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Barbaros Altuğ

Es geht uns
hier gut

Novelle

Aus dem Türkischen
von Sabine Adatepe

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Inhalt

drei waisenkinder

die chance auf glück

ali

fotos

das jahr null

der traum

die geschichte

schlaf

drei tage zweiundneunzig stunden

das letzte mahl

das finstere zimmer

winter

hakan

istanbul

der turm

a könyvek néma mesterek

minek a szerelem

ganz fest

halit

das heft

der mensch

jeder bringt um, was er liebt

jeder bringt um, was er liebt

ein deniz in der ferne

denk ich an dich, kommen mir wunderbare dinge in den sinn

frühstück in mitte

familie

selim

der roman

10 9 8 7

6 5 4 3

2

1

die letzte nacht

der nullpunkt

drei waisenkinder

Hier schneit es, seit wir hier sind, ununterbrochen. Manchmal vergesse ich, wann wir angekommen sind. Denn bisweilen kommt es mir so vor, als hätten wir schon immer hier gelebt. Als wären wir hier zur Welt gekommen, als wären wir, vom Moment unserer Geburt an, kaum dass wir die Augen aufschlugen, miteinander bekannt gewesen, unbemerkt von anderen aufgewachsen in diesem gelb gestrichenen Gebäude, in dessen Hof unablässig der Schnee rieselt, in seinen Räumen, durch deren große Fenster eisiges Licht sickert, und als wäre diese seltsame Sprache, in der wir uns unterhalten, unsere ureigene Erfindung. Die Stadt schläft, es ist still und die Zeit gehört mir allein. Um niemanden zu wecken, bin ich über die Stellen im Parkett, die nicht knarzen, ich kenne sie mittlerweile auswendig, in die Küche geschlichen, hier sitze ich nun am Tisch, trinke meinen Kaffee und lasse den Blick über die Bäume mit ihren weißen Hauben schweifen, »ja«, denke ich, und habe keine Lust aufzustehen, »eigentlich sind wir hier zu Hause«. Hier und beieinander. Hin und wieder taucht unten im Schnee ein Schemen auf. Ein schneebedeckter Körper, ein Schatten, der seit langem, seit wir hier sind, dort liegt, der nach und nach verschwindet, ein Leichnam, von uns der Verwesung preisgegeben, ein Schmerz, den wir uns gegenseitig vergessen machen wollen, eine einstige Liebe, von der wir den Blick abwenden, sobald er auf sie fällt. All das liegt dort im Hof, denn der Hof war die erste Tür zu unserem neuen Leben. All das, was wir nicht mitnehmen konnten, als wir aus dem Hof in dieses Leben traten, ließen wir hinter uns. Dann fällt mir ein, warum wir in diese Stadt gekommen sind. Wann aber?

Wir drei, Yasemin, Ali und ich – Eren, der ich mich nur noch hier, in dieser kalten, stillen Stadt, in dieser schummerigen Wohnung im dritten Stock des gelb gestrichenen Gebäudes, durch deren Fenster das Licht dringt, zu Hause fühle – wann kamen wir drei Waisenkinder, die gleich beieinander Zuflucht suchten, ohne Blick auf Zurückliegendes, erneut, aber diesmal in der Hoffnung, hier nach unseren Vorstellungen leben zu können, nach Berlin, wo unablässig der Schnee fällt?

die chance auf glück

Seit wir hier sind, steht Eren vor uns auf. Es kommt vor, dass wir bis zum frühen Morgen wortlos dahocken und auf irgendetwas starren, das über den Bildschirm flimmert, oder dass wir im Berghain tanzen, alles andere vergessend. Doch wann wir auch zu Bett gehen, beim Aufwachen finden wir Eren immer schon vor; als trüge er einen alten, auf die immer gleiche Zeit gestellten Wecker in sich, er ist vor uns aufgestanden, hat schon Kaffee getrunken, sitzt am Küchentisch, schaut aus dem Fenster oder liest. Morgens schreibt er nicht, nur nachts. Das merke ich an dem Licht, das durch die Glastür seines Zimmers dringt, nicht dass er sich mir gegenüber dazu äußern würde. Doch ich weiß, dass er schreiben muss. Das ist sein Weg der Selbsttherapie. Jeder geht einen anderen. Ich schaue Filme. Fast jeden Tag nach der Arbeit in der Café-Bar gehe ich ins Kino. Die Dunkelheit im Saal, der Augenblick, in dem der Film beginnt, dann zwei Stunden lang Vergessen.

Zwei Stunden ohne Mama, die täglich aus Istanbul anruft, sich zwar nie beschwert, vielmehr um Verständnis bemüht ist, aber ihre Enttäuschung, ihre Kränkung schleppt sie mit sich herum, als wäre sie ein kleines Tier, und diese Kränkung impft sie mir langsam aber stetig im Flüsterton ein.

Zwei Stunden ohne den Park, ohne die dort verbrachten Tage, ohne die Kids, ohne das Stück, das ich mit ihnen aufgeführt habe, ohne die in den Zelten durchsungenen Nächte, ohne die sonnigen Morgen, an denen Eren uns beim Aufstehen vorlas, was er geschrieben hatte. Das Essen, das Deniz von seiner Mutter mitbrachte, Tage, in denen unsere Mütter uns bemutterten, Tage aber auch, in denen selbst sie uns nicht beschützen konnten … Tage ohne all dies. In diesem Moment existieren nur diese zwei Stunden. Auf der Leinwand vor mir sind andere Menschen, ihr Leben, ihr Glück oder Unglück, die mögliche Existenz gänzlich ungeahnter Leben. Doch das Kino erinnert mich auch daran, weshalb wir herkamen, warum wir noch immer hier sind. Wenn ich nicht ins Kino gehe, ist mir manchmal, als müsste ich ersticken, später dann, wenn die zwei Stunden vorüber sind, fällt mir wieder ein, was es ist, das uns hierher gebracht hat: Ja, wir kamen um einer vor Monaten eingebüßten Chance willen, der Chance willen, glücklich zu sein. Weil wir gehofft hatten, diese Chance hier zu bekommen. Wenn ich nach dem Kino über den unter meinen Füßen knirschenden Schnee nach Hause laufe, macht mich schon der Gedanke daran glücklich. Das Kino kuriert mich.

ali

Yasemin ist wach, liegt aber noch im Bett. Gleich wird Ali aufstehen. Rasch wird er duschen und dann Punkt für Punkt sein Tagesprogramm absolvieren, als gelte es zu einer immens wichtigen Sitzung zu eilen, oder ja nicht zu spät zu einem täglichen Bürojob zu kommen. Dabei hat er kein Büro mehr und auch keine eilig zu erreichende Sitzung. Nach dem Duschen trinkt er eine Tasse Kaffee, isst Müsli und eine Banane. Dann strengt er ein Gespräch mit uns an, unermüdlich, jeden Morgen. Obwohl er genau weiß, dass Yasemin und ich morgens nur Kaffee trinken und dabei gern schweigend in die Zeitungen oder in ein Buch schauen, höchstens Musik darf noch sein.

Ali ist ein Mann der Tat, er glaubt, es gibt nichts auf der Welt, das nicht zu bewältigen wäre. Den Mount Everest zu besteigen oder steinreich zu werden oder gut oder schlecht zu sein, sogar die Welt verändern, all das liegt seiner Meinung nach im Rahmen des Möglichen.

Mir hingegen ist längst klar, auch nur einen einzigen Menschen zu verändern, ist gar nicht so einfach, geschweige denn die ganze Welt. Ali aber gibt nicht auf. Auch das weiß ich. Das, so denke ich manchmal, muss auch der Grund dafür sein, dass er mit uns herkam: eine weitere Aufgabe bewältigen, uns glücklich machen, uns in Menschen verwandeln, die der Welt stärker verhaftet sind, die mehr reden, sich weniger einigeln. Mir scheint, er wird uns verlassen, sobald diese Aufgabe erfüllt ist, um sich ein neues Ziel zu suchen. Dann aber tritt Yasemin aus ihrem Zimmer. Yasemin, der das schwarze Haar wirr auf die Schultern fällt, Yasemin, der ihr weißer Pyjama, die morgendliche Müdigkeit, selbst die Schlappen, in die sie gerade geschlüpft ist, prima stehen. Als Yasemin sich ihren Kaffee einschenkt, fällt mir wieder der eigentliche Grund ein, warum Ali mit uns mitkam.

Ali mag sich dessen nicht bewusst sein, doch während er versucht, uns zu verändern, verwandelt Yasemin ganz allmählich ihn. Sie hat diesen Mann, der sich unverdrossen Tag für Tag daran macht, das Leben anderer zu programmieren, als reiche ihm das eigene nicht aus, unversehens aus seiner eigenen Welt herausgelöst und hierher verfrachtet. Ali stellt sich weiter jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen unter die Dusche, verzehrt sein Müsli der immer selben Marke und seine Bio-Banane. Anschließend geht er zum Sport, wieder daheim checkt er seine E-Mails, sieht die von ihm programmierten Webseiten durch, beantwortet Kundenanfragen und verschickt Zahlungserinnerungen. Er glaubt, damit sein altes Leben fortzusetzen. Wird ihm irgendwann aufgehen, dass er mittlerweile weit entfernt ist von seinem in Istanbul über Jahre aufgebauten Leben, dass er sich stattdessen hier befindet, gemeinsam mit uns in Berlin? Nein, noch lange nicht. Erst mit der Zeit wird Ali alles verstehen und dann wird ihn vielleicht zum ersten Mal Panik ergreifen. Denn wenn Ali sagt, alles im Leben sei möglich, meint er damit keineswegs, dass er sich verändern könnte. Er wird aber erkennen, dass gerade dies möglich ist. Veränderung muss möglich sein, denn Ali verändert sich. Er ist mittlerweile ein anderer als an jenem Tag, an dem wir uns im Park kennengelernt haben. Nur ist ihm das noch nicht bewusst.

fotos

In unserer Wohnung fehlen Bilder aus meiner Kindheit. Nur drei Fotos habe ich mitgenommen. Auf allen sind im Hintergrund Bäume zu sehen, merkwürdig.

Auf einem bin ich zwei, drei Jahre alt, Mama hält mich auf dem Schoß. Wir sitzen im Garten des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Rock fällt auseinander, darunter lugt ein gerüschtes Babyhöschen hervor. Mama schaut glücklich drein, ich dagegen umso grimmiger. Der Grund dafür ist links auf dem Foto zu sehen. Papa, der damals noch lebte, über den Kinderwagen gebeugt, sehr jung, lächelt strahlend in die Kamera. Im Kinderwagen ein wenige Monate altes Baby, Umut, mein Bruder, den ich hasste, als ich ihn zum ersten Mal sah, der aber später zu meinem besten Freund wurde. Es gibt kaum Fotos, auf denen meine Eltern beide glücklich sind, auf diesem hier ist ihr Lächeln am schönsten. Es erinnert mich nicht nur an sie, es lässt mich daran denken, dass es Tage gab, an denen auch sie des Lebens froh waren. So wenig anziehend ich hier wirke, es ist das einzige Familienbild, bei dessen Betrachtung ich mich gut fühle.