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Landauer Beiträge

zur Kultur- und Sozialgeschichte

Landauer Beiträge
zur Kultur- und Sozialgeschichte

Band 3

„Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“

Menschenrechte in kultur- und
sozialwissenschaftlicher Perspektive

Herausgegeben von Lothar Bluhm,
Markus Schiefer Ferrari & Werner Sesselmeier

Tectum Verlag

Die Schriftenreihe Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte wird vom Dekanat Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau herausgegeben. Als aktuell verantwortlicher Reihenherausgeber fungiert Professor Dr. Lothar Bluhm.

Band 3: „Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“ Menschenrechte in kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Herausgegeben von Lothar Bluhm, Markus Schiefer Ferrari & Werner Sesselmeier

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

ePub: 978-3-8288-7359-9

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4376-9 im Tectum Verlag erschienen.)

ISSN: 2569-507X

Umschlagabbildung: shutterstock.com, Nr. 709023277 © panitanphoto

Titelzitat: Aus Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie, 1808.

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Artikel 1

Alle Menschen sind frei und gleich
an Würde und Rechten geboren.
Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und
sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948

Inhalt

Einleitung

Konstantin Wecker

„Und wenn sie euch sagen“

Lothar Bluhm

Konstantin Wecker lesen.

Produktive Rezeptionen. Ein Werkstattbericht

Achim Hofer

Konstantin Wecker hören.

Notizen zur Musikanschauung eines Poeten, Sängers und Komponisten

Janin Aadam

Konstantin Wecker verstehen.

Ein Werk im Spiegel der Menschenrechte

Markus Schiefer Ferrari

Teilhabe für alle.

Biblische Hoffnungsgeschichten dis/abilitykritisch gelesen

Judith Distelrath

„Hab nur Mut“.

Rezeption biblischer Heilungsnarrative in Kinderbibeln

Walter Kühn

„Brich aus in lauten Klagen“.

Heines literarische Kämpfe für die Menschenrechte.

Eine Skizze

Lothar Bluhm

„Das Gesetz kann nicht immer wiedergeben, was moralisch richtig ist“.

Schuld, Würde und Identitätsbewahrung in Bernhard Schlinks Romanen der 1990er Jahre

Gregor Schuhen

Spaltungen, Risse, Ungleichheiten.

Französische Gegenwartsliteratur und die Kehrseite der Menschenrechte

Katharina Turgay

Diskriminierung durch Sprache.

Ein Überblick

Matthias Bahr

Die Ökonomie – das ewig Böse im Menschen?

Überlegungen aus theologisch-ethischer Perspektive

Werner Sesselmeier

Die Ökonomie – das ewig Böse im Menschen?

Überlegungen aus ökonomischer Perspektive

Andrea Zeller

Menschenrechte in der Weltwirtschaft.

Idealbild und Realität

Julia Renner

Wasserkonflikte und Menschenrechtsverletzungen in Ostafrika am Beispiel des Naivashasees in Kenia.

Eine empirische Analyse

Stefan Joller

Die Menschenrechte als Universalmoral?

Über den Kult des Individuums und das moralische Selbstverständnis gegenwärtiger Gesellschaften

Björn Hayer

Eine Würde der Tiere?

Tierethische Positionsbestimmungen als Randzone des Menschenrechtsdiskurses

Beiträgerinnen und Beiträger

Einleitung

„Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.

[…]

Wer hat dir Henker diese Macht

Über mich gegeben!

Du holst mich schon um Mitternacht.

Erbarme dich und laß mich leben!

Ist’s morgen früh nicht zeitig genung?“

Johann Wolfgang Goethe

 

Mit der Veröffentlichung wird eine Reihe von Sammelbänden mit Beiträgen öffentlicher Ringvorlesungen fortgesetzt, in denen sich Landauer Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler der verschiedensten Disziplinen mit übergreifenden kultur- und sozialgeschichtlichen Phänomenen auseinandersetzen. Im Fokus der Veranstaltung im Sommersemester 2018 stand das Thema Menschenrechte. Der Titel der Ringvorlesung und dieses anschließenden Sammelbandes „Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“ ist der berühmten Kerker-Szene aus dem ersten Teil von Goethes Faust-Tragödie entnommen. Das verführte und als Kindsmörderin auf den Henker wartende Gretchen erfleht vom vermeintlichen Henker, der in ihr Verlies tritt, Erbarmen in ihrer Not. In ihrem unglücklichen Schicksal und ihrer Verzweiflung und nicht zuletzt im Bewusstsein seiner eigenen Schuld eröffnet sich dem als Retter scheiternden Faust der ‚Menschheit ganzer Jammer‘. In der Szene wird unmittelbar fassbar, was die Rede über Menschenrechte und was Menschenrechtsdiskurs im Kern meint: Es geht um die Verletzung dieser Rechte, um die Depotenzierung des Menschen, um die Herabwürdigung seines Menschseins. Aber zugleich geht es um ein Aufbegehren gegen diese Verletzungen, um die Möglichkeit von Heilung, Schutz und Bewahrung. Damit ist der weite Raum ausgemessen, dem sich die nachfolgenden Beiträge in ihren jeweils eigenen Problemanzeigen und -diskussionen zuwenden. Sie setzen sich mit dem Menschenrechtsdiskurs im Allgemeinen oder mit speziellen Fragestellungen aus ihren jeweils eigenen fachwissenschaftlichen Blickwinkeln auseinander und führen in die Breite des Diskursfeldes ein.

Dass das Thema Menschenrechte den gemeinsamen Fokus einer öffentlichen Ringvorlesung im Fachbereich 6: Kultur- und Sozialwissenschaften am Standort Landau der Universität Koblenz-Landau bildete, ist auf das Engste mit der jüngeren Geschichte dieser Einrichtung verbunden. Vor dem Hintergrund der seit Jahren zu beobachtenden fortschreitenden Erosion der liberal-demokratischen Kultur in Deutschland und der Bedrohung der Demokratie in der Rückkehr vergessen geglaubter Nationalismen entschloss sich der Fachbereich 2014 zu einer gemeinsamen Neuausrichtung aller seiner Einrichtungen – seiner Institute, Abteilungen und Fächer, aber auch seines Lehrprogramms. Die Dozentinnen und Dozenten des Fachbereichs starteten eine gemeinsame Initiative, um ab dem Sommer 2015 der universitären Lehramts- wie auch der nicht auf das Lehramt bezogenen Ausbildung in ihrem Verantwortungsbereich durch die Inklusion von ‚Menschenrechtsbildung‘ eine eigene Fundamentierung zu geben und das Bekenntnis zu Humanität und Menschenrechten in aktives Tun umzusetzen. Das Thema Menschenrechte und die Menschenrechtsbildung wurden zu einem gemeinsamen Bezugspunkt sämtlicher Lehre, gleichermaßen in den Philologien, in Germanistik, Anglistik oder Romanistik, wie in den Theologien, in der Kunst- und in der Musikwissenschaft oder in den Sozialwissenschaften, in der Soziologie, den Wirtschafts- und in den Politikwissenschaften. Die Vermittlung von Wissen über Menschenrechte und die Beförderung eines Bewusstseins von den sich daraus ableitenden Handlungsnotwendigkeiten sind zu einer begleitenden Aufgabe jedweder fachwissenschaftlichen oder fachdidaktischen Lehre im Fachbereich erhoben worden. Als Bezugspunkt diente und dient eine im Januar 2016 veröffentlichte Selbstverpflichtung der Dozentinnen und Dozenten des Fachbereichs, das „Landauer Manifest“. Zur gemeinsamen Arbeit gehört darüber hinaus ein von allen Instituten getragener Zertifikatsstudiengang als zusätzliches fächerübergreifendes Lehrangebot für die Studierenden. Gemeinsame Workshops und das Angebot, in einem Projekt mitzuarbeiten, vertiefen die Initiative. Der Gedanke, dieses gemeinsame Unternehmen zur Beförderung einer Menschenrechtsbildung in der Lehre auch in einer vom Fachbereich angebotenen Ringvorlesung zur Geltung zu bringen, lag also nahe.

Bei der Zusammenführung verschiedener Projekte des Fachbereichs bot sich im Sommer 2018 zudem als weitere Möglichkeit die Verknüpfung einer entsprechenden Ringvorlesung mit der Verleihung der Thomas-Nast-Gastprofessur durch den Fachbereich an. In Erinnerung an den deutsch-amerikanischen Karikaturisten und Gesellschaftskritiker Thomas Nast, einen großen Sohn der Stadt Landau in der Pfalz, vergibt der Fachbereich in unregelmäßigen Abständen eine solche Gastprofessur an herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Kultur, die sich im Schnittfeld von Kunst oder Wissenschaft und politischer Aufklärung bewegen und sich mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Mitteln der politischen Aufklärung verpflichtet sehen. Nachdem diese Ehrenbezeugung des Fachbereichs zuletzt 2015 dem Kunstgraphiker Klaus Staeck verliehen worden war, wurde 2018 der Lyriker, Sänger und Schauspieler Konstantin Wecker als einer der profiliertesten politischen Künstler der Bundesrepublik geehrt. Dass Konstantin Wecker, der seit Jahren und Jahrzehnten ebenso stimmgewaltig wie unzweideutig das politische Leben in Deutschland künstlerisch kommentierend begleitet, die Ringvorlesung mit einem musikalischen Gastvortrag ergänzte, war eine ebenso große Ehre, wie es einen unzweifelhaften Gewinn und ein wunderbares Vergnügen darstellte – nicht zuletzt rückte sein Beitrag die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Probleme in Deutschland – neuer Nationalismus, Fremdenhass, politisches Versagen u.a.m. – dezidiert ins Blickfeld.

So sind auch die Eingangsbeiträge des Sammelbandes ganz augenfällig mit der Person und dem Werk dieses Künstlers verbunden. Den eigentlichen Eingang bildet ein Gedicht, das KONSTANTIN WECKER für den Band bereit gestellt hat. „Und wenn sie euch sagen“ ist eine engagierte künstlerische Wortmeldung zur sogenannten ‚Flüchtlingsdebatte‘ und eine Auseinandersetzung mit der verlogenen Phraseologie jener fremdenfeindlichen Verdummungsrhetorik, die die Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre häufig begleitet und zur Vergiftung des innenpolitischen Klimas in Deutschland beigetragen hat.

Die Verleihung der Thomas-Nast-Gastprofessur 2018 an Konstantin Wecker und dessen Teilnahme an der Ringvorlesung wurden vorbereitet und begleitet von Lehrveranstaltungen in verschiedenen Fächern und Lehrprogrammen des Fachbereichs, so in der Kunstwissenschaft, der Musikwissenschaft, der Katholischen Theologie und in der Germanistik. Im Beitrag „Konstantin Wecker lesen“ stellt der Germanist und Literaturwissenschaftler LOTHAR BLUHM nach einer Würdigung des Lyrikers Wecker einige Seminararbeiten von Studierenden vor, die sich über den Weg der ‚produktiven Rezeption‘ mit dem Lyriker und Liedermacher und dessen Werk auseinandergesetzt haben. ACHIM HOFER versucht in seinem Beitrag „Konstantin Wecker hören“ das Bild vom politischen Liedermacher – ein Ausdruck, den Wecker als einengenden „Stempel“ empfindet – um weniger bekannte Facetten zu erweitern. Denn der Musiker und Musik-Schriftsteller Wecker sieht in der ‚wahren Musik‘ (entgegen der Ware Musik) auch Möglichkeiten der Ich-Findung, der Selbst-Verwirklichung, des Authentischen. Als vermeintliche Innerlichkeit ist dies kein Widerspruch zur kämpferischen Verteidigung von Menschenrechten auf künstlerischer Ebene, sondern Mit-Bedingung für eine humane Welt. JANIN AADAM betrachtet in ihrem Beitrag „Konstantin Wecker verstehen“ das poetische Werk des Künstlers im Spiegel der Menschenrechte. Im Anschluss an eine Bezugsetzung von Poesie und Menschenrechten widmet sich der Artikel ausgewählten Gedichten und Liedern Weckers, die im Spiegel einzelner Menschenrechte reflektiert werden, um über die Fokussierung ein eigenes Verständnis von Weckers Werk zu eröffnen.

In einem zweiten Block werden aus dem Blickwinkel der Theologie, der Literatur- und der Sprachwissenschaften kulturwissenschaftliche Perspektivierungen auf das weite Themenfeld der Menschenrechte versucht, wobei sehr unterschiedliche Facetten vorgestellt und diskutiert werden. Ausgehend von der kulturprägenden Wirkung der Bibel setzt sich MARKUS SCHIEFER FERRARI in seinem Beitrag „Teilhabe für alle ‒ Biblische Hoffnungsgeschichten dis/abilitykritisch gelesen“ mit der Frage auseinander, inwieweit gerade die Tradierung von Bildern einer zukünftigen Heilsgemeinschaft aller und die damit vielfach verbundene undifferenzierte Gleichsetzung von Heil und Heilung dazu beigetragen haben, solche Vollkommenheitsphantasien auf irdische Verhältnisse zu übertragen und daher Menschen mit Behinderung auszuschließen – ganz im Widerspruch zu dem von der UN-Behindertenrechtskonvention (2008) eingeforderten Menschenrecht der Partizipation aller an allen Bereichen der Gesellschaft. Daran anschließend untersucht JUDITH DISTELRATH am Beispiel der Erzählung von der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1-12), inwieweit Kinderbibeln bei der Rezeption biblischer Heilungsnarrative auf klassische Deutungsstrategien von Behinderung zurückgreifen und damit (bewusst oder unbewusst) klischeehafte, in Bezug auf Behinderung wenig sensible Vorstellungen festschreiben. Die Texte werden auf der Grundlage allgemeiner Überlegungen zum Behindertenbegriff, die sich den sogenannten Dis/ability Studies verdanken, kritisch in Hinblick auf die Konstruktion von Behinderung bzw. Nicht-Behinderung gelesen.

Thematisieren Ferrari Schiefer und Distelrath menschenrechtliche Fragen aus dem Blickwinkel der Theologie, so tun dies die folgenden drei Beiträge aus literaturwissenschaftlicher Sicht. WALTER KÜHN untersucht Heinrich Heines literarischen Einsatz für die Menschenrechte. In einem werkchronologischen Zugang wird Heines jüdischem Selbstverständnis am Beispiel der Gedichte An Edom! und Brich aus in lauten Klagen (1824), dem mit Autoren des ‚Jungen Deutschland‘ verbundenen ästhetischen Kampf Heines für die Verwirklichung der Ideale der Französischen Revolution seit den 1830er Jahren sowie Heines literarisch-politischem Vermächtnis in späten Gedichten des Romanzero nachgegangen. LOTHAR BLUHM verfolgt die Dilemmatik von Schuld, Würde und Identitätsbewahrung in Bernhard Schlinks Romanen der 1990er Jahre, wobei er vor allem auf den Bestseller Der Vorleser schaut. Die Analyse von Schlinks literarischem Werk wird mit rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Problemstellungen verbunden, die den Juristen Schlink an anderer Stelle beschäftigten. Der Beitrag von GREGOR SCHUHEN untersucht auf der Basis soziologischer und erzähltheoretischer Theoriebildung, inwieweit in französischen Romanen des 21. Jahrhunderts das Thema sozialer Ungleichheit und Spaltung reflektiert wird. In autosoziobiografischen Texten von Didier Eribon, Édouard Louis und Aurélie Filipetti werden solche gesellschaftlichen Spaltungstendenzen vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Chancengleichheit, Bildungsaufstieg und gesellschaftliche Teilhabe von Deprivilegierten verhandelt. Deutlich wird, dass sich in Frankreich insgesamt ein neuer Trend zu einer littérature engagée beobachten lässt, die den Anspruch vertritt, den Ausgeschlossenen und Marginalisierten eine Stimme zu verleihen, um auf diesem Weg die Gültigkeit der Menschenrechte für alle Bürgerinnen und Bürger einzufordern.

Den literaturwissenschaftlichen Studien schließt sich eine sprachwissenschaftliche Untersuchung an, die den Fokus auf das Medium Sprache richtet. In ihrem Beitrag gibt KATHARINA TURGAY einen Überblick über Sprache, die Gewalt ausübt und die Macht besitzt, beispielsweise in Form von Beleidigungen, Menschen zu verletzen. Dabei rückt vor allem die verbale Gewalt in den Fokus des Beitrags, die Menschen aufgrund von rassistischen Äußerungen diskriminiert.

Im Anschluss an die kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen wendet sich ein weiterer Block dem Themenfeld Ökonomie, Politik und Gesellschaft zu. Den Ausgangspunkt macht die kontroverse Verhandlung der Frage nach der Ökonomie als dem ewig Bösen im Menschen aus zum einen sozialethischem und zum anderen wirtschaftswissenschaftlichem Blickwinkel. MATTHIAS BAHR stellt klar, dass die Frage aus theologisch-ethischer Sicht zwar verneint werden müsse, dass sie aber zu Reflexionen über Ursachen und Ziele menschlichen Handelns führe. Dabei stoße man auf gravierende Verwicklungen und Abgründe menschlichen Handelns, die innerhalb der ethischen Tradition des Christentums schon seit Jahrhunderten aufgewiesen würden und sich auch im 21. Jahrhundert noch keinesfalls erledigt hätten. Vielmehr stellt sich für Bahr die Frage nach angemessenen sozialpolitischen und -ethischen Interventionen, um Abstürze in die Unmenschlichkeit zu vermeiden. WERNER SESSELMEIER erhellt, dass man die ‚Ökonomie‘ auf drei Ebenen betrachten müsse: Die Wirtschaft als die praktische Ausformung von Ökonomie, als die Wissenschaft vom ökonomischen Handeln und als die Individuen, also alle, die tagtäglich in unterschiedlichen Rollen als wirtschaftlich tätige Subjekte agieren. Bei der Betrachtung der Auswirkungen ‚der Ökonomie‘ auf Menschenrechte haben folglich auch diese Ebenen unterschieden zu werden. Sesselmeier zeichnet dieses Beziehungsgefüge unter Berücksichtigung aller drei Ebenen differenziert nach. Greifbar wird, dass die ökonomischen Verhältnisse auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene letztlich nur durch die Einbindung sozialer Menschenrechte in individuelle Entscheidungen vorangebracht werden können.

Die beiden folgenden Beiträge weiten aus wirtschafts- und aus politikwissenschaftlicher Perspektive den Blick auf das internationale Wirtschaftsgeschehen aus. ANDREA ZELLER widmet sich dem Schutz von Menschenrechten in diesen Zusammenhängen. Nach der Darstellung der Entstehung und Verbriefung menschenrechtlicher Normen vor dem Hintergrund unterschiedlicher nationaler Interessen wird am Beispiel zweier wichtiger Konsumgüter untersucht, inwieweit die Menschenrechte im Wirtschaftsleben verwirklicht werden. Dabei werden die bisherigen Kontrollmechanismen einer kritischen Überprüfung unterzogen und mögliche strukturelle Ursachen von Menschenrechtsverletzungen aufgezeigt. JULIA RENNER konzentriert den Blick auf den Zusammenhang von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Klima am Beispiel von Wasserkonflikten und Menschenrechtsverletzungen in Ostafrika. Der Beitrag analysiert am Fall des Naivashasees in Kenia, inwieweit Wasserverknappung durch Menschenhand zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Deutlich wird, dass dabei nicht nur ein Sicherheitsproblem für die lokale Bevölkerung entsteht, sondern sich aus solcherart Entwicklung auch regionale und nationale Konfliktherde ergeben können.

STEFAN JOLLER wendet sich mit der Frage nach den Menschenrechten als Universalmoral einer grundsätzlichen Problemdiskussion zu, die eine der zentralen Probleme der Soziologie fokussiert: Was hält die Gesellschaft eigentlich zusammen und welche Rolle spielt hierbei der Mensch? Entgegen der oft behaupteten Eindeutigkeit einer Universalität der Menschenrechte beleuchtet der Beitrag die gesellschaftstheoretische Einbettung der Menschenrechte im Kontext konkurrierender moralischer Selbstverständnisse und zeigt auf, dass die Zentralstellung des Schutzes des Individuums zum Schutze des Menschen als soziales Wesen (kollektivistische) Alternativen kennt.

An den Grau- und Randzonen des Menschenrechtsdiskurses stellt sich die Frage, ob auch Lebewesen anderer Spezies Teil der darin angelegten moralischen Gemeinschaft werden können. Auf Basis insbesondere moderner Positionen innerhalb der Tierethik lotet BJÖRN HAYER Chancen, Herausforderungen und Risiken der Ausweitungen der Grenzziehungen aus, wobei er philosophische, juridische und gesellschaftstheoretische Ansätze einbezieht.

„Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“, lässt Goethe seine Tragödienfigur in ihrer Verzweiflung flehen. Das Thema der Entwürdigung des Menschen und der Verletzung seiner Grundrechte war der Bezugspunkt einer Stafette von Vorträgen im Rahmen einer Ringvorlesung, dem sich im Sommersemester 2018 Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler aus den verschiedensten Kultur- und Sozialwissenschaften zugewandt haben. Die Perspektivierungen sollten und konnten nur Einblicke in ein weites Problemfeld und dessen Diskussion vermitteln. Ein weiterreichender Anspruch wäre vermessen angesichts der Komplexität dieses gerade für unsere Zeit so wichtigen Themas. Wozu der Band gleichwohl beitragen kann, ist die Beförderung der Vergegenwärtigung des Problemfeldes und des begleitenden Reflexionsprozesses. Beides gehört zu jener Menschenrechtsbildung, von deren Notwendigkeit die Dozentinnen und Dozenten des Fachbereichs 6: Kultur- und Sozialwissenschaften am Standort Landau der Universität Koblenz-Landau zutiefst überzeugt sind. Menschenrechtsbildung selbst generiert keine Lösungen, aber sie trägt dazu bei, ein Bewusstsein zu bilden und am Leben zu erhalten, das zu einem Eintreten für Menschlichkeit und eine am Humanum orientierte liberal-demokratische Kultur befähigt.

Im wissenschaftlichen Diskurs kommt einer geschlechtersensiblen Sprache inzwischen ein beinahe selbstverständlicher Stellenwert zu. In welcher Weise sie schriftsprachlich umgesetzt wird, ist den Beiträgerinnen und Beiträgern des Sammelbandes freigestellt worden.

 

Im Sommer 2019

Lothar Bluhm

Markus Schiefer Ferrari

Werner Sesselmeier

Konstantin Wecker

Und wenn sie euch sagen 

das Boot ist voll 

wir können keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen 

dann antwortet ihnen:

denkt mit dem Herzen.

Über zwölf Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene

sowie fast zwölf Millionen ehemalige Zwangsarbeiter 

und ausländische KZ-Insassen

mussten nach dem Ende des Krieges eine neue Heimat finden 

Die Integration der Vertriebenen in das massiv zerstörte 

und verkleinerte Nachkriegsdeutschland 

schien zunächst kaum lösbar. 

Und wenn sie euch sagen

viele von denen haben doch sogar eigenes Geld

dann: 

denkt mit dem Herzen

denn wenn ihr fliehen müsstet und alles verlassen

was euch lieb ist und teuer

dann würdet ihr doch auch versuchen

alles was ihr besitzt und je besessen habt 

zu verkaufen 

um Geld mitzunehmen

auf diese ungewisse 

schier ausweglose Reise.

Und wenn sie euch sagen

da kommen ja fast nur junge Männer an

und kaum Frauen mit Kindern

dann:

denkt mit dem Herzen.

Würdet ihr nicht auch versuchen 

im äußersten Elend

die kräftigsten eurer Familie auf die Reise zu schicken

damit sie euch vielleicht sogar eines Tages

nachholen können?

Und wenn sie euch sagen

die prügeln sich doch in ihren Unterkünften:

denkt mit dem Herzen.

Wie lange würdet ihr es wohl aushalten 

eingepfercht zu sein,

oft ohne Strom und Wasser

und bei schlechter Ernährung,

ohne nicht einmal aggressiv zu werden

ohne durchzudrehen?

Und wenn sie euch sagen 

was haben wir mit denen zu tun

die glauben doch an einen anderen Gott

die sind von einer fremden Kultur

dann:

benützt euren Verstand:

Kulturelle Reinheit ist eine Illusion.

Und die führte bei uns zu der schrecklichsten Diktatur

der Menschheitsgeschichte.

Menschen sind wichtiger als Kulturen

sagt das all jenen

die sich so gerne mit Fakten schützen

deren Herkunft viel unsicherer ist 

als das eigene Mitgefühl

sagt es ihnen

nicht hasserfüllt 

doch bestimmt.

Erinnert sie an ihre eigenen Kinder

versucht ihnen zu vermitteln 

wie es sich anfühlen würde

wäre man selbst an der Stelle dieser Ärmsten.

Wer anderen die Herberge verwehrt

verdient es

sein Heim zu verlieren.

Denken wir mit dem Herzen.

Besiegen wir den Hass durch Zärtlichkeit.

Konstantin Wecker lesen

Produktive Rezeptionen. Ein Werkstattbericht

Lothar Bluhm

I.

Im Sommersemester 2018 durfte der Fachbereich 6: Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau im Rahmen zweier Veranstaltungsformate den Lyriker und Liedermacher Konstantin Wecker begrüßen. In der Ringvorlesung „Bist du ein Mensch, so fühle meine Not“ über die Menschenrechte in kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive hielt er einen musikalischen Gastvortrag, der sich in das Themenprofil der Veranstaltung einpasste. In einer zweiten Veranstaltung wurde Konstantin Wecker am 13. Juni 2018 in einem öffentlichen Festakt die vom Fachbereich vergebene Thomas-Nast-Gastprofessur 2018 verliehen, mit der der Fachbereich in Erinnerung an diesen berühmten Sohn der Stadt Landau herausragende Wissenschaftler und Künstler für ihre Verdienste um die liberaldemokratische Kultur und für fortschrittliches politisches Engagement und Zivilcourage im Schnittfeld von Kultur und Politik würdigt. Beide Veranstaltungen standen im Zusammenhang mit dem ‚Projekt Menschenrechtsbildung‘, in dem die verschiedenen Kultur- und Sozialwissenschaften des Fachbereichs gemeinsam einen zentralen, fächerübergreifenden Bezugspunkt für die Lehramtsausbildung entwickeln.1

Mit der Verleihung der Thomas-Nast-Gastprofessur an Konstantin Wecker wurde vom Fachbereich 6 einer der profiliertesten politischen Künstler der Bundesrepublik geehrt, der seit über 40 Jahren das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland künstlerisch kommentierend begleitet – als Wortkünstler poetisch, als politische Natur unzweideutig und als Sänger stimmgewaltig. Dabei ist er einem breiten Publikum nicht nur als Liedermacher, sondern ebenso als Schauspieler in den verschiedensten Fernsehproduktionen mehr als vertraut. Lieder wie Willy aus Genug ist nicht genug von 1977 oder sein Sage nein! von 1993 sind heute noch so präsent wie zu ihrer Zeit. Sie stehen wie das Gesamtwerk für ein Programm des gesellschaftlichen und politischen Engagements in der Kunst, dessen Aktualität ungebrochen ist.

II.

Bemerkenswert ist das künstlerische Werk Konstantin Weckers sicherlich nicht zuletzt durch seine außerordentliche Vielfalt und seine vielen Facetten: Wecker ist Literat, insbesondere Lyriker, er ist Liedermacher, Schauspieler, Musiker und mehr. Das Verzeichnis seines Gesamtwerks ist mehr als beeindruckend.2 So haben sich Studierende im Sommersemester 2018 in Lehrveranstaltungen verschiedener Fachrichtungen und Fächer – Germanistik, Katholische Theologie, Musik, Kunst sowie im Zertifikatsstudiengang Menschenrechtsbildung – aus fachspezifisch jeweils unterschiedlicher Perspektive mit dem Werk Weckers auseinandergesetzt. In einer Präsentation studentischer Arbeiten wurde im Rahmen des Festakts anlässlich der Verleihung der Thomas-Nast-Gastprofessur an Konstantin Wecker eine Auswahl davon auch vorgestellt. In seiner musikalisch begleiteten Dankesrede hat der Geehrte unter Bezugnahme auf die studentischen Arbeiten zur Frage nach der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft Stellung genommen.

In der germanistisch-literaturwissenschaftlichen Lehre richtete sich das Interesse am Werk Weckers natürlich besonders auf dessen Lyrik. In einer Modulveranstaltung im lehramtsbezogenen Bachelorstudiengang im Fach Germanistik in der Fachrichtung Neuere deutsche Literaturwissenschaft gewann die Beschäftigung mit dem lyrischen Werk Weckers sogar einen eigenen thematischen Schwerpunkt. Die Fokussierung auf Weckers Lyrik war sicherlich zuerst einmal natürlich vor allem fachbedingt motiviert. Zugleich trug sie der Einschätzung Rechnung, dass Wecker offenkundig eine Persönlichkeit ist, dem „die Lyrik sozusagen angeboren“ scheint, wie Herbert Rosendorfer – selbst ein namhafter Literat und Künstler – im Vorwort einer Sammlung von Gedichten Weckers schrieb.3 Rosendorfer begründet seine Hochschätzung des Lyrikers und Liedermachers Wecker damit, dass dessen „Lyrik […] keine elitäre, keine krampfhaft erarbeitete“ sei und keine „Kopfgeburten“ präsentiere, sondern „Herzblut“, und dass das Werk eine „Symbiose von Herz und Verstand“ zeige.4

Zur Lyrik Weckers gehört, dass das Politische und das Poetische miteinander verbunden sind, mehr noch, dass Poesie als Widerstand gegen politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen verstanden wird.5 Für den Autor gehören Schreiben und Wut eng zusammen. „Schreiben ist Schreien –“, heißt es in einem Gedicht: „kein Flüstern mehr, Freunde. / Wer flüstert, ist schuldig, / bekennt.“6 Der Bekenntnischarakter seiner Literatur und seiner Liedkunst ist authentisch und rebellisch. ‚Schreiben und Schreien‘ laufen oftmals ineins: „Das Wort muss eine Faust sein,“ fasst Wecker in einem kurzen Gedicht sprachlich, formal und gedanklich konzise zusammen: „kein Zeigefinger: / Zuschlagen. / Treffen.“7

Selbst wenn auf der Oberfläche das Politische und Rebellische nicht selten zu dominieren scheint, ist es vom Poetischen nicht zu trennen. Neben dem „wütende[n] Schrei nach Gerechtigkeit“ steht bei Konstantin Wecker untrennbar der „hauchzarte[r] Liebesgesang“ – erneut ein Wort Herbert Rosendorfers.8 Wecker ist ein Poet, der „sich sehnt, der träumt, der trauert“, der sich von einer „Sehnsucht nach einer besseren Welt“ leiten lässt, der von „einer Welt der Gerechtigkeit“ und „des Friedens“, der „Humanität“, der „Menschlichkeit“ träumt.9

Vielleicht wird das nirgendwo deutlicher als im Gedicht Ich habe einen Traum, dessen Titel nicht zufällig an Martin Luther Kings große Rede anlässlich des Marschs auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 anknüpft. Konstantin Weckers Gedicht ist ein Lied, das 2014 unter dem Eindruck jener Flüchtlingskatastrophe vom Oktober 2013 geschrieben wurde, bei der eine Vielzahl an Menschen, wahrscheinlich über 700, auf ihrer Flucht an der Küste Europas ertrunken sind.10 Die Bilder und Berichte vom großen Bootsunglück vor Lampedusa erschütterten in diesen Wochen die Weltöffentlichkeit und legten Zeugnis ab vom offenkundigen Unwillen und der Unfähigkeit eines sich verschließenden Europa, sich tätig zu seinen eigenen humanitären Grundsätzen zu bekennen. Die Entwicklungen haben sich seitdem bekanntlich nochmals verschärft und so beschreibt Weckers Gedicht und Lied von 2014 einen Traum, der auch heute noch geträumt werden muss:

 

Ich hab’ einen Traum, wir öffnen die Grenzen

nd lassen alle herein,

alle die fliehen vor Hunger und Mord,

und wir lassen keinen allein.11

 

Die konkrete Utopie wird in der Schlussstrophe noch einmal intensiviert:

 

Ja ich hab’ einen Traum von einer Welt,

und ich träume ihn nicht mehr still:

Es ist eine grenzenlose Welt,

in der ich leben will.12

 

Mit derselben Verve wendet er sich gegen die Verdummungsrhetorik, wie man sie in der Migrationsdebatte in der jüngeren und jüngsten Zeit so oft hört. Ein Beispiel für Konstantin Weckers Entgegensetzung bietet sein Eingangsgedicht zu diesem Sammelband: „Und wenn sie euch sagen / das Boot ist voll / wir können keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen / dann antwortet ihnen: / denkt mit dem Herzen.“13 Mit dieser Empfehlung steht Wecker nicht allein: „Mit dem Herzen denken“, rieten schon der Dalai Lama14 und viele andere, ebenso wie Antoine de Saint-Exupery seinen kleinen Prinzen sagen ließ, dass man nur mit dem Herzen sehe, weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar sei.

Konstantin Weckers Wachheit für das Humane und sein Eintreten für ein Miteinander in Menschlichkeit ist über die Jahre dauerhaft konstant geblieben. Auch auf den erneuten Stimmungsumschwung und den offenen wie verdeckten gesellschaftlichen Rechtsruck, der die letzten Jahre kennzeichnete und der die Veränderungen der politischen Landschaft und des kulturellen Klimas in Deutschland und Europa seitdem begleitet hat, reagierte Konstantin Wecker mit der seinem Protest eigenen Poesie und Wut. Dabei wird er immer mehr ein – noch einmal in den Worten Herbert Rosendorfers von 2012 – „zorniger Prophet“ und erinnert dabei an die „kompromisslosen Rufer in der Wüste, von denen die Bibel spricht“.15 Rosendorfers Hochschätzung des Lyrikers Wecker ist verbunden mit dem Aufruf, vor dem ‚Rufer in der Wüste‘ die Ohren nicht zu verschließen: „Konstantin Wecker ist ein Wacher“, schreibt er, er ist „ein Wächter, wir tun gut daran, auf ihn zu hören.“16 Doch ist sich Rosendorfer der biblisch bezeugten Vergeblichkeit des warnenden Prophetenworts ohne Zweifel bewusst, so dass dem Aufruf sicherlich auch ein Moment der Resignation eingeschrieben ist.

Jenseits allen gesellschaftlich-politischen Protests gehört zu Weckers poetologischem Selbstverständnis ein starkes literaturgeschichtliches Traditionsbewusstsein. Im Horizont einer modernen Poetologie ist Poesie für ihn Literatur aus Literatur. Weckers Poesie zeigt vielfältige Bezüge zur Lyrik insbesondere der Romantik, vornehmlich eines Novalis, und der ästhetischen Moderne zwischen Rilke und den Expressionisten Trakl und Heym. In einem früheren Gedicht Über die Dichter erzählt eine Stimme, in der man mit dem notwendigen Vorbehalt, der für jede poetische Selbstaussage gelten muss, durchaus Konstantin Wecker selbst hören kann, vom Vertrag der Dichter mit den Göttern.

 

Sie sind nun mal ganz gut angesehen da oben,

haben Kredit,

führen andere Gespräche

 

So ganz gefahrlos ist das Gespräch mit den Göttern für die Dichter in Weckers Gedicht indes nicht – sie können stürzen, und sie „stürzen tiefer“,17 wie das Schicksal so mancher Dichterexistenz belegt. Ihnen bleibt über das überlieferte Wort gleichwohl der sichere Kontakt untereinander sowie zu ihrer Leserschaft. Im Sehnsuchtsbild des lyrischen Ichs spazieren die den Göttern nahen Dichter vergangener Zeiten „draußen in Wäldern rum und werfen / sich die Worte zu.“18 Das Gedicht mündet im Wunsch und der Hoffnung, von der göttlichen Kraft des Dichterwortes profitieren zu dürfen, wobei auch ein Stück Selbstgewissheit zu hören ist: „Irgendwann / werden sie mir schon auch ein paar / rüberschicken.“19 Für die Leserschaft von Weckers Gedichten und die Hörer seiner Lieder werden diese ‚Göttergeschenke‘ nicht zuletzt im Prozess der produktiven Rezeption und im intertextuellen Spiel vielfältig greifbar.

III.

Die Beschäftigung mit Konstantin Weckers lyrischem Werk im Sommersemester 2018 in einer literaturwissenschaftlichen Modulveranstaltung im lehramtsbezogener Bachelorstudiengang des Fachs Germanistik stand im Zeichen des produktiven Dialogs. Auf der Grundlage arbeitsseminaristischer Vertiefungen in Weckers Lyrik setzten sich im Rahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Projektunterrichts mehrere Arbeitsgruppen selbstständig mit ausgewählten Themenschwerpunkten auseinander. Im Blickpunkt standen insbesondere Weckers poetische Auseinandersetzungen mit Geschichte und Politik sowie seine Romantik- und im engeren Sinne seine Novalis-Rezeption. Ziel war die Initiierung produktiver Rezeptionen, die unter Nutzung verschiedener Medien von den Lehramtsstudierenden mit Blick auf mögliche Vermittlungen in einem schulischen Raum auszuarbeiten waren. Aus den Arbeitsprojekten sollen in der Folge quasi als eine Form des Werkstattberichts einige Dokumente solcher produktiven Auseinandersetzung der Studierenden mit dem Werk Konstantin Weckers schlaglichthaft vorgestellt werden.

Zu den studentischen Projektarbeiten gehörten mehrere Videoclips zu Weckers Liedern Absurdistan und zu Uferlos, eine mit einem Rap unterlegte Auseinandersetzung mit rechter Hetze und Propaganda unter dem Titel „Gib Parolen keine Chance“, ein Comic „Tim sagt Nein!“, ein Audio zu Novalis und Wecker, verschiedene essayistische Annäherungen an Werk und Persönlichkeit Weckers, ein Poster zum romantischen Konzept einer Poetisierung der Welt, die szenische Inszenierung eines Gesprächs zweier Aufklärer über das soeben gelesene Novalis-Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sowie eine Reihe von Fortschreibungen von Weckers produktiver Rezeption dieses bekannten Novalis-Gedichts.

Auf eine Mehrzahl der produktiven Rezeptionen, etwa die Videoclips, die sich als bevorzugtes Medium in der produktiven Auseinandersetzung mit Weckers Werk erwiesen, kann aus ganz praktischen Gründen hier nicht eingegangen werden, so sehr sie es verdienten. Wenigstens ein kurzes Filmstill sei beispielhaft gezeigt:

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Abb. 1: Filmstill aus dem Videoclip „Gib Parolen keine Chance“ (2018)

Der Videoclip setzt handlungsorientiert Weckers Lied von 2017 Den Parolen keine Chance um,20 mit dem der Liedermacher auf den aktuellen Rechtspopulismus reagiert und dessen unheilvolle Tradition mit Strophen wie den folgenden in Erinnerung ruft:

 

Volk, Nation und Vaterland

sind ihr krudes Kampfgebrüll

alles was dadurch verbrochen

war doch längst entsorgt im Müll.

 

[…]

 

Kriege mit Millionen Toten

haben sie uns eingebracht

Folter, Mord und Diktaturen ‒

Siegeszug brutaler Macht.

 

Dagegen wird der Traum von einer „herrschaftsfreien Welt“ und einem menschlichen Miteinander gesetzt. Das Lied schließt mit einer Handlungsaufforderung: „Lasst uns jetzt zusammen stehen / es bleibt nicht mehr so viel Zeit“, die im Videoclip aufgenommen und praktisch umgesetzt wird. Das Video zeigt – im Rhythmus eines Rap –, wie sich Studierende für Aufklärung und die Offenlegung der in der rechtspopulistischen Propaganda kaum verdeckten Inhumanität einsetzen.

Das Standbild unterstreicht, wie sehr Weckers Lied Sage nein! von 1993 in den Vordergrund des studentischen Interesses getreten ist. Der Aufruf steht im Zentrum der Aufklärungsaktionen. Die besondere Aufmerksamkeit für das Lied lässt sich erst einmal ohne Zweifel damit erklären, dass es musikalisch „äußerst wirkungsvoller ‚Art-Pop‘“21 ist, hängt sicherlich aber auch mit der protestkulturellen und intertextuellen Dimension des Textes zusammen, der „einerseits an ein gleichnamiges Gedicht des Nachkriegsschriftstellers Wolfgang Borchert“, andererseits an „eines der Mottos der Münchner Lichterkette gegen Fremdenfeindlichkeit“ vom 6. Dezember 1992 anknüpft.22 Vor allem hängt es aber mit der gesellschaftspolitischen Aktualität gerade in unseren Tagen zusammen, auf die eine aufgeklärte junge Generation wach, sensibel und mit der notwendigen Entgegensetzung reagiert. Verse wie die folgenden aus Weckers Lied beschreiben eben auch Gegenwart – und fordern zur Aktion auf, sie stehen für das von Wecker vertretene poetologische Programm der „Poesie als Mittel zum Widerstand“.23

 

Wenn sie jetzt ganz unverhohlen

wieder Nazi-Lieder johlen,

über Juden Witze machen,

über Menschenrechte lachen,

wenn sie dann in lauten Tönen

saufend ihrer Dummheit frönen,

denn am Deutschen hinterm Tresen

muss nun mal die Welt genesen,

dann steh auf und misch dich ein:

Sage nein!24

 

Roland Rottenfußer, der mit dem Autor befreundete Redakteur des ‚Magazins für Kultur & Rebellion‘ „Hinter den Schlagzeilen“25 und Mitautor von Konstantin Weckers Biographie Das ganze schrecklich schöne Leben, bringt es wohl auf den Punkt, wenn er von der „aufwiegelnde[n] Kraft“ des Liedes spricht und dem Vermögen, die Hörer zu einer „Entrüstungsgemeinschaft“ zusammenzuschweißen.26 Mit Blick auf das studentische Interesse gerade an diesem Text und Lied und die handlungsorientierte Umsetzung im Medium eines Videoclips findet sich Rottenfußers Rede zumindest indirekt bestätigt. Als handlungs- und produktionsorientiertes Mittel im schulischen Bereich eignet sich die Form des Videoclips – seine Verwendung wie seine Produktion – natürlich in besonderer Weise für den Sekundarbereich.

Eher an den Primarbereich dachten die Studierenden bei der Anfertigung des Comics „Tim sagt NEIN!“.

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Abb. 2: Comic „Tim sagt Nein!“ von Yade Goekhan und Caroline Seelinger (2018)

Erzählt wird in einer Bildfolge von drei Sequenzen vom Rückblick eines Großvaters auf das Terrorregime des 3. Reichs und den Widerstand dagegen in einer Gute-Nacht-Geschichte für den Enkel. Aufgerufen werden die Erinnerungen an die Judenverfolgung und den Holocaust (Abb. 3) sowie an den Protest der ‚Weißen Rose‘ in Hamburg und München (Abb. 4). Hans und Sophie Scholl sowie Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn werden als Mitglieder der Widerstandsgruppen genannt und der zuhörende Tim wird als Urenkel von Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn eingeführt.27 Die Bilderzählung mündet im Wunsch des Enkels, das Andenken an den Mut und den Widerstand der Urgroßeltern zu bewahren und ihrem Beispiel auch im eigenen Leben zu folgen: „Und so schlief Tim ein und er träumte von seinen Urgroßeltern und wie sie immer und immer wieder NEIN! sagten und er nahm sich vor bei jedem Mal, wenn er Ungerechtigkeit sehe ganz laut NEIN! zu sagen.“ (Abb. 5).

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Abb. 3-5: Comic „Tim sagt Nein!“ von Yade Goekhan und Caroline Seelinger (2018)

Auffällig sind die Märchenanklänge im Eingang der Bilderzählung, mittels der die Verfasserinnen ebenso wie mit der Kinderperspektive den Rezeptionsvorlieben von Schülerinnen und Schülern im Primarbereich Rechnung zu tragen suchen. Ebenso wie im Video-Clip ist in diesem Comic das Leitmotiv „Sage Nein!“ unübersehbar. Der Themenwahl und nicht zuletzt diesem Schluss eingeschrieben ist ohne Zweifel auch die produktive Auseinandersetzung der Arbeitsgruppe mit Weckers 1983 erstveröffentlichtem Lied und Gedicht Die Weiße Rose. „Laut schreien kann ich sehr gut“, verspricht Tim seinem Großvater am Schluss der Comicerzählung und erinnert damit an die Abschlussverse von Weckers Gedicht über die Widerstandsgruppe: „ihr habt geschrien, wo alle schwiegen – / es geht ums Tun und nicht ums Siegen!“28

Neben der poetischen Auseinandersetzung Weckers mit Geschichte und Politik stand im Seminar seine poetische Rezeption der Romantik im Blickpunkt des studentischen Interesses. Ein besonderer Fokus kam Weckers intensiver Auseinandersetzung mit Novalis und ausdrücklich mit dessen Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren zu. Ausgangspunkt war Weckers entsprechende Adaption und Weiterschreibung dieses romantischen Programmgedichts:

 

Novalis

 

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

sind Schlüssel aller Kreaturen,

wenn die so singen oder küssen,

mehr als die Tiefgelehrten wissen,

wenn sich die Welt ins freie Leben

und in die Welt wird zurückbegeben,

wenn dann sich wieder Licht und Schatten

zu echter Klarheit werden gatten

und man in Märchen und Gedichten

erkennt die wahren Weltgeschichten,

dann fliegt vor einem geheimen Wort

das ganze verkehrte Wesen fort.

 

Erst wenn Gedichte und Geschichten

das Herz wieder gerade richten,

wenn wir den eignen Melodien

nicht mehr so hilflos taub entfliehen,

wenn nicht das Streben nach Gewinn

des Lebens kläglich karger Sinn

und wir an Zins und Dividenden

keinen Gedanken mehr verschwenden,

wenn die so singen oder küssen,

mehr als die Tiefgelehrten wissen,

dann fliegt vor einem geheimen Wort

das ganze verkehrte Wesen fort.29

 

Dem Text ist ein Postskript angefügt, das den Bezug zum romantischen Gedicht und dessen Bedeutung für den Spurengänger Wecker noch einmal unterstreicht: „Mit Dank an Novalis“. Weckers Gedicht ist eine Weiterschreibung. Das Novalis-Gedicht bildet die erste Strophe.30 Man wird die Übernahme weniger als Zitat verstehen dürfen, sondern als Einverleibung. Das Gesamtzeugnis des Romantikers wird integraler Bestandteil des eigenen Textes. Dieses amalgamierende Verfahren begegnet in Weckers Lyrik häufig, ein wenig komplexer gestaltet etwa in Der Krieg – „Mit Dank an Georg Heym“31 – oder versteckt in Ohne Warum (sunder warumbe), das an Meister Eckhart, vor allem aber ganz unmittelbar an eine Spruchdichtung des schlesischen Mystikers Angelus Silesius anknüpft.32 Als Lied gehört das Gedicht Novalis zum Standardrepertoire Wecker’scher Konzerte. Man wird dem Gedicht sicherlich einen Bekenntnischarakter zuerkennen dürfen. Eine Einordnung versucht Roland Rottenfußer:

Ein Romantiker ist Wecker immer schon gewesen, wenn auch selten so explizit wie hier im Novalis-Lied. Nicht nur seine intensive Rezeption der Klänge Puccinis, Verdis, Schuberts oder Schumanns, der Gedichte von Eichendorff und anderen machen ihn dazu. Auch sein radikal ‚subjektives‘ Programm der schöpferischen Selbstentfaltung der Seele, sein Drang zur Auflösung aller Formen und Normen, zum Transzendieren und Sich-Verströmen, zum Schrankenlosen, Geheimnisvollen und Wunderbaren. Wecker ist der Sänger der veränderten

Bewusstseinszustände, der Zwischenwelten aus Rausch, Ahnung und Traum, die das fokussierte rationale Bewusstsein gleichsam immer umlagern – als Verheißung und als Gefahr. Schon darin ist er Romantiker.33

Das ‚geheime Wort‘ aus dem Novalis-Gedicht, das Wecker in seiner Weiterdichtung so augenfällig aufnimmt und parallel an den Schluss der eigenen Strophe stellt, hebt auf das dichterische Wort und seine wirklichkeitserschließende Kraft ab und stellt eine wichtige Kategorie in Weckers poetischer Poetologie dar.34

Nicht nur die poetologische Bedeutung, sondern auch das Phänomen, dass Konstantin Wecker seine eigene Weiterdichtung bei späterer Gelegenheit nochmals um eine Strophe ergänzt hat,35 motivierte eine Reihe der Studierenden im Rahmen einer eigenen produktiven Rezeption, Fortschreibungen vorzunehmen, von denen eine exemplarisch angeführt sein soll:

 

Wenn doch in unserm Weltgetriebe

dies Lied nicht auf der Strecke bliebe!

Wenn wir uns statt uns abzuhetzen

mit Liedern auseinandersetzen,

wenn wir uns ab und zu verschenken

und nicht mehr an uns selber denken,

wenn wir uns nicht mehr täuschen lassen,

den Wert der Liebe ganz erfassen,

wenn das, was wirklich zählt im Leben,

wird unser Wollen, unser Streben,

dann fliegt vor einem geheimen Wort

das ganze verkehrte Wesen fort.

(Text: Astrid Biegert; 2018)

 

Bereits formal greifbar ist der Anschluss an Weckers Weiterschreibung – die Anzahl der Verse, der Rhythmus und der Versfall sowie die Zitation der programmatischen Schlussverse des Novalis-Gedichts sind augenfällig. Der Aufruf zu einer Umkehr ist fortschreitend individualisiert, bewegt sich aber unverkennbar im Horizont von Weckers Weiterschreibung.

IV.

Der Werkstattbericht wollte einen Einblick in die produktive Rezeption und Auseinandersetzung von Lehramtsstudierenden im Bachelorstudiengang der Fachrichtung Germanistik vermitteln, die sich mit dem Werk des Poeten und Liedermachers Konstantin Wecker auseinandergesetzt haben. Ein Werkstattbericht ist immer etwas Unfertiges und Ausschnitthaftes. Vorgestellt und eingeordnet wurden einige wenige Dokumente, die ihrerseits nur eine Station im Prozess der produktiven Rezeption und der weiteren Wissens- und Kompetenzaneignung markieren. Das Spezifische bestand nicht zuletzt darin, dass im Horizont eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichtskonzepts nach Wegen gesucht wurde, Vermittlungsformen für die und in der Schule zu erproben.

Sichtbar geworden ist aber auch das starke Interesse an der Verbindung von Kunst und Politik. Das Einspruchsvermögen der Kunst in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist nach wie vor gefragt.