Peter McLean

Priest of Bones

Roman

Der Kampf um den Rosenthron
Band 1

Deutsch von Jochen Schwarzer

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Priest of Bones.

The War of the Rose Throne« im Verlag ACE by Berkley, an Imprint of Penguin Random House LLC, New York.

© 2018 by Peter McLean

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: © Birgit Gitschier, Augsburg, unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Coverdesign Originalverlag: © Katie Anderson, Abb. Schwert: Jelena Jovanovic/Arcangel, Straße: Slava Gerj/Shutterstock

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96414-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11580-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Diane.

Immer.

Soll Recht gebrochen werden,

sei’s ein Königsthron, um den man’s bricht!

Julius Cäsar zugeschrieben

Dramatis Personae

Die Familie Piety

TOMAS PIETY: Ein Militärgeistlicher, Veteran und Geschäftsmann. Anführer der Pious Men. Euer Erzähler.

JOCHAN PIETY: Sein jüngerer Bruder, ein schwer gestörter Mann.

ENAID PIETY: Ihre Tante, die Schwester ihres Vaters. Eine Jungfer von gut sechzig Jahren. Sie hat im vorigen Krieg gekämpft und ließ sich nichts gefallen.

Tomas Trupp

BLOODY ANNE: Eine Sergeantin, gute Soldatin und treue Freundin. Anne hatte schon immer eine Vorliebe für den Nahkampf gehabt; damit hat sie sich ihren Namen verdient.

SIR ELAND: Ein falscher Ritter mit hinterlistigen Augen. Niemand, dem man vertrauen würde.

KANT: Ein Korporal und Psychopath. Kant, die Kackbratze, wurde er im Trupp genannt, aber nur hinter seinem Rücken und vorgehaltener Hand.

BRAK: Kants rechte Hand, ein Halunke von zwanzig Jahren. Er war nur mutig, wenn er den großen Kerl bei sich hatte.

COOKPOT: Ein Koch, Fouragierer und Dieb. Cookpot war zwar in Ellinburg aufgewachsen, wusste aber auch nicht besser als Simple Sam, wie man dort Geschäfte machte.

DER DICKE LUKA: Ein weiterer Ellinburger. Da er es geschafft hatte, bei der Heeresverpflegung dick zu bleiben, war das halt seine natürliche Statur und würde sich in diesem Leben nicht mehr ändern.

SIMPLE SAM: Nicht der Hellste, aber eine treue Seele und außerdem ein ziemlicher Schrank.

BLACK BILLY: Black Billy war stolz auf seine Arme, und das zu Recht. Er konnte auch sehr gut mit seinen Fäusten umgehen.

BILLY THE BOY: Ein zwölfjähriger Waisenknabe, von der Göttin berührt. Ein sehr seltsamer junger Mann.

GRIEG: Ein Soldat mit einigen üblen Angewohnheiten.

NIK THE KNIFE: Trotz seines Namens kein schlechter Kerl. Nik war sehr beliebt bei seinen Kameraden.

STEFAN: Ein Soldat – viel mehr lässt sich über Stefan nicht sagen.

BORYS: Ein nachdenklicher älterer Mann, der wenig redete. Er konnte sich sehr leise bewegen, wenn er wollte.

ERIK: Er war gut im Nahkampf, der Erik.

Drei weitere Kerle, deren Namen hier nicht verzeichnet sind.

Jochans Trupp

WILL DAS WEIB: Den Namen haben wir ihm verpasst, weil er jedes Mal flennt, wenn er einen Mann getötet hat. Inzwischen hat er aber so viele Männer getötet, dass es nicht mehr witzig ist.

HARI: Als Soldat kein großes Talent, aber anderweitig begabt.

MIKA: Er konnte selbständig denken, der Mika, was man von manchen der anderen Jungs nicht unbedingt behaupten konnte.

CUTTER: Ein Berufsmörder mit rätselhafter Vergangenheit.

GANNA: Ein Scheißkerl.

Ihre Freunde, Bekannten und Feinde in Ellinburg

GOUVERNEUR HAUER: Der Gouverneur der Stadt Ellinburg. Pflegte einen frugalen Lebenswandel – oder wollte zumindest den Eindruck erwecken. Sprach oft übermäßig dem Wein zu.

HAUPTMANN ROGAN: Der Leiter der Stadtwache. Ein harter Hund, der vor keiner Gewalttat zurückschreckte, aber er war auch gierig und hatte seine Laster.

AILSA: Eine alarianische Schankmagd. Unter anderem.

ROSIE: Eine Hure mit einem Herzen voller Geheimnisse.

DOC CORDIN: Ein Barbier und Wundarzt, der allerdings als Wundarzt mehr auf dem Kasten hatte.

DIE MUTTER OBERIN: Die Leiterin des Klosters der Mutter der seligen Erlösung. Verstand keinen Spaß.

SCHWESTER JESSICA: Eine Nonne des Klosters. Konnte gut mit Hellebarden umgehen.

DER ALTE KURT: Die Leute nannten den alten Kurt einen weisen Mann, und das hatte mehrere Bedeutungen.

ERNST: Ein Barbier.

PAWL: Ein Schneider.

GEORG: Ein Bäcker.

DESH: Ein junger Alarianer aus der Hull Patcher’s Row, der schon als kleiner Junge ein Pious Man werden wollte.

HAUPTMANN LARN: Ein Berufsoffizier, der einem mordsmäßig auf den Sack gehen konnte.

MA ADITI: Ein feindliche Banditin, die Anführerin der Gutcutter aus Wheels.

GREGOR: Ein Bandit, der zu Ma Aditis Linker saß.

BLOODHANDS: Ein sehr furchteinflößender Mann.

Teil Eins

Eins

Nach dem Krieg kehrten wir heim.

Fünfundsechzigtausend an Schlachtenkoller leidende Berufstotschläger kamen in ihre Heimat zurück, wo es keine Arbeit und nichts zu beißen gab und die Pest wütete. Was hatte Ihre Majestät eigentlich gedacht, wie das ausgehen würde?

»Trinkt, Jungs!«, rief ich. »Das geht ab jetzt aufs Haus!«

»Jawoll!«, erwiderte Bloody Anne, warf den Wirt zur Tür hinaus und sperrte hinter ihm ab.

Er hatte Silber verlangt für Fraß und Bier, das zusammen kaum ein halbes Kupferstück wert war. Das war keine Art, die heimkehrenden Helden zu empfangen, fand ich, und Anne sah das anscheinend genauso. Sie hatte ihm seine Mühe mit ein paar saftigen Tritten vergolten.

»So, das wäre erledigt«, sagte sie.

Bloody Anne war meine Sergeantin. Sie hatte kürzeres Haar als ich und eine schartige Narbe die linke Wange hinab, vom Augenwinkel bis zum Kiefer, die ihrem Mund einen ewig leicht spöttisch-höhnischen Ausdruck verlieh. Mit Bloody Anne legte sich so schnell keiner an, es sei denn, er wusste wirklich nicht, was gut für ihn war.

»Willst du auch?«, fragte ich und hielt ihr einen Humpen hin.

»Was dachtest du denn?«

Sie hatte eine Reibeisenstimme, die sie dem Pulverdampf und dem jahrelangen Befehlebrüllen verdankte. Auch noch so viel Gerstensaft hätte diese Stimme nicht wieder sanft gespült. Wir setzten uns gemeinsam an einen Tisch, und sie nahm ihren Krug und leerte ihn in einem Zug zur Hälfte.

Einige meiner Leute zapften ein frisches Fass an, und andere zerrten indessen die Wirtstochter eine grob gezimmerte Holztreppe hinauf. Kant griente von dort oben zu mir herab, eine Hand schon unter dem Rock des Mädchens. Ich schüttelte den Kopf, um es ihm zu untersagen. Vergewaltigen, das gibt’s bei mir nicht, und meinem Trupp würde ich so etwas keinesfalls gestatten.

Ich bin ja schließlich Priester.

Über Annes Schulter hinweg sah ich, dass Kant mich nicht beachtete und das Mädchen zum Treppenabsatz und damit außer Sicht zerrte. So waren sie, die Zeiten, in denen wir lebten.

Dennoch gab es Grenzen.

Ich stand auf und stieß den Tisch beiseite, und das warme Bier aus den Humpen schwappte auf den mit Sägemehl bestreuten Boden.

»He!«, murrte Anne.

»Kant!«, rief ich.

Er reckte den Kopf unter der Treppenwölbung hervor.

»Was?«

»Lass die Kleine los!«

»Sehr witzig, Chef.«

Er grinste, was seine scheißefarbenen Zähne gut zur Geltung brachte.

Bloody Anne drehte sich um und sah, was vor sich ging.

»Das reicht, Korporal!«, knurrte sie, aber er überhörte auch das.

Dass er glaubte, Anne derart ignorieren zu können, machte mich wütend. Sie war Sergeantin und er nur Korporal – auch wenn diese Dinge keine große Rolle mehr spielten. Kant war einen Kopf größer als ich und gut dreißig Pfund schwerer, aber das war mir egal. Darauf kam es nicht an, das wusste ich, und vor allem war das auch Kant klar. In mir schlummerte ein Dämon, das wusste mein ganzer Trupp nur zu gut.

»Lass sie los«, sagte ich noch einmal, in dem ausdruckslosen Ton, der ein strenges Strafgericht ankündigt.

»Das soll doch wohl ein Scherz sein«, erwiderte Kant, klang nun aber schon etwas unsicher.

»Komm her, Kant!«, sagte ich. »Und du auch, Brak!«

Schlagartig herrschte ängstliches Schweigen im Raum, und man hörte den Frühlingsregen an die geschlossenen Fensterläden wehen. Das Kaminfeuer knisterte qualmend vor sich hin. Kant und sein Möchtegernspießgeselle kamen die Treppe herab und ließen das Mädchen, das in sich zusammengesunken weinte, oben auf dem Absatz zurück. Sie war höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt, nicht mal halb so alt wie ich.

Ich spürte die Blicke von Anne und meinem restlichen Trupp auf mir. Die Männer setzten Bierkrüge und Flaschen ab, um zuzusehen. Sogar der dicke Luka ließ den Humpen sinken, und um den vom Saufen abzubringen, musste schon einiges geschehen. Meine Leute wussten, dass etwas Unrechtes getan worden war, und wenn in meinen Augen etwas Unrechtes getan worden war, folgte das strenge Strafgericht auf dem Fuße.

Bloody Anne warf mir einen argwöhnischen Blick zu. Sir Eland, der falsche Ritter, stand wie gewöhnlich einfach nur da und grinste spöttisch in die Runde, aber auch er merkte jetzt auf. Billy the Boy war schon halb betrunken, doch da er erst zwölf Jahre alt war, konnte man ihm ja nicht verdenken, dass er nichts vertrug. Grieg, Cookpot, Black Billy und die anderen schauten einfach nur zu.

Ich sah Kant in die Augen und zeigte auf eine Stelle vor mir auf dem Boden.

»Komm her«, sagte ich. »Sofort.«

Ein Holzscheit knackte im Kamin, und Simple Sam zuckte zusammen. Kant funkelte mich wütend an, kam aber herbei, und Brak folgte in seinem Kielwasser wie das Beiboot einer Kriegsgaleone.

»Hättest du gerne jemanden zum Ficken, Kant?«, fragte ich.

Kant war größer als ich, ein hässlicher Hüne. Kant, die Kackbratze, wurde er im Trupp genannt, aber nur hinter seinem Rücken und vorgehaltener Hand. Das Kettenhemd und das Lederwams darunter spannten sich über seiner breiten Brust. Die Narben auf seinem Gesicht traten nun, da er wütend auf mich war, fahl und rot hervor. Ich dachte daran, wie er sich diese Narben in Abingon verdient hatte, als er sich beim Fall der Festung einen Weg durch die Bresche in der Westmauer gebahnt hatte. Kant hatte mit seiner Einheit einen ganzen Leichenberg hinter sich gelassen und den auflauernden Bogenschützen tapfer getrotzt. Dafür hatte er einen Pfeil in die Wange kassiert. Er hatte dennoch weitergekämpft, Blut und Zähne spuckend, hatte mit seinem Streitkolben Köpfe, Schultern und Gemächte zerschmettert, hatte niedergeknüppelt und zermalmt und sich den Weg freigeprügelt. Nackte Gewalt – damit bahnte sich Kackbratze Kant seinen Weg durch die Welt.

Kant war ein Kriegsheld.

Aber das war ich auch.

»Klar will ich wen zum Ficken«, erwiderte er. »Wer will das nicht?«

»Du willst also ficken, Kant?«, fragte ich noch einmal, nun aber in sanftem Ton und mit leiser Stimme.

Meine Leute waren lange genug bei mir, um zu wissen, was dieser Tonfall zu bedeuten hatte. Er bedeutete, dass der Dämon in mir erwacht war und nur allzu bald ein strenges Strafgericht erfolgen würde. Kants Besoffenheit – nicht vom Schnaps, sondern von seiner Macht über das Mädchen – hatte jedoch zur Folge, dass er das nicht mitbekam. Diesmal nicht.

»Ja, verdammt nochmal!«, sagte er.

Ich mochte Kant nicht. Ehrlich gesagt hatte ich ihn nie gemocht, aber er war nun mal ein guter Soldat. In Abingon hatte ich gute Soldaten gebraucht. Jetzt brauchte ich gute Männer, und das ist weiß Göttin nicht immer das Gleiche.

»Komm her«, sagte ich noch mal. »Wenn du ficken willst, dann komm her und fick mich.«

Ich sah ihm unverwandt in die Augen. Unter anderen Umständen hätte ich ihm das glatt zugetraut. Wenn ich ein anderer gewesen wäre, irgendein Bauernjunge beispielsweise, wäre Kant, glaube ich, nicht allzu wählerisch gewesen. Für ihn war ein Loch ein Loch, und wenn er seinen Schwanz hineinstecken konnte, war er zufrieden.

»Tomas …«, begann Anne, aber dafür war es schon zu spät, und ich glaube, sie wusste das auch.

Die Klageweiber hingen schwer an meinen Hüften. Sie waren ein aufeinander abgestimmtes Paar schön geschmiedeter Kurzschwerter, die ich nach der letzten Schlacht bei Abingon einem gefallenen Oberst abgenommen hatte. Ich hatte sie »Erbarmen« und »Gnade« getauft.

Meine Leute wussten nur zu gut, was die Klageweiber in meinen Händen anrichten konnten.

»Man soll Mädchen keine Gewalt antun, das gehört sich nicht«, sagte Black Billy und stupste seinen Nebenmann an. »Nicht wahr, Grieg?«

Grieg gab als Antwort nur ein Grunzen von sich. Er war kein Mann der vielen Worte, der Grieg.

»Gütige Göttin …«, murmelte Brak und scharrte mit einem Fuß in dem bierfeuchten Sägemehl auf dem Boden, während Kant mich weiter wortlos anstarrte. »Wir wollten uns doch bloß ein bisschen vergnügen.«

»Sieht sie etwa so aus, als wäre das ein Vergnügen für sie?«, fragte ich.

Kant sah, dass ich auf das Mädchen zeigte, sah, dass mein Blick und meine Hand sich von ihm fort bewegten, und nutzte den Moment. Das hatte ich geahnt, sosehr ich auch gehofft hatte, er wäre vernünftiger. Er war schnell, der Kant, und brutal, aber sonderlich clever war er nicht.

Er stürzte auf mich zu, ein langes Messer in der Faust. Ich wich aus, wirbelte herum, zog Erbarmen aus der Scheide und schlitzte Kant mit einem Rückhandhieb die Kehle auf. Ein schäumender roter Schwall schoss hervor, und Kant ging mit einem gurgelnden Fluch zu Boden.

Ich spürte, dass Billy the Boy mich ansah.

»Geschieht ihm recht«, meinte er mit seiner Knabenstimme und leerte seinen Krug.

»Scheiße«, sagte Brak.

»Ihr habt es so gewollt, Brak«, sagte ich. »Und das Angebot steht noch. Mein Arsch – wenn du es schaffst, ihn dir zu nehmen.«

Er sah mich an, dann zu Kant hinab, der auf dem Boden verblutete, dann zu dem triefenden Stahl in meiner Hand und schüttelte schließlich den Kopf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Brak war Kants rechte Hand, aber er war gerade mal zwanzig Jahre alt und nur mutig, wenn er den großen Kerl bei sich hatte.

»Nee«, sagte er. »Bin nicht mehr in Stimmung.«

»Das dachte ich mir«, sagte ich.

Ich fragte mich, wo sich Brak nun in der Hackordnung meines Trupps wiederfand. Aber ehrlich gesagt war es mir egal. Das war Braks Sorge, nicht meine. Meine Sorge bestand darin, der Chef zu bleiben. Wie die anderen ihre Hierarchie sortierten, blieb ihnen überlassen.

Fragen des Rangs und der Befehlskette waren nach Abingon vor die Hunde gegangen, aber weil ich der Geistliche der Kompanie war, übernahm ich, nachdem der Hauptmann auf dem Heimweg seinen Verletzungen erlegen war, die Führung des Trupps. Außerdem hatte ich, im Gegensatz zu den anderen, Führungserfahrung.

Simple Sam stand eine Weile da und sah zu Kant hinab. Schließlich verpasste er ihm einen ordentlichen Tritt, wie um sicherzugehen, dass er auch wirklich tot war.

Er war es.

»Was wird denn bloß der Oberst dazu sagen, Mister Piety?«, fragte Sam.

»Wir haben keinen Oberst mehr, Sam«, erwiderte ich. »Weißt du nicht mehr? Wir sind entlassen.«

»Entlassen? Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass sie uns keinen Sold mehr zahlen«, grummelte Anne.

Da hatte sie recht. Unser Regiment, das aus dreitausend besoldeten organisierten Totschlägern bestanden hatte, bestand nun aus dreitausend unbesoldeten unorganisierten Totschlägern.

Und das war ungefähr so gut gelaufen, wie zu erwarten war.

»So ein Mist«, murmelte Sam, und um uns zu zeigen, was er davon hielt, versetzte er Kant einen weiteren Tritt.

Was aus unserem Oberst geworden war, wusste allein unsere liebe Frau, wir anderen aber waren zusammengeblieben, größtenteils aus Gewohnheit, als loser Haufen einzelner Trupps. Fast dreitausend Mann kampierten nun in und außerhalb dieser Stadt, keiner aber hatte mehr das Kommando. Nein, man würde mich nicht vors Kriegsgericht stellen, weil ich Kant getötet hatte. Diese Zeiten waren vorbei.

Ich sah kurz zu ihm hinab und dankte unserer lieben Frau vom immerwährenden Leid für meinen Sieg. Sie hatte mir nicht die Hand geführt, das war mir klar. Unsere liebe Frau hilft einem nicht. Niemals. Sie erhört keine Gebete, erweist keine Gnade und verhilft keinem Manne zu irgendwas, so inständig er auch darum bittet. Das Höchste, was man sich von ihr erhoffen kann, ist, dass sie einen am heutigen Tag am Leben lässt. Morgen beißt man womöglich ins Gras, aber immerhin heute nicht. Mehr ist da nicht zu wollen, und alles Weitere bleibt einem selbst überlassen.

Sie war eine Göttin für Soldaten, da gab es kein Vertun.

»Gut gemacht«, flüsterte mir Sir Eland, der falsche Ritter, ins Ohr. »Fürs Erste hast du dich behaupten können.«

Er war ein hinterhältiger Dreckskerl, der Sir Eland. Ich hatte ihn erst bemerkt, als ich seinen Atem im Nacken spürte. Mit betont ausdrucksloser Miene sah ich mich zu ihm um. Sir Eland war der Favorit unseres Hauptmanns gewesen – dieser Mann, der sich als Ritter ausgab. Er war nichts dergleichen, das wusste ich. Er war weiter nichts als ein ganz gewöhnlicher Halunke, der sich ein Schlachtross und genug schlecht sitzende Rüstung zusammengestohlen hatte, um mit diesem Schwindel durchzukommen. Er war ungefähr so adelig wie mein Morgenschiss. Dennoch war er gefährlich, und man musste ihn im Auge behalten.

»Sir Eland«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Wie überaus erfreulich, dass Ihr mir Euren Beistand gewährt.«

Ehe er etwas erwidern konnte, wandte ich mich ab. Dann spürte ich seinen Blick auf meinem Rücken, wie er mir durch das schwarze Priestergewand, das Kettenhemd, das Lederwams und das Leinenhemd bis ins Herz drang. O ja, Sir Eland, der falsche Ritter, würde mir bei der erstbesten Gelegenheit in den Rücken fallen. Es war an mir, ihm diese Gelegenheit nicht zu bieten. So war das, wenn man der Anführer solcher Männer war.

Immerhin hasste Anne ihn genauso wie ich. Sie würde mir den Rücken freihalten, da war ich mir sicher. Ich ging zu dem Tisch, an dem Billy the Boy saß. Kant lag immer noch auf dem Boden, und rings um ihn her breitete sich eine Blutlache aus, aber niemand schien es eilig zu haben, ihn fortzuschaffen. Ich ließ mich Billy gegenüber an dem ramponierten Tisch nieder und nickte ihm zu.

Er hob den Blick, und das Licht glitt über die glatten Konturen seines Gesichts, das noch von keinem Rasiermesser berührt worden war. Zögerlich zeigte sich ein Lächeln auf seinen feuchten jungen Lippen.

»Sprich, im Namen unserer lieben Frau«, sagte er.

»Ich habe Kant getötet«, beichtete ich leise.

»Seine Zeit, über den Fluss zu gehen, war gekommen«, sagte Billy. »Unsere liebe Frau weiß, dass Kant getötet werden musste, und sie vergibt dir. Im Namen unserer lieben Frau.«

Da war was dran. Kant würde keinem fehlen, so viel war mal klar.

Billy war zwar erst zwölf Jahre alt, trug aber Rüstung und Kurzschwert wie ein Mann. Und er war mein Beichtvater, so befremdlich das auch erscheinen mag. Ich neigte das Haupt vor dem Kind.

»Im Namen unserer lieben Frau«, sprach ich ihm nach.

Billy the Boy strich mir die Kapuze aus dem Gesicht und legte mir eine Hand auf die Stirn. Ich weiß, es sah lächerlich aus, wie ich mir von diesem Kind die Beichte abnehmen ließ. Ich war ja schließlich hier der Priester, nicht er. Aber Billy war jemand Besonderes. Billy war von unserer lieben Frau berührt worden, und alle dort wussten das. Das war der einzige Grund, weshalb der Trupp einen Jungen wie ihn in Ruhe ließ. Ich dachte an die Zeit zurück, als Billy zu uns gestoßen war, als Flüchtlingswaise nach der Plünderung von Messia. Das Regiment warb damals Rekruten an, um die Verluste auszugleichen, und Billy war trotz seiner Jugend genommen worden.

Sir Eland hatte sofort Gefallen an ihm gefunden. Er mochte Jungs, der Sir Eland. Eines Nachts hatte er versucht, unter Billys Decke zu schlüpfen, um sich ihn zu Willen zu machen. Bis heute weiß ich nicht, was damals eigentlich geschehen war, und Sir Eland würde das Thema ganz gewiss niemals ansprechen. Ich erinnere mich nur noch an ein Lagerfeuer am Wegesrand. Ich hatte gerade Wache, und der Rest der Leute schlief, in Decken gehüllt, so nah am Feuer, wie es eben ging. Dann gellte mit einem Mal ein schriller Schrei durch die Dunkelheit.

Es war jedoch nicht Billy, der da schrie, sondern Sir Eland. Was auch immer er mit Billy vorgehabt hatte – und ich denke mal, das geht mich weiter nichts an –, seine Zuwendung war nicht erwünscht gewesen. Billy hatte … irgendwas getan, und damit hatte es sich. Auf diese Weise rüttelte sich die Hackordnung zurecht, und anschließend war keiner mehr darauf zu sprechen gekommen. Der Trupp hatte sich darauf eingestellt, und seither war Billy the Boy einer von uns.

Er, der von der Göttin berührt worden war.

»Danke, Billy«, sagte ich.

Er zuckte nur die Achseln. So leicht wurde man hier von seinen Sünden freigesprochen. Billys braune Augen blickten vollkommen ausdruckslos, und unsere liebe Frau allein wusste, was in seinem Kopf vor sich ging.

Ich stand auf und schaute mich zum Rest meines Trupps um. Sie tranken und lachten und fluchten schon wieder, würfelten und stopften sich mit dem, was Cookpot in der Küche gefunden hatte, die Mäuler voll. Das Mädchen war inzwischen weggelaufen, und das fand ich klug von ihr. Simple Sam reiherte lautstark in eine Ecke. Alles war in bester Ordnung.

Bis mehrere bewaffnete Männer die Tür eintraten.

»Scheiße!«, brüllte Brak.

Das war eindeutig sein Lieblingswort.

Ich setzte mich still hin und sah den Neuankömmlingen entgegen, während mein Trupp rings um mich her blankzog. Ich kannte den Anführer der anderen, hatte aber nicht damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen. Ich ließ beide Hände vor mir auf der Tischplatte ruhen, ein gutes Stück von den Griffen der Klageweiber entfernt.

Sechs Männer drängten herein, und hinter ihnen peitschte der Regen in die Schankstube. Der Anführer schob sich die Kapuze seines triefnassen Umhangs aus dem Gesicht und sah mich mit irrem Grinsen an.

»Heiliges Nonnenfötzchen …«, sagte er. »Tomas Piety!«

Ich stand vom Tisch auf.

»Bruder«, sagte ich.

Zwei

Jochan, mein Bruder, guckte sich um und lachte lauthals los. Er war vier Jahre jünger als ich, aber größer und schlanker, hatte wüstes Haar und auf seinem spitzen Kinn einen Dreitagebart.

»Ein Priester?«, sagte er mit Blick auf mein Gewand. »Wie geht es an, dass du jetzt ein verkackter Priester bist? Wenn ich hier der Richter wäre, würde ich sagen, die Hälfte deiner Leute ist stinkbesoffen, und einen hast du gerade eigenhändig abgestochen.«

Der Barmherzigkeit unserer lieben Frau sei Dank, dass Jochan kein Richter war. Dennoch musste ich zugeben, dass er diesmal recht hatte. Ich schenkte ihm ein Lächeln, das nicht von Herzen kam.

»So sind sie, die Zeiten, in denen wir leben«, meinte ich.

»Worauf du einen lassen kannst«, erwiderte er und wandte sich an seinen Trupp. »Männer, das ist mein großer Bruder Tomas. Ich hab ihn seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen, und jetzt ist er anscheinend ein gottverdammter Pfaffe. Aber er ist trotzdem in Ordnung. Seine Jungs haben bestimmt nichts dagegen, mit uns zu teilen, nicht wahr?«

Das richtete sich offenkundig an mich. Ich zuckte die Achseln.

»Nur zu, bedient euch«, sagte ich. »Es ist ja nicht so, dass wir dafür bezahlt hätten.«

Falls meine Leute die Anspannung zwischen meinem Bruder und mir mitkriegten, waren sie so klug, sich nichts anmerken zu lassen.

Jochans Männer zapften sich Bier und nahmen sich etwas zu essen, und er ließ sich an Bloody Annes und meinem Tisch nieder. Ich kannte keinen seiner Leute. Jochan und ich waren in verschiedenen Regimentern gelandet, und ich konnte nur annehmen, dass er sich mit seiner Handvoll Männer aus dem Kriegsgebiet hierher durchgeschlagen hatte.

»He!«, brüllte er. »Weib! Bring uns Bier!«

Anne guckte ihn böse an, aber sie war nicht gemeint.

Einer seiner Männer brachte uns eine frische Runde und ging dann wieder zu den anderen zurück. Er sah genauso ungehobelt aus wie sie alle und hatte nichts auch nur entfernt Weibliches an sich, fand ich.

»Weib?«, frage ich Jochan stirnrunzelnd.

»Ja, das ist Will das Weib«, sagte er. »Den Namen haben wir ihm verpasst, weil er jedes Mal flennt, wenn er einen Mann getötet hat. Inzwischen hat er aber so viele Männer getötet, dass es nicht mehr witzig ist, aber du weißt ja, so einen Spitznamen wird man schwer wieder los.«

Ja, das wusste ich.

»Dann muss er in Abingon viele Tränen vergossen haben«, meinte Anne.

»Ja«, sagte Jochan und verstummte.

Uns Brüder verband nicht allzu viel, nun aber immerhin der Krieg. Der Krieg und die Erinnerung an die alte Heimat und an Dinge aus unserer Kindheit, die lange zurücklagen und die man am liebsten vergessen hätte. Wir waren uns überhaupt nicht ähnlich, Jochan und ich. Waren es nie gewesen. Vor dem Krieg hatten wir zusammen gearbeitet, aber als Freunde hätte ich uns niemals bezeichnet. Meine Tante hatte immer zu mir gesagt, ich hätte zu wenig Gefühl, und meiner Meinung nach hatte Jochan zu viel davon. Vielleicht hätten wir zusammengenommen einen ausgeglichen Menschen ergeben. Aber was weiß ich. Das war wohl eher eine philosophische Frage, und für Philosophie war jetzt wirklich nicht die Zeit.

Ich sah meinem Bruder über den Tisch hinweg in die Augen, und da wurde mir klar, was der Krieg mit ihm gemacht hatte. Jochan war immer schon kaum zu bändigen gewesen, jetzt aber hatte sein Blick etwas geradezu Wildes, Barbarisches an sich, das er früher nicht gehabt hatte. Ich konnte auf seinen Pupillen förmlich die Kanonenblitze sehen, und Staubwolken von einstürzenden Mauern trieben über das Weiß seiner Augen, bis zu den Augenrändern, die so rot waren wie die Ströme von Blut, durch die wir gewatet waren. Die Reste von klarem Verstand, die Jochan vor dem Krieg noch besessen hatte, hatte er im Staub von Abingon zurückgelassen.

»Bruder«, sagte ich und streckte ihm über die grobe Tischplatte hinweg eine Hand entgegen.

Jochan sprang auf und leerte seinen Krug in einem einzigen langen, zittrigen Zug, wobei ihm ein Gutteil des Biers über die Brust seines rostigen Kettenhemds lief. Dann drehte er sich um und schleuderte das leere Gefäß ins Kaminfeuer.

»Und was jetzt?«, brüllte er. »Was machen die glorreichen Piety-Boys jetzt, nachdem wir am Rande der Hölle wieder vereint sind?«

Er sprang auf den Tisch und trat meinen Krug beiseite, wodurch er Kants abkühlenden Leichnam achtlos mit Bier bespritzte. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn für betrunken gehalten, ich aber wusste, dass Jochan nicht betrunken war. Jedenfalls noch nicht. Jochan war Jochan, und das hier war einfach seine Art. Er war nie ganz richtig im Kopf gewesen.

»Was jetzt?«, brüllte er und drehte sich mit ausgestreckten Armen vor den versammelten Leuten im Kreis.

Sein eigener Trupp war so etwas offenbar gewohnt, wohingegen meine Leute ihn mit einer Mischung aus Argwohn und mühsam kaschierter Belustigung ansahen. Diese Belustigung sollten sie sich wirklich besser verkneifen, dachte ich. Denn wenn man eines nicht tat, dann über Jochan lachen.

Simple Sam hatte diese Dienstanweisung offenbar nicht mitgekriegt – nicht dass er überhaupt lesen konnte. Er kicherte. Das weckte bei mir Erinnerungen an die Schulstuben unserer gemeinsamen Kindheit. Es erinnerte mich daran, wie einige andere Jungs über Jochan gelacht hatten.

Das hatten sie nur ein Mal getan.

Über Jochan lachte man kein zweites Mal.

Ohne ein Wort, ohne eine Vorwarnung sprang er vom Tisch und stürzte sich auf Simple Sam. Sam war ein großer Kerl, gedanklich und körperlich aber eher langsam, und Jochan erwischte ihn voll mit dem Ellenbogen an der Brust und rammte ihn gegen die Wand. Nur Augenblicke später war Sam schon am Boden, und Jochan drosch auf ihn ein. Seine Faust hob und senkte sich in einem gnadenlosen Rhythmus.

Das konnte ich nicht durchgehen lassen, Bruder hin oder her. Bloody Anne machte Anstalten, sich zu erheben, um einzuschreiten, und ich legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten. Sie war zwar die Sergeantin, aber Jochan war mein Bruder, und deshalb war das meine Angelegenheit, nicht ihre.

»Aufhören!«, sagte ich in jenem bestimmten Tonfall, den sogar Jochan erkannte.

Er wusste, wie ein strenges Strafgericht aussah, und hatte es, als wir jung waren, auch ein- oder zweimal zu spüren bekommen.

Er ließ von Sam ab und drehte sich zu mir um. Blut tropfte ihm von den Knöcheln.

»Aufhören sagst du, du Kriegsheld?«, höhnte er. »Wie sieht denn dein großartiger Plan aus, Tomas?«

Er stellte mich auf die Probe, das war mir klar. Er probierte aus, wie weit er gehen konnte, ohne jenes strenge Strafgericht zu erleiden – mit seinen Männern hinter sich und meinen hinter mir. Gern hätte ich behauptet, dass keinem von uns an einem Blutvergießen gelegen war; ich war mir aber nicht sicher, ob das stimmte. Wir waren den anderen zwar zahlenmäßig um mehr als das Doppelte überlegen, aber ich glaube, Jochan kriegte das überhaupt nicht mit, und wenn doch, kümmerte es ihn nicht. Ich wusste nur, dass ich kein Blutvergießen wollte – jedenfalls nicht jetzt. Keinem wäre damit gedient gewesen.

»Wir kehren heim«, sagte ich. »Mein Trupp und deiner und wer sich uns vom Rest des Regiments sonst noch anschließen will. Wir kehren heim und machen da weiter, wo wir aufgehört haben.«

»Womit willst du denn weitermachen?«, entgegnete Jochan. »Das Land liegt am Boden, Tomas! Die Pest geht um! Die Leute hungern! Es gibt keine Arbeit! Und wir haben diesen Scheißkrieg gewonnen

»Ja, haben wir«, sagte ich. »Wir haben gewonnen, und Tante Enaid hat die Geschäfte der Familie am Laufen gehalten, während wir weg waren.«

»Weg?«, brüllte er mich an. »In der Hölle waren wir! Und als Teufel kommen wir heim, besudelt von dem, was wir gesehen haben!«

Ich sah ihn an, sah die Tränen in seinen irre blickenden Augen.

Jochan war schon immer zu sensibel gewesen – und ich zu wenig. Falls der Krieg mich irgendwie verändert hatte, bemerkte ich kaum etwas davon. Ob ich daheim meine Geschäfte führte oder in Abingon einen Trupp, machte für mich keinen großen Unterschied, bloß dass daheim das Essen besser war und es mehr zu trinken gab. Versöhnlich breitete ich die Hände aus.

»Dein Platz ist an meiner Seite, Jochan«, versicherte ich ihm. »Du bist mein Bruder, und du wirst immer einen Platz an meiner Seite haben. Komm mit mir heim.«

Er spuckte aus reinem Trotz auf den Boden, schniefte dann und guckte auf seine Stiefel hinab.

»Also gut«, sagte er nach kurzem Zögern. »Also gut, Tomas.«

So war er immer schon gewesen, wenn sein Zorn verraucht war, kleinlaut und zerknirscht. Manchmal war ihm dann, wie jetzt auch, sogar zum Heulen zumute. Ich merkte, dass er sich zusammenriss, um nicht vor seinen Männern in Tränen auszubrechen, und das war klug von ihm. Will das Weib kam ja vielleicht damit durch, vor versammelter Mannschaft zu flennen, Jochan aber wohl eher nicht. Jedenfalls nicht, wenn er der Chef dieser Leute bleiben wollte.

Ich sah zu Simple Sam hinüber, der halb bewusstlos vor dem Kamin kauerte. Blut lief ihm aus der gebrochenen Nase, und ein Auge war schon fast zugeschwollen. Anne stand auf und gab ihm einen Lappen, sagte aber keinen Mucks zu dem, was geschehen war. Sam hatte, alles in allem, noch Glück gehabt. Er wäre nicht der erste Mann gewesen, den Jochan mit bloßen Händen erschlagen hatte.

Da waren wir also: die Piety-Boys.

Ich hatte so oder so heimkehren wollen, mit meinem Trupp und weiteren Leuten, die ich aus den Überbleibseln des Regiments rekrutieren wollte. Ich wollte heimkehren und mir zurückholen, was mir gehörte. Jochans Männer würden ihm folgen, da war ich mir sicher, und im Laufe der Zeit würden sie dann meine Männer werden.

Und ich konnte sie wahrscheinlich gut gebrauchen. Tante Enaid hatte die Geschäfte der Familie am Laufen gehalten, hatte ich zu Jochan gesagt. Ich hoffte, dass das stimmte, hätte aber nicht darauf gewettet. Ja, ehrlich gesagt, hätte ich nach dem, was ich von der Heimat bisher gesehen hatte, kein halbes Kupferstück darauf gesetzt. Und wir waren ja immer noch auf dem Land. Die Göttin allein wusste, wie es inzwischen in der Stadt aussah.

»Gut«, sagte ich. »Das freut mich, Jochan. Trink doch noch ein Bier. Es ist genug da.«

Dem war tatsächlich so, und auch das war gut. Es herrschte, wie gesagt, eine Hungersnot, und der Landstrich südlich von dort war komplett ausgeplündert. In diesem Gasthaus jedoch, einem miesen kleinen Landgasthaus in einem miesen kleinen Marktstädtchen, gab es immer noch ein paar Fässer Bier im Keller und ein bisschen zähes Fleisch und Wurzelgemüse in der Küche. Das bedeutete, dass wir dem Haupttross der Kriegsheimkehrer voraus waren, und dafür dankte ich unserer lieben Frau.

Ich ließ mich wieder auf meinem Stuhl nieder und dachte über all das nach, während sich die Kerle um mich her volllaufen ließen. Ein Weilchen später setzte sich Bloody Anne wieder zu mir und stellte uns zwei frische Krüge hin. Sie sah mich an. Anne war nicht so betrunken wie die anderen, vielleicht sogar noch fast nüchtern. Bei ihr war das schwer zu erkennen.

Sie war meine rechte Hand, so sah ich das jedenfalls, auch wenn Sir Eland glaubte, dass ihm diese Rolle zustand. Wie weit ich Anne trauen konnte, wusste ich nicht so recht, aber dass ich Sir Eland überhaupt nicht trauen konnte, war mir klar. Auf dem Schlachtfeld hätte ich Anne jederzeit mein Leben anvertraut und hatte das tatsächlich auch oft getan, und ich war froh, sie als meine Freundin bezeichnen zu können. Jetzt aber, wo wir fast schon zu Hause waren und die Geschäfte riefen, sah die Sache möglicherweise ein wenig anders aus.

»Trink doch was, Chef«, sagte sie.

Sie schob mir einen der Krüge hin. Ich nickte und trank höflichkeitshalber einen Schluck, obwohl mir nicht danach war.

»Hast du mitgekriegt, wie diese Stadt hier heißt?«, fragte ich sie.

Sie zuckte die Achseln. »Irgendwas mit Ford«, sagte sie. »Harrow’s Ford? Herron’s Ford? Irgend so was.«

»Kommt dir an diesem Ort irgendwas seltsam vor?«

Wieder zuckte sie die Achseln. »Es ist eine kleine Marktstadt«, sagte sie. »Die sind doch alle gleich.«

Ja, die waren tatsächlich alle gleich: Niedergebrannt oder ausgehungert oder die ganze Einwohnerschaft an der Pest verreckt – so hatte jede einzelne Marktstadt ausgesehen, die wir auf unserem langen Marsch in die Heimat passiert hatten. Nur die hier nicht.

»Dieser Ort ist anders«, sagte ich. »Er ist nicht tot.«

»Kann nicht mehr lange dauern«, erwiderte sie. »Da draußen sind dreitausend hungrige Mäuler.«

Da hatte sie recht, das musste ich zugeben.

So waren sie, die Zeiten, in denen wir lebten.

Da sollte man das Beste draus machen, solange es noch ging.

Drei

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, ruhte mein Gesicht auf meinen verschränkten Armen auf dem Tisch, ich war völlig steif, alles Mögliche tat mir weh, und mir dröhnte der Kopf. Ich richtete mich auf und schluckte Speichel, der nach schalem Bier schmeckte. Meine Leute lagen noch da, wo sie am Vorabend aus den Stiefeln gekippt waren – außer Bloody Anne. Die saß neben der Tür, reinigte sich mit der Dolchspitze die Fingernägel und hielt offensichtlich Wache. Sie war eine gute Soldatin, die Anne.

Gut, dass wir sie hatten.

»Morgen, Chef«, sagte sie.

Ich nickte ihr zu, stand auf und ging zur Hintertür hinaus, um eine Stange Wasser wegzustellen. Die Küche war geplündert worden, das sah ich jetzt. Alle Schränke waren aufgerissen und kein Krümelchen mehr übrig. Cookpot verstand was davon, wie man einen Ort gründlich nach Essbarem durchsuchte, das musste ich ihm lassen.

Dann stand ich auf dem schlammigen Hof hinter dem Gasthaus und pisste in den nieseligen Morgenregen. Es war kalt, und alles um mich her schien die Farbe von frischer Scheiße angenommen zu haben. Dieses Städtchen war ja vielleicht noch nicht tot, aber wie ich jetzt sah, war es bis dahin wirklich nicht mehr weit, und die Ankunft unseres Regiments würde die Sache sicherlich beschleunigen. Ich sah zu dem wolkenverhangenen Himmel hoch und schätzte, dass es gut eine Stunde nach Morgengrauen war.

Nachdem ich mir die Hose wieder zugeschnürt hatte, lehnte ich mich noch ein wenig an die Tür, um nachzudenken. Wir waren noch drei oder vier Tagesmärsche von Ellinburg entfernt. Das Regiment würde sich hier in diesem Städtchen auflösen, das wusste ich. Es war eine landwirtschaftliche Gegend, und die meisten Kameraden waren Bauern, die Land und Frauen und Schweine und Schafe hatten, zu denen sie zurückkehren wollten. Und wenn sie Glück hatten, war von all dem sogar noch was übrig.

Jochan und ich, wir waren Stadtjungs, ebenso wie der dicke Luka und Cookpot. Wir vier waren zusammen aufgewachsen, hatten auch zusammen die Schulbank gedrückt. Jochan und Luka wussten, worin meine Geschäfte bestanden, und vor dem Krieg hatte Luka sogar hin und wieder mal bei uns ausgeholfen. Er war ein guter Mann, auch wenn’s hart auf hart kam. Obwohl er dick war, hatte er Bärenkräfte und konnte gut kämpfen. Das konnte Cookpot nicht die Bohne, aber dafür war er ein fähiger Dieb und Koch. In einem Regiment, in dem fast jeder kämpfen und fast keiner kochen konnte, machte ihn das ausgesprochen nützlich. Ich war froh gewesen, ihn in unserer Kompanie zu haben, und jetzt war ich froh, dass er in meinem Trupp dabei war.

Ich fragte mich, wie die anderen wohl in der Stadt zurechtkommen würden – Sir Eland und Brak und Stefan, Bloody Anne und Borys und Nik the Knife et cetera. Sir Eland behauptete ja, er wäre schon mal in Dannsburg gewesen, sogar am Hof, aber das war ungefähr so glaubwürdig, wie dass er ein echter Ritter war. Dort am Hof residierte die Königin, ebenjene Königin, für die wir durch die Hölle gegangen waren, und Gestalten wie Sir Eland würde man dort nicht dulden.

Ich wusste nicht mal, wie die Königin aussah.

Dennoch hatte Sir Eland oft Geschichten davon erzählt, die man, wenn man dumm und betrunken genug war, beinahe zur Hälfte glauben konnte, und daher nahm ich an, dass er irgendwann mal tatsächlich in einer richtigen Stadt gewesen war.

Aber nicht in Ellinburg. Da war er nie gewesen. Sein Akzent deutete auf den Süden oder den Westen hin, und wir waren jetzt seit Wochen schon schnurstracks nach Norden marschiert. Der Norden war unsere Heimat, fernab der Grenze. Fernab des Kriegs. Dort war unser Regiment aufgestellt worden, inmitten der kalten, feuchten Berge, und dort würde es sich wieder auflösen. Ich hatte keine Ahnung, was mit all diesen Kerlen geschehen würde. Denen, die glaubten, wieder an ihr altes Leben anknüpfen zu können, stand, soweit ich das beurteilen konnte, eine böse Überraschung bevor. Sie würden feststellen müssen, dass ihre Frauen inzwischen verhungert oder an der Pest krepiert waren oder sich mit dem Erstbesten, der ihnen was zu beißen bieten konnte, aus dem Staub gemacht hatten. Ihre Schafe waren wahrscheinlich geschändet, ihre Schweine aufgefressen, ihr Land niedergebrannt.

So waren sie, die Zeiten, in denen wir lebten.

Wir hatten den Krieg gewonnen – aber um welchen Preis? Die Königin hatte dafür das ganze Land an den Bettelstab gebracht, der Handel war zum Erliegen gekommen, dann hatte auch noch das Wetter verrücktgespielt, und die Ernten waren verdorben, und schließlich kam die Pest. Wäre man abergläubisch gewesen, dann hätte man da wahrscheinlich Zusammenhänge gesehen, doch davon verstand ich nichts. Ich war Priester, kein Mystiker, und unsere liebe Frau gab grundsätzlich keine Antworten.

Ich schob meine Kapuze nach hinten und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, ließ es vom Regen benetzen. Es war ein schönes Gefühl, einfach nur dazustehen, die frische Morgenluft einzuatmen, die Regentropfen auf dem Gesicht zu spüren und zu hören, wie sie in die Pfützen plätscherten. Ich erinnerte mich noch genau an Tage voller Staub, an quälenden Durst, an das Donnern der Kanonen und den beißenden Qualm des Schwarzpulvers.

Der Regen auf meiner Haut fühlte sich gut an, rein und frisch. In Abingon war nichts rein und frisch gewesen, da hatte es nur Feuer und Staub und Scheiße und Tod gegeben, nur Männer, die an Wunden oder Verbrennungen oder der roten Ruhr starben. Was hätten wir dort gegeben für einen kühlen Regen …

Ich spürte eine Berührung an der Schulter und fuhr herum, ehe ich wusste, was ich tat. Erbarmen blitzte aus der Scheide auf, und schon hielt ich Stahl an Haut. Ich hatte Jochan meine Klinge an die Gurgel gelegt und merkte erst jetzt, dass er es war. Er starrte mich nur an, und in seinen gequält blickenden Augen spiegelte sich das Feuer meiner Erinnerung.

Ich stand einen Moment lang da, mit pochendem Herzen und meinem Schwert an der Kehle meines Bruders. Dann wieherte fernab auf einer anderen Straße ein Pferd und brach damit den Bann. Ich steckte das Schwert wieder weg und zog mir die Kapuze über das feuchte Haar.

»Was ist?«, fragte ich.

Jochan schüttelte den Kopf. Schweigend ging er an mir vorbei auf den Hof hinaus, wo der Regen nun kräftiger fiel. Dann schlug er im Freien sein Wasser ab, weder auf das Wetter noch auf sonst etwas achtend.

»Nach Hause«, sagte er, als er fertig war. Er schnürte sich die Hose zu und sah mich an, und das regennasse Haar klebte ihm wirr am Kopf. »Dann gehen wir also nach Hause. Tante Enaid hat die Geschäfte am Laufen gehalten?«

Ich zuckte die Achseln. »Das hat sie mir damals versprochen«, sagte ich. »Wir werden’s ja sehen, nicht wahr? Wenn wir heimkommen. Du und ich, Jochan, und dein Trupp und meiner.«

»Und was ist, wenn sie nicht Wort gehalten hat?«

Ich sah ihn an.