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Dr. Laurin
– Staffel 16 –

E-Book 151-160

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-861-9

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Special Edition

Leseprobe

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird.

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Eine unerklärliche Angst...

Violetta hatte einen schweren Unfall und zweifelt an sich selbst

Wenn eine Patientin das erste Mal zu Dr. Leon Laurin kam, war sie ihm ein unbekanntes Wesen. Die meisten konnte er jedoch schnell in eine bestimmte Kategorie einordnen. Die einen waren die Schüchternen, Verklemmten, die von einer Verlegenheit in die andere fielen, weil der Gang zum Frauenarzt sie maßlose Überwindung kostete.

Die anderen, die Ängstlichen, die wussten, dass gewisse Symptome eine schwere Erkrankung bedeuten konnten. Da gab es die ganz Forschen, die aus Illustriertenberichten Eigendiagnosen stellten und dann gar nicht so leicht zu überzeugen waren, wenn diese nicht zutrafen. Und nicht zu vergessen, die ganz unbefangenen jungen Frauen, die nur bestätigt haben wollten, dass sie schwanger waren.

Vanessa Lauenstein konnte er keiner Kategorie zuordnen. Moni, seine Sekretärin, hatte die Personalien bereits aufgenommen. Die Patientin war sechsundzwanzig, verheiratet, wohnhaft in München.

Dr. Laurin betrachtete sie. Sie war etwas mehr als mittelgroß, schlank, feingliedrig, hatte ein ovales, leicht gebräuntes Gesicht, aschblondes lockiges langes Haar und topasfarbene Augen, die von einem Kranz dichter dunkler Wimpern umrahmt waren.

Die klassische Nase und der schöne Mund weckten in Dr. Laurin unwillkürlich das Gefühl, dass dieses Gesicht einen Bildhauer inspirieren müsste.

Später sollte er zu einer ganz anderen Erkenntnis kommen, nämlich zu der, dass chirurgische Künstlerhände diesem Gesicht die makellose Schönheit gegeben hätten. Diese Ahnung kam ihm, als er einige feine, fast unsichtbare Narben am Haaransatz und am Hals entdeckt hatte.

Seinem wachsamen Blick entging so schnell nichts, doch das Gesicht hatte er erst ganz genau betrachtet, als er bei der Untersuchung feststellte, dass der ebenfalls klassisch schön geformte Körper dieser Frau mehrere Narben aufwies.

»Sie hatten einen Unfall?«, fragte er ganz beiläufig.

»Ja, könnte das der Grund sein, dass ich kein Kind mehr bekomme?«

Kein Kind mehr? Diese paar Worte versetzten ihn in maßloses Erstaunen, und die nächste Bemerkung raubte ihm fast den Atem.

»Unser Oliver soll nicht allein aufwachsen. Er ist jetzt vier Jahre. Ich will nicht, dass der Altersunterschied zwischen meinen Kindern zu groß wird.«

In diesem Augenblick zweifelte Dr. Laurin fast an seinem Können, seiner Erfahrung, denn für ihn hatte die gründliche Untersuchung ergeben, dass diese Frau noch kein Kind geboren hatte und dass es selbst für eine Fehlgeburt keine Anzeichen gab. Allerdings hatte er auch feststellen müssen, dass ein Myom vorhanden war. Kein großes, kein gefährliches. Es würde durch eine kleine Operation zu beseitigen sein.

Seine Gedanken arbeiteten blitzschnell, bevor er sich anschickte, ihr dies mit aller Behutsamkeit zu erklären. Vielleicht hatte sie einen Mann geheiratet, der ein Kind mit in die Ehe gebracht hatte, vielleicht hatten sie auch schon eines adoptiert.

Aber Vanessa Lauenstein sollte ihm noch mehr Überraschungen bereiten, als er ihr von dem Myom erzählt hatte.

»Könnte es möglich sein, dass etwas nach Olivers Geburt zurückgeblieben ist, was der Arzt übersehen hat?«, fragte sie. »Der Junge ist während eines Auslandsaufenthaltes zur Welt gekommen. Mein Mann hatte kein großes Vertrauen zu dem Arzt, und ich muss gestehen, dass ich daran kaum eine Erinnerung habe. Der Unfall, den ich ein Jahr später hatte, war ziemlich schwer. Ich möchte auch nicht darüber sprechen«, fügte sie mit erstickter Stimme hinzu. »Sie meinen also, dass ich nach der Operation noch Kinder bekommen werde?«

»Ja, gewiss, Frau Lauenstein«, erwiderte Dr. Laurin geistesabwesend. »Jedenfalls hat das Myom nichts mit einer erfolgten Geburt zu tun.«

»Oliver ist ja glücklicherweise auch ein ganz gesundes Kind«, sagte sie aufatmend. »Er wünscht sich so sehr Geschwister.«

»Er ist jetzt vier, sagten Sie?« Dr. Laurin musste sich räuspern, so heiser war seine Stimme.

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Trauen Sie mir etwa einen so großen Sohn nicht zu?«, fragte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Immerhin bin ich schon sechsundzwanzig, und ich möchte, dass unsere Kinder junge Eltern haben.«

»Ihr Mann ist auch jung?«, fragte Dr. Laurin. Ungewollt war ihm das herausgerutscht.

»Neunundzwanzig«, erwiderte sie, und dann bekam ihr Blick einen träumerischen Ausdruck. »Aber er ist ein wundervoller Vater. Ich möchte unbedingt noch mindestens zwei Kinder haben, Herr Dr. Laurin, und ich hoffe, dass Sie mir dazu verhelfen können.«

Was war das für eine seltsame Frau?

Gewaltsam brachte er sich auf andere Gedanken. »Es wäre gut, wenn Sie sich dieser kleinen Operation bald unterziehen würden«, erklärte er.

Sie nickte. »Ich werde mit meinem Mann darüber sprechen. Ich muss gestehen, dass er eine Abneigung gegen Operationen hat. Er hat auch schon genug Sorgen mit mir gehabt. Ich melde mich wieder bei Ihnen, Herr Dr. Laurin.«

Würde sie das tun? Würde er sie hier nochmals sehen? In Dr. Laurins Kopf herrschte ein ziemlich wirres Durcheinander, als sie gegangen war, und er konnte es kaum erwarten, mit seiner Frau Antonia über diese Patientin zu sprechen.

Doch an diesem Abend sollte er wieder einmal spät nach Hause kommen, denn gegen fünf Uhr wurde Frau Kerscher eingeliefert, die mit einer Mehrlingsgeburt rechnen musste. Fünf Wochen vor der Zeit und in einem recht kritischen Stadium.

Lore Kerscher war vierunddreißig. Sie hatte sich einer langen Hormonkur unterziehen müssen, um Mutter werden zu können. Sie war bereits zehn Jahre verheiratet und wünschte sich brennend ein Kind. Nun stand es für Dr. Laurin schon fest, dass es mindestens drei werden würden, und er wollte alles daransetzen, dass ihr wenigstens die zwei, die er ihr schon mit Bestimmtheit voraussagen konnte, erhalten blieben.

Schwester Marie musste sich mal wieder um einen maßlos aufgeregten Mann kümmern, und Moni rief Antonia an, um ihr zu sagen, warum ihr Mann so lange in der Klinik festgehalten wurde.

Antonia kannte Frau Kerscher. Ihr Mann war Installateur und schon manches Mal im Hause Laurin und bei den Kaysers beschäftigt gewesen. Nette, fleißige Menschen, die sich alles geschaffen hatten, was ein sorgenfreies Leben garantierte, denen zum vollkommenen Glück nur Kinder fehlten.

»Nun, bist du auch wieder aufgeregt, Mami?«, fragte Kaja.

»Es geht um Frau Kerscher«, erwiderte Antonia. »Es ist nicht so einfach, Zwillinge oder gar Drillinge zu bekommen.«

»Du hast uns aber recht gut überstanden, Mama«, meinte Konstantin, Kajas Zwillingsbruder.

Dass diese Geburt nicht so ganz einfach gewesen war, brauchten die beiden nicht zu wissen. Aufregung hatten sie in der ganzen Familie genug verursacht.

»Mami war auch noch jünger als Frau Kerscher«, stellte Kaja fest. »Herr Kerscher wird sich ganz schön aufregen.«

An Anteilnahme fehlte es in der Familie Laurin nicht, während in der Prof.-Kayser-Klinik Alarmstufe eins herrschte.

Dr. Sternberg von der Chirurgischen Station war herbeigerufen worden. Dr. Lenz und Dr. Rasmus waren bereits im Operationssaal.

Dr. Laurin verschwendete keinen Gedanken mehr an Vanessa Lauenstein, als er das Skalpell zur Hand nahm.

*

Zur gleichen Stunde kam Vanessa nach Hause. Sie hatte noch einige Besorgungen gemacht. Oliver kam ihr entgegengestürmt, ein bildhübscher, springlebendiger Junge mit blondem Lockenkopf.

»Du warst aber lange fort, Mamichen«, sprudelte er hervor. »Papi ist schon lange da.«

Und da kam Heiko Lauenstein auch schon aus seinem Zimmer. Forschend ruhte sein Blick auf dem erhitzten Gesicht seiner Frau.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, Vanessa«, sagte er mit leiser, angenehmer Stimme.

»Es war schrecklich viel Verkehr«, entschuldigte sie sich. »Nicht böse sein, Heiko.«

»Ich bin nicht böse. Ich bin froh, dass du wieder da bist«, erwiderte er. Er sah älter aus, als er an Jahren zählte, reif und gütig, wie Vanessa ihn Dr. Laurin gegenüber bezeichnet hatte.

Vanessa gab dem Jungen einige Päckchen. »Probier die Sachen an, Oliver. Wenn sie nicht passen, tauschen wir sie um.«

»Was du mir kaufst, passt immer, Mami«, erklärte er. »Liesl wartet schon mit dem Essen.«

»Ja, dann werde ich mir schnell die Hände waschen«, sagte Vanessa.

Der Tisch war gedeckt. Vanessa, die sich rasch erfrischt hatte, zündete die Kerzen an. Sie liebte eine stimmungsvolle Atmosphäre.

Doch an diesem Abend erinnerte sie sich unwillkürlich an jenen Abend, als sie nach langem Krankenhausaufenthalt nach Hause gekommen war. Es war ganz seltsam, und bei diesen Gedanken lief ein Kribbeln über ihren Körper.

Auch an jenem Abend war der Tisch gedeckt gewesen, aber der Kerzenständer hatte gefehlt.

»Wo ist der Kerzenständer?«, hatte sie gefragt.

»Welcher?«, fragte Heiko darauf.

»Der silberne.«

»Entschuldige, Liebes«, antwortete er, »aber ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht hat Liesl ihn weggeräumt.«

»Es waren lange Monate«, hatte Vanessa darauf gesagt.

»Was denkst du?«, fragte Heiko jetzt, als sie in die flackernden Kerzen blickte.

»Manchmal kommen mir Erinnerungen«, erwiderte sie verhalten. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Guten Appetit, meine Lieben.«

Oliver warf ihr einen schelmischen Blick zu. »Du bist so feierlich, Mami«, sagte er. »Wie Weihnachten. Aber bei uns brennen jeden Abend Kerzen. Eins, zwei, drei, für jeden eine.«

»Ja, für jeden eine«, sagte sie sinnend. Wieso eigentlich nur drei?, ging es ihr dann durch den Sinn. Früher war es doch ein vierarmiger Leuchter. Sie griff sich an die Stirn. Was kamen ihr nur für Gedanken? Was bildete sie sich ein?

»Wo warst du eigentlich?«, fragte Heiko.

»Das erzähle ich dir nachher«, antwortete sie.

»Mami will es nicht verraten, weil du bald Geburtstag hast, Papi«, glaubte Oliver zu wissen. »Da darf man schon Geheimnisse haben. Und wenn ich das nächste Mal Geburtstag habe, wünsche ich mir ein Schwesterchen. Vielleicht auch schon zu Weihnachten, das ist früher als mein Geburtstag.«

Heiko blickte nicht auf. Sein Gesicht hatte sich verdüstert. Vanessa bekam Herzklopfen, als sie zu ihm hinüberschaute. Und wieder kam ihr ein eigenartiger Gedanke. Wieso saß sie ihm eigentlich immer gegenüber. Hatte sie früher nicht neben ihm gesessen?

Was ist nur mit mir los?, fragte sie sich. Was stimmt bei mir nicht? Warum war Dr. Laurin so seltsam bestürzt?

Ja, er wirkte irgendwie geistesabwesend, ungläubig.

Ist es schlimmer, als er mir sagen wollte?, ging es ihr durch den Sinn.

»Warum isst du nicht?«, fragte Heiko.

»Ich habe gar keinen Hunger.«

»Du solltest nicht allein Auto fahren«, mahnte er.

»Ich habe mehr Angst, wenn ich Beifahrerin bin, das weißt du doch«, erwiderte sie.

»Ja, ich weiß es«, gab er tonlos zurück.

Oliver wurde die Stimmung unheimlich. »Ich probiere jetzt die Sachen an«, sagte er. »Darf ich? Ich bin satt.«

»Ja, geh nur«, erwiderte Vanessa gedankenlos. Und als der Junge das Zimmer verlassen hatte, fuhr sie, zu ihrem Mann gewandt, fort: »Ich war heute bei Dr. Laurin und habe mich untersuchen lassen, Heiko. Wir sprechen nachher darüber.«

Nachher! Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Oliver im Bett war, eine Ewigkeit für Heiko Lauenstein, in der er hin und her gerissen wurde von Zweifeln und widersprüchlichen Gefühlen, aber als sich Vanessa dann zu ihm setzte, machte sie einen völlig gelösten Eindruck.

»Ein kleines, winzig kleines Myom ist daran schuld, dass ich noch kein zweites Kind bekommen habe«, sagte sie. »Es ist nur eine kleine Operation nötig, doch die sollte bald geschehen, hat Dr. Laurin gesagt. Er ist übrigens sehr nett. Angela hat nicht übertrieben.«

»Du hast mir nicht gesagt, dass du zum Arzt gehst«, warf Heiko ihr vor.

»Ich wollte dich nicht beunruhigen, Liebster«, erwiderte Vanessa sanft. »Ich möchte jetzt wirklich bald ein zweites Kind haben, und du weißt doch, wie sehr Oliver sich ein Schwesterchen wünscht.«

»Du hast genug durchgemacht, Vanessa, und ich auch. Ich will nicht, dass du neuen Gefahren ausgesetzt wirst, mein Liebes.«

»Aber das ist doch Unsinn. Es ist drei Jahre her, Heiko. Ich bin gesund, ich liebe dich. Ich will mich einmal erinnern können, wie es ist, ein Kind zu bekommen von dem Mann, den ich über alles liebe.«

Er erhob sich und trat hinter sie, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt«, flüsterte er. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn du wieder einer Gefahr ausgesetzt würdest.«

Sie hob den Kopf. »Ich will nicht mehr daran denken, dass Violetta sterben musste!«, stieß sie hervor. »Ich will nicht daran erinnert werden. Ich lebe. Ich will leben und glücklich sein. Mit dir glücklich sein, Heiko. Ich will das Gefühl haben, dass ich als Frau vollkommen bin. Ich wünsche mir ein Kind oder zwei, oder gar noch drei.«

Ihm schnürte es die Kehle zu. »Ein Kind ist genug«, hatte Vanessa nach der Geburt von Oliver gesagt. »Noch einmal mache ich das nicht mit.«

Sie drehte sich um und legte die Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr, Heiko«, flüsterte sie, und wieder sah er sie anders vor sich, mit flammenden Augen, mit Händen, die ihn zurückstießen.

»Ich habe mir alles anders vorgestellt«, hatte sie da gesagt. »Ich wusste nicht, was Liebe ist, als ich dich geheiratet habe. Ich liebe Wolf, finde dich damit ab. Gib mich frei.«

Aber jetzt blickte er in zärtliche, sehnsüchtige Augen. Vanessa schmiegte sich an ihn. »Wir leben«, hauchte sie. »Wir lieben uns. Bist du nicht glücklich, Liebster?«

»Ich bin sehr glücklich, Vanessa«, sagte er nach einem langen Kuss.

*

Alois Kerscher presste die Stirn an die weiß getünchte Wand neben der Tür, die zum Operationssaal führte. Schwester Marie hatte ihn nicht mit den beschwörendsten Worten veranlassen können, diesen Platz zu verlassen.

Kein Laut drang nach draußen, aber hinter dieser Tür ertönte ein leises Quäken, und ein zweites gesellte sich dazu. Schwester Irma war in diesem Augenblick der fast tödlichen Stille überdrüssig.

»Eins, zwei …«, zählte sie,

»Nummer drei«, fuhr darauf Dr. Laurin aufatmend fort, »und da haben wir ja noch eins. Nun mal schnell, Herrschaften. Sie sollen alle ihre Chance bekommen.«

Drei Buben und ein Mädchen, das war schon eine Seltenheit. Dr. Lenz, der jüngste der Ärzte, konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass Buben doch schneller wären als Mädchen, denn der weibliche Vierling nahm sich neben den drei des männlichen Geschlechtes recht armselig aus. Aber das winzige Mädchen schrie dann am lautesten, als wolle es kundtun, dass es sich im Leben behaupten wolle.

Und diese Minuten, die Anni Kerscher so herbeigesehnt hatte, für die sie unendliche Geduld und Opfer aufbrachte, verschlief sie in der Narkose.

»Wir müssen sie durchbringen, alle vier«, beschwor Dr. Laurin seine Mitarbeiter.

Schwester Irma lief der Schweiß über das Gesicht, genauso wie den Ärzten. In die Inkubatoren mussten sie alle.

Dr. Laurins ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Mutter dieses Quartetts. Aber Helga Kerscher war physisch und psychisch ganz auf die Geburt eingestellt gewesen. Sie hatte ungeheure Willenskraft bewiesen während der Behandlung, während der Schwangerschaft und auch in der Stunde, in der ihr Mann sie in die Klinik gebracht hatte.

»Ist doch alles bestens«, stellte Dr. Rasmus fest, der Blutdruck und Puls kontrollierte, während Dr. Laurin den Schnitt selbst vernähte.

Es war siebzehn Minuten nach acht Uhr, als Schwester Marie zu Alois Kerscher sagte: »Jetzt setzen Sie sich aber erst mal, Herr Kerscher. Kommen Sie, trinken Sie ein Gläschen Sekt.«

»Sekt?«, ächzte er. »Mein Leben lang habe ich keinen getrunken.«

»Es ist ja auch ein ganz besonderer Tag«, sagte Schwester Marie. »Drei Söhne und eine Tochter kann man nicht nur mit Bier begießen.«

Er wankte neben ihr her und begriff gar nichts, plumpste in den Lehnstuhl und starrte sie blicklos an.

»Drei Söhne und eine Tochter, Herr Kerscher«, wiederholte Marie. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Mein Hellimäuschen«, murmelte er, »wie geht es meiner Frau?«

Schwester Marie kamen die Tränen. Mütterlich strich sie über sein schütteres Haar.

»Gut geht’s ihr, Herr Kerscher. Und staunen wird sie, was sie da zustande gebracht hat.«

»Sagen Sie es noch mal, Schwester Marie«, murmelte er.

»Drei Buben und ein Mädchen. Da werden Sie ganz hübsch in Atem gehalten werden.«

Er nahm ihre Hände und küsste sie. »Wenn sie uns nur erhalten bleiben«, stammelte er. »Wir haben ja vorgesorgt. Ist doch alles da, wenn alles gut geht.« Und die Tränen rollten ihm über das hagere Gesicht, während er das Sektglas leerte, das Schwester Marie flink gefüllt hatte. »Mit den Namen werden wir uns halt harttun«, brummelte er vor sich hin.

»Damit können Sie sich ja noch Zeit lassen, Herr Kerscher«, sagte Schwester Marie.

»Ich muss doch mit ihnen reden. Ich kann nicht einfach sagen: ›Du da‹. Was sollen sie denn von ihrem Vater denken? Wir konnten doch nicht wissen, dass es drei Buben und ein Mädchen werden. Helli hat gesagt, dass der Bub heißen soll wie ich, und ich hab gesagt, dass das Dirndl Helga heißen soll wie sie. Seien Sie mir net böse, Schwester, aber es ist halt ein bisserl viel auf einmal.«

»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal, Herr Kerscher«, sagte Schwester Marie. »Vierlinge bekommen wir auch nicht alle Tage. Ich möchte mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«

»Es muss alles in Ordnung sein«, flüsterte er. »Keines wollen wir hergeben. So lange haben wir sie uns gewünscht, und wenn dann alle auf einmal kommen, wollen wir sie auch behalten. Alles gebe ich dafür, sagen Sie es dem Herrn Doktor.«

Und Schwester Marie war glücklich, als Dr. Laurin sie lachend umarmte.

»Die vier sind wie ihre Eltern, Marie«, sagte er. »Die behaupten sich. Schauen Sie sich nur die Kleine an, so winzig und so zäh.«

»Wie die Mutter«, nickte Marie.

»Winzig ist sie ja nicht gerade, die Mutter«, lachte Dr. Laurin. »Wie hat es der Vater überstanden?«

»Da bin ich nicht sicher«, meinte Schwester Marie lächelnd. »Schauen Sie mal nach ihm.«

Dr. Laurin fand Herrn Kerscher in traumverlorenem Zustand. »Helli, Loisl, Andy, Stan, wenn’s meiner Frau recht ist.« Rührend war es anzuhören, wie er, immer noch verwirrt, sich schon mit den Namen für die Kinder vertraut machen wollte. Dann blickte er auf und kam zu sich, als Dr. Laurin vor ihm stand. »Ich will zu meiner Helli, Herr Doktor.«

»Sie schläft noch, Herr Kerscher.«

»Ich werde sie nicht stören, ich will nur bei ihr sein. Sie muss sich ausruhen, sich schonen, das sagen Sie ihr nur eindringlich. Diesbezüglich hört sie ja nicht auf mich. Sie bekommt doch ein schönes Zimmer?«

»Das schönste, das wir haben, Herr Kerscher. Und dann will ich Ihnen auch gleich sagen, dass Sie jetzt eine Menge Sachen von den verschiedensten Firmen bekommen werden, und man auch Bilder von den Babys machen möchte.«

Abwehrend hob Alois Kerscher die Hände. »Von meinen Kindern? Das kommt nicht infrage, und annehmen tue ich auch nichts. Das wär ja noch schöner. Nein, so was mögen wir nicht. Wir haben vorgesorgt. Darüber brauchen wir nicht reden.«

Er trottete neben Dr. Laurin her. »Anschauen darf ich mir die Kleinen doch?«, fragte er bittend.

Das durfte er später, aber vorher erklärte ihm Schwester Marie noch genau, warum sie noch einige Zeit im Inkubator bleiben müssten.

Und als er die Kleinen aus respektvoller Entfernung betrachtete, sagte er ergriffen: »Dass so was Winziges schon ein richtiger Mensch ist. Wie meine Helli das bloß fertiggebracht hat.«

Und dann blieb er an ihrem Bett sitzen, hielt ihre Hand und wagte kaum zu atmen.

*

Antonia Laurin atmete hörbar auf, als Leon kam. Ein langer, forschender Blick auf sein Gesicht, in seine Augen, und dann wusste sie, dass es gut gegangen war.

Natürlich wollte sie alles genau wissen, und Leon hätte sowieso nicht gleich schlafen können. Es gab ja auch außer den Vierlingen noch etwas, das ihn nun wieder beschäftigte, worüber er mit Antonia sprechen wollte.

Sie war momentan sprachlos, als er ihr die Frage stellte: »Kannst du dir vorstellen, Antonia, dass eine sechsundzwanzigjährige Frau ein vierjähriges Kind hat und man nicht die geringsten Anzeichen feststellen kann bei einer Untersuchung, dass sie schon eine Schwangerschaft durchgemacht hat?«

Antonia wusste, dass es für solche Frage einen triftigen Grund geben musste.

»Manchen Frauen sieht man nicht mal an, dass sie vier Kinder zur Welt gebracht haben«, erwiderte sie nach langem Überlegen mit einem flüchtigen Lächeln. »Jedenfalls wird mir das öfter gesagt.«

»Ich spreche nicht von der äußeren Erscheinung«, gab er geistesabwesend zurück.

»Das weiß ich, mein Schatz«, sagte Antonia.

»Ich bin doch ein erfahrener Arzt«, murmelte er.

»Daran zweifelt niemand.«

»Heute habe ich selbst daran gezweifelt. Es ist einfach unmöglich, dass diese Frau ein Kind zur Welt gebracht hat. Es geht dabei nicht allein um das Myom. Es liegt auch an den Eierstöcken. Ich habe natürlich nicht gewagt, ihr das zu sagen, als sie von ihrem Sohn sprach. Ich habe überhaupt nichts mehr sagen können. Ich stand wie der Ochs vorm Tor.«

»Um wen handelt es sich?«, fragte Antonia.

»Sie heißt Vanessa Lauenstein. Sie war zum ersten Mal bei mir.«

»Lauenstein«, wiederholte Antonia langsam und nachdenklich.

»Sagt dir der Name etwas?«

»Im Augenblick nur eine vage Erinnerung, dass ich ihn schon mal gehört oder gelesen habe. Es muss schon länger her sein. Aber den Namen wird es öfter geben.«

»Sie muss mal einen schweren Unfall gehabt haben.«

»Unfall? Es klingelt«, murmelte Antonia. »Ich komme schon noch drauf. Erzähl noch ein bisschen. Ist sie sympathisch?«

Leon erzählte, was sich ihm eingeprägt hatte. Und plötzlich sprang Antonia auf. »Es muss einige Jahre zurückliegen. Die Frau des Industriellen Lauenstein. Ihre Schwester kam bei dem Unfall ums Leben. Hat sie davon nichts gesagt?«

»Nein, sie sagte nur, dass es ein schwerer Unfall war und sie darüber nicht sprechen wolle. An Einzelheiten erinnerst du dich nicht?«

»Nein, aber Friedrich müsste Bescheid wissen. Er hat mit Lauenstein zu tun gehabt. Das weiß ich von Sandra. Ich werde deine Schwester morgen mal interviewen.«

»Vielleicht wird Frau Lauenstein wiederkommen, und ich werde sie besser kennenlernen. Sie ist ein eigenartiges Geschöpf, Antonia. So, als sei sie auf dieser Welt nur halb gegenwärtig. Ja, diesen seltsamen Eindruck habe ich von ihr gewonnen.«

*

Am nächsten Tag meldete sich Heiko Lauenstein bei Dr. Laurin an. Er müsse Herrn Dr. Laurin sehr dringend sprechen, sagte er zu Moni am Telefon.

Moni wusste, dass Dr. Laurin sich mit Vanessa Lauenstein beschäftigte. Sie kannte ihn schon sehr gut. Und sie wusste es noch besser, als Dr. Laurin sofort zu einem Gespräch bereit war.

Elf Uhr dreißig hätte er Zeit für Herrn Lauenstein, sagte er, und Moni wunderte sich schon gar nicht mehr, dass dieser sich bedankte, aber dann auch zögernd sagte, man möge seine Frau nicht davon informieren, falls sie kommen sollte.

Antonia hatte indes an diesem regnerischen Morgen Kyra und Kevin zur Schule gefahren. Es war wieder ein Unfall passiert, bei dem ein Schulkind schwer verletzt worden war, und da war sie doppelt ängstlich.

Zufällig traf sie ihre Schwägerin Sandra an der Schule, als sie gerade aussteigen wollte.

»Dann können wir gleich gemeinsam einkaufen gehen, Antonia«, meinte Sandra, »da macht es mehr Spaß.«

Antonia hatte schnell eine Gelegenheit gefunden, Sandra ein bisschen auszufragen, ohne es so direkt als ein Anliegen erscheinen zu lassen. Diplomatisch war sie immer. Leon brauchte dabei gar nicht erwähnt zu werden.

Sie fiel auch nicht mit der Tür ins Haus. Ganz beiläufig bemerkte sie: »Sag mal, Sandra, ist dir der Name Lauenstein bekannt?«

»Natürlich fällt mir zu dem Namen Lauenstein etwas ein«, sagte Sandra unbekümmert. »Das tolle Haus müsstest du doch eigentlich kennen, dagegen leben wir ja in einer armseligen Hütte.«

»Nun mach aber mal ’nen Punkt.«

»Ich habe mir die Zeitschrift aufgehoben, in der das Haus abgebildet ist«, fuhr Sandra fort. »Es ist einfach fantastisch. Aber Glück scheint es ihnen kaum gebracht zu haben, denn kaum hatten sie es bezogen, geschah dieser schreckliche Unfall, bei dem die Zwillingsschwester von Frau Lauenstein ums Leben kam. Und noch dazu war sie schuld an dem Unfall.«

»Jetzt kann ich mich erinnern!«, rief Antonia aus, als Sandra nachdenklich schwieg.

»Wie kommst du plötzlich auf sie?«, fragte Sandra nun aufmerksam.

»Ich habe irgendwo den Namen gehört und konnte ihn nicht unterbringen«, redete sich Antonia heraus.

Auf den Kopf gefallen war Sandra auch nicht. Und sie kannte ihre Schwägerin Antonia. Sie verstanden sich prächtig, so unterschiedliche Charaktere sie auch waren.

»War sie bei Leon? Bekommt sie wieder ein Kind?«, fragte Sandra.

»Nein, sie bekommt kein Kind. Übrigens hat Frau Kerscher gestern Vierlinge bekommen«, lenkte sie schnell ab.

Sandra riss die Augen auf. »Donner und Doria, ist alles in Ordnung?«

Antonia nickte.

Sandra strahlte. »Da wird Kerscher ja jubeln. Allerdings, vier auf einmal ist doch ein bisschen happig.«

»Sie freuen sich und werden zurechtkommen.«

»Das bestimmt. Handwerk hat goldenen Boden«, meinte Sandra, »und ihr Haus haben sie ja für eine große Familie gebaut. Da fehlt es an nichts.«

Antonia kam wieder auf die Lauensteins zurück.

Bereitwillig ging Sandra darauf ein. »Es muss sehr bitter für Lauenstein gewesen sein, dass seine Schwägerin den Unfall durch zu schnelles Fahren verursacht hatte«, erzählte sie. »Und noch schlimmer war es wohl, dass seine Frau dabei so schwer verletzt wurde. Sie hat monatelang in der Klinik gelegen. Das Kind war erst ein paar Monate alt. Friedrich hat die Schadensansprüche geregelt. Lauenstein war sehr großzügig. Er hat die Verletzten über die Versicherungssumme hinaus entschädigt.«

Nun war Sandra nicht mehr zu bremsen. »Wenn man bedenkt, dass er in sehr jungen Jahren eine riesige Verantwortung auf sich nehmen musste, kann man ihn wirklich nur bewundern. Er war dreiundzwanzig, als sein Vater am Herzinfarkt starb. Er war noch nicht mal mit dem Studium fertig, als er den Riesenbetrieb übernehmen musste. Ein Jahr später hat er dann Vanessa Menotti geheiratet. Muss ein bildschönes Mädchen gewesen sein. Mich würde es wirklich interessieren, wie sie den Unfall überstanden hat. Ich habe dir eine Menge erzählt, Antonia, eigentlich könntest du dich revanchieren.«

»Ich weiß ja nichts weiter«, erwiderte Antonia. »Ich kenne sie nicht persönlich.«

Sandra seufzte. »Es wäre schrecklich gewesen, wenn sie auch noch gestorben wäre«, sagte sie. »Ob man über so ein Unglück überhaupt hinwegkommt?«

Antonias Gedanken waren schon abgeirrt. »War die Schwester eigentlich auch verheiratet?«, fragte sie aus einer Eingebung heraus.

»Nein, noch nicht. Die Hochzeit stand vor der Tür. Es war so ein Jungregisseur, ist recht bekannt geworden inzwischen. Wolf Thormann heißt er.«

Sandra hatte ein Gedächtnis, das wirklich nicht zu übertreffen war.

Jedenfalls wusste Antonia nun eine ganze Menge, und einiges davon sollte ihr Mann an diesem Vormittag auch von Heiko Lauenstein erfahren.

Er war allerdings zuerst maßlos überrascht, als der bei ihm eintrat, denn für einen Mann, der noch keine dreißig war, konnte man ihn wahrhaftig nicht halten. Er sah gut zehn Jahre älter aus. Ein schmales, sehr interessantes und kluges Gesicht, Augen von dunklem Braun, die man schwermütig nennen konnte, ein schmaler Mund, der das Lächeln verlernt zu haben schien, blauschwarzes Haar, das von vielen grauen Fäden durchzogen war.

Seine Stimme war tief und leise. Er hielt sich nicht lange bei der Vorrede auf.

»Meine Frau war gestern bei Ihnen, Herr Dr. Laurin. Sie hat es mir erzählt. Sie haben ihr zu einer Operation geraten. Ich weiß, dass sie sich ein Kind, noch ein Kind, wünscht, aber ich möchte das Leben meiner Frau keinesfalls gefährdet wissen.«

Dr. Laurin maß ihn mit einem langen, forschenden Blick. »Es handelt sich nicht darum, dass diese kleine Operation förderlich für eine Schwangerschaft sein soll, Herr Lauenstein. Es handelt sich um ein Myom, das beseitigt werden muss, um nicht schwere Gesundheitsschäden hervorzurufen. Ich kann nur wiederholen, dass diese Operation, die völlig ungefährlich ist, baldmöglichst durchgeführt werden sollte. Ich muss auch Ihnen dies eindringlich sagen.«

Heiko Lauenstein blickte zu Boden. »Haben Sie bitte Verständnis, Herr Dr. Laurin. Meine Frau hatte vor drei Jahren einen entsetzlich schweren Autounfall, bei dem ihre Schwester Violetta ums Leben kam. Ich habe viele Monate um das Leben meiner Frau bangen müssen, dann auch um ihren seelischen Zustand. Ich weiß, dass sie unterschwellige Erinnerungen verdrängen will. Ich sage, unterschwellige Erinnerungen, denn klare Erinnerungen hat sie nicht. Glücklicherweise, möchte ich sagen. Es gibt da eine Gedächtnislücke, die letztendlich aber zu ihrer Genesung beigetragen hat. Im Wesen hat sie sich völlig verändert. Früher war sie sehr temperamentvoll, jetzt ist sie eher in sich gekehrt. Sie befasst sich viel mit übersinnlichen Dingen. Ich muss befürchten, dass eine Geburt kaum verheilte Wunden aufreißen würde.«

»Hatte sie eine schwere Geburt?«, fragte Dr. Laurin zögernd.

Die Falte zwischen Heiko Lauensteins Augenbrauen vertiefte sich. »Nicht so sehr die Geburt als der Verlauf der Schwangerschaft war schwierig«, erwiderte er. »Sie hat seelisch und körperlich gelitten.« Er straffte sich. »Ich will ganz offen sein. Auch unsere Ehe litt darunter. Und auch nach der Geburt des Kindes hatten wir Schwierigkeiten. Nach dem Unfall wurde es dann wieder ganz anders. Und ich möchte, dass es so bleibt. Mir genügt das eine Kind vollkommen.«

»Darf ich fragen, ob sich Ihre Frau mit ihrer Schwester gut verstanden hat?«, fragte Dr. Laurin.

Heiko Lauenstein blickte an ihm vorbei. »Wie das so ist bei Zwillingsschwestern«, erwiderte er heiser. »Jedenfalls bin ich sehr froh, dass sich Vanessa wieder zurechtgefunden hat. Also, wenn diese Operation unbedingt sein muss, bin ich einverstanden, aber vielleicht sagen Sie meiner Frau, dass es besser ist, wenn sie keine Kinder mehr bekommt. Sie haben als Arzt wohl auch die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit weitgehend einzuschränken.«

Dr. Laurin kämpfte mit sich. Sollte er von seiner Vermutung sprechen? Eine beklemmende Ahnung war ihm gekommen, als Heiko Lauenstein davon gesprochen hatte, dass es sich um Zwillingsschwestern handelte. Er entschloss sich zu einer anderen Frage, aber auch die kostete ihn Überwindung.

»War Ihre Schwägerin verheiratet, hatte sie Kinder?«

Unsicherheit und Bestürzung war aus Heiko Lauensteins Mienenspiel abzulesen. »Warum fragen Sie das?«, stieß er hervor.

»Nun, mir kam der Gedanke, dass dann die Möglichkeit bestünde, dass Ihr Sohn Spielgefährten hätte, die er sich anscheinend wünscht.«

Heiko Lauenstein wich einer direkten Antwort aus. »Wir werden ihn in einen Kindergarten bringen, wo er Spielgefährten hat«, erwiderte er. »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Dr. Laurin. Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.« Und schon verabschiedete er sich.

Für Dr. Laurin war es an der Zeit, sich am häuslichen Mittagstisch einzufinden, denn seine Kinder wurden sehr ungnädig, wenn sie zwei Tage hintereinander auf ihn verzichten mussten.

All die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, verdrängte er, als er von seinen vier Trabanten stürmisch begrüßt wurde, als wäre er Wochen weg gewesen.

*

Ein sehr ernstes Thema wurde nach dem Essen erörtert. Das kleine Mädchen, das bei einem Unfall bei der Schule schwer verletzt worden war, schwebte in Lebensgefahr. Es war eine Klassenkameradin von Kyra, und das geliebte Nesthäkchen der Familie Laurin war entsprechend bekümmert.

»Wenn sie sie gleich zu Onkel Eckart gebracht hätten, wäre es bestimmt nicht so schlimm«, meinte Kyra, denn Dr. Eckart Sternberg war für die Laurin-Kinder der allerbeste Chirurg.

»In welcher Klinik ist sie denn?«, erkundigte sich Leon, der seine Jüngste nicht traurig sehen konnte.

»In der Kinderklinik auf der Intensivstation«, erwiderte Kyra. »Sind da wenigstens auch gute Ärzte?«

»Sehr gute, Kyra. Da ist sie bestens aufgehoben.«

»Aber hier hätte Susis Mami viel öfter bei ihr sein können«, meinte Kyra. »Sie hat ja noch zwei Kinder, die sie auch nicht allein lassen kann. Susi war doch nicht schuld, Papi. Wozu haben wir denn Ampeln, wenn manche Leute doch nicht aufpassen?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Leon unwillig.

Kyra schmiegte sich an ihren Papi. »Kannst du dich mal erkundigen, was mit Susi ist?«, fragte sie flehend. »Wenn sie wissen, dass du dich darum kümmerst, geben sie sich vielleicht noch mehr Mühe.«

Das grenzenlose Vertrauen, das aus ihren Worten sprach, rührte ihn. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich erkundige mich, Schätzchen«, versprach er. »Und ihr passt bitte doppelt gut auf.«

»Mami bringt uns jetzt ja wieder zur Schule und holt uns auch ab«, sagte Kevin.

»Ich habe übrigens Sandra an der Schule getroffen, und dann sind wir noch einkaufen gegangen.« Antonia wollte von dem unschönen Thema ablenken.

Leon warf ihr einen Seitenblick zu. »Habt ihr euch gut unterhalten?«, fragte er hintergründig.

»Ja, sehr gut.« Und da ahnte er schon etwas.

Er sollte auch bald erfahren, was man sich da erzählt hatte. Viel Neues berichtete ihm Antonia da allerdings nicht, denn er hatte ja schon allerhand von Heiko Lauenstein erfahren. Etwas mehr wusste Antonia allerdings doch.

Leon gab zu, dass Heiko Lauenstein ihn aufgesucht hatte. Und für Antonia rundete es das Bild ab, was Leon ihr über diesen Besuch berichten konnte.

»Eigenartig war, dass er meiner Frage auswich, ob die Zwillingsschwester seiner Frau verheiratet war und Kinder hatte«, sagte Leon nachdenklich.

»Sie war nicht verheiratet, die Ehe stand gerade vor der Tür. Kinder kann sie da wohl auch nicht gehabt haben.«

»Es soll schon vorkommen, dass man eines hat«, bemerkte Leon, »und in honorigen Familien wird das gern verschwiegen. Was denkst du, Antonia?«

»Was denkst du, mein Schatz?«, fragte sie mit einem unergründlichen Lächeln. »Dass Vanessa nie ein Kind geboren hat und man Violettas Sohn als ihren betrachtet?«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit, mein Liebes.«

Antonia schaltete schnell. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Dass Vanessa eigentlich Violetta ist? Flüchtig habe ich das auch schon gedacht. Aber Heiko Lauenstein würde das doch nicht als gegeben hinnehmen.«

»Überlegen wir mal. Es waren Zwillingsschwestern und sich wahrscheinlich sehr ähnlich.«

»Das müsste nachzuprüfen sein«, warf Antonia ein.

»Eine war tot, die andere schwerverletzt. Man dachte gar nicht daran festzustellen, welche von ihnen die Tote war.«

»Vanessa müsste einen Trauring getragen haben«, gab Antonia zu bedenken.

»Ja, da hast du auch wieder recht. Und sicher erkennt ein Mann seine Frau auch wieder, selbst wenn sie ihrer Zwillingsschwester sehr ähnlich sieht.«

»Sollte er es wissentlich verschweigen, vielleicht seines Sohnes wegen?«, überlegte Antonia.

»Auch das wäre eine Möglichkeit. Aber es könnte ja tatsächlich sein, dass Violetta ein Kind hatte und Vanessa den Wunsch nach einem Kind so erfüllt bekam. Aber nein, das kann nicht stimmen. Er hat mir geschildert, dass sie eine schwere Schwangerschaft hatte. Das kann er nicht aus der Luft greifen. Er hat sogar gesagt, dass seine Ehe unter der Veränderung seiner Frau gelitten hätte und erst nach dem Unfall wieder Harmonie einkehrte. Er ist sehr besorgt um die Gesundheit seiner Frau.«

»Es ist ein ungewöhnlicher Fall«, sagte Antonia nach einer Gedankenpause.

»Wirklich ein ganz ungewöhnlicher Fall«, bestätigte Leon Laurin. »Aber in erster Linie muss man hoffen, dass eine glückliche Ehe erhalten bleibt. Durchgemacht haben sie beide genug.«

Aber er konnte den schwermütigen Ausdruck in Heiko Lauensteins Augen nicht vergessen. Strahlendes Glück verhieß er nicht.

*

Unbeschwert glücklich konnte Heiko nicht sein. Er war nicht der Mensch, der alles abschütteln konnte, was bedrückend war, was ihn immer wieder zum Nachdenken zwang und ihn schlaflose Nächte kostete, wenn er geschäftlich abwesend sein musste.

Der grauenvolle Unfall hatte ihm einen schweren Schock versetzt. Das psychische Trauma verfolgte ihn, obwohl er sich die erdenklichste Mühe gab, es zu überwinden. Aber wie konnte er das schaffen, wenn er nicht wagte, mit jemandem darüber zu sprechen? Auch nicht mit einem Arzt. Es gab zu viel Widersprüchliches in ihm selbst, das er nicht wahrhaben wollte.

Er hatte gemeint, alles vergessen zu können, als Vanessa nach langer Bewusstlosigkeit erwachte und seinen Namen mit so viel Zärtlichkeit flüsterte, das ihn Glück erfüllte.

Als sie dann nach vier Monaten in ihr Haus zurückkehrte, erschien sie ihm schöner denn je. Ihr Gesicht wurde von innigem Glück verklärt, als sie Oliver in den Arm nahm. Heiko schwor sich damals, dass alles vergessen sein sollte, was einmal Konflikte zwischen ihnen gesät hatte.

Das Glück konnte den Menschen verändern, aber auch das Unglück. Ein völlig neues Leben sollte für sie beginnen. Und doch zweifelte er manchmal an sich selbst, weil er Bilder aus der Vergangenheit nicht aus seinem Gedächtnis verbannen konnte.

Als er nun an diesem Mittag sein Haus betrat, merkte man ihm nichts an. Oliver kam ihm entgegengelaufen. Heiko hob den Kleinen empor und küsste ihn, und dann kam Vanessa in einem weichfließenden Kleid, das ihren perfekten Körper umspielte.

»Du bist pünktlich«, sagte sie mit zärtlicher dunkler Stimme. Und immer, wenn sie ihn küsste, begann sein Herz rasend zu klopfen, als wäre es ein erster, heiß ersehnter Kuss.

Er hatte überlegt, ob er ihr seinen Besuch bei Dr. Laurin verschweigen sollte, aber er brachte es nicht fertig. Da Dr. Laurin so eindringlich zu der Operation geraten hatte, wollte er nicht, dass sie hinausgezögert wurde.

Ihm war jetzt ein wenig bange, wie Vanessa reagieren würde, aber auch in diesem Augenblick gebrauchte er keine Umschweife.

»Ich habe heute mit Dr. Laurin gesprochen.«

Sie sah ihn verwundert an, aber dann flog ein Lächeln über ihr Gesicht, das es wunderbar belebte.

»Du hast mir wohl nicht getraut?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Hat Dr. Laurin dich beruhigen können?«

»Er hat mir erklärt, dass es nur eine kleine Operation sein wird, die dir nicht schaden kann.«

»Sondern mich vor weiterem Unheil bewahrt«, nickte sie. »Immerhin werde ich ein paar Tage in der Klinik bleiben müssen, und es muss überlegt werden, wer Oliver während dieser Zeit betreuen soll.«

»Wir könnten ja Ottilie herholen. Sie würde sicher gern kommen.«

Vanessas Gesicht wurde starr. »Nein, das will ich nicht!«, sagte sie so heftig, dass er erschrak.

»Aber du hattest sie doch sehr gern, Liebes.«

Sie wandte sich ab. »Das war in einem anderen Leben«, erwiderte sie.

Das sagte sie nicht zum ersten Mal, und ihn überfiel wieder ein beklemmendes Gefühl.

Vanessa ging zur Tür. Sie sprach zur Wand.

»Ja, es kommt mir vor, als würde ich ein gänzlich anderes Leben leben, Heiko. Es ist ja auch mein zweites Leben.«

»Ich kann während dieser Tage auch daheim bleiben und mich mit Oliver beschäftigen«, meinte Heiko. »Und wenn ich dringend im Werk gebraucht werde, kann ich ihn mitnehmen. Ich habe mir auch schon überlegt, ob wir ihn nicht in einen netten Kindergarten geben sollten, Vanessa. Es würde ihm sicher Spaß machen.«

»Nein, das will ich nicht!«, rief sie wieder in dem heftigen Ton, der ihn an die frühere Vanessa erinnerte. »Oliver ist so sensibel, und die Kindheit so kurz. Wenn er erst in die Schule gehen muss, gehört er mir nicht mehr ganz. Ich liebe ihn so sehr, Heiko. Er ist dein Sohn. Er ist dir so unendlich ähnlich. Du ahnst nicht, wie glücklich ich darüber bin. Ich habe es mir doch so gewünscht, dass er dir ähnlich wird.«

Da war es wieder, dieses quälende Gefühl, die Erinnerung an vergangene Tage, an andere Worte, die sie gesprochen hatte, die ihn verletzten. Ja, sie lebte jetzt ein anderes, ein ganz anderes zweites Leben. Sie erinnerte ihn so sehr an Violetta.