheiten, die sich aus dem liebevollen Schlendrian der Eltern ergeben. Wenn Joseph und Fietje in der Morgendämmerung zum Markt aufgebrochen sind und Japie noch schläft, holen sie ihre Fahrräder aus dem Schuppen, treten kräftig in die Pedale und fahren mit vornübergebeugten Oberkörpern am Olympia-Stadion vorbei, über den Amstelveenseweg und dann rechts ab zum Ijsbaanpad. Bei der hölzernen Fußgängerbrücke über die Zugtrasse nach Aalsmeer müssen sie absteigen; die Brücke ist so steil und hoch, dass sie sich ins Zeug legen müssen und mit ausgestreckten Armen ihre Fahrräder emporschieben, die Augen zu Schlitzen verengt, damit sie die Schienen tief unter sich nicht sehen müssen. Und dort, wo die Schinkel ins Nieuwe Meer fließt, liegt auf hohen Pfählen das Schinkelbad, ein aus Holz errichtetes Freischwimmbad, gespeist aus dem örtlichen Wassernetz. Mit verschwitzten Körpern vom Fahrradfahren und dem Schlussanstieg springen sie rasch ins kalte Wasser und schwimmen jedes Mal etwas zu lange, sodass sie sich sputen müssen, um Jaap noch rechtzeitig zur Schule zu bringen.

Janny und Lien entwickeln sich zu zwei bildhübschen Mädchen. Sie sind klein und dunkel, mit geraden Nasen, hohen Jochbeinen und Augenbrauen, die aussehen wie Fuchsschwänze. Die schwarzen Haare tragen sie im Nacken zusammengebunden. Mit dem Ende der Volksschule ist ihre Ausbildung abgeschlossen; die Eltern haben kein Geld, um sie noch länger die Schule besuchen zu lassen und können ihre Hilfe außerdem gut gebrauchen. Das ist nicht weiter schlimm: Die Schwestern sind wissbegierig und haben einen guten Blick für die Welt um sie herum – Amsterdam

Lien entpuppt sich als musikalisches Talent. Mit jungen Jahren singt sie in einem Kinderchor und trumpft bei den musikalischen Abenden bei Opa Jaap auf. Als Jugendliche besucht sie für einige Jahre die Tanzschule von Florrie Rodrigo, einer jüdisch-portugiesischen Tänzerin, die sich zunächst einen Namen im Cabaret von Jean-Louis Pisuisse und später als expressionistische Tänzerin in Berlin gemacht hat. Nach der Flucht vor dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland eröffnet sie eine Tanzschule im Jodenhoek von Amsterdam. Joseph hält von dem frivolen Hobby seiner Tochter nichts und verbietet ihr, weiterhin zu Florrie zu gehen. Aber Josephs sture Gene sind stärker als seine Autorität: Über Florrie lernt Lien die Choreographin Lili Green kennen, und mit etwa sechzehn fängt sie an, heimlich Unterrichtsstunden zu nehmen. Lili ist eine Pionierin in der Welt des Tanzes, eine Tänzerin, die klassische Balletttechniken modernisiert, und sie sieht für Lien eine echte Zukunft in diesem Metier. So arbeitet Lien also tagsüber als Näherin, eilt abends ins Studio von Lili Green auf der Pieter Pauwstraat zum Training und präsentiert nachts ihre Kunst in den Clubs um den Rembrandtplein. Wenn sie wieder einmal in der Morgendämmerung nach Hause kommt, und auf der Treppe ihrer besorgten Mutter begegnet, schleust diese sie schnell in ihr Zimmer, bevor Joseph sie entdeckt.

Die jüngere Schwester Janny hält es nur ein halbes Jahr in der Nähstube aus. Wie schon in der Schule ist sie ungeduldig

Sie arbeitet vor allem für die Internationale Rote Hilfe: Mit verschiedenen Aktivitäten unterstützen sie niederländische Freiwillige, die im Spanischen Bürgerkrieg kämpfen wollen. Zudem gehört sie dem Komitee »Hilfe für Spanien« an. Dort arbeitet sie mit jungen Leuten zusammen, die sich auf der Keizersgracht 522

Auch die Situation in den Niederlanden verschlechtert sich. Die wirtschaftliche Depression sorgt für breite Pauperisierung, die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter und Premier Colijn setzt eine eiserne Sparpolitik um. Zu Hause bei Familie Brilleslijper läuft es auch nicht mehr gut: Joseph musste sich mehreren schweren Augenoperationen unterziehen und erholt sich davon nur schlecht. Fietje und die drei Kinder verdienen das Geld, bis auch die Mutter krank wird und ins Krankenhaus muss. Einen Lichtblick gibt es am Ende der unruhigen dreißiger Jahre: Beide Schwestern begegnen den Männern, die ihr Leben verändern.

~

Lien wohnt mittlerweile allein, vor allem um dem Zorn des Vaters über ihre Tanzleidenschaft zu entkommen. Sie lebt in einer Künstlerkommune auf der Bankastraat in Den Haag, die aus einer bunten Truppe Studenten besteht. Es gibt eine gemeinschaftliche Küche, eine Haushaltskasse, und im Flur hängt eine

Als Lien im Sommer 1938 für ihre Arbeit in der Revue vorübergehend ein Zimmer am Leidseplein in Amsterdam mietet, kommt ihre vier Jahre jüngere Schwester Janny am Ende ihres Arbeitstages häufig zum Essen vorbei. Eines Abends, Janny ist wieder zu Gast bei Lien, trifft sie dort Bob Brandes, der sie wegen ihrer politischen Überzeugungen aufzieht – er sitzt im Leitungsgremium der Sozialdemokratischen Studentenvereinigung und absolviert ein Praktikum bei dem kommunistischen Verlag Pegasus in Amsterdam. Während der Diskussion wird Janny derart sauer, dass sie anfängt mit Kissen zu werfen, um diesem Besserwisser den Mund zu stopfen. Als sie aber wenige Wochen

Frau Brandes, der Mutter von Bob, kommt die Affäre zu Ohren, und sie ruft daraufhin den wohlerzogenen Pianisten an, der einmal bei ihnen ein Hauskonzert gegeben hat, diesen Eberhard Rebling, um ihn zu bitten, auf seinen Freund Bob einzuwirken: Dieses Mädchen aus einem zweifelhaften Kaufmannsmilieu sei wirklich eine Nummer zu gewöhnlich für ihren Sohn. Eberhard hört ihr amüsiert zu, beruhigt Frau Brandes und versichert ihr, die Familie Brilleslijper bringe wirklich allerliebste Töchter hervor. Im Januar 1939 nimmt Bob Janny mit ins Kino in Den Haag, geht nach dem Ende des Films mit ihr nach Hause und zieht nicht wieder aus.

Bobs Eltern weigern sich, der beabsichtigten Hochzeit zuzustimmen: Neben Jannys sozialem Hintergrund halten sie ihre jüdische Abstammung in dieser Zeit für ein Risiko. Diese Haltung bereitet ihr natürlich Kummer, doch sie folgt dem Beispiel ihrer eigensinnigen Eltern: Im September 1939 treten die fast dreiundzwanzigjährige Janny und der sechsundzwanzigjährige Bob in den Stand der Ehe. Gefeiert wird in Jannys Elternhaus in Amsterdam, ohne Vater und Mutter Brandes, allerdings in Anwesenheit seiner Schwestern, unter denen sich Aleid Brandes befindet, mit der sich Janny gut versteht. Joseph schmiert Brote für alle, Fietje ist wieder aus dem Krankenhaus zurück und Janny ist mit einem nicht zu übersehenden runden Bauch der strahlende Mittelpunkt. Mit einiger Schadenfreude hat Bob eine Hochzeitsanzeige in der Den Haager Zeitung aufgegeben, woraufhin Herr und Frau Brandes noch wochenlang mit Glückwünschen aus ihrem vornehmen Bekanntenkreis überschüttet werden.

Einen Monat nach der Hochzeit, am 10. Oktober 1939, wird

Das junge Paar schwebt auf einer rosa Wolke, aber satt werden sie davon nicht. Durch ihre letzte Anstellung vor der Schwangerschaft – sie arbeitete an einer Strickmaschine in einer Fabrik – bekommt Janny ein wenig Mutterschaftsgeld, das rasch zusammenschmilzt. Bob bricht das Studium ab und findet eine Anstellung als Beamter. Janny kümmert sich um den kleinen Robbie.

Die Familie wächst schnell: Im Winter 1939 gewähren sie dem ersten Untergetauchten in ihrem Haus Unterschlupf. Alexander de Leeuw ist ein führender Anwalt aus Amsterdam, Vorstandsmitglied der Kommunistischen Partei der Niederlande (CPN) und Direktor bei Pegasus, wo er Bob kennengelernt hat. De Leeuw ist bekannt für seinen schroffen Charakter, aber auch für seinen kompromisslosen Kampf gegen den Faschismus und seine viel gelesenen Publikationen. Als bekannter Kommunist und CPN-Anwalt wird er zu einer Zielschiebe im immer feindseliger werdenden Amsterdam. Die jahrelange Politik der Genügsamkeit der Kabinette Colijn haben dem Land nicht über die ökonomische Krise hinweghelfen können, im Gegenteil: Die wirtschaftliche Erholung kommt kaum in Schwung, und die anhaltende Knappheit verursacht anwachsende Spannungen. Hunderttausende Juden und Sozialisten versuchen aus Deutschland und weiter östlich gelegenen Ländern zu entkommen, auf der Flucht vor der Orgie der Gewalt, die in der Kristallnacht Ende 1938 entfesselt wurde, als Juden auf der Straße gelyncht wurden. Aus Angst, Deutschland vor den Kopf zu stoßen, hat die niederländische Regierung die Grenze für Flüchtlinge geschlossen, die als »unerwünschte Elemente« gebrandmarkt wurden. Zudem, so argumentiert Colijn, würde ein massenhafter Zustrom von Juden den bestehenden Antisemitismus im Land bloß verschlimmern. »Vermieden werden muss alles, was tendenziell eine dauerhafte Ansiedlung in unserem bereits so dicht bevölkerten Land

Die Benennung eines Sündenbocks fällt auch in den Niederlanden auf fruchtbaren Boden, und der Hass zeigt sich immer deutlicher in der Öffentlichkeit. In diesem Winter des Jahres 1939 läuft in mehreren Kinos der Hauptstadt der Film Olympia, den Leni Riefenstahl im Auftrag Adolf Hitlers über die olympischen Spiele 1936 in Berlin drehte – ein langatmiges Anhimmeln arischer Sportlerkörper. Der Film zieht Gruppen halbstarker Anhänger der Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland (NSB) an, und in der Stadt kommt es zu Schlägereien: NSB gegen Linke und Juden.

Der Anwalt De Leeuw fühlt sich sogar in seiner Stammkneipe Reynders nicht mehr sicher und sucht einen Ort, um unterzutauchen. Die Wohnung von Janny und Bob in Den Haag liegt im Obergeschoss; er kann auf dem Speicher schlafen und sich im Nebenzimmer des gerade geborenen Robbie heimlich waschen. Janny fällt auf, wie in sich gekehrt und ungelenk ihr untergetauchter Gast ist. Als ihre Schwester Lientje eines Morgens unangekündigt hereinkommt und De Leeuw bei Janny im Wohnzimmer beim Frühstück sieht, blicken sie einander erschrocken an. De Leeuw brummelt etwas vor sich hin, kramt sein Zeug zusammen und rast mit gesenktem Kopf an Lien vorbei auf den Speicher. Lien zieht fragend ihre Augenbrauen hoch und blickt Janny an, die nur demonstrativ die Lippen zusammenpresst und mit den Schultern zuckt, als hätte sie diesen Mann noch nie zuvor gesehen.

 

Als am 10. Mai 1940 um 03.55 Uhr deutsche Panzerzüge die niederländische Grenze überqueren und Geschwader der Luftwaffe

Nachdem unser Land mit peinlich genauer Gewissenhaftigkeit in all diesen Monaten eine strikte Neutralität gewahrt hat, und obwohl es keine andere Absicht hatte, als diese Haltung streng und konsequent aufrechtzuerhalten, hat die deutsche Wehrmacht in der vergangenen Nacht ohne die geringste Warnung plötzlich unser Gebiet angegriffen. Dies ungeachtet der offiziellen Zusage, dass die Neutralität unseres Landes respektiert würde, solange wir uns an sie hielten.

In den ersten Tagen hoffen Janny und Bob noch, dass die Engländer die Deutschen aus dem Land jagen, aber das passiert nicht. Aus ihrem Haus in der Bazarlaan sind die königlichen Stallungen des Paleis Noordeinde quasi zum Greifen nah, und als sie am 13. Mai einen abfahrenden Konvoi mit eleganten Wagen sehen, wird ihnen klar: Die Niederlande sind besetzt. Als Robbie an diesem Abend eingeschlafen ist, sprechen Janny und Bob über die Situation. Sie kennen die Geschichten der Flüchtlinge aus dem Osten, die Traumata der Spanienkämpfer und die verhärteten Fronten in den Niederlanden in der jüngsten Vergangenheit. Aber sie zweifeln nicht im Geringsten: Sie werden dem Faschismus Widerstand leisten. Sie sind sich der möglichen Konsequenzen bewusst, obwohl sie sich noch keine Vorstellung von dem machen können, was sie tatsächlich erwartet.

Als Janny ein paar Tage später während eines Spaziergangs mit Robbie im Kinderwagen plötzlich vom Luftalarm überrascht wird, rennt sie durch die Straßen Den Haags und sucht Schutz. Das Unheil verkündende Heulen erfüllt die Luft, kreist zunächst

Die braune Pest

Die erste, die sie nach der Kapitulation verlieren, ist Anita, ein fröhliches Mädchen aus der Wohngemeinschaft in der Bankastraat. Am 14. Mai 1940 starren Lien, Eberhard und deren Freunde am Fenster des Vorderzimmers schweigend auf die schwarzen Rauchschwaden in der Ferne über Rotterdam – ein Fehler der Deutschen, die nach der niederländischen Kapitulation ihre Flugzeuge nicht rechtzeitig zurückbeordert haben. Plötzlich hören sie oben ein Stöhnen, es kommt aus dem ersten Stock. Lien eilt die Treppe hoch, Eberhard ist dicht hinter ihr, sie finden Anita kreideweiß und matt auf ihrem Bett, ein Glasröhrchen neben sich. Die junge Frau war vor dem brutalen Antisemitismus aus Deutschland geflohen; einmal erzählte sie Lien von der Dosis Arsen, die ihr ihr Vater, ein jüdischer Arzt, als Abschiedsgeschenk mitgegeben habe. Die Geschichte führte ihnen den Ernst der Lage in Deutschland einmal mehr vor Augen, dennoch hatten sie die Geste des Vaters auch als übertrieben dramatisch empfunden. Bis jetzt. »Besser tot als in den Händen der Nazis«, hatte Anitas Vater ihr ans Herz gelegt.

Im Rest der Niederlande denken viele ähnlich: Nachdem die Nachricht von der Kapitulation die Runde macht, nehmen sich Hunderte Menschen das Leben. Trotzdem geht das öffentliche

Und damit beginnt die Zeit des Wartens.

 

Am 29. Mai 1940 hält der Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart seine erste Ansprache als höchster Beamter der Besatzungsmacht im Rittersaal in Den Haag. Der österreichische Jurist mit der Schmachtlocke und der kleinen, runden Brille kündigt an, dass

Wir kommen nicht hierher, um ein Volkstum zu bedrängen und zu zerstören und um einem Land die Freiheit zu nehmen. […] Aber diesmal ist es nicht um Volkstum und Glauben und Freiheit gegangen; diese Güter der Nation waren niemals bedroht. Diesmal ist es darum gegangen, daß die Niederlande zur Plattform für einen Angriff gegen den politischen Glauben, die Freiheit und das Leben der deutschen Nation mißbraucht werden sollten. […] Dies ist es, was ich heute aus dem Anlaß der Übernahme der obersten Regierungsgewalt in den Niederlanden dem niederländischen Volk sagen wollte. Wir sind nicht gern mit Waffengewalt gekommen. Wir wollen Schützer und Förderer sein, um dann Freunde zu bleiben, dies alles aber in dem Sinne der höheren Aufgaben, die wir als Europäer haben. Denn es geht darum, ein neues Europa zu bauen, dem als Leitstern die Grundsätze vorangestellt sind: Nationale Ehre und gemeinsame Arbeit.

In den Niederlanden atmet man auf. Hier wird es anders laufen als in den östlichen besetzten Ländern: Vor diesem kultivierten, westlichen Land haben die Deutschen zumindest Respekt. Hitler hat immer betont, dass er die slawischen Völker als Abfall in seinem Hinterhof betrachtet, den man wegräumen muss, dass er dort Lebensraum schaffen will, und hofft, seine germanischen Brüder im Westen werden ihm dabei helfen. Die Niederlande haben sich nicht weiter um die deutsche Unterdrückungspolitik geschert – dafür erfährt man im Gegenzug gewiss eine milde Behandlung, so ist die Hoffnung im Land. Sogar die deutschen Soldaten sind gar nicht so schlimm: Bei diesem strahlenden Sommerwetter sieht man sie überall im Straßenbild, und am Strand von Scheveningen genießen sie warmen Kakao mit Schlagsahne –

Als Lien gut gelaunt bei Janny zum Kaffeetrinken vorbeischaut, kann sich diese der positiven Perspektive nicht anschließen. Janny ist kurz angebunden und abwesend.

»Du darfst nicht mehr so oft hierherkommen.«

Das sagt sie, bevor sie ihrer Schwester überhaupt etwas zu trinken angeboten hat. Lien denkt an die fremden Männer, die sie immer wieder im Haus sieht, die verbotenen Zeitungen, die geheimen Verabredungen. Janny wird doch ihrer eigenen Schwester vertrauen?

»Ist es wegen Eberhard?«

Lien bekommt das fast nicht über die Lippen. Sie verengt ihre Augen zu Schlitzen, hält den Kopf schief und blickt ihre Schwester an. Lien weiß, dass Janny keine Zwischentöne akzeptiert, was die Besatzung betrifft; für sie ist jeder weitere Tag mit den Deutschen im Land einer zu viel. Und Eberhard ist Deutscher.

»Wie kommst du bloß darauf? Ich vertraue Eberhard wie meiner eigenen Familie.«

Janny drückt Lien an sich und seufzt. Dann hält sie ihre Schwester mit ausgestreckten Armen von sich weg und schaut ihr in die Augen.

»Hier ist es gefährlich, Lientje. Du hast keine Ahnung, wozu die Moffen imstande sind. Glaub mir: Je weniger du hier bist, desto besser ist das. Für dich und für mich.«

Kurz nach dem Gespräch mit ihrer Schwester steht Lien vor dem Tanzstudio, bereit, ihre nächste Stunde zu geben, als ein

~

Eines Abends im Oktober kommt Bob mit einem Formular aus dem Büro nach Hause. Es ist eine Ariererklärung, mit der alle Beamten in den Niederlanden verbindlich angeben müssen, ob sie selbst jüdisch sind oder jüdische Verwandte haben. Gleich nachdem sie Robbie ins Bett gebracht haben, setzen sie sich zusammen und gehen die Erklärung konzentriert durch:

Der Unterzeichnende: ....................

Beruf: ....................

Tätigkeit: ....................

Geboren am .................... in ....................

wohnhaft in ....................

erklärt, dass nach seinem besten Wissen weder er/sie selbst noch der Ehepartner bzw. seine/ihr Verlobte(r), noch jemand seiner/ihrer Eltern oder Großeltern jemals der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehört hat.

Dem Unterzeichnenden ist bekannt, dass ihm/ihr, falls obenstehende Erklärung sich als unrichtig erweist, fristlos gekündigt werden kann.

...................., 1940.

(Unterschrift)

»Was machst du da?«, fragt Janny.

»Ich fülle nichts aus und du auch nicht. Ich will damit nichts zu tun haben, und was passiert, werden wir ja sehen.«

Einen Monat später wird jeder im Staatsdienst entlassen, von dem man weiß, dass er Jude ist. Darunter auch der Vater ihrer Freundin Tilly, der Vorsitzende des Hohen Rats der Niederlande, des obersten Gerichts des Landes: Lodewijk Visser. Keiner seiner Kollegen protestiert dagegen.

 

Janny und Bob ahnen noch nicht, was auf die durchorganisierte Erfassung der Juden folgen wird und ignorieren die Erklärung. Viel interessanter sind die ermutigenden Zeichen des Widerstands in ihrer eigenen Umgebung. Sie hören vom Streik von Dutzenden Schülern am Vossius-Gymnasium in Amsterdam und vom zivilen Ungehorsam von Professor Rudolph Cleveringa an der Universität Leiden. Die Protestrede von Cleveringa wurde von Studenten tausendfach illegal im ganzen Land verteilt, und Janny und Lien bekommen auch ein Exemplar in die Hände. Cleveringa gehört, genau wie Bob, zu der sehr kleinen Gruppe von Beamten in den Niederlanden, die sich dazu entschließen, die Ariererklärung nicht zu unterzeichnen – im Fall von Cleveringa aus Solidarität mit seinen beiden jüdischen Kollegen, den Professoren Meijers und David, die gerade entlassen wurden. Aber jeder, der sich weigert das Formular auszufüllen, riskiert den Verlust der Arbeit. Cleveringa ist kein impulsiver Draufgänger, er ist sich der möglichen Konsequenzen sehr wohl bewusst, und doch will er seinen Standpunkt klar vertreten. Am 26. November 1940 bricht Cleveringa morgens zur Universität auf, angeblich um ein Seminar seines Kollegen Meijers zu übernehmen. Er hält

Meijers ist dieser Niederländer, dieser noble und wahre Sohn unseres Volkes, dieser Mensch, dieser Mentor der Studenten, dieser Gelehrte, den die Fremden, die uns heute mit feindlicher Gesinnung beherrschen, »von seinen Aufgaben entbinden«! Ich versprach Ihnen, nicht über meine Gefühle zu sprechen: Ich werde mich daran halten, auch wenn sie wie kochende Lava durch alle Ritzen zu quellen drohen, die sich, so kommt es mir vor, unter diesem Druck in meinem Kopf und in meinem Herzen auftun wollen. Aber in dieser Fakultät, die sich getreu ihrer Zielsetzung dem Studium des Rechts widmet, darf folgende Bemerkung nicht unterschlagen werden: In Übereinstimmung mit den niederländischen Traditionen erklärt das Grundgesetz, dass jeder Niederländer zu jedem Dienst für sein Land und zur Bekleidung jedweder Würdenfunktion und jedes Amts berufen werden kann, und erkennt ihm, unabhängig von seiner Religion, dieselben bürgerlichen Rechte beziehungsweise Bürgerrechte zu.

Nachdem Cleveringa seine Rede beendet hat, ertönt tosender Applaus. Einige Studenten stimmen die Nationalhymne an, der restliche Hörsaal fällt ein. In den Straßen von Leiden herrscht

Janny und Lien diskutieren diesen Akt des Widerstands mit ihrer Freundin Tilly. Sie wollen sie ermutigen und betonen auch die Courage des Anwalts Visser, ihres Vaters. Sie bewundern seine Standhaftigkeit, sogar nachdem ihn die Nazis und deren Kollaborateure im Justizsystem vor die Tür gesetzt haben, worauf seine Kollegen im Rat nur mit Schweigen reagiert haben. Er ist überzeugt, die Kündigung sei unwirksam: Die Königin habe ihn ernannt, und nur sie habe das Recht, ihn seines Amtes zu entheben – alles andere betrachte er als widerrechtlichen Akt. Lodewijk Visser geht noch weiter und leistet den Deutschen aktiv Widerstand. Er arbeitet an der illegalen Zeitung Het Parool mit und wird Vorsitzender des Jüdischen Koordinierungsausschusses, einer landesweiten, autonomen Organisation, die von zwei religiösen jüdischen Verbänden gegründet wurde.

Menschen wie Lodewijk Visser sind für Lien Vorbilder, durch ihren Widerstand werden die Massen gegen die Besatzer in Aufruhr kommen – diese dachten vielleicht bislang, die Holländer würden ihnen freie Hand geben, aber die würden sich noch wundern. Janny hingegen spekuliert weder mit der Gnade der Deutschen noch mit einer Rettung durch die niederländische Bevölkerung. Als im Januar 1941, wenige Monate nach der verpflichtenden Ariererklärung für Beamte, eine Meldepflicht für alle Juden in den Niederlanden erfolgt, kommt sie dieser daher auch nicht nach. Als eine der wenigen in ihrem Umfeld weigert sie sich, sich den schwarzen Großbuchstaben J in den Personalausweis stempeln zu lassen. Später bereut sie bloß, dass sie nicht jeden in ihrem Umfeld aufgefordert hat, es ihr gleichzutun. Etwa ihre eigene Schwester, Lien, die sich keine Gedanken um die Bürokratie macht, sich also meldet und daher ein J in ihrem

Allein in Amsterdam werden etwa siebzigtausend Juden registriert – zehn Prozent der Einwohner. In der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung am Adama van Scheltemaplein wird es dadurch später möglich sein, während des Krieges mit ein paar einfachen Karteikästen zu kontrollieren, wer schon deportiert wurde und wer noch nicht. Von jedem Zug, der abfährt, wird eine Kopie der Namensliste an die Zentralstelle geschickt. Dort steckt ein Buchhalter die Karteikarte, die zum jeweiligen Namen gehört, von einem Kasten in einen anderen. Eine Karte für jeden deportierten Mann, jede Frau, jedes Kind – bis der Karteikasten mit den gemeldeten Juden in Amsterdam beinahe leer ist und der mit den Deportationen voll.

Streikt! Streikt! Streikt!

Es ist ein eiskalter Winter, der erste seit der deutschen Besatzung, und unter der Leitung von Anton Mussert werden die NSB und ihre Wehrabteilung (WA) – ein eleganter Name für schwarz uniformierte Schlägertrupps –, immer brutaler. Die NSB lässt sich vom Sog der ausländischen Besatzungsmacht erfassen: Bis zum deutschen Überfall hatte die Partei in der niederländischen Politiklandschaft wenig zu melden. Trotz einer fanatischen Kampagne mit dem Motto »Mussert oder Moskau?«, in der Mussert als Retter vor der bolschewistischen Bedrohung propagiert wurde, erreichte die Partei bei den landesweiten Wahlen 1937 noch

Geschützt durch den starken Arm von Adolf Hitler nimmt die Dreistigkeit der NSB im Alltag schnell zu. Die Partei organisiert zielgerichtet provokante Aktionen in Vierteln, in denen viele jüdische Familien leben. Unter den Bewohnern des Amsterdamer Jodenhoek herrscht eine angespannte Atmosphäre.

Die Besatzungsmacht hat neue Richtlinien für die niederländische Polizei erlassen, die besagen, dass sie die NSB bei Konfrontationen mit Juden und aufrührerischen Bürgern besser beschützen müssen. Zudem ist es nun verboten, Mitglieder der WA festzunehmen.

Janny ist häufig in Amsterdam. Sie sieht die versteiften Gesichter, hört das Flüstern in den Gassen und spürt, wie die Spannung im und um das Stadtzentrum zunimmt. Jeder scheint in Eile zu sein, und wer nicht zwingend auf den Straßen unterwegs sein muss, bleibt in der Wohnung. Zu Hause berichtet sie Bob von der Lage in der Hauptstadt. Kleine Gruppen der WA suchen Cafébetreiber auf, bei denen noch kein Verbotsschild für Juden hängt – und diese Besuche laufen nicht gerade feinfühlig ab: Bei De Kroon am Rembrandtplein wurden alle Fenster eingeschmissen und bei anderen Cafés und Kneipen, die von Juden besucht werden, schlägt die WA, unterstützt von deutschen Soldaten und ohnmächtig beobachtet von der niederländischen Polizei, das Inventar zu Bruch.

»Das kann nicht gut gehen, Bob. Auch ganz normale Menschen akzeptieren das nicht. Es gab eine Schlägerei mit NSB-Leuten, dabei ist sogar jemand gestorben, ein gewisser Koot, und jetzt haben sie die Snoekjesgracht in Koot-Viertel umbenannt.«

Janny meint den Schläger und überzeugten WA-Mann

Einige Bewohner des Viertels sind an diesem Sonntagmittag in einer Kneipe in der Nähe vom Waterlooplein, als sie von draußen hören, dass die WA anrückt. Ohne nachzudenken greifen sie zu den Billardstöcken, zerbrechen diese über den Knien und laufen damit hinaus. Als die Nachbarn die Männer mit ihren Spießen sehen, eilen sie von allen Seiten zu Hilfe, und mit einer großen zahlenmäßigen Überlegenheit jagen sie die Eisenbeißer von Mussert aus dem jüdischen Viertel.

Die Neuigkeit, dass sich die WA auf dem Kriegspfad befindet und dass die niederländische Polizei nur zuschaut, verbreitet sich schnell in der Stadt. Am nächsten Tag stoßen Freunde und Bekannte aus anderen Amsterdamer Vierteln zu der Bürgergruppe am Waterlooplein. Sie wollen bei einem eventuellen neuen Angriff das jüdische Viertel verteidigen. Aber an diesem 10. Februar 1941, einem Montag, geschieht nichts.

Dafür einen Tag später. Am Dienstagvormittag tauchen wieder zwei WA