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Staci Haines

Ausatmen.

Wege zu einer selbstbestimmten Sexualität für Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Aus dem amerikanischen Englisch von Penelope Dützmann, Anke Mai und Christine Mauch

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Widmung

Dieses Buch ist jenen gewidmet, die wir einst waren.
Willkommen Leben, was auch immer du für uns bereithältst;
willkommen in der Welt, die ihr euch
nun selbst erschaffen könnt.
Lassen wir sie voll Lust und Weisheit sein.

Danksagung

Ich möchte gerne Denise Benson für ihre Partnerschaft und Liebe danken, dafür, dass sie ihr Leben, ihre Kinder und ihre Familie mit mir teilt. Dank gilt auch Richard Strozzi-Heckler und seiner Großzügigkeit, mit der er sein Können und seine Innovationen im Bereich der Somatik teilt. Ständig lerne ich von ihm, auf das zu achten, was größer ist als wir, und lebensbejahend zu handeln. Ich danke auch Akaya Windwood und Maria Gonzales Baron, die mit mir gemeinsam lachend den Weg der Befreiung beschritten. Danke auch an Jacke Strano und Shar Rednour, deren unermüdliche Bemühungen die DVD Ausatmen möglich machten. Ich weiß euer anhaltendes Engagement für sexpositive Bildung, Bilder und Möglichkeiten für andere Menschen zu schätzen. Und zu guter Letzt gilt Dank meiner Schwester Wendy – danke, dass du immer meine Familie bist.

Meine Dankbarkeit gilt auch meiner Lektorin, Herausgeberin und Freundin Felice Newman, ohne die all das niemals möglich gewesen wäre.

Inhalt

Einleitung

KAPITEL 1Sicherheit, Körperarbeit und sexuelles Heilen

Das Heilen wählen

Sicherheit und sexuelles Heilen

Was erwartet dich?

Eine Schulter zum Anlehnen: Sei gut zu dir und hol dir Unterstützung

Ganzheitliche Körperarbeit: Beziehe deinen Körper mit ein

Safer Sex

Gute Reise!

Übungen

KAPITEL 2Begehren und Lust

Entdecke deine Lust und dein Begehren

Das Begehren liegt in deinem Körper

Dein eigener Sexualkundeunterricht

Begehren ist eine komplexe Sache

Übungen

KAPITEL 3Dissoziieren

Aussteigen

Dissoziieren: Was bedeutet es für dich?

Der Weg zurück: Dissoziieren heilen

Übungen

KAPITEL 4Selbstverleugnung

Im Überleben steckt Kraft

Sexuelle Aversion: Wer braucht schon Sex?

Zwanghafte Sexualität: Sex als Ausweg

Selbstverleugnung heilen

Das Ende der Selbstverleugnung

Übungen

KAPITEL 5Sexuelles Erleben und Anatomie: Wissen ist Macht

Wo hast du das gelernt?

Sexuelle Aufklärung und sexuelle Gewalt

Was ist das? Eine Lektion in Sexueller Anatomie

Der sexuelle Reaktionszyklus

Thema: Gynäkologie

Dein Körper

Übungen

KAPITEL 6Selbstbefriedigung und Selbstheilung

Dich selbst lieben

Ein schlechter Ruf

Aber ich will nicht masturbieren

Gefühle und Auslöser

Fünf Schritte zur himmlischen Selbstbefriedigung

Dich berühren

Ein Rendezvous mit dir selbst

Sexspielzeug, Fantasien und Pornos

Zwanghafte Selbstbefriedigung

Masturbation zu zweit

Übungen

KAPITEL 7Einvernehmen und Grenzen

Was ist Einvernehmen?

Sexueller Missbrauch und ungewollter Sex

Verkörpertes Einvernehmen

Einvernehmen basiert auf Wissen

Wissen, was du willst

Einverständnis mitteilen

»Ja«, »nein« und »vielleicht«

Vor dem Sex: Erst verhandeln

Rückmeldung von anderen

Heilsame Risiken

Übungen

KAPITEL 8Partnersex

Das Gute, das Schlechte, und … das Angenehme?

Die Wahl deiner Sexpartnerin oder deines Sexpartners

Über Sex reden

Wie finde ich einen Sexpartner oder eine Sexpartnerin?

Flirten und Küssen

Auf geht‘s! … und viel Spass!

Übungen

KAPITEL 9Oralsex

Cunnilingus

Cunnilingus: Das kleine Einmaleins

Cunnilingus und Auslöser

Fellatio

Fellatio: Das kleine Einmaleins

Fellatio und Auslöser

Rimming

Rimming: Das kleine Einmaleins

Geschützter Oralsex

Übungen

KAPITEL 10Penetration

Vaginale Penetration

Vaginale Penetration: Das kleine Einmaleins

Anale Penetration

Anale Penetration: Das kleine Einmaleins

Safer penetrieren

Penetration und Auslöser

Übungen

KAPITEL 11Auslöser annehmen

Was ist ein Auslöser?

Der Weg zur Genesung

Auslöser integrieren: Hier geht’s lang

Mit Auslösern umgehen: Konzept und Methoden

Sprich darüber: Kommunikation und Auslöser

Codeworte

Wenn dich dein Begehren beunruhigt

Heile deine Auslöser ausserhalb einer sexuellen Beziehung

Verzichte eine Weile auf Sex

Übungen

KAPITEL 12Die emotionale Seite des Heilens: Da musst du dich durchfühlen

Um zu heilen, musst du fühlen

Die fünf Stadien der Gefühle

Emotionales Zentrieren

Emotionale Quellen

Emotionales Heilen

ZeugInnen für deine Gefühle

Übungen

KAPITEL 13S/M, Rollenspiele und Fantasien

S/M-Basics: Einvernehmen, Macht, Empfindung

Die Grenzen erkunden

Überlebende und S/M

»Ausagieren« des Missbrauchs durch S/M

Blümchen-Rollenspiele

Fantasien

Übungen

KAPITEL 14Sexspielzeug und Accessoires

Vibratoren

Dildos und Gürtel

Analspielzeug

Gleitmittel

Zubehör für S/M und Fessel-Spiele

Sexspielzeug, Safer Sex und Pflege

Erotische Bücher und Videos

Telefonsex

Cybersex

Dein Sexspielzeug

Übungen

KAPITEL 15Spirituelle Sexualität

Tantra

Yoni Massage

Heilige Masturbation und Rituale

Wo kann ich mehr erfahren?

Übungen

KAPITEL 16Nähe und dir selbst verzeihen

Nähe mit Sex verbinden: Das Feuer schüren

Dir selbst verzeihen

Selbstvertrauen und Mitgefühl

Steht mir Lust zu?

Dir selbst Erlaubnis geben

Übungen

KAPITEL 17Partnerschaften mit Überlebenden von sexuellem Missbrauch

Es ist nicht deine Schuld

Keine RetterInnen, keine Patientinnen

Sorge für dich selbst

Erweitere dein sexuelles Repertoire

Auch du wirst dich verändern

Überlebende als Partnerinnen oder Partner

Übungen

KAPITEL 18Dein starkes sexuelles Selbst: Wie sieht deine Zukunft aus?

SERVICE-TEILLiteratur & Adressen

In der Kindheit erlebte sexuelle Gewalt

Positive Informationen über sex

Zeitschriften & Newsletter

Internetseiten

Organisationen, Notrufe & Suchberatung

Ausbildungsstätten

Zeitschriften und Onlinemagazine

Lehrvideos

Safer Sex Adressen

Adressen Sexuelle Aufklärung

Sextoyshops, Herstellung & (Online-)Versand

Die Autorin

Staci Haines leitet Workshops und Seminare für Überlebende von sexueller Gewalt in der Kindheit. Sie ist anerkannte NLP-Trainerin und ausgebildet in Lomi Somatics; ihr therapeutischer Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Traumatisierten, z. B. nach sexuellem Missbrauch. Sie ist außerordentliches Mitglied des Rancho Strozzi Instituts. Staci Haines ist ausgebildete Sexberaterin und war langjährige Geschäftsführerin von Good Vibrations, dem »sauberen, hellen Sextoyladen«. Sie gründete das Child Sexual Abuse Strategic Action Project für erwachsene Überlebende von Missbrauch, dessen erklärtes Ziel es ist, sexueller Gewalt ein Ende zu setzen. Staci Haines lebt in San Francisco.

Staci Haines steht für Vorträge, Workshops und Seminare zur Verfügung. Briefe erreichen sie unter der Adresse: 584 Castro Street, PMB 640, San Francisco, CA 94119-2594 oder per e-mail unter stacihaines@earthlink.net.

Einleitung

Als dieses Buch 1999 erstmals unter dem Titel Ausatmen – Wege zu einer selbstbestimmten Sexualität für Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben veröffentlicht wurde, feilschte ich mit der Verlegerin lange um den Titel. Ich wollte gern das Wort somatisch in den Titel aufnehmen, die Verlegerin merkte verständlicherweise an, dass niemand wissen würde, was dieses Wort bedeutet. Als Nächstes beschäftigten wir uns mit dem Wort Trauma und fragten uns, ob man dieses Wort im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs überhaupt verstehen würde. Jetzt, acht Jahre später, ist Trauma zu einem viel alltäglicheren Begriff geworden. Weit über die Grenzen der Psychologie hinaus wird dieses Wort von der Allgemeinheit für vieles verwendet – vom Einfluss des Krieges auf Soldaten und Zivilbevölkerung bis hin zu den intimen Traumata häuslicher wie sexualisierter Gewalt. Während viele mit dem Wort somatisch womöglich nicht wirklich viel anzufangen wissen, gilt die ganzheitliche Integration von Körper und Geist als relevanter Teil des Heilungs- und Lernprozesses als anerkannt.

Innerhalb der vergangenen 15 Jahre fanden eine erhebliche Weiterentwicklung im Bereich der Traumaforschung sowie eine schiere Revolution unseres Verständnisses dessen statt, wie Psychophysiologie, Trauma und Heilung zusammenhängen. Die zentrale Rolle, die der ganzheitliche Ansatz von Körper und Geist in Bezug auf das Überleben und Heilen traumatischer Erfahrungen hierbei spielt, ist heutzutage umfassend anerkannt. Es war der Bereich der Somatik, der diese Innovationen vorantrieb, indem hervorragende Neurobiolog*innen ihre Erkenntnisse aus vergleichenden Studien über das Gehirn und körpereigene chemische Prozesse vor und nach traumatischen Ereignissen darlegten.

Bevor wir uns nun dieser Publikation widmen, möchte ich kurz einige Ergebnisse und Innovationen aus den Bereichen Somatik und Traumaforschung kommentieren. Diese neuen Erkenntnisse werden nicht im Hauptteil von Ausatmen aufgeführt. Zunächst möchte ich gerne einen wissenschaftlichen Einblick in unsere automatischen Überlebensmechanismen verschaffen, die wir während und nach traumatischen Erfahrungen durchlaufen. Anschließend werde ich Bezug auf die derzeitige Integration von Somatik in den Bereich der Psychologie nehmen und aufzeigen, an welchen Stellen wir während dieses Prozesses achtsam sein sollten. Die Somatik wird derzeit institutionalisiert – die Art und Weise, wie dies in den kommenden Jahren vonstattengehen wird, wird auch für die Zukunft der Somatik maßgeblich sein. Zuletzt möchte ich bedeutsame Innovationen aufzeigen, wenn es darum geht, Trauma zum einen als individuelles, zum anderen aber auch als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten. Diese Erkenntnis ist nicht nur das Ergebnis offensichtlicher, jüngster Traumata wie beispielsweise jener durch den Hurrikan Katrina in den USA, den Tsunami in Indonesien und Asien oder die Kriege im Irak oder in Afghanistan, sondern auch der anhaltende und häufig unerkannte Einfluss von Homophobie, Sexismus, Rassismus und anderen Arten sozialer Unterdrückung, die häufig als Norm verstanden werden. Auch dies hat starke Auswirkungen auf uns.

Zu diesem letzten Punkt würde ich gern eine Geschichte erzählen. Eine meiner Klientinnen hatte mit ihrer eigenen Sexualität und ihrer Vergangenheit mit sexualisierter Gewalt durch ihre Tante zu kämpfen. Betroffene, die von Täterinnen missbraucht wurden, leiden in besonderem Maße, da über diese Form des Missbrauchs weniger gesprochen wird und Täterinnen im Widerspruch zu unseren Erwartungen an bzw. Stereotypen von Frauen stehen. Obwohl die Zahl der Triebtäterinnen niedriger ist als die Zahl der Triebtäter – einige Forschungen ergaben, dass lediglich 8 bis 17 % der Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern durch Frauen begangen werden –, begehen durchaus auch Frauen sexuellen Missbrauch. Wenngleich meine Klientin bereits sehr viel Heilungsarbeit in Bezug auf ihren Missbrauch geleistet hatte, verspürte sie dennoch wenig bis keine Lust an Sex mit ihrem Ehemann und wollte dies ändern. Wir machten Gebrauch von der Somatik und arbeiteten ein Jahr lang an ihren grundlegenden Überlebensmechanismen. Sie hatte kaum ein Gespür dafür, an ihren Gefühlen und ihren eigenen Werten festzumachen, was sie tatsächlich wollte. Aus vielerlei Gründen hatten ihre Gefühle im familiären Kontext bisher als inakzeptabel und gefährlich gegolten, was dazu führte, dass sie schlussendlich gut im »Schauspielern« wurde, oder darin, so auszusehen und zu handeln, wie man es von ihr erwartete. Als sie zu mir kam, waren diese Erwartungen nicht mehr zwingend die ihrer Eltern, sondern, wie sie glaubte, die der »Gesellschaft«: Dies beinhaltete zum einen die sozialen »Ideale« eines Aufstiegs innerhalb der gesellschaftlichen Klasse, zum anderen das »Ideal« der Heterosexualität. Einen Anknüpfungspunkt für ihre Entscheidungen zu finden, der tatsächlich aus ihren Werten, Nöten und Sehnsüchten erwachsen war, und diesen auszubauen wurde zum Ziel unserer gemeinsamen Arbeit. Unsere grundlegenden Impulse spiegeln sich auch in unseren Sehnsüchten wider. Wenn wir uns selbst tiefgründig spüren können, spüren wir auch, was wir wahrhaftig lieben, was uns wichtig ist und wozu wir berufen sind. Viele Menschen nehmen dies als (physisch) verkörperte wie auch spirituelle Erfahrung wahr. Für Überlebende sexueller Traumata stellt der reine Prozess des Fühlens, Erlaubens und – im bestmöglichen Sinne gemeint – des Tolerierens der eigenen Wahrnehmung einen sehr heilsamen Prozess dar. Er öffnet die Tür zu einem selbstdefinierten und selbstreferentiellen Leben. Er öffnet außerdem die Tür dazu, sich selbst wahrzunehmen. Dies kann als Gegenstück zur Dissoziation betrachtet werden.

Während meine Klientin immer weiter in diesen Prozess eintauchte, erkannte sie wieder, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte. Sie hatte sich schon immer von Frauen angezogen gefühlt und bereits mit einer Partnerin zusammengelebt, bis zu dem Zeitpunkt, als beide entschieden, dass dies falsch sei, und einander darin »unterstützten«, männliche Partner zu finden. Ihre Ex-Freundin fand ihren Zufluchtsort in fundamentalistischer Religion, der sie noch bis heute folgt. Was für meine Klientin aufzutreten begann, war nicht der sexuelle Missbrauch an sich, sondern die Auswirkungen der Homophobie und die Art und Weise, wie diese mit ihren persönlichen Überlebensmechanismen aus dem Missbrauch interagierten. Hätten wir nicht begonnen, den sozialen Kontext, in dem wir leben (Heterosexismus), und dessen Einfluss auf sie zu erforschen, so hätten wir weiterhin ohne Erfolg in dem sexuellen Missbrauch herumgewühlt. Wir mussten uns mit den Auswirkungen, die Homophobie und gesellschaftliche Unterdrückung auf ihr Leben hatten, auseinandersetzen, mit intimen Beziehungen und Sexualität. Sie hatte grundlegende Angst davor, sich außerhalb des Rahmens dessen zu bewegen, was von der Gesellschaft als akzeptabel erachtet wird.

Schaut man sich Sexualität und sexuelle Vorlieben an, so scheint der soziale Aspekt bei Traumata offensichtlich zu sein, doch ist der Einfluss von Rassismus, Sexismus und anderen Formen der sozialen Unterdrückung ebenfalls tiefgreifend und lässt Menschen wie Gemeinschaften mit langwierigen negativen Symptomen zurück. Durch den Einfluss vorgeschriebener sexueller Rollenbilder, sei es durch Religion, Geschlechterrollen, rassistische Denkmuster oder eine negative Einstellung zu Sexualität, wissen viele Menschen nicht, wer sie auf sexueller Ebene überhaupt sind.

WAS PASSIERT DA IM KÖRPER?

Erinnerung lebt im Muskel.

– RICHARD STROZZI-HECKLER, PHD,

BEGRÜNDER DES STROZZI-INSTITUTS

Eine einfache Art und Weise, sich mit Trauma und dem menschlichen Gehirn auseinanderzusetzen, ist, sich vorzustellen, wie das Stammhirn, der älteste Teil unseres Gehirns, der für grundlegende Instinkte und die Reproduktion zuständig ist, zusammen mit den Emotions- und Stresszentren unseres Gehirns auf Hochtouren läuft. In diesen Bereichen herrscht dann ein erhöhtes Maß an neuronalen Aktivitäten, die auf das Freisetzen entsprechender chemischer Botenstoffe ausgerichtet sind, um dem Überleben zu dienen (16). Der stammesgeschichtlich jüngste Teil unseres Gehirns, der Neokortex (Frontallappen), der auch unser Sprachzentrum beinhaltet, wird dann kaum genutzt (zeigt in nur sehr geringem Maße neuronale Aktivitäten). Wenn wir uns in Gefahr befinden, benötigt unser Gehirn, wie auch unser Körper, Sicherheit und versucht Beziehungen zu schützen (beides ist für den Menschen von essentieller Bedeutung). Bei diesen Überlebensmechanismen geht es an dieser Stelle nicht darum, zu verstehen, was gerade passiert, oder dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Redewendungen wie »sprachloses Entsetzen« sind wörtlich zu verstehen – während gewisser Schockzustände und Überlebensmechanismen sind fast keinerlei neuronale Aktivitäten im Sprachzentrum des Gehirns zu messen. Es ist normal, dass Menschen ihre Überlebensmechanismen auf traumatische Ereignisse hin nicht kontrollieren oder ändern können, indem sie sie »durchdenken«. Um Traumata zu heilen, müssen wir mit den Bereichen unseres Gehirns und unseres Körpers arbeiten, die für das Überleben mobilisiert werden. Das Bahnbrechende an diesem neuen Verständnis von Körper und Trauma ist, dass es uns ermöglicht, weitere wichtige Instrumente und Maßnahmen für den Heilungsprozess zu erarbeiten.

Wenn Menschen mit traumatischen Ereignissen wie sexuellem Missbrauch konfrontiert werden, erleben sie eine unverzügliche physiologische Reaktion hierauf. Alle Tiere zeigen biologisch motivierte Reaktionen, sollte entweder das eigene Leben oder aber, im Falle eines geselligen Tiers, die Gemeinschaft (das Rudel) gefährdet sein. Im Falle des Menschen reagieren Gehirn und Körper, sobald eine Gefahr wahrgenommen wird, und signalisieren der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) sowie den Nebennieren, Stresshormone auszuschütten. Diese Hormone, darunter Adrenalin, Kortisol und Noradrenalin, sorgen dafür, dass Überlebende von Traumata eine erhöhte Aufmerksamkeit zeigen und auf Überlebensmechanismen zurückgreifen können. Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion kennen wir alle. In diesem Falle bereitet sich der Körper darauf vor, reagieren zu können, und pumpt im Zuge dessen Blut in die größeren »Aktionsmuskeln«, wodurch Herzfrequenz und Blutdruck steigen und der Atem entweder beschleunigt oder aber angehalten wird. Bedürfnisse, die überlebenswichtige Funktionen behindern, wie Hunger, Müdigkeit und Verdauung, werden dann heruntergefahren. Auch Reproduktion fällt hierunter und ist, insbesondere infolge wiederholter Traumata, häufig nachhaltig beeinträchtigt. Es existieren einige interessante Studien zur Untersuchung chronischer Reproduktionsstörungen von Überlebenden sexuellen Missbrauchs.

Wenn Überlebensstrategien wie Kampf oder Flucht entweder mehr Schaden anrichten würden oder aber gar nicht erst umsetzbar sind (wie bei vielen Kindern, die Missbrauch überlebt haben), so entscheiden sich Körper und Gehirn für eine dritte Variante – das Erstarren. Überlebende berichten häufig davon, sehr still gehalten und darauf gewartet zu haben, dass der Missbrauch endete, oder aber sich ausgeklinkt zu haben (Dissoziation ist ebenfalls eine uns innewohnende Überlebensstrategie). Während dieser Reaktion werden schmerzlindernde Endorphine und Opioide freigesetzt, die betroffene Person wird von anfänglicher Handlungsfähigkeit in Immobilität versetzt. Wenn Überlebende davon berichten, sich nicht wehren zu können oder nicht imstande zu sein, sich zu bewegen, meinen sie dies wörtlich. Angespannte Muskeln werden gelähmt, Atmung und Puls werden langsam, teilweise kaum wahrnehmbar. Schlau, nicht wahr?

Unser Gehirn und unser Körper sind so konzipiert, dass sie, sobald die Gefahr vorüber ist, wieder ihre Balance finden oder aus dem Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit zurückkehren. Betroffene Personen merken häufig ganz plötzlich, dass sie erschöpft oder hungrig sind oder physische Schmerzen haben. Unser Körper weiß von Natur aus mit einer solchen Situation umzugehen. Durch einen Prozess, der zumeist aus Beben und Zittern, Schwitzen, Weinen und Gähnen besteht, setzen wir die währenddessen gesteigerten Botenstoffe frei, bringen unsere Atmung wieder auf ein normales Niveau, entspannen die eingesetzte Muskulatur und kehren, sofern wir uns während der traumatisierenden Situation von unserem Körper abgespalten haben, in unseren Körper zurück. Wenn wir in diesem kohärenten, ruhigen Stadium angekommen sind, entdecken wir eine Hoffnung wieder, die uns insgesamt positiv in die Zukunft blicken lässt. Sofern es möglich ist, die innere Balance vollends wiederherzustellen, im besten Falle mit der Unterstützung anderer, treten in der Regel nur wenige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auf.

Die menschliche Psychophysiologie orientiert sich an zwei Dingen: Überleben und Verbundenheit. Überleben ist offensichtlich: ein Drang, am Leben zu sein und zu bleiben. Verbundenheit bezieht sich auf Lieben und Geliebtwerden, darauf, von der Gruppe akzeptiert zu werden und andere Menschen unterstützen zu können. Wir sind gesellige Tiere und zielen auf biologischer Ebene darauf ab, miteinander verbunden und für andere von Bedeutung zu sein.

Eine Sache, die sexuellen Missbrauch von Kindern und andere Formen intimer Gewalt besonders schwierig macht, ist die Tatsache, dass sie den Überlebensdrang sowie den Drang nach Liebe und Gemeinschaft durcheinanderbringen. Statt zusammenzuwirken, geraten diese beiden grundlegenden Funktionen durch das Trauma in Konflikt miteinander.

Bei kollektiven Traumata ist es den Betroffenen (da wir gesellige Tiere sind) häufig möglich, zu gemeinschaftlichen beruhigenden Verhaltensweisen überzugehen. Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in New York beispielsweise wurde wiederholt beobachtet, dass die New Yorker in der Öffentlichkeit ungewohnt freundlich zueinander waren, der Umgang mit der Polizei war warm, es fand ein gesteigerter beruhigender physischer Kontakt unter den Menschen statt. Diese Verhaltensweisen geschehen automatisch und dienen dazu, das »Kollektiv« zu beruhigen.

Ein weiteres faszinierendes Beispiel für kollektive Reaktionen auf traumatische Ereignisse stammt von Pumla Gobodo-Madikizela, einer Schwarzen südafrikanischen Psychologin, die Mitglied der Wahrheitskommission zur Untersuchung der Verbrechen unter dem Apartheid-Regime war. Sie bemerkte, dass es nach politischen Attentaten in verschiedenen Schwarzen-Townships innerhalb einiger Townships einen Anstieg körperlicher Gewalt gab, innerhalb anderer hingegen nahmen Gewalttaten ab. Als sie diese Unterschiede untersuchte, stellte sie fest, dass die Townships, deren Bewohner nach den Attentaten zusammenkamen, um zu trommeln, zu singen und zu tanzen (aus somatischer Perspektive beruhigten sie dadurch die kollektive Psychobiologie und traten als Gruppe in Kontakt), ein geringeres Ausmaß an Gewalttätigkeiten zeigten. Die Townships, in denen die Menschen isoliert geblieben waren und in denen es kein Kollektiv gab, mit dem man an den ihnen widerfahrenen Verletzungen (traumatisches Erlebnis) hätte arbeiten können, zeigten ein gesteigertes Ausmaß an Gewalt. Dies, nebst vielen weiteren Beispielen, sagt viel über die Auswirkungen kollektiver Traumata und über einige Methoden aus, zu denen wir uns und unsere Gesellschaft hinbewegen müssen, um Gewalt und Traumata beizulegen, statt sie aufrechtzuerhalten.

Vieles hält uns davon ab, uns von der natürlichen Reaktion der gesteigerten Aufmerksamkeit oder des Erstarrens loszulösen und zu einem beruhigenden kohäsiven Selbst- bzw. Gruppengefühl zurückzukehren. Oftmals wird dies durch mangelndes Wissen über diese Methoden sowie durch soziale Stigmata verhindert, die mit dieser Art des Loslassens assoziiert werden. In Fällen, in denen es nach einem traumatischen Erlebnis nicht möglich ist, diesen psychophysiologischen Prozess zu durchleben, tendieren Betroffene dazu, ihren Körper noch mehr zu verkrampfen, um so eine ihnen fremde emotionale oder körperliche Reaktion zu unterdrücken, die den Anschein erweckt, man habe die Kontrolle verloren. So mögen manche ihren Atmen anhalten, ihre Zähne zusammenbeißen oder die Augen zusammenkneifen, um nicht zu weinen, den Bauch und Darm anspannen und »die Erfahrungen runterschlucken«, während sie sich selbst sagen: »Ist doch sowieso egal«, oder: »Ich werde das nicht an mich herankommen lassen.« So mag ein*e Erwachsene*r einem Kind womöglich sagen: »Hör auf zu zittern, es ist vorbei, so schlimm war es doch gar nicht. Warum bist du überhaupt so ein Angsthase?« Das Kind muss dann seinen natürlichen Heilungsprozess einstellen, indem es sich über sein Weinen oder Zittern hinwegsetzt. Dieses Unterdrücken behindert ein gesundes Loslassen und ein Wiederherstellen des Gleichgewichts. Heutzutage fühlen sich nur wenige Menschen wohl damit, sich selbst oder anderen zu erlauben, diese Form des emotionalen Loslassens, das Körper und Geist nach einem traumatischen Ereignis wieder ins Gleichgewicht bringen kann, zu durchleben. Ich hoffe sehr, dass dieser Heilungsprozess in der Gesellschaft der kommenden Generation bekannter und akzeptierter werden wird.

Dieses unterdrückte Loslassen lebt im Körper in Form von Krämpfen fort, die letzten Endes chronisch werden. Viele Trauma-Überlebende berichten davon, nicht mehr imstande zu sein, zu weinen oder wütend zu werden. Oder dass ganze Körperteile taub zu sein oder zu fehlen scheinen. Diese Emotionen oder Körperteile sind nicht tatsächlich verschwunden, sondern wurden vielmehr derart unterdrückt beziehungsweise verkrampft, dass sie letztlich nicht mehr zugänglich sind. Der natürliche Drang, diese Zustände abzurufen, um eine heilende Reaktion auf die erlebte Gewalt herzustellen, verschwindet nicht einfach; er dringt stattdessen immer tiefer in den Körper und in die Muskeln ein. Im Bereich der Somatik spricht man davon, dass Betroffene sich selbst, ihre Ideale, ihre Weltanschauung und ihre Handlungen solchen Erfahrungen anpassen. Es ist unmöglich, dies nicht zu tun. »Aus den Augen, aus dem Sinn« trifft mit Sicherheit nicht auf Traumata zu. Stattdessen werden traumatische Ereignisse aus dem Bewusstsein in das Unterbewusstsein gedrängt, wo Überlebensmechanismen, Krämpfe und somatische »Verhaltensausformung« weiterhin Einfluss auf unser Leben nehmen.

Wenn der Körper aufzutauen oder man die traumatischen Ereignisse zu verarbeiten beginnt, spüren wir beides – sowohl die Krämpfe, mittels derer diese Reaktionen unterdrückt worden sind, als auch die unvollständigen Reaktionen auf das eigentliche Trauma. Es scheint, als habe der Körper nur darauf gewartet, endlich auf das eigentliche Trauma reagieren zu können. Die somatische Herangehensweise beinhaltet therapeutische Gespräche, somatische Körperarbeit und neuartige somatische Methoden. Hierdurch erlangen wir Zugang zu den traumatischen Krämpfen, helfen dabei, diese zu lösen, und unterstützen das psychophysiologische Loslassen. Dies wiederum ändert die Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung innerhalb einer Beziehung und eröffnet neue Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten. Somatische Methoden helfen Überlebenden dabei, einen Weg zu finden, sich mit ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Verbundenheit auseinanderzusetzen, das sonst durch ihre Überlebensmechanismen abgedeckt wurde. Sie unterstützen Körper und Geist dabei, das Sein und das Handeln neu zu erlernen, anstatt neue Ansätze aufzuzeigen, die letztlich nicht umsetzbar sind. Durch diesen ganzheitlichen Prozess ist es möglich, die angeborenen psychophysiologischen Heilungsprozesse zu befolgen und zu unterstützen und darüber hinaus neue Kompetenzen zu erlernen.

DIE ZUKUNFT DER SOMATIK

In westlich geprägten Ländern reicht der Bereich der Somatik zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert, zu Wilhelm Reich. Viele andere Kulturen haben den Zusammenhang zwischen Körper, Geist und Seele (und häufig außerdem die Verbindung zur Erde) schon lange als integralen und wichtigen Bestandteil des Heilungs- und Genesungsprozesses erkannt. Geprägt von Descartes und anderen vertritt der Westen eine abweichende Sichtweise – eine, die den Geist vom Fleische trennt. Diese wesentliche kulturell und religiös geprägte Ansicht beeinflusst unser Körperverständnis und fördert unsere Sichtweise auf den Körper als (schambehaftetes) Objekt. Das vorherrschende Modell eines vom Körper losgelöst betrachteten Geistes beeinflusst außerdem unsere kulturelle Sichtweise auf Frauen, Emotionen, Sexualität und Ethnien. Je mehr jemand als mit dem Körper oder der Erde verbunden wahrgenommen wird, als umso geringer wird der Status beziehungsweise die gesellschaftliche Bewertung dieser Person erachtet. Die Somatik stellt diese Orientierung infrage.

Nach Jahrzehnten der Weiterentwicklung in westlich geprägten Ländern und nach aktuellen Forschungen in den Bereichen Neuropsychologie und Trauma erlangt das Forschungsfeld der Somatik nun immer mehr Anerkennung. Zu den einflussreichsten Personen, die durch ihre Kenntnis, ihre Forschung und ihre Annäherung an die Somatik zu dieser gesteigerten Anerkennung im vergangenen Jahrhundert beitrugen, zählen Ida Rolf, Alexander Lowen, Fritz Perls, George Leonard, Randolph Stone, Emilie Conrad, Moshé Feldenkrais, Anna Halprin und Richard Strozzi-Heckler. Dieses Forschungsfeld wird allmählich institutionalisiert – so werden zum einen generalisierte Standards entwickelt und zum anderen an immer mehr Universitäten Abschlüsse in Somatik, insbesondere in somatischer Psychologie, angeboten. Die Eingliederung von Somatik in die Psychologie ist sinnvoll, da viele Bereiche der Somatik zur Heilung verwendet werden. Die Anwendung von Somatik im Bereich des Lernens, der Ausbildung von Führungskräften und der sozialen Bewegungen ist ebenfalls sehr wirkungsvoll, fügt sich allerdings weniger gut in eine vorgegebene Form ein. Die Institutionalisierung hat durchaus Vor- und Nachteile.

Zunächst sollte der Begriff der Somatik jedoch erst einmal definiert werden. Das Wort leitet sich vom griechischen »soma« ab und beschreibt einen »lebendigen, bewussten Körper«. Die Somatik bietet eine neue Interpretation des Selbst sowie des ganzheitlichen Körpers. Sie ist nicht als eine Form der traditionellen Psychotherapie zu verstehen, bei der der Körper lediglich »miteinbezogen« wird. Sie ist ein neues Paradigma, genau wie es das Konzept des Unterbewusstseins vor einem Jahrhundert gewesen ist. Dieses neue Paradigma lässt eine neue Form des Verständnisses, neue Möglichkeiten und neue Handlungsweisen zu. Nebst der Betrachtungsweise von Körper, Geist und Seele als einheitlichem Ganzen beziehen einige somatische Ansätze auch ein Verständnis des sozialen Kontextes, der Umwelt und der Gemeinschaft mit ein. Was die Somatik so einzigartig macht, ist womöglich der Umgang mit dem Körper als wesentlicher Ort des Wandels, des Lernens und der Transformation. Die Somatik begreift das Selbst, oder wer wir sind, als nicht losgelöst vom Körper. Wenn wir also die hohe Intelligenz des Körpers wieder mit Seele und Geist verbinden, erlangen wir Zugriff auf wirkungsvolle Veränderung und Heilung. Der somatische Diskurs vereint somatische Achtsamkeit, somatische Körperarbeit und somatische Übungen, um nachhaltige Veränderung herbeizuführen.

Die Mehrheit der Ausbildungsstätten für grundlegende Somatik ist jedoch noch immer losgelöst vom universitären Rahmen. Es gibt eine Vielzahl qualitativ hochwertiger somatischer Ansätze. Jene, die sich leichter in den Bereich der Psychologie integrieren lassen, sind eher »achtsamkeitsbezogen« und entsprechen weniger praxisorientierten somatischen Theorien und Methoden. Diese somatischen Maßnahmen beziehen sich mittels Konversation und Wahrnehmung auf die Körperempfindungen. Durch das Rückverfolgen von Empfindungen wird der Körper als Fundament für Wissen und Wandel herausgebildet. Allerdings werden hierbei auch essentielle Aspekte der Somatik – wie somatische Übungen und Körperarbeit – ausgelassen. Somatische Maßnahmen und Theorien, die sich leichter in verbale Dialoge und die Therapeutenausbildung integrieren lassen, sowie aktuelle theoretische Rahmenbedingungen und Techniken werden an ihrer Stelle unterrichtet. Das volle Potential der Somatik droht zu verdünnen.

Es gibt eine historische Tendenz in der Psychologie, die uns weg vom Körper lenkt. Anders formuliert: Die Standardausrichtung geht davon aus, dass das Ändern des Selbstverständnisses, der eigenen Interpretationen und emotionalen Reaktionen letztlich die Transformation des Einzelnen herbeiführt. Hierbei wird der Körper nicht als zentraler Bestandteil betrachtet. Darüber hinaus wird in der Psychologie aktiv von Berührungen abgeraten, da diese häufig mit Sex, sexueller Belästigung und Machtmissbrauch innerhalb der therapeutischen Beziehung oder mit unangemessenen Grenzüberschreitungen assoziiert werden, die zu unnötigen Komplikationen führen können. Im Falle einer moralisch verwerflichen Herangehensweise oder mangelhafter Ausbildung können diese Schwierigkeiten durchaus auftreten. Doch genau wie bei der Entwicklung beliebiger anderer neuer Fähigkeiten bedarf ein kompetenter und souveräner Umgang mit der Somatik guter Lehrkräfte, konstruktiver Rückmeldungen und einer Gemeinschaft, mit der man üben kann. Dies beinhaltet auch die wirksame und moralisch korrekte Anwendung somatischer Berührungen im therapeutischen Prozess. Eine lebhafte Debatte innerhalb der somatischen Psychologie gilt momentan der moralischen Frage nach einer Nichtanwendung somatischer Berührungen in Anbetracht dessen, dass diese meist das effektivste und wichtigste Hilfsmittel für Heilung und Transformation darstellen.

Im Wesentlichen bezieht die Somatik einen neuen Fragenkomplex in die Psychologie mit ein, der sich mit der Wirksamkeit dieses neuen Paradigmas und der Hirnforschung beschäftigt und damit letztlich das Forschungsfeld der Somatik begründet. Wir befinden uns an einem wichtigen Wendepunkt für die Integration der Somatik in die breitere Kultur. Wir können die gesamte Kraft der Somatik beibehalten, indem wir das somatische Bewusstsein, somatische Methoden und die somatische Berührung im therapeutischen Prozess als untrennbare Komponenten in diesen Diskurs integrieren.

SOZIALER KONTEXT, TRAUMA UND SOMATIK

Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage habe ich mich ausführlicher mit dem sozialen Aspekt von Trauma und Heilung beschäftigt. Genauso, wie wir die Einbeziehung von Körper und Geist in den Heilungsprozess als wirksam anerkennen, sollten wir uns noch intensiver mit dem sozialen und politischen Kontext, der uns umgibt und aus dem viele unserer Erfahrungen und Traumata erwachsen, befassen. Wie zu Beginn dieser Einleitung exemplarisch dargelegt, haben sowohl Erfahrungen mit sexuellem Kindesmissbrauch wie auch Erfahrungen mit einer systematischeren Art der sexualisierten Gewalt, wie Homophobie, einen traumatisierenden Einfluss, der letztlich Heilung und Veränderung bedarf. In meiner Arbeit als Ausbilderin von Psychotherapeut*innen, Heilpraktiker*innen und auf Somatik und Traumatherapie spezialisierten Therapeut*innen treffe ich viele Personen, die andere Menschen voller Hingabe bei deren Transformation unterstützen möchten. Allerdings wurden die meisten von ihnen nicht darin geschult, den sozialen Kontext, in dem sie selbst leben, oder die eigene Voreingenommenheit zu erkennen. Unbeabsichtigt können Therapeut*innen auch Auffassungen und Praktiken aufrechterhalten, die Schaden verursachen, wie beispielsweise gewisse Vorstellungen von Geschlechterrollen und Sexualität oder Rassismus und wirtschaftlichem Status. Ohne mehr über das soziale System und die soziale Vergangenheit, mit denen wir leben, zu wissen, können sich auch Überlebende an eine Form des »Normal-Seins« klammern, die letztlich Schaden anrichten kann. Wenngleich Therapeut*innen Veränderung im Leben der Betroffenen unterstützen, können auch sie es durchaus versäumen, ihre Patient*innen dafür zu sensibilisieren, sich auch auf die Gründe ihres Leids zu konzentrieren, die nicht persönlichen Ursprungs sind, wie beispielsweise die Auswirkungen von Armut, Rassismus, Sexismus oder Einwanderungsgesetzen.

Wenn wir vom sozialen Kontext sprechen, dann sprechen wir von Überzeugungen und Praktiken, die uns durch unsere Kultur und die Zeit, in der wir leben, vererbt wurden. Wir sind davon umgeben, wie der Fisch im Wasser. Die Region und das Land, in denen wir großgezogen werden und leben, die kulturelle Identität, religiöse oder spirituelle Ausrichtung, Einrichtungen, wirtschaftliche und politische Systeme, innerhalb derer wir uns bewegen, formen unseren sozialen Kontext. So hat beispielsweise jemand, die*der in der katholischen Tradition verwurzelt ist, eine andere Einstellung zum Leben, zum Universum, zu Sinn und Ethik als jemand, die*der in der buddhistischen Tradition verwurzelt ist. Auch eine Person aus der Arbeiterklasse hat völlig andere Erfahrungen und Sichtweisen als eine Person aus der besitzenden Klasse. Dies trifft auf uns alle zu und ist unvermeidbar. Wir können jedoch lernen, einen gewissen Blick für unsere eigenen Annahmen zu haben und unseren eigenen sozialen Kontext deutlicher zu erkennen. Weshalb ist das wichtig? Unsere ungeprüften Annahmen haben unbeabsichtigte Konsequenzen. Dies trifft auf Heilung und sozialen Wandel genau wie auf Wirtschafts- und Regierungspolitik zu.

Ich möchte Ihnen ein persönliches Beispiel geben. Ich wuchs in den USA auf, in einer weißen Arbeiterfamilie mit irischen, deutschen und weiteren, unbekannten nordeuropäischen Wurzeln. Innerhalb meiner Familie lernte ich die Einzelperson als zentrales Identifikationsmodell kennen. Immer wieder bekam ich zu hören: »Zieh dich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf«, »Da bist du selbst dran schuld« oder »Du kannst alles schaffen, wenn du nur hart genug arbeitest«, »Es hängt ganz allein von dir ab«. Wenngleich die Gemeinschaft wichtig war, so war nicht sie es, die die individuelle Identität ausmachte. Auf zahlreiche andere Völker und Kulturen trifft dies nicht zu. Genau genommen ist der Individualismus eine recht neue Erfindung der Menschheitsgeschichte.

In meiner Praxis arbeitete ich mit einem Mann, der aus einer Kultur und einem Land stammte, wo die Gemeinschaft den zentralen Ausgangspunkt für das Verständnis der Welt darstellte. Die Vorstellung eines Individuums als einzelnes, unabhängiges Wesen existierte in der Weltanschauung seiner Gemeinschaft nicht. Er hatte sexuellen Missbrauch innerhalb seiner weiteren Familie sowie viele traumatische Ereignisse in Bezug auf Rassismus und die Einwanderung in die USA erlebt. Viele Herangehensweisen westlicher Heilungsansätze waren für ihn nicht von Bedeutung. Die westliche Psychologie betrachtet das Individuum als einen Ort der Veränderung und die Person als einzelne. Systemische Familientherapie ist davon in gewisser Weise ausgenommen, da hierbei die Familie als Ort der Veränderung betrachtet wird, dennoch ist die individualistische Orientierung noch tief verwurzelt. In unserer gemeinsamen Arbeit mussten wir den Großteil der Übungen und Maßnahmen auf ein Verständnis ausrichten, das den Menschen als untrennbaren Teil der Gemeinschaft erachtet. Anstatt eine einzelne Person zu heilen oder Grenzen zu dem missbräuchlichen Verhalten einer anderen Person aufzuzeigen, mussten wir uns darauf konzentrieren, die ganze Gemeinschaft zu heilen und Energien oder Gebilde zu lösen, die der ganzen Gruppe schadeten. Dies schloss direkt an Verletzungen an, die sein Volk durch Bürgerkriege und Kolonialisierung erfahren hatte.

Wenn wir uns die Ausrichtungen unserer eigenen Weltanschauungen ansehen, müssen wir uns auch den Nutzen und den Preis dieses Erbes vor Augen führen. Der Individualismus hat seine Konsequenzen – er öffnet neue Türen und versperrt zeitgleich andere. Wenn wir ihn als Norm verstehen, agieren wir als Unterdrücker*innen. Wenn wir nicht damit beginnen, einige unserer Annahmen zu erkennen, zu untersuchen und zu kritisieren, werden unsere Handlungen womöglich nicht das widerspiegeln, worum es uns eigentlich geht. So werden wir womöglich Probleme und Systeme aufrechterhalten, die wir eigentlich zu lösen und zu ändern versuchen. Leider wird in der heutigen psychotherapeutischen Tradition nicht mehr gelehrt, auf das eigene Erbe sozialer und kultureller Befangenheit zu achten. Therapeut*innen müssen sich dies durch andere Formen der Weiterbildung erarbeiten. Als Einstieg können Sie dies im Literaturverzeichnis unter Soziale Traumata nachlesen.

Ein großer Teil der Arbeiten von Indigenen und Stipendiat*innen der Dritten Welt, Wissenschaftler*innen und Praktizierenden bezieht sich auf das historische Trauma und den kollektiven Einfluss der Geschichte der Kolonialisierung und Sklaverei. Diese Theorien und Ansätze beschäftigen sich mit den fortwährenden traumatischen Auswirkungen auf diejenigen, die kolonialisiert wurden, samt ihren Kulturen, wie auch mit den Kolonialherren und deren Herkunft.

Die Somatik betrachtet die weitreichenden kollektiven Auswirkungen der Entkörperlichung in vielen westlichen Traditionen sowie die Folgen einer schambehafteten Betrachtungsweise des Körpers innerhalb vieler religiöser Traditionen. Diese Einstellungen und Praktiken führen dazu, dass wir uns von unseren empfundenen und erlebten Erfahrungen losgelöst betrachten (24) und letztlich Auswirkungen im Umgang mit anderen Lebewesen und der Umwelt sowie in der Empathie zu unseren Mitmenschen spüren. Aus einem dissoziierten Zustand der begrenzten Emotionen heraus ist es bedeutend leichter, andere zu objektivieren. Aus der Objektivierung und Kommodifizierung von Mensch und Umwelt erwächst eine Dominanz ihnen gegenüber. Da dies einer weitaus umfangreicheren Analyse bedarf, als Raum und Zeit es an dieser Stelle zulassen, möchte ich nun zur Verbundenheit übergehen.

Während ich den Bachelor of Arts am Oberlin College anstrebte, begann ich mich sehr widerwillig – tatsächlich tretend und schreiend – mit meiner eigenen Vergangenheit des sexuellen Kindesmissbrauchs zu beschäftigen. Ich ging zur psychologischen Beratungsstelle des Studierendenwerks und fragte nach einer Gruppe für Inzest-Überlebende, der ich mich anschließen könnte. Dort sagte man mir, dass sexueller Kindesmissbrauch eine Seltenheit sei und man niemanden habe, die*der sich mit diesem Thema beschäftige. Wenn ich allerdings eine Gruppe von acht Überlebenden sexuellen Kindesmissbrauchs zusammenbringen könnte, würde man diese Gruppe unterstützen. Da stand ich also, deprimiert und verzweifelt, meine Welt zerbrach, und nun sollte ich am Campus die erste Gruppe für Überlebende organisieren. Also verteilte ich Flugblätter, ließ Informationen in der College-Zeitung abdrucken, gab meine Kontaktdaten weiter, damit andere mich kontaktieren konnten, und fing an, auf dem Campus offen darüber zu sprechen. Um Hilfe zu bekommen, musste ich damit an die Öffentlichkeit gehen. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich zehn Personen beisammen. Ich ging also zurück zur psychologischen Beratungsstelle. Sie waren zwar überrascht, gründeten aber dennoch die Gruppe. Die angeregten Gespräche über sexuellen Missbrauch auf diesem kleinen Campus führten zu Diskussionen über Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung innerhalb des Campus und letztlich zur Gründung einer weiteren Gruppe. Diese befasste sich mit dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch und mit Versuchen, Collegepolitik und praktiken zu ändern und sensibilisierende Präventionsarbeit zu leisten.

Diese Erfahrung spiegelte etwas wider, was ich lange nicht zu formulieren vermochte, obwohl ich es so stark spürte – nämlich dass persönliche und gesellschaftliche Veränderungen direkt miteinander verbunden sind. Ich betrachte dies zum einen aus der Perspektive der individuellen Heilung, die gestärkt wird durch das Verständnis einer längeren Geschichte sozialer Veränderungen, und zum anderen aus der Perspektive sozialer Bewegungen, die gestärkt werden durch persönliche Transformation. Wir möchten die Schadensursachen bekämpfen, nicht bloß eine unendliche Reihe von Menschen und Gemeinschaften von Traumata befreien. Im Falle von sexuellem Kindesmissbrauch kommen Fragen auf wie: Was lässt einen Menschen zum Täter werden? Wie können wir diese Faktoren ändern? Weshalb sind Sex, Machtverhältnisse und Gewalt in unserer Gesellschaft derartig miteinander verbunden und wie können wir das (25) ändern? Durch sozialen Wandel können wir sowohl die individuelle Heilung unterstützen als auch dazu beitragen, dass Menschen gar nicht erst missbraucht werden.

ÜBER MICH

Innerhalb der letzten zehn Jahre habe ich mich damit befasst, »generationFIVE« aufzubauen, eine nationale gemeinnützige Organisation, deren Mission es ist, sexuellen Kindesmissbrauch innerhalb von fünf Generationen bekämpft zu haben. Hierdurch sollen andere dazu mobilisiert werden, ein gesellschaftliches Tabu aufzubrechen und dadurch zu Veränderung und Heilung beizutragen. Für mich stellte »generationFIVE« außerdem eine Möglichkeit dar, Wege zu ebnen und zu erkunden, um persönlichen Wandel mit sozialem zu verbinden. Durch nationale Zusammenarbeit entwickelten wir einen transformativen Gerechtigkeitsansatz, um gegen sexuellen Kindesmissbrauch und andere Formen von intimer und kollektiver Gewalt vorzugehen. Das Ziel transformativer Gerechtigkeit ist es, die Sicherheit, Unterstützung und Vertretung von Überlebenden genauso wie die Rechenschaftspflicht und Resozialisierung von Tätern zu gewährleisten sowie die breite Öffentlichkeit in Prävention und sozialen Wandel miteinzubeziehen. Dieser Ansatz soll eine Reaktion auf Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs sein, die mit langfristiger Prävention im Einklang steht. Sexueller Missbrauch von Kindern findet nicht in einem Vakuum statt – er ist vielmehr ein soziales Problem, das eines kollektiven Vorgehens bedarf. Weiter gehende Informationen zum Thema transformative Gerechtigkeit finden Sie auf der Homepage von »generationFIVE« unter www.generationfive.org.