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Llucia Ramis
Verortungen
Roman

Aus dem Katalanischen
von Heike Nottebaum

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Diejenigen, die nach der Wahrheit suchen,
verdienen die Strafe, sie zu finden.

SANTIAGO RUSIÑOL

Jede Ähnlichkeit mit der Realität ist reine Fiktion.

Inhalt

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Glossar

Es hätte einfach nur eine weitere Nachricht sein können. Eine jener sensationslüsternen Geschichten, wegen derer ganze Familien vor dem Fernseher ausrufen: „Ach, wie entsetzlich! Wie kann man nur so grausam sein!“ Unzählige Stunden verbringen wir vor dem Fernsehapparat und kaum einmal verändert sich dadurch unser Leben. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa, ich auf dem Boden, zu ihren Füßen, den Rücken gegen ein Kissen gelehnt. Mein Vater dürfte in seinem Arbeitszimmer gewesen sein, am Ende des Gangs, denn ich sehe ihn nicht bei uns. Ein ganz gewöhnlicher Abend kurz vor dem Abendessen. Ein Dienstag im Mai. Die Tage werden länger. Nur noch kurze Zeit bis zu den Prüfungen, die Stehlampe brennt. Durch das offene Fenster das Rauschen des Verkehrs auf der Straße. Zwischen den Gebäuden, wie hineingeschnitten in den indigoblauen Himmel, der fast volle Mond.

Der Irakkrieg ist zu Ende. Die britische Regierung verlangt Aufklärung für den Tod eines Kameramannes, der von den Israelis im Gazastreifen erschossen wurde. Der Papst hat Madrid einen Besuch abgestattet. Die Monotonie dieser fremden Realität schwirrt mit einer Spur von Blütenstaub durch die Luft, ganz unverhofft ist es warm geworden. Dann springt uns ein Name an. Es ist ein bekannter und uns vertrauter Name, der von der Ansagerin, bedenkt man den Inhalt der Nachricht, viel zu beiläufig erwähnt wird: „Heute Morgen hat der Unternehmer Benito Vasconcelos in seiner Villa in La Moraleja seine Frau und seinen sechzehnjährigen Sohn getötet und sich danach das Leben genommen.“

Unwillkürlich schaue ich auf den Briefbeschwerer, den wir benutzen, um die Wohnzimmertür aufzuhalten, damit sie bei Durchzug nicht zuschlägt. Meine Mutter flucht. Das tut sie sonst nie. Es ist ein schwerer Briefbeschwerer, einer aus Gusseisen, schwarz, mit dem vergoldeten Logo der Firma. Er stellt einen liegenden Mann dar, der halb aufgerichtet in einem Buch liest. Meine Mutter ruft nach meinem Vater, er soll sofort kommen. Manchmal habe ich sie sagen hören, der Briefbeschwerer würde Kratzer auf dem Lack des Parketts hinterlassen. Vielleicht greift sie aber auch schon zum Telefonhörer, um meine Großeltern anzurufen. Er hat ihn mir geschenkt, das einzige Mal, dass ich in seinem Büro war. „Vous voyez les nouvelles?“, fragt meine Mutter mit hoher und drängender Stimme. Er hat mir auch andere Dinge geschenkt, mit dem gleichen Logo. Einen Notizblock, Briefpapier. Da war etwas an ihm, das mir nicht gefiel. Er redete zu laut oder er lachte zu viel oder er kniff mir in die Wange. Ich erinnere mich nicht mehr. Jemand hat den Fernseher lauter gestellt. Vielleicht bin ich es selbst gewesen. Aber an den Aufzug erinnere ich mich noch. Es war einer von diesen alten Holzaufzügen. Er bewegte sich ganz langsam und knarrte dabei, seine Türen waren aus Glas und gaben den Blick auf ein großes hochherrschaftliches Treppenhaus aus Marmor frei, und drinnen befanden sich eine kleine Bank und ein an den Rändern getönter Spiegel.

Ich bin ihm nur drei oder vier Mal begegnet. Und wäre er nicht gerade auf dem Bildschirm zu sehen, hätte sich sein Gesicht nach und nach aufgelöst, bis es schließlich ganz aus meinem Gedächtnis verschwunden wäre, so wie die Gesichter derjenigen Menschen verschwinden, die uns keinen Grund geben, jemals wieder an sie zu denken. Ein Schlüsselanhänger mit den beiden vergoldeten Initialen, ein Feuerzeug, ein Aschenbecher. Absurde Geschenke, mit denen er mir gefallen wollte. Mein Großvater sagte oft, er sei ein freigiebiger Mensch, der großzügige Trinkgelder verteile und seinen Angestellten und Freunden teure Geschenke mache. Die für mich waren nicht teuer. Der Briefbeschwerer hat sich wenigstens noch als nützlich erwiesen, und da ist er nun und hält die Tür auf, damit sie nicht zuschlägt, und verkratzt das Parkett, wie Mama meint.

Am Telefon antwortet meine Großmutter, ja, sie hätten es gerade gehört. Sie sagt, mein Großvater sei fassungslos. Es ist kein halbes Jahr her, dass er sich zur Ruhe gesetzt hat.

„Glaubst du, er hat damit gewartet, bis deine Eltern auf Mallorca waren?“, wird mein Vater später meine Mutter fragen.

„Wer weiß schon, was so jemandem durch den Kopf geht“, wird sie antworten.

An dem Tag damals, an dem ich in Benito Vasconcelos Büro war (ich trug noch eine Zahnspange), fühlte ich mich eingeschüchtert. Ich fürchtete mich vor allem und jedem. Menschen, die ich nicht kannte, machten mir Angst. Auch Madrid. Die Madrider Metro. Und jetzt, vor dem Fernseher, wird mir schlagartig klar, dass sich sein Name niemals unter die Namen derjenigen reihen wird, die uns irgendwann einmal in unserem Leben über den Weg laufen. Benito Vasconcelos wird immer wiederkehren, ungewollt wird er von uns verlangen, ihn über seinen Tod hinaus in Erinnerung zu behalten. Er wird sich in ein Gespenst verwandeln.

Als wir uns damals verabschiedeten, was genau hat er da eigentlich gemacht? Hat er meinen Arm gedrückt? Ist da Speichel in seinen Mundwinkeln gewesen? Was hat mich so sehr an ihm gestört? Ich stand ganz nah bei meinem Großvater und meiner Mutter, vor eben jenem holprigen Aufzug, mit dem ich zu einer der zentral gelegenen Straßen Madrids hinunterfahren sollte, um Benito Vasconcelos niemals wiederzusehen (bis jetzt, wo ein Foto von ihm und seine Villa mit der versiegelten Tür und die Fassade des Bürogebäudes auf dem Bildschirm erscheinen), und ich hörte, wie der Sozius meines Großvaters sagte:

„Mal sehen, ob wir nicht bald einmal was mit meinem Sohn organisieren. Wir waren schon lange nicht mehr auf Mallorca. Wer weiß. Ihr zwei würdet ein schönes Paar abgeben!“

Wie eine Beleidigung hallte sein Gelächter im Treppenhaus nach.

Erster Teil

1

Feuchte, salpetergetränkte Luft weht durch die Fluggastbrücke. Ich hänge mir die Tasche über die Schulter. Es ist ein Notfall und ich habe nur das Allernötigste bei mir, aber auch das Allernötigste wiegt. In der Ankunftshalle heißen riesige Plakate mit von photoshopblauem Meer umspülten Buchten die Besucher der Insel auf Spanisch, Katalanisch, Deutsch, Englisch und Französisch willkommen.

Während sie nach den Anzeigetafeln Ausschau halten, ziehen die Touristen zwischen Geschäften mit ensaïmades, Andenkenläden, Cafés und einem Burger King, der ölige Gerüche verströmt, ihre Koffer ungeschickt hinter sich her. Wir anderen folgen einer Strecke, die wir wie im Schlaf kennen, und steuern, ohne uns aufhalten zu lassen, gleich auf den Ausgang zu. Seit dreizehn Jahren lebe ich in Barcelona und fliege mindestens vier Mal im Jahr nach Mallorca. Ich fliege nicht gerne. Flughäfen sind nervtötend, das Schlangestehen, das Warten, das fahle Licht der Neonröhren, das auf die Menschen fällt, die sich an diesem Nicht-Ort befinden. Einige auf dem Weg in die Ferien, andere zur Arbeit. Und ich, kurz davor in Erfahrung zu bringen, was mit meinem Vater los ist.

Ich schalte das Handy ein und sehe zwei entgangene Anrufe von Ivan und eine Nachricht von ihm: „Kopf hoch und Küsse. Wir reden heute Abend.“ Ich habe keine Zeit gehabt, mich von ihm zu verabschieden. Ich finde, in der letzten Zeit kommunizieren wir nur noch über entgangene Anrufe und Nachrichten. Niemand käme auf den Gedanken, dass wir in derselben Redaktion arbeiten und obendrein zusammenleben. Zu viele offene Fronten. Wir sind erschöpft. In ein Flugzeug zu steigen war das Letzte, was ich gerade jetzt brauchen konnte, aber die Stimme meiner Tante hatte besorgt geklungen. Wirklich beunruhigend war allerdings die Tatsache an sich: dass mich meine Tante überhaupt anrief. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie das schon jemals getan hätte. Und trotzdem fiel es mir schwer, ihr Glauben zu schenken. Wenn mein Vater so schlecht beieinander war, wie sie behauptete – „er wird noch jemandem was antun oder aber sich selbst“, wiederholte sie, fast so wie in einer dieser Seifenopern, mit melodramatischem Unterton –, wenn mein Vater wirklich Hilfe brauchte, hätte meine Mutter, die schließlich Psychologin ist wie er, das sicher bemerkt und mir sofort Bescheid gesagt. Andererseits ist meine Mutter sehr verschwiegen und wollte mich vielleicht nicht beunruhigen. Sie ist davon überzeugt, mit allem alleine zurechtzukommen, nie würde sie um etwas bitten. Wie heißt es doch gleich: Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe und so weiter.

„Auf dich hört er, er hört immer auf dich“, meine Tante ließ nicht locker, „dein Vater muss zu einem Spezialisten.“ Und das Wort „Spezialist“ klang bedrohlich. Ich war unschlüssig gestern Nachmittag auf der Glasveranda, die Wäsche halb aufgehängt, das Handy am Ohr. Doch dann kam mir das Panorama der Innenhöfe mit den alten Frauen und den Blumentöpfen, mit den Käfigen, in denen morgens Kanarienvögel zwitscherten, mit einem Mal fremd vor. Mir war gerade eben die Verantwortung zugefallen, mich um meinen Vater zu kümmern, und bliebe ich das Wochenende über zu Hause, würde das meine Unruhe und meine Gewissensbisse nur noch steigern. Außerdem ließ der Satz „auf dich hört er“ mich unentbehrlich fühlen.

Es stimmt, mein Vater ist seit einigen Monaten seltsam. Oder besser gesagt, er verhält sich seltsam. Aber er ist eben temperamentvoll und er liebt es, bis aufs Äußerste zu provozieren. Ich führte es darauf zurück, dass ihm alles zusammen, die gerade ziemlich unsichere politische Situation, ein Nachbarschaftsstreit, der immer weiter eskalierte, und sein Ruhestand gewaltig gegen den Strich gingen. Von mehreren Freunden (und von Ivan) weiß ich, dass viele Väter den Kopf verlieren, wenn sie in Rente gehen. Bei einem Abendessen, bei einem Glas Wein sprechen wir oft darüber, wie verdammt hart es sein muss, sich auf einmal überflüssig zu fühlen. Schlimmer noch: sich als Museum des eigenen Lebens vorzukommen.

Später einmal wird es heißen, dass jetzt, im Jahr 2007, für die Welt, so wie wir sie gekannt haben, der Anfang vom Ende begonnen hat. Aber im Augenblick fehlt uns die Perspektive, um dies zu erkennen. Die Krisendrohungen klingen in unseren Ohren nach den typischen Endzeittiraden der Wirtschaftsgurus. Natürlich haben sie recht, aber sie erreichen damit genauso viel, um nicht zu sagen, genauso wenig wie Umweltschützer, die vor den Auswirkungen des Ozonlochs warnen, vor dem Klimawandel oder dem Plastikmüll in unseren Ozeanen. „Bis hierher lief’s noch ganz gut“, versucht sich ein Typ zu beruhigen, während er von einem Hochhaus in die Tiefe fällt. Diese Pointe aus dem Film Hass beschreibt die oberflächliche Freude, mit der wir jeglichen Gedanken an die Zukunft vermeiden, auf die wir unweigerlich zusteuern. Ich habe nur einen Zeitvertrag, aber der ist fair. Wie Ivan zu so viel Geld kommt, diese Frage stelle ich mir nicht. Mit gerade dreißig stehen wir beruflich ganz gut da, es scheint so, als ob man uns endlich zu schätzen weiß.

Unsere Väter befinden sich auf einer anderen Ebene, fast könnte man meinen, in einem anderen Universum. Manchmal sagen wir im Scherz, sie hätten sich in unsere Kinder verwandelt. Vor allem der Vater von Ivan, seit seine Mutter ihn um die Scheidung gebeten hat.

„Es ist zum Verrücktwerden. Mein Vater kommt alleine einfach nicht klar. Er kann sich noch nicht mal ein Spiegelei braten“, sagte Ivan. Er saß am Steuer und wir waren auf dem Heimweg von der Arbeit, spät, wie immer, nachdem wir zuvor noch an der Imbissbude, die zwei Straßen von der Redaktion entfernt liegt, eine Bratwurst gegessen hatten.

„Und deine Mutter kommt sicher nicht damit klar, vierundzwanzig Stunden am Tag mit ihm zu verbringen. Als er gearbeitet hat, da ging’s vielleicht noch. Aber jetzt … Stell dir vor, du hast den ganzen Tag zu Hause auf dem Sofa einen Kerl hocken, der nicht in der Lage ist, sich ein Spiegelei zu braten.“

Mein Vater ist eher der hyperaktive Typ. Er hatte sich auf den Ruhestand gefreut, um endlich all das tun zu können, wonach ihm war und was er bislang nicht machen konnte, weil er keine Zeit dazu hatte, und das bedeutete vor allem, die mallorquinische Fauna und Flora zu retten und sich seinem Blog zu widmen. Ein sehr politischer Blog, in dem er den Partido Popular kritisiert und den nordamerikanischen Kapitalismus. Bis vor kurzem klickten Tausende seine Seite an, die Leute hinterließen einen Kommentar, renommierte Journalisten der Insel beglückwünschten ihn sogar. Er hatte eine Stimme. Er war jemand.

Der Eintrag, der vielleicht alles ins Rollen gebracht hat, trägt den Titel „Die Mauer“. Andererseits ist es irgendwie absurd, einen einfachen Text dafür verantwortlich zu machen, dass ich jetzt hier bin und an den Kofferbändern vorbeihaste, auf denen sich immer mehr Gepäckstücke ansammeln, bereit zum Abholen.

Die Ursache dafür muss tiefer liegen und nur, indem ich in der Erde scharre und mir die Hände schmutzig mache, kann ich ihr auf den Grund gehen.

Mein Vater, papaíto, wenn ich in unseren Diskussionen sarkastisch und respektlos werde, mumpare, wenn ich ihn auf Mallorquinisch anspreche, Juan Mateo in seinen Ausweispapieren und Mateu für alle übrigen, ist für mich: Papa. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes der Mann meines Lebens, denn ohne ihn wäre ich nicht hier. Jetzt bin ich seinetwegen hier und ich weiß, er wird mich abholen, so wie immer, eifrig bemüht, wenn es um jemanden aus der Familie geht, für meine Begriffe ein wenig zu sehr. Er bringt mich zur Verzweiflung, ohne dass es einen konkreten Grund dafür gäbe. Seine grenzenlose Güte und dieses fast flehende Verlangen nach Liebe in seinen Augen, wenn er mich anschaut, machen mich einfach wahnsinnig. Als ob er tief im Inneren befürchtet, ich würde seine Gefühle nicht erwidern oder jedenfalls nicht in dem Maße, wie er es gerne hätte, denn er will immer mehr und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Natürlich wird er mir meine Tasche abnehmen wollen, ich werde ihm sagen, dass er das nicht braucht, er wird darauf bestehen, ich werde wieder Nein sagen und er wird mich ein drittes Mal fragen, „willst du bestimmt nicht, dass ich deine Tasche nehme?“

Er sagt zu nichts Nein und du musst alles drei Mal wiederholen, bis er es akzeptiert. Willst du sicher nicht den Nachtisch probieren, den er sich im Restaurant bestellt hat? Soll er dich nicht doch mit dem Auto hinfahren? Willst du wirklich nicht, dass er nach Barcelona kommt und dir dabei hilft, den Computer zu konfigurieren? Nein, nein und nochmals nein. Danke, aber nein. Seine Beharrlichkeit bringt mich gegen ihn auf und das mit einer Vehemenz, die er als Konfrontation empfindet. Vielleicht ist es das ja auch. Schroff, weil ungeduldig. Wäre es denn nicht viel einfacher, er würde akzeptieren, was ich will oder eben nicht mehr will, ohne darauf zu bestehen, was ich seiner Vorstellung nach zu wollen habe? Ich wüsste gar nicht, was mir entgeht, ich sei im Unrecht, sollte mir helfen lassen und einen Rat annehmen und ihm nicht ständig widersprechen, denkt er. Ich nehme an, zum gegenwärtigen Zeitpunkt macht es wenig Sinn zu hoffen, sein Bild von mir könne sich ändern. Andererseits werde ich es jetzt auch nicht mehr lernen, ihn einfach gewähren oder mich treiben, mich einfach von ihm lieben zu lassen, was ich allerdings sehr wohl jedes Mal zulasse, wenn er mich am Flughafen abholen kommt. Unsere kleinen Waffenstillstände konzentrieren sich auf das Wiedersehen.

Da ist er. Wie immer wartet er auf mich vor Ausgang D, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass ich nie Gepäck aufgebe und darum immer gleich den kleinen Seitenausgang nehme. Er ist hochgewachsen und schon völlig weiß. Er sieht ziemlich zerzaust aus. Je näher ich komme – noch hat er mich nicht gesehen, denn er versucht, mich auf der anderen Seite der Glasscheibe ausfindig zu machen und ich bin ja schon draußen –, desto mehr haftet mein Blick auf dem geblümten Hemd, das er fast bis zum Bauchnabel offen trägt. Seit Tagen hat er sich nicht rasiert. Er erinnert mich an einen pensionierten Surfer oder einen dieser Männer, die in Miami leben und Statistenrollen in Fernsehserien übernehmen. Oder, wer weiß, vielleicht hat er sich ja Jeff Bridges in König der Fischer zum Vorbild genommen, obwohl er ja eher wie Jeff Bridges in The Big Lebowski aussieht.

Er entdeckt mich aus den Augenwinkeln, dreht sich zu mir und öffnet mit einer theatralischen Geste seine Arme. Dann, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet, kommt ein schwarzes Paar auf mich zugestürmt: Er richtet eine Videokamera auf mich, sie hält mir ein Aufnahmegerät vor den Mund. Die beiden sind fast so groß wie mein Vater, dürften um die zwanzig sein und ihre seidig glatten Arme schimmern wie poliertes Ebenholz.

Ich schaue meinen Vater entgeistert an. Was zum Teufel soll das denn? Er spricht meinen vollständigen Namen aus, beide Familiennamen, und er fragt mich, ob ich eine gute Reise gehabt hätte und imitiert dabei einen Reporter der Regenbogenpresse. Die Afrikaner zielen mit ihren elektronischen Apparaten auf mich und warten, dass ich etwas sage, aber ich bin verstummt. Schließlich gelingt es mir, ein nervöses Gestammel von mir zu geben:

Papaíto, tust du mir den Gefallen und …“

Er lässt mich den Satz nicht zu Ende bringen und ruft aus, ich sei eine berühmte Schriftstellerin. Einige Reisende schauen uns im Vorübergehen an. Mein Vater fragt, ob ich schon an einem zweiten Buch schreibe, was ich für Pläne hätte. Ich muss hier raus. Die Afrikaner heften sich an meine Fersen, so als könnten sie mir irgendeine interessante Erklärung entlocken. Dieses Mal fragt mein Vater nicht, ob er meine Tasche tragen soll, er hat es vergessen. Aber klar, dieses Mal ist mein Vater auch nicht mein Vater. Jemand anderes steckt in seinem Körper und hat sich ein Aufnahmegerät um den Hals gehängt, das er keinen Moment lang ausschaltet, weil er, wie er mir im Auto verkündet, Beweise braucht.

„Beweise wofür?“, traue ich mich zu fragen.

„Für alles!“, ruft er.

Für die Drohungen, für seine eigene Existenz. Für das Leben im Allgemeinen.

Als wir das Haus erbten, schien sich eine Art poetische Gerechtigkeit zu erfüllen. Meine belgischen Großeltern hatten gerade Can Meixura verkauft, den Ort, an dem meine Erinnerungen beginnen, jenes verlorene Paradies, in das ich nicht mehr zurückkehren kann. Son Cors liegt etwa zwanzig Kilometer davon entfernt, es gehört ebenfalls zur Gemeinde Fenassar, und an jedem ersten August haben wir uns dort getroffen, um den Geburtstag meines mallorquinischen Großvaters zu feiern. Seitdem es seinen Geburtstag nicht mehr zu feiern gibt, sind wir nicht mehr dort gewesen.

Als er Son Cors erbte, dachte mein Vater, er könne das Haus herrichten und so, irgendwie, die Erinnerungen, den Sommer und die Wochenenden zurückholen, die wir durch den Verkauf von Can Meixura verloren hatten: Johannisbrotbäume, Feigenkakteen und das schönste Licht der Welt. Nicht umsonst heißt Son schließlich „das von“. Es ist ein Besitztum, eine possessió, wie auf den Balearen ein Landgut genannt wird.

Cors kommt von „korsisch“, vielleicht hat sich das Landgut vor langer Zeit ja einmal in der Hand von Korsen befunden. Cors ist aber auch der Plural von cor, von Herz.

Als ich meiner Mutter sagte, der Verlust von Can Meixura würde so wehtun, als habe man mir einen Arm ausgerissen oder als sei jemand gestorben, der mir sehr viel bedeutet – eigentlich sind wir damals alle ein bisschen gestorben, denn es war, als hätten wir mit dem Verkauf des Hauses unsere Vergangenheit verschleudert –, konnte sie das nicht wirklich nachempfinden. So etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl kennt meine Mutter nicht. Sie ist in Belgien geboren und hat in Asturien gelebt, in Madrid und Paris, bevor sie geheiratet hat und nach Mallorca gezogen ist. Würdest du sie fragen, wo ihre Wurzeln sind, hätte sie sicherlich keine Antwort darauf. Aber das macht aus ihr keine Entwurzelte. Obwohl, also, bei „entwurzelt“ muss ich an „entgleist“ denken, was aber nicht dasselbe ist. Oder vielleicht doch.

Was soll‘s. Son Cors war nicht Can Meixura. Von Son Cors aus konnte man nicht auf den Puig de Sant Bartomeu sehen, und meine Kindheit hatte dort keine Spuren hinterlassen: Wie ich durch die Felder streifte, mir beim Auf-die-Bäume-Klettern die Knie aufschürfte, lernte, ein Rotkehlchen und einen Wiedehopf zu bestimmen, den Gesang der Nachtigall von dem der Amsel zu unterscheiden, mich im Dickicht versteckte, dort, wo wir Dalma beerdigt haben, unsere alte pyrenäische Schäferhündin. Es gibt auch keine vergilbten Fotos aus der Zeit, als der Strom nach Son Cors kam, so wie es sie von Can Meixura gibt, als dort die Elektrizität Einzug hielt. Und ich, drei oder vier Jahre alt, zeige mit weit aufgerissenen Augen auf eine brennende Lampe, bin hin und weg. Nach Son Cors ist auch nie ein Wünschelrutengänger gekommen, der, den Eindruck hatte ich zumindest, auf Can Meixura die Astgabel absichtlich in der Nähe der am dichtesten belaubten Johannisbrotbäume schwingen ließ, waren sie doch der beste Beweis dafür, dass es dort Wasser geben müsste. Und es fuhr später auch kein Lastwagen nach Son Cors, so wie zuvor nach Can Meixura, auf einem schmalen Weg, der sich bis zum Haus schlängelte und auf dem mein Vater und mein belgischer Großvater Steine und Unkraut wegschafften, und sie fragten mich, ob ich ihnen nicht dabei helfen wollte, ganz früh am Morgen, noch bevor die Sonne glühend heiß auf unsere Strohhüte brennen würde.

Die mit dem Lastwagen bohrten Löcher in den Boden. Jedes Rohr, das sie ins Erdreich versenkten, dürfte drei Meter lang gewesen sein und kostete eine Stange Geld. Sie könnten auf Felsgestein stoßen und in diesem Fall wäre das Ganze eine verlorene Investition. Meine belgischen Großeltern wollten auf Can Meixura ihren Lebensabend verbringen. Gäbe es dort kein Wasser, müssten sie sich etwas anderes überlegen, wahrscheinlich in Madrid bleiben, wo sie damals lebten. Dann könnten sie, so wie bisher, nur im Sommer nach Can Meixura kommen und manchmal im Frühling. Für kurze Aufenthalte reichte ihnen der Wasservorrat in der Zisterne.

Aber der Bohrer stieß nicht auf Stein. Mit orgastischer Kraft schoss das Wasser hervor, und ich fing an zu tanzen und zu hüpfen, so wie ein Indianer im Regen nach der großen Dürre. Oder zumindest so, wie die Indianer in meinen Bilderbüchern.

Meine Mutter hat für das Landleben nichts übrig. Nach Can Meixura ging sie, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte, zuerst wegen mir – ein Kind darf man an den Wochenenden nicht in der Stadt einsperren –, und dann, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten, um ihre Eltern zu besuchen. Als diese im letzten Jahr schließlich das Haus verkauften, fühlte sie sich befreit. Jetzt müsste sie nicht mehr dorthin. Als mein Vater ein paar Monate später Son Cors erbte, dachte sie, das Schicksal spiele ihr einen üblen Streich.

Son Cors bewahrte nicht unsere Familiengeschichte, wohl aber ein Datum über der Tür: 1719. Seine Zeit als Frischpensionierter verbrachte mein Vater damit, Unkraut auszurupfen und Palmen zu pflanzen. Sein Ziel war es, einen Ort instandzusetzen, auf den meine Mutter keine Lust hatte und an dem ich, weil ich in Barcelona lebe, nur selten sein würde. Zwei- bis dreimal die Woche legte mein Vater die sechzig Kilometer zurück, die Palma von Son Cors trennen, und er verbrachte dort Stunden um Stunden, die Harke in der Hand und das Hemd offen, die Lungen vollgepumpt mit frischer Luft, um mit seiner Hände Arbeit das in Ordnung zu bringen, was von Wind und Wetter unter Unkraut und Gestrüpp beharrlich abgetragen worden war.

So hätte es immer weitergehen können. Sonntagabends am Telefon mit halbem Ohr zuhören, wenn er von seinen Fortschritten erzählte – „heute habe ich eine kleine Mauer gezogen, um den Rosenstock zu schützen, den ich an der Vorderfront des Stalls gepflanzt habe“, „heute musste ich den Rosenstrauch mit Draht hochbinden, denn der Wind hat ihn umgeweht“ –, ihn in dem Glauben lassen, dass wir eines Tages die Ferien dort verbringen werden, er als glücklicher Großvater von zwei Kindern, die ich mit Ivan oder wem auch sonst haben würde, Kinder, die genauso glücklich sein würden wie ich, als ich auf Bäume geklettert und von meinen Abenteuern mit Erde an den Turnschuhen und zerkratzten Beinen zurückgekehrt war, und denen er, mein Vater, Geschichten erzählen würde so wie mir damals mein Großvater auf Can Meixura, und dann würden wir alle zusammen wieder dem Sternschnuppenregen zuschauen, den Tränen des heiligen Laurentius.

Dieser Traum meines Vaters schloss die Notwendigkeit von Dauer ein: Er bekam das Haus zurück, das erst seinem Großvater, dann seiner Mutter gehört hatte und in dem die ganze Familie so viele Male zusammengekommen war, um umgeben von Fliegen und Schafen den Geburtstag seines Vaters zu feiern. Und er wollte es weiter mit Erinnerungen füllen, so wie er, ohne auch nur das Geringste von Gartenbau zu verstehen, in dem kleinen Gemüsegarten, den er angelegt hatte, Tomaten aussäte, in der Hoffnung, etwas von all dem würde bleiben, wenn es ihn nicht mehr gäbe. So wie mit diesem Haus für immer der erste August verbunden sein würde und sein über der Tür eingemeißeltes Entstehungsdatum.

Nicht für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, ich würde vielleicht gar keine Kinder haben wollen, und nicht im Traum hätte er sich vorstellen können, was sich schließlich zutragen sollte.

Ein gedämpfter Pfeifton ist zu hören, gleichzeitig blinken die Scheinwerfer auf und die automatische Türverriegelung schaltet sich aus. Ich wusste, dass er sich ein neues Auto gekauft hatte, aber auf so eins wäre ich nie gekommen. „Ein richtig vornehmer Schlitten“, hatte er am Telefon gemeint. Die Afrikaner machen es sich auf dem Rücksitz bequem, während das Verdeck des goldfarbenen Audi mit einem Summen Richtung Kofferraum gleitet. Wie kommt es, dass meine Mutter mir nichts davon gesagt hat? Ich erinnere mich an die Worte meiner Tante: „Dein Vater wirft das Geld zum Fenster raus, kauft unablässig unnütze Dinge, schenkt allen möglichen Leuten irgendwelche Apparate, Aufnahmegeräte, Digitalkameras, DVD-Player, sogar zwei Senegalesen hat er eingestellt!“

Mein Vater hat sich die Ray-Ban-Pilotenbrille aufgesetzt, die er trug, als er noch nicht verheiratet war. Zögernd steige ich ein und setze mich neben ihn. Ich schnalle mich an und eine Sekunde lang denke ich, er wird jetzt den Motor aufheulen lassen, so als ob wir in einem Porsche oder Ferrari säßen. Aber der Wagen verlässt lautlos das Parkhaus und ordnet sich unter dem blauen Himmel auf der Autobahn ein. Dann beschleunigt mein Vater. Er zählt mir die Raffinessen des Audi auf und dreht sich bisweilen nach hinten, um den Afrikanern Anweisungen zu geben, was sie filmen sollen, mal ein Flugzeug im Landeanflug, mal eine Mühle ohne Flügel. Währenddessen jagt er, ohne etwas darauf zu geben, mit Vollgas über die Straße und drückt auf die Hupe, damit ihm die Autos auf dem linken Fahrstreifen Platz machen.

Das ist nicht mein Vater, geht es mir unaufhörlich durch den Kopf. Ich bin außerstande ihn wiederzuerkennen, so euphorisch und gehetzt zugleich, mit dieser abgrundtiefen Leere in seinen Augen, ohne jeglichen Respekt vor dem Tod und auch nicht vor denjenigen, die wir ihm, er selbst inbegriffen, in diesem Augenblick ausgeliefert sind.

Er hat das Handtuch geworfen. Der brennende Idealist, der Mann, der davon überzeugt war, eine bessere Welt sei möglich, der auf die Menschen gebaut und sein Leben lang für soziale Gerechtigkeit gekämpft hat, ist der Enttäuschung erlegen. Er wird niemals ein Zyniker sein. Das liegt ihm einfach nicht. Ich versuche es, aber es gelingt mir nicht.

Mein Vater ist nicht mein Vater. Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Ein Unbekannter, der, von jetzt auf gleich, die Zügel seines Lebens aus der Hand gegeben hat.

2

„Er ist wie ein Quijote des 21. Jahrhunderts“, sagt Marcel. „Schau nur, er steht am Abgrund, aber er verliert nie wirklich den Verstand. Im Grunde benutzt er die Methoden eines Paranoikers oder eines Verrückten, um uns die Augen zu öffnen.“

Ich zucke mit den Achseln:

„Er hat schon immer gern provoziert. Aber es stimmt, was du sagst: Er lässt sich von zwei schwarzen Schildknappen begleiten, so als ob sie seine Sancho Panzas wären. Nur eben ohne Bauch. Die beiden sind nämlich ganz schön dünn.“

Marcel weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Bestimmt meint er, es sei unpassend, mich zu umarmen. Alles zu rationalisieren ist ja gut und schön, allerdings genügt manchmal eine Geste, doch das hat er noch nie verstanden. Eine liebevolle Geste. Ein Blick. Eine Berührung. Genau das, womit ich mich bei meinem Vater so schwertue, fällt Marcel genauso schwer bei mir. Das war schon so, als wir noch zusammen waren, und jetzt ist es so, weil wir eben nicht mehr zusammen sind. Er wippt ein wenig hin und her und öffnet den Mund, und einen Augenblick lang denke ich, er will etwas sagen. Aber dann ist dieser Augenblick auch schon wieder vorbei.

Marcel wägt alles ab, versucht immer präzise zu sein. Einen Fehler würde er sich nicht erlauben und mir natürlich auch nicht. Ich liebe ihn noch immer und ich werde ihn mein Leben lang lieben. Aber er hat mit mir Schluss gemacht. Ivan hat mich gerettet. Marcel weiß das nicht. Er weiß noch nicht einmal, dass es Ivan gibt.

„Na gut …“, murmelt er, während er die Hände in die Taschen seiner Jeans steckt, um der Versuchung zu widerstehen, mich zu berühren.

Ich bedanke mich, dass er gekommen ist, und verschränke dabei meine Arme vor der Brust, so als sei mir kalt. Und gerade in diesem Augenblick kommt ein Nachbar herein, der von der fünften Etage, ein glatzköpfiger Mann im Trainingsanzug. Er lächelt, als er mich sieht, und fragt, wie es in Barcelona so läuft. Dann erkennt er Marcel und wird etwas verlegen. „Nein, so was, hallo“, er räuspert sich, „ich lese alle deine Artikel.“ Marcel senkt den Kopf und bittet um Entschuldigung. Das ist ein Scherz, den der Nachbar nicht versteht. Er tut so, als habe er etwas anderes gehört und verabschiedet sich mit einem „keine Ursache, Mann, mach weiter so“, bevor er im Aufzug verschwindet.

Wir sind wieder allein in der hässlichen Eingangshalle dieses unpersönlichen Gebäudes aus den siebziger Jahren, in dem meine Eltern leben. Hier habe ich als Jugendliche mit meinem ersten Freund herumgeknutscht, Gute-Nacht-Küsse, die nach Pfefferminzkaugummi schmeckten.

„Im Ernst, danke, dass du gekommen bist“, wiederhole ich mit einem Kloß im Hals. „Du hast mir sehr geholfen. Du weißt gar nicht, wie sehr.“

Er sieht älter aus. Nein. Er ist alt. Mich wundert, dass mir das vorher nie aufgefallen ist. Oder vielleicht ist es mir ja aufgefallen, aber ich war so verrückt nach ihm und so blind, dass ich diese Gewissheit in eine der Selbsttäuschungen verwandelt habe, mit denen wir Schwachpunkte in Bewunderung hüllen. So betrügen wir uns selbst.

Ich will nicht, dass er weggeht. Ich will, dass wir noch einmal rauffahren, uns hinsetzen und mit meinen Eltern einen Kaffee trinken, obwohl weder er noch meine Eltern Kaffeetrinker sind, und so tun, als wären wir eine Familie, eine ganz gewöhnliche, nette, langweilige Familie. Ich will, dass wir einfach über alles Mögliche reden, über das Wetter und wie schlecht es doch um die Welt steht. Und ich würde meinen Eltern einen Kuss aufjede Wange geben und er ihnen die Hand, „Wir sehen uns nächsten Samstag“, und Marcel würde mich mit zu sich nach Hause nehmen und wir würden einen Mittagsschlaf machen, doch zuerst würden wir uns lieben, während die Wellen gegen die Felsen unter seinem Fenster branden.

Aber so ist es nie gewesen. Zwanzig Jahre älter als ich, hatte Marcel zuerst Angst, man könne uns zusammen sehen, und dann, dass wir uns zusammen sehen könnten, als Paar. Er wusste, ich würde seinetwegen nicht nach Mallorca zurückgehen und er hatte nichts in Barcelona verloren, und so war unsere Beziehung dazu verdammt, Distanz zu halten. Das, was die klassische Geschichte zwischen Lehrer und Praktikantin hätte sein können, verwandelte sich in etwas vollkommen anderes, nachdem wir uns vier Jahre lang, ohne uns auch nur ein einziges Mal zu verabreden, täglich ausführliche, briefähnliche Mails schrieben. Wir hatten es uns in einem platonisch-intellektuellen Flirt bequem gemacht, bis zu jenem Sommer, als ich wieder einmal in Palma war und ihm vorschlug, etwas trinken zu gehen. Es war seltsam, plötzlich eine normale Unterhaltung zu führen, eben nicht mehr schriftlich, uns dabei anzuschauen, die Schnelligkeit unserer Antworten abzumessen, auf einer Terrasse umgeben von Menschen, im Schein einer Kerze, die eine romantische Stimmung verbreiten sollte, uns beide aber eher störte. Marcel knibbelte mit den Nägeln am Etikett einer Flasche Coca-Cola light, während er überlegte, welche Fragen er mir stellen müsse, um an mir interessiert zu erscheinen, und sich dabei ausrechnete, wie gut seine Chancen auf ein Ja von mir stünden, wenn er mir vorschlagen würde, zu ihm nach Hause zu gehen.

„Was würdest du jetzt gerne machen?“, fragte er, als ich schon eine ganze Weile mein Bier ausgetrunken hatte. „Worauf du Lust hast“, lud ich ihn ein, mich einzuladen.

Er brachte mich in sein Haus, das direkt am Meer liegt. Es sieht aus wie ein großes gestrandetes Schiff. Die zur Landseite hin gelegenen Wände waren voller Bücher. „Und du, wie viele hast du? Mehr als tausend oder weniger?“, fragte er mich. Aus einer Schublade zog er einen fuchsiafarbenen Bikini hervor und hielt ihn mir hin. Er beeilte sich, mir zu versichern, dass er seiner Schwester gehöre. Mir war es ohnehin egal. Über eine kleine Leiter stiegen wir die Felsen hinunter. Wir schwammen in der Dunkelheit. Das Wasser war lauwarm. Er ließ sich Zeit, bevor er sich mir näherte und bis er es nicht getan hatte, war es mir noch nicht einmal in den Sinn gekommen, wir könnten uns küssen, obwohl es doch eigentlich naheliegend war. Mir kommt nie der Gedanke, jemand könne sich von mir angezogen fühlen. Und als ich spürte, wie sich sein Arm um meine Taille legte und seine Lippen meine suchten, während wir mit den Beinen strampelten, um nicht unterzugehen, ging mein Puls eher aus Überraschung schneller und nicht aus Verlangen. Er sagte: „Lass uns hochgehen.“ Wir zitterten in unserem nassen Badezeug.

Ich glaube, erst als sein Vater starb, verlor er seine Angst. Aber da war es schon zu spät, denn da lebte ich bereits seit zwei Monaten mit Ivan zusammen. Auf jeden Fall kaufte ich mir mit derselben Dringlichkeit wie heute früh ein Flugticket und ging zur Beerdigung. Marcel stellte mich seiner Familie vor. Plötzlich benahm er sich, als seien wir verheiratet. Ich verhielt mich genauso, außerstande, ihm zu erklären, während er seinen Vater mit derselben Gleichmütigkeit beerdigte, mit der er mich liebte, dass unsere Geschichte zu Ende sei. Er hätte es auch so verstehen müssen, denn seit sechs Monaten wechselten wir nicht mehr ein Wort miteinander. Aber Marcel verstand die Dinge nicht so wie die restliche Welt.

Nach der Beerdigung gewährten wir uns zwei Tage und zwei Nächte wie im Roman. Als ich nach Barcelona zurückkehrte und Ivan mich anschaute, war ihm alles klar, aber er stellte keine Fragen. Da wusste ich, ich war gerettet und ich verpflichtete mich selbst dazu, ihn so bedingungslos zu lieben wie er mich. Ohne Konflikte und Dramen. Arbeitskollegen, Mitbewohner, Lebenspartner, Vertraute, Liebende. Beste Freunde.

Es war unmöglich, Marcel zu vergessen. Aber ich lernte, dies als Nostalgie zu begreifen und nicht als Bedrohung. Wohin man seine unmögliche Liebe verbannt, das ist mehr oder weniger eine unbewusste Entscheidung. Wenn dir klar wird, dass sie immer da sein wird – ganz egal, wie viele Menschen du kennenlernen wirst, wie großartig diese Menschen auch sein mögen und wie gut ihr euch verstehen werdet, du wirst nie mehr das Gefühl haben, das Universum sei einzig und allein dazu geschaffen worden, damit Marcel und du, damit ihr euch kennenlernt –, dann nimmst du diese Wunde an, wie andere es hinnehmen, ein Herzgeräusch zu haben. Normalerweise wird es dir nicht zu schaffen machen, aber es ist da, und besser, du schonst dich. Bis zu meinem Tod werde ich in Marcel verliebt sein. Das weiß ich jetzt. Aber deshalb – und auch nicht seinetwegen – werde ich mein Leben nicht opfern. Und er wusste das schon damals. Deshalb ließ er sich nicht hinreißen und ließ auch nicht zu, dass ich es tat, und deshalb war unsere Beziehung so stürmisch. So unbeständig und unbestimmt. Jetzt ja, jetzt nein, dann wieder jein. Ich musste immer auf der Hut sein. Was zum Teufel wollte er eigentlich?

Für Ivan steht es außer Frage: Er will mich. Und das hat er mir von Anfang an klargemacht. Auf diesem Vertrauen gründet unsere Geschichte. Auf einem Vertrauen, das begreift, dass man sich nicht unbedingt alles erzählen muss. Was ist denn Aufrichtigkeit anderes als eine viel zu grelle Beleuchtung? Wir tauchen die Wahrheit in ein gedämpftes Licht. Es gibt Dinge, die sollte der andere besser nicht sehen, denn sie könnten ihm wehtun oder Anlass zu Missverständnissen geben. Ivan bespricht mit mir die Fälle, die er als Polizeireporter verfolgt, und ich spiele Detektiv. Gemeinsam versuchen wir, diese Fälle zu lösen, auf dem Sofa liegend, meine Füße auf seinen Knien, in die Unterlagen versunken, die wir gewissenhaft durchgehen, während vom Plattenspieler, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe, eine Oper erklingt und er sich die Geschichte einer Arie ausdenkt: „Dies ist die Stimme einer Seele, die die Frau verloren hat, zu der sie gehört, und verzweifelt begibt sie sich nun auf die Suche nach ihr.“ Oder er schickt mir, wenn wir beide in der Redaktion sind, eine Mail, in der steht, niemand schreibe besser als ich (das ist natürlich eine Lüge, aber was soll’s). Ich schaue vom Bildschirm auf, Ivan zwinkert mir, mit fünf Redakteuren Abstand, von seinem Tisch aus zu. Wir lächeln uns an.

Einer unserer Kollegen ertappt uns dabei und schüttelt den Kopf, als wolle er sagen: Das ist ja nicht zum Aushalten mit euch.

Als mein Vater anfing, seltsame Dinge zu tun, rief Marcel mich an. Wir hatten seit der Beerdigung nichts mehr voneinander gehört.

Seinen Namen auf dem Display des Handys zu sehen, ließ mich zusammenzucken. Wegen der Loyalität, die ich Ivan schulden will, zögerte ich, den Anruf anzunehmen. Ich wusste, was die einfache Geste, auf den grünen Punkt zu tippen, alles aufwühlen würde. Und zugleich war es so merkwürdig, dass er anrief – als sein Vater starb, hatte er mir um sechs Uhr morgens eine SMS geschickt und ich war diejenige, die ihn anrief, gleich nachdem ich drei Stunden später die Nachricht gelesen hatte; er ruft nie an, „um nicht zu stören“, sagt er –, es war also dermaßen ungewöhnlich, dass es sich nur um etwas Wichtiges handeln konnte.

Ich antwortete etwas nervös, während ich auf die Feuertreppe im Gebäude der Zeitung zusteuerte, den Ort, den Ivan nutzte, um ungestört mit seinen Informanten reden zu können.

„Dein Vater ist heute früh in die Redaktion gekommen“, sagte Marcel.

Seit einigen Tagen bombardierte mein Vater seine Kontakte mit immer neuen Blogeinträgen, die fast alle mit der Mauer zu tun hatten. Er erstattete Anzeigen, die nichts brachten, und auf seiner Webseite klagte er öffentlich all diejenigen an, die keine Notiz von ihm nahmen, angefangen beim Rathaus von Fenassar. Am Anfang bekam er viele Rückmeldungen, was ihn animierte, weiterzumachen; es war schließlich höchste Zeit, dass jemand die Dinge beim Namen nannte.

Aber seine Beharrlichkeit begann beunruhigende Züge anzunehmen. Die Beschuldigungen, die er vorbrachte, waren jedes Mal direkter und persönlicher und verwandelten sich in den digitalen Briefkästen von Bekannten, Familienmitgliedern, ehemaligen Arbeitskollegen, Politikern und unzähligen Journalisten zu Datenmüll. Stets fügte er seiner Mailingliste neue Adressen hinzu, damit die Texte, die er verfasste, größtmögliche Verbreitung fanden. Ich nahm an, dass er bei Marcel in der Redaktion aufgetaucht war, um von dieser verdammten Mauer zu reden. Er war geradezu von ihr besessen.

„Er hat nach mir gefragt. Er wollte mich sehen“, sagte Marcel, während ich die metallene Feuertreppe weiter hochstieg.

Marcel war der einflussreichste Journalist bei einer mallorquinischen Tageszeitung und mein Vater bewunderte ihn sehr. Er las all seine Artikel, und mir ist nie wirklich klar geworden, ob ich mit Marcel ging, um meinem Vater zu gefallen oder um ihm zu beweisen, dass auch Marcel nur mit Wasser kochte. Die Demontage eines Idols. Keinem Vater passt es, dass sein vergöttertes Töchterchen mit einem Mann ins Bett steigt, der fast genauso alt ist wie er, auch wenn dieser Mann noch so sehr eine Referenz darstellt. Und manchmal frage ich mich, ob es meinerseits nicht so etwas wie Aufsässigkeit war, ihn vor ein solches Dilemma zu stellen: Eine Sache war es schließlich, Marcel als Journalist zu respektieren, und eine andere zu akzeptieren, dass dieser alte Sack etwas mit seiner Tochter hatte.

Es wäre pervers gewesen, einen solchen Widerspruch absichtlich zu provozieren. Aber es hatte auch etwas Krankhaftes, sich in jemanden zu verlieben, der anfangs weiter nichts als ein Gesicht am Rand seiner Kolumne war, in der Zeitung, die zu Hause zusammengefaltet auf dem Teppich oder dem Sofa lag, sonntags zum Aperitif, als es noch umfangreiche Beilagen gab. Mich erschreckt der Gedanke, ich könnte vielleicht sogar wegen Marcel Journalismus studiert haben. Dass meine Motivation, meine Herausforderung darin bestanden hat, so gut zu sein wie er, ihn zu übertrumpfen und schließlich zugrunde zu richten. War das denkbar? Ja, verdammt noch mal, es lag im Bereich des Möglichen, ausschließen konnte ich es nicht. Obwohl, am Schluss hat niemand dieses Duell gewonnen. Im Gegenteil, letzten Endes waren wir alle Verlierer.

„Er wollte, dass ich eine Drogenabhängige interviewe“, sagte Marcel. „Er hat sie mit in die Redaktion gebracht.“

Nach dem Studium machte ich ein Praktikum bei der Zeitung, für die Marcel arbeitet und die seit jeher bei uns zu Hause gelesen wurde. Dort lernten wir uns kennen, Lehrer und Praktikantin. Danach kehrte ich nach Barcelona zurück.

„Ein Mädchen von der Straße. Anscheinend hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie wollte sich von der Brücke des Torrent de Sa Riera stürzen und dein Vater hat sie festgehalten, doch sie hat versucht, sich wieder loszureißen und dein Vater hat angefangen zu schreien, jemand solle die Polizei rufen.“

Ich verstand rein gar nichts.

„Langsam. Wer wollte sich umbringen? Wann?“

„Vor ein paar Nächten.“

„Um wie viel Uhr?“