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Inhalt

[Cover]

Titel

Es gibt in jeder Stadt …

Wir schreiben das Jahr …

Für Sie und für mich …

Zuerst einmal ist …

War es die leichte Lebendigkeit …

Es war der Beginn …

Vor den Fensterscheiben …

Gestern noch bot …

Diese Straße! …

Wir wussten davon …

Die Tagebuchseiten besitze …

Was ich sah …

Und ich sehe mich …

Hier, an der Ecke …

Da steh ich im Schatten …

Vier Türen. Ich drücke …

Jetzt weiß ich wieder …

Es ist, als liefe …

Es brennt Licht …

Ich steh vor …

Es ist also ein Monat …

Draußen die Nacht …

Ich will den Fechtsaal …

Und nun reicht es …

Dunkel ist es? …

Das Buch habe ich …

Da trübt sich …

In der Nacht liegt …

Die gelbe Raupe …

Wenn es hell wird …

Grade sehe ich in …

Und nun folgen …

Mein Gott, der Regen! …

Die gelbe Raupe …

Am Morgen, ich …

Eine Klemmmappe aus …

Auf jeden Fall …

Nun ist es nur …

Steh ich davor …

Wenn wir uns winken …

»Eva, ich will …

In den Papieren …

Wenn eine Seite …

In Mannes Büro …

Im Café noch …

Und wieder greife …

Es war aber in …

So endeten die …

Dieses Mädchen! …

Die gelbe Raupe …

Am Morgen dann …

Dort auf der anderen …

Arbeiten muss ich …

Wenn ich weiterblättere …

Wenn ich nachts …

Die 17. Wenn ich …

Und ich hatte …

Also zurück jetzt? …

Die gelbe Raupe …

Da liegt der Platz …

Das Haus Nummer …

Es ist die Grundfläche …

Das kann mir …

Und soll ich …

So war das, Eva: …

Was für eine schöne …

Die gelbe Raupe …

EPILOG

Das Bild habe …

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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Die Große Hamburger Straße

Es gibt in jeder Stadt eine Straße, die man von Anfang bis Ende überschauen kann. Hineinsehen wie in einen Trichter sogar, denn die gleichmäßig hohen Häuserreihen verengen sich zu ihrem Ende hin, wo eine andere Straße sie abschneidet. Es ist immer unerwartet, im Vorbeifahren meistens, dass der Blick aus dem Fenster einer Straßenbahn oder eines Autos in solch eine Straße fällt und für eine Sekunde in den Sog von etwas gerät, das zu rufen scheint: Hier! Hier geht’s doch lang! – aber schon ist der Betrachter weitergefahren, und gleich ist er vergessen, der Winkel, die schräg aufeinander zu laufenden Häuserreihen und das Ziel in der Mitte, das Ende.

Es gibt hier ein Ende.

Ist es das, was die Erinnerung noch beschäftigt, wenn man längst vorbei ist an solch einer kurzen Straße, die vollkommen überschaubar ist?

Wer zu Fuß unterwegs ist, der spürt den Sog noch deutlicher, in diese kurze Straße einzubiegen, von der er noch vor Minuten nichts wusste, wenn er ein Fremder ist.

Warum beschäftigt mich das, Anfang und Ende?

Die Dinge müssen zu einem Ende kommen. Ruhig und wie solche Häuserreihen. Sie stehen sich gegenüber, aber je weiter am Ende der Straße sie sich befinden, umso näher rücken sie aneinander heran, bis eine Querstraße es ihnen nicht erlaubt, ihren Lauf fortzusetzen, sondern abschließt für immer.

Straßen wie Trichter. Ich kenne mehrere solche. Die eine hieß lange Zeit Wassergasse, die andere Verlorene Straße. Auf einer der beiden habe ich mich einmal verlaufen. Es ist lange her. In dieser alten Gegend der Längs- und der Querstraßen, die einander den Weg abschneiden, geriet ich an den Anfang einer schnurgeraden, aber mir zuvor niemals aufgefallenen, einer verborgenen Straße sozusagen, einer, die nur unter Eingeweihten bekannt war und auch nur von solchen bewohnt wurde.

So jedenfalls kam es mir vor und ich zögerte, sie zu betreten. Auch sie, so spürte ich, wollte das nicht. Und wiederum war mir nach einer Weile des stummen Innehaltens, als hätte ich doch die Erlaubnis bekommen.

Doch wenn du mich nun schon gefunden hast, dann tritt ein. Das schien sie zu sagen. Und das noch: Schließe die Tür hinter dir.

Das tat ich.

Ich ging rein, schloss die Tür hinter mir und blieb drinnen für viele Jahre.

Warum wollte ich raus, eines Tages?

Bin ich gegangen?

Bin ich immer noch da? Ins Loch gefallen in dieser Straße?

Anfang und Ende.

Die Dinge müssen zu einem Ende kommen.

Wir schreiben das Jahr 2015. Wenn dieses Buch jemals fertig werden sollte, wenn es gedruckt und gebunden vor Ihnen, verehrter Leser, tatsächlich auf einem Tisch liegen sollte, woran vorläufig kaum zu denken ist, dann wird Krieg sein, hier, wo ich bin. Das fürchte ich. Es könnte sein.

Gerade komme ich aus der Wassergasse, die längst wieder anders heißt, es nutzt nichts, den alten Namen zu nennen, auch an die Verlorene Straße erinnert sich niemand mehr, wirklich kein Mensch, ja, nicht mal die Armesündergasse kennt noch jemand, und sogar wenn er mittendrin steht und sucht die Judengasse und die Kirchgasse auch, er wird sie nicht finden, er wandelt ja in den unterschiedlichsten Zeiten herum mit den falschen Namen, auch die Häuser verschwinden und wachsen aufs Neue, ich kann nichts dafür und Sie auch nicht.

Es ist die Zeit.

Sie ändert sich, und die Frage war eigentlich immer nur: wie?

Wie passt man sich ihren Schwingungen an?

Denn am Anfang, wenn’s aufwärtsgeht, lautet die Frage doch jedes Mal:

Was ist zu tun?

Und am Ende, wenn’s abwärtsgeht, immer derselbe Schrei: Was?!

Was haben wir falsch gemacht?

So auch ich, an diesem Tag heute in der Mittagsstunde und in der Mitte von meiner Stadt Berlin.

Wird sie wieder in Trümmern liegen?

Wird sie einfach nur leer sein, ganz ohne Menschen, oder gänzlich verwahrlost und alle Treppenschächte zur U-Bahn mit Müll vollgeschüttet, weil da unten ja doch nichts mehr fährt, und so weiter, so weiter, Zerstörung ist schneller gedacht als getan, aber schnell getan ist sie auch, und wir wissen doch, wir, aus der letzten Runde, wie schnell alle Rollläden runterkrachen vor all den Goldschriften, Glasscheiben, schönen Portalen, und wie lange dann Staub darauf fallen kann. War nicht kürzlich erst alles schön aufgebaut?

Geradezu märchenhaft?

Die kurze Straße mit dem verbreiterten Ende, warum geht sie mir nicht aus dem Kopf?

Ist es das Überschaubare, dieses Alles-auf-einen-Blick, oder ist es die einladende Geste, die so eine dem Betrachter zugewandte Straßenerweiterung darstellt?

Oder nicht doch das gekappte Ende, einer Sackgasse ähnlich, und das heißt auch Falle, gefangen.

Ein Bild wie ein Gleichnis.

Leicht läuft man hinein und schon ist es vorbei. Anfang und Ende in einem Bild – da stellt sich von selber die Frage: Wie ist das alles gekommen?

Die Frage der Fragen, für Sie vielleicht auch, lieber Leser, in der Kälte oder der Hitze Ihres Tages, dort in der Zukunft, verzweifeln Sie nicht. Sie haben ein Buch!

Für Sie und für mich will ich diese Frage schon heute stellen, eine kurze Zeit bevor dieser Zustand eintritt, den wir vielleicht sogar teilen werden demnächst, ich stelle sie, weil ich es ebenfalls wissen will: Wie?

Wie kam das? Was war denn der Weg bis hierher?

Bis hierher zu mir und bis dorthin zu Ihnen. In aller Vermessenheit – was ist geschehen?

Zuerst einmal ist zu klären, dass die Straße, in der ich verloren ging, eine gerade Straße war, keine krumme. Auch den Namen hat sie niemals verändert, nein, es gibt in der Gegend auch Straßen, die sich treu blieben. So eine Straße ist die Oranienburger Straße oder die Rosenthaler Straße, und eben diese verborgene Straße, wie es mir damals schien, aber das schien nur mir so, am Tag der Entdeckung, denn allen anderen war sie schon lange die heimliche Hauptstraße der ganzen verkommenen Gegend und heißt seit Jahrhunderten schon Große Hamburger Straße.

Ich habe sie bewohnt und ich habe sie verlassen, aber jetzt, im Vorgefühl der Katastrophe, bringt der Anblick einer belanglosen, kurzen, gekrümmten Straße mich wieder zu ihr zurück.

Wie damals.

Und das ist natürlich bezeichnend. Denn eine Straße, die ist zum Gehen da, zum Fahren, und das heißt: Allez! Also weiter, nur weiter und weiter, und das eben war ja der Unterschied damals und ist es bei solch einer Trichterstraße im Grunde genauso – die Idee des Stehenbleibens. Bleiben.

Das Gehen, das Weggehen, es muss ein Ende haben.

Hierin traf ich mich mit Eva, meiner Freundin Eva, die ich in meiner Zeit in der Großen Hamburger Straße erst kennenlernte, die Eva, deren ganzer Kampf oder Krampf, wie man es ausdrücken will, sich damals um Liebe drehte, so wie bei uns allen, und endete damals im Weggehen, weg – und das endete im Zurückkommen, ja: Zurück in die Große Hamburger Straße, und bei mir war’s dasselbe und beide saßen wir dann auf ihrem kleinen Balkon über der Ecke zur Oranienburger Straße, und Eva hatte wie immer eine selbst gebackene Torte oder Tortenschnitte auf das Beistelltischchen gepackt, und jede Tasse Kaffee brühte sie frisch aus einem besonderen Automaten und zeigte auch noch ihr neuestes Kleid und wie es spannte auf der Bauchfalte, die sie sich zu allem Unglück grad wieder angefressen hatte, und fast gleichzeitig riefen wir plötzlich dasselbe: Zu viel!

Eva, es war zu viel!

Zu viel gegangen, Irina!

»Wie blöd sind wir denn gewesen?«, rief Eva.

»Verstehe ich auch nicht«, antwortete ich, und sie wieder: »Mutti! Aber Mutti hätte es wissen müssen!«

Und ich: »Die hast du doch damals extra rübergeschickt in den Westen, damit du ihr nachreisen darfst, was redest du denn?«

Und Eva: »Sie hätte Nein sagen müssen, die wusste doch mehr! Wenigstens als sie drüben war, hätte sie Nein sagen müssen!«

Und ich: »Das glaubst du doch selber nicht, Eva.«

Und Eva: »Vergeigt. Es ist alles vergeigt.«

Und ich: »Wir sind es selber gewesen.«

Jetzt wiederum, wo die Straßen mir so vor Augen stehen, die krummen und eine gerade, und der seltsame erste Eindruck, den sie mir machten, da denke ich – waren nicht sie es?

Diese Straßen, sie sind nicht geheuer, mir niemals geheuer gewesen, und das steht doch fest, ich habe mich damals verlaufen.

Und wiederum nicht.

Ich wusste sofort: Hier ist es.

War es die leichte Lebendigkeit, mit der mir Menschen entgegenkamen?

Sie liefen sogar auf dem Straßenasphalt, das spielte wohl gar keine Rolle, sie sprachen dabei und lachten und manche Häuser so klein, die sich gegenüberstanden, klein und alt, und ein Park, der ebenfalls klein, na und dann – ein Café! Wie selten war damals ein kleines Café!

Ein Gemüseladen daneben, mit einem Ladenschild, auf dem in runden lateinischen Buchstaben Obst und Gemüse geschrieben stand, und Schule und Kirche und Krankenhaus, und ein Schreibwarengeschäft, es führten drei Stufen hoch, drei alte Stufen, Buchhandlung auch, alte Buchhandlung, alte Verkäuferin dort und keine Lücke, kein Trümmergrundstück wie sonst überall, nein – kein Trümmergrundstück, woher auch, da stand ich ja drauf.

Das war durchaus nicht die einzige Lücke, aber im ersten Moment sah ich nur das Schöne. Und alles war da!

Und das war die Wahrheit. Von der Wiege bis zur Bahre hätte ein Mensch diese Straße sein Leben lang niemals verlassen müssen, sogar einen Sargladen hat es gegeben für die letzte Reise, es war alles komplett.

Still war es auch, gar kein Autoverkehr, nur manchmal, nur leise ein Fahrzeug.

Das war von Anfang an seltsam. Ringsherum auf den Straßen die Schienen, die Straßenbahnen, die Autos, die Lastwagen immerzu, und die fuhren damals viel schneller als heute, viel lauter und schmutziger, rücksichtslos auch, nur hier eben, hier stand das Wunder eines verlorenen Krieges, einer zerschmetterten Stadt – eine Straße, die überlebt hat.

Es war der Beginn der Achtzigerjahre in Ostberlin. Ich kam an diesem Tag vom Berliner Verlag. So hieß er, so heißt er immer noch. Es ist nicht weit.

Mein Vater hat ihn gegründet. Das wussten damals alle, die dort etwas zu sagen hatten, nur ich nicht, und obwohl ich dort arbeitete, es sagte mir niemand, ich wusste es nicht. Es war derselbe Fall wie hier in der Gegend – ich wusste nichts über sie, wusste also nichts im Grunde, und auch das kann die Ursache dafür gewesen sein, dass ich nicht weiterlief. Stehen blieb.

Denn so viel Verborgenes, in einer Umgebung, die deutlich und echt dieses Verborgene selber verkörpert, nur eben stumm, die also nur zeigen kann, dass es auch etwas anderes gibt, etwas, wohin du womöglich gehörst, berührte das nicht diesen dicken Klumpen, auf dem wir alle herumschwimmen, jeder für sich, und wo das Zipfelchen Klarheit, das herausguckt aus der ozeanischen Suppe, sich manchmal auch fragt, soll ich den Klops unten tatsächlich antasten, also berühren?

Und sogleich betrat ich das kleine Café.

Dort habe ich meine Freunde gefunden. Gefunden und auch verloren.

Darum geht es ja, daran erinnert sie mich, die Trichterstraße, die kurze, gebogene Straße, an den Anfang damals, an den Weg in die Große Hamburger Straße.

Die ist immer noch da. Wenn ich will, geh ich hin. Auch das Café ist immer noch ein Café.

Vor den Fensterscheiben laufen Menschen in Rudeln vorbei, in Gruppen, in Schwärmen, mit Rucksack und Pappbechern voller Kaffee, sie rufen, sie reden, sie bleiben auch stehen. Sitz ich drinnen, dann kann ich zusehen, wie sie mit verdrehten Köpfen vorbeistolpern und die Häuser anglotzen.

Baut euch selbst eine Straße wie diese, dort wo ihr herkommt, wenn es euch hier so gefällt! So möchte man ihnen zurufen, oder ist es die Sehnsucht zu demonstrieren wie früher einmal, die so viele Menschen hinaustreibt wie früher einmal, hinaus auf die Straßen, die Welt verändern mit Rufen und roten Plakaten – ist es das, was sie wollen, und sie haben’s vergessen?

Diese Turnschuhbesucher und Pappkaffeetrinker, sie gähnen beim Laufen und halten dabei nur selten die Hand vor den aufgerissenen Mund. So gähnend schauen sie manchmal sogar durch die Scheiben zu mir ins Café, als ob hier die Lösung zu finden wäre für ihre leere Herumtrampelei, aber auch das Café ist leer, meine Herrschaften, leer, es sind alle schon weg!

Und jetzt ist auch Eva gegangen.

Gestern noch bot sie mir in aller Ruhe eine selbst gebackene Tortenschnitte an und wütete gegen das Gehen, das Weggehen, kurz danach aber, ebenfalls auf dem kleinen Balkon, aber ohne Torte und frischen Kaffee hat sie gesagt, dass sie ausziehen wird. Dass sie also schon wieder gehen wird, weggehen, und ich brach in Tränen aus, und jetzt ist sie bereits ausgezogen, der Balkon drei Etagen hoch über der Ecke der Großen Hamburger Straße zur Oranienburger ist leer, kein Blümchen mehr drauf und kein Lichtlein im Sturm, weg ist die Eva, verweht und vorbei.

Und nicht nur die Eva!

Denn als wir da saßen, dort oben, da zeigte Eva noch auf den Bauzaun tief unter uns, und der war um das leere Grundstück gegenüber gezogen, dieses Trümmergrundstück, auf dem ich einmal so verwundert gestanden hatte. Um die ganze freie Ecke zur Oranienburger Straße sah man von oben also einen Bauzaun, und Eva begründete ihren Entschluss, an den Stadtrand zu ziehen, gerade mit diesem Zaun dort unten, an dem Tag und Nacht Kerle stehen und pinkeln und andere wiederum nachts und am Tage mit Koks handeln oder mit Gras, und jetzt ist der Bauzaun schon wieder verschwunden, ein Baugerüst an seiner Stelle, viel Schatten auf einmal, es wächst hier ein Haus. Geh ich morgen vorbei, wird es fertig sein, Menschen werden aus Fenstern sehen, zu Evas Balkon gegenüber, und nichts wissen von ihrem Wutgeschrei gestern: »Ich bin von hier, Irina, von hier! Zählt das noch? Nee, zählt nicht mehr, zählt nicht, ich gehe!«

Eva wird weg sein. Das ist sie bereits.

Und übrigens las ich grad gestern, dass es zu Beginn der Achtzigerjahre war, als einer der höchsten Beamten des Kreml in der Parteizentrale am Werderschen Markt eintraf, hier in Ostberlin, und Ostberlin war damals die westlichste Hauptstadt des Moskauer Reiches, und der Werdersche Markt befindet sich ganz in der Nähe von dem Geflecht der kleinen Straßen, in dem ich stehen geblieben war und nicht weiterging, und der Russe soll zu dem Deutschen gesagt haben, es sei so weit. Worauf der Deutsche nicht verstand, und der Russe ein Wort fallen ließ: Brest-Litowsk.

Mehr hat er nicht ausplaudern dürfen, er ließ den Deutschen ratlos zurück, der sich keinen Reim darauf machen konnte, was Brest-Litowsk dem Genossen aus Moskau damals bedeutet hat. Es wusste einer vom anderen nicht in diesen Jahren, und selbst die eigene Lebensgeschichte kannte im Grunde keiner – wie erst den eigenen Ort?!

Diese Straße!

Ihr Krankenhaus ist katholisch, ihre Kirche protestantisch, und der uralte Friedhof, den es hier einmal gegeben hat, der war jüdisch gewesen. Als vollkommen unreligiöse junge Frau, die an Krankheiten nicht einmal denken will, waren das leere Wörter für mich, und auch von dem Bitten und Beten, das hier aus Krankenbetten und Kirchenbänken, von den Friedhöfen ganz zu schweigen, über Jahrhunderte schon zum Himmel gestiegen war, hatte ich nicht die geringste Vorstellung. Und doch war ich stehen geblieben.

Ich hatte eine Straße des Glaubens betreten. Ein Zentrum des Glaubens sogar, denn wenn es jemals ein Zentrum des Glaubens gegeben hat in Berlin, dann war es hier.

Das Zentrum des Unglaubens war das Café.

Wenn ich daran denke, das kleine Café, in dem wir uns begegneten vor so vielen Jahren, dann kann ich es glatt auf die flache Hand mir stellen, es nah vor die Augen mir halten. Ein Spielzeug, Modellbau, ein kleines Gehäuse, und aus allen Ritzen scheint Licht auf die Handfläche, gelbes Licht.

Es ist ein Scheinen wie von den Kirchenfenstern auf der Fünf der Münzen im alten Tarot, wo Bettler im Winter an ihnen vorbeigehen, ein Scheinen von bewohnten Häuschen im ewigen Schnee, so ein Scheinen beinahe.

Vergessenes Wort.

Und voll ist das Häuschen, es ist immer voll, immer kennen sich alle, fast alle und Eva kommt ran, kommt damals als Kellnerin ran, und Manne, der Tischler, sitzt damals als König am Stammtisch. Da saß er, und wir waren seine Gäste.

Wir wärmten uns in dem goldigen Licht und schmähten die Wirklichkeit unseres Lebens.

So war das, und so ist es immer, Zuhause, das hatte schon immer den Ruch des Mindesten, was man verlangen kann, Zuhause – das ist nur der Anfang, der zählt nicht, wir sind hier nur reingeschneit, sind nur die Gäste. Ringsrum, das ist alles nicht wirklich in unsrer Regie, ist nicht so, wie es sein sollte, und auch nicht so, wie es sein wird, wenn wir losgehen, loslegen und nicht gehindert werden an allem, nicht wahr? Nur Manne, der wollte uns immer wieder etwas von Heimat erzählen, wie schön die ist, hier, überall, wo wir sind, und die kleinen Kreise, wie wunderbar, die wir täglich drehen.

Da seh ich ihn sitzen im winzigen Häuschen und lachen und Vorträge halten, ein Bieberkopf, wie er im Buche steht, ein Heinrich George mit dicker Pfote, und mehr noch ein Sohn all der Schlosser und Schreiner, die hier in der Gegend dem Unglauben frönten, der Meuterei und der starken Hand, und abends dem Bier in einer der Kneipen und Gasthäuser auch, und davon hat es einmal in der Großen Hamburger Straße mehr als woanders gegeben, ja, mehr als genug.

Mehr als genug! Das machten die Friedhöfe und das Krankenhaus, mit all dem Kummer und Leid, und die Nähe zum Hackeschen Markt machte das auch, auf dem die Bauern aus der Umgebung Berlins zweimal die Woche so früh wie möglich mit ihrer Ware zu stehen wünschten. Für die Nacht davor brauchten sie alle Quartier und einen Stall für die Pferde.

Die Ställe und die Remisen für die Fuhrwerke wurden später zu Mietzimmern umgebaut für die armen Proleten, die Eisengießer, die Drucker, die Weber, die Strumpfwirker auch, und die höhnten schon lange im Wirtshaus das alte Lied: Ringsrum, das ist alles nicht so, wie es sollte, ist nicht wirklich in unsrer Regie, ist nicht, wie es sein wird, wenn wir erst mal losgehen, loslegen und nicht gehindert werden an allem, nicht wahr?

Und wo soll ich das jüdische Altersheim einordnen, das einmal vor dem alten Friedhof gestanden hat?

Zum Bitten und Flehen der Gottgläubigen oder zum schallenden Lachen der Gotteslästerer in dem Café?

Seit der letzten Judenverfolgung ist es ein schwarzer Fleck geworden in der Berliner Landschaft, ein leerer Fleck auch, über den niemand hier spricht von den Leuten. Und tatsächlich saßen die Bewacher der Juden, die sich in dem Altersheim melden mussten, und warten, bis man sie abholt zum Töten, diese Bewacher saßen in ihren freien Minuten auch im Café.

Aber davon wussten wir nichts. Das kann ich bezeugen.

Wir wussten davon, dass es Tausende waren, Berliner wie wir, die man von dort aus, von dort – gegenüber –, wo nun nichts mehr stand, gar kein Haus, in die Todeslager gefahren hatte in diesen Vierzigerjahren, wir konnten bequem den Gedenkstein sehen aus unseren Fenstern, darauf stand das geschrieben, aber schon dass diese Vierzigerjahre nicht sehr weit entfernt waren von unseren Achtzigern, davon hatten wir keinen Begriff, so scheint es mir heute, und dass wir mit den Bewachern von damals das gleiche Café benutzt haben sollen – nein!

Wir wussten es nicht. Und außerdem: es gab ja nur ein Café in dieser Straße, in der ganzen Gegend sogar.

In den Vierzigerjahren, da hat es von den vielen Etablissements der Vergangenheit in der Großen Hamburger Straße noch zwei Cafés gegeben und ein Restaurant, Anfang der Achtzigerjahre dagegen war unser Café das Letzte der Straße, und da saßen wir.

Ein Foto von mir aus der fraglichen Zeit zeigt ein Kindergesicht und ein freches Lachen darauf, pausbäckig irgendwie, und die anderen auch.

Dieser Babyspeck, was will er mir sagen?

Die Gesichter dort damals sind völlig entspannt.

Ahnungslos?

Jedenfalls arglos.

Ich kam beinah täglich. Ich wollte der Straße ihr Geheimnis entreißen – mit einem Kindergesicht! Alle am Stammtisch glaubten es mir.

Sie sind damit einverstanden gewesen, denn auch sie empfanden das Besondere an dieser Straße, schließlich wohnten sie alle woanders und kamen wie ich beinah täglich hierher. Nur Eva wohnte gleich um die Ecke in der Auguststraße, wo sie auch geboren wurde. Wie sie gesagt hatte: »Ich bin von hier, Irina, von hier!«

Manne dagegen wohnte am Stadtrand im eigenen Haus und wollte sich jedes Mal beinah bekreuzigen bei dem Gedanken, auch nachts hier zu sein oder an Wochenenden, und ich kam mit der Straßenbahn aus Pankow gefahren, aus einem bürgerlich-guten Viertel mit großen Wohnungen, hohen Zimmern.

Mit der Straßenbahn rein in die Innenstadt und die Häuser betreten, an Türen klingeln, Fragen stellen, dann mit der Straßenbahn wieder zurück und aufschreiben, was mir erzählt wurde.

Die Tagebuchseiten besitze ich alle, doch sie sind sinnlos geworden. Sooft ich sie las – kein Zusammenhang, nichts.

Das Kindergesicht, es nahm, was es kriegen konnte. Es hat wohl gejauchzt über alles, was bunt und glitzernd ihm vorkam, ja – bunt vor allem und ungewöhnlich.

Das ist typisch die Orientierungshilfe eines Menschen, der keinen Glauben hat. Den kann man ja schon mit Glasperlen tief erschüttern.

Heute weiß ich es, und nun liegen die Stapel Papier wieder vor mir, zum wiederholten Male. Eine andere Quelle besitze ich nicht für die Aufklärung dieser Frage, wenn sie denn überhaupt mir gelingt: Wie ist das alles gekommen?

Was war denn der Weg bis hierher?

Und wie damals die täglichen Straßenbahnfahrten, so ziehen mich diese beschriebenen Seiten schon wieder in etwas hinein. Vielleicht liegt das nur an dem alten Papier. Es ist dünn und morsch. Alles echt. Solches Papier hieß Durchschlagpapier. Man legte es unter ein oberes, dickeres weißes Papier und dazwischen ein färbendes Blatt, das Kohlepapier, um eine Kopie zu erhalten.

Also muss es von diesem Tagebuch noch ein Doppel geben. Eine Fassung aus festeren Seiten, und auch die wird echt sein, ja, vielleicht sogar echter, wo könnte sie sein? Es werden die Buchstaben förmlich in die Blätter geprägt sein von der Maschine, ich schrieb ja auf einer Maschine. Vier Haufen vergilbtes Papier.

Und bald wird es auseinanderfallen.

Ich las. Und ich sah.

Was ich sah, war zuerst eine Straßenecke. Irgendwie dunstig das Ganze, die Mietshäuser hoch, der Straßenasphalt unversehrt und glatt, eine Frau im langen Mantel läuft da, bleibt stehen.

Ach so, hier ist eine Bushaltestelle. Sie wartet. Auf dem Kopf ein Hütchen, an den Füßen flache Schuhe. Halbschuhe, fällt mir jetzt ein, sie trägt Halbschuhe.

Und alles ist still? Nein, das ist es nicht, es summt in der Luft, die Berliner Geräusche von Autos, entfernt irgendwo, und von Schritten oder von Hammerschlägen, die ja immer zu hören sind, die liegen auch in der Luft.

Die Frau da steht gerade, sie wartet. Eine alte Frau. Der Hut schon Signal ihrer Unsichtbarkeit. Ich schaue ihr nicht ins Gesicht, wenn ich an ihr vorbeigehe.

Ich bin jung.

Das fühle ich am ganzen Körper, wie jung ich bin, wie schnell und wie sprungfederartig die Schritte meiner Füße, der eigenen Füße so unter mir.