Gott ist kein Gentleman

Gott ist kein Gentleman

Lotte Ingrisch

Seifert Verlag

Inhalt

1. Die tote Schwester

2. Lebt der Tote?

3. Isis

4. Die doppelte Lotte

5. Ein SOS mit Folgen

6. Der verlorene Zwilling

7. Besetzt und besessen

8. Die Lebende in der Urne

9. Russland im Mutterbauch

10. Reiseführer ins Diesseits

11. Der weiße und der schwarze Zwilling

12. Wenn ich nicht ­Charlotte wäre …

13. Walter Thirring

14. Hat Gott einen Zwilling?

15. Hat der Kosmos einen Zwilling?

16. Wie groß ist eine Seele?

17. Isis und Karl

18. Tod und Auferstehung

19. Wenn die Grenzen fallen

20. Wir gehen an, wir gehen aus

21. Gott und die Götter

22. Verschränkt in der ­Zeitlosigkeit?

23. Stimmen der Götter

24. Als Gott in uns verstummte

25. Stimmen der Toten

26. Die Gäste meines Geistersalons

27. Mit wem haben die ­Toten ­gesprochen?

28. Was haben die Toten gesagt?

29. Und wie viele Geister in ­einem ­einzigen Geist

30. Die gegensätzlichen Zwillinge

31. Die Reise in die Unterwelt

32. Was oben ist, ist wie das, was unten ist

33. Entsetzlich weit weg?

34. Gott ist ein Feld

35. Nachtgespräche

36. Gott ist kein Gentleman

37. Giordano Bruno

38. Lewis Thomas

39. Die Seele der Erde

40. Wie oft wird der Mensch ­geboren?

41. Das Muster

42. Das Geheimnis des Lichtes

43. Die Länder hinter den Spiegeln

44. Träumen ist der ­Hintergrund der Physik

45. Ach, ich habe sie verloren …

46. Traum und Tod

47. Das verlorene Paradies

48. Wenn wir gestorben sind … sind wir schon nicht mehr tot

49. Wie komme ich in den Himmel?

50. Die Pausen und ­Motive in der Musik

51. Gott ist die Welt!

52. Der Kosmos ist ein Individuum

1

Die tote Schwester

Es begann damit, dass eine Unbekannte mir ihre Geschichte erzählte. Sie hatte einen toten und einen lebendigen Zwilling geboren. Der lebendige, jetzt dreizehn, beklagt sich: »Warum schaust du mich nicht an? Warum sprichst du nicht mit mir? Nicht einmal einen Namen hast du mir gegeben!«

Die Mutter ist irritiert. Ich nicht. Ich werde neugierig. Umso mehr, als der Lebendige behauptet, immerzu bei seinem Namen gerufen zu werden, obwohl gar niemand da ist. Ist gar niemand da? Mir passiert es nämlich auch. »Lotte! Lotte!« Ich schaue mich um und bin allein.

Bin ich allein? Einmal war ich es nicht. Eine finstere Raunacht vor vielen Jahren. Auf einmal sitze ich mitten in einem Photonenschwarm, aus dem eine Stimme spricht: »Ich bin Isis, deine tote Schwester.«

Ich habe keine Schwester. Weder lebendig noch tot. Und ist Isis nicht eine Totengöttin? Da war etwas mit Osiris. Während ich versuchte, mich zu erinnern, fiel mir etwas anderes ein. »Dich«, sagte meine Mutter immer, »haben sie vertauscht. Ich habe zwei Kinder geboren, und dann folgte das Spital mir nur eines aus.« War ich in Wirklichkeit vielleicht eine Prinzessin? Allerdings schaue ich meinem Vater ähnlich.

Nein, keine Prinzessin. Aber wo blieb das zweite Kind? Wurde es entführt? Und dann, Jahrzehnte später, die fremde Stimme: »Ich bin Isis, deine tote Schwester.« Ich schrieb die Geschichte damals, um sie nicht zu vergessen, in eins meiner Bücher. Und vergaß sie. Bis die Unbekannte mir von ihrem Buben erzählte, aus dem der tote Bruder um ihre Aufmerksamkeit bettelte. Erst da keimte ein Verdacht in mir auf.

2

Lebt der Tote?

Ich bin ein Sonntagskind. Sind Sonntagskinder etwas seltsam? Als ich siebzehn war, habe ich mich leidenschaftlich für Zwillingsforschung interessiert. Für ein Mädchen meines Alters ungewöhnlich. Ich ging gern auf Friedhöfen spazieren und machte drei Selbstmordversuche. Freuds Todestrieb?

Mit fünfzehn erhängte ich mich auf einem Heuboden. Da ich zwei linke Hände habe, ging der Knoten auf, und ich landete, statt im Jenseits, auf dem Stroh. Mit zehn drehte ich den Gashahn auf. Das Telefon läutete. Neugierig auf mein letztes Gespräch, lief ich hin. Es war meine Mutter. Danach hab ich geweint und erbrochen. Mit neunzehn schnitt ich mir die Pulsadern auf, aber falsch. Von links nach rechts – und war immer noch da. Seither ließ ich es bleiben. Selbstmord ist auch eine Frage der Geschicklichkeit. Ich bin total ungeschickt.

Aber woher kommt meine lebenslange Todessehnsucht? Mit zwanzig hatte ich drei Totenköpfe, einer stand sogar auf meinem Schreibtisch, und verzehrte mich nach einem Gerippe. Verzehrte ich mich nach mir selbst?

Mit fünfundzwanzig begann ich, Bücher zu schreiben, Tragikomödien, Hör- und Fernsehspiele. Von Anfang an war das Thema meiner Arbeit wie meines Lebens der Tod. Mit ihm wollte ich die Menschen versöhnen, denn es gibt ihn nicht. Der Tod ist ein Märchen. Glaubt es nicht!

Vor einem halben Jahrhundert schrieb ich den ersten »Reiseführer ins Jenseits« Schreibend betrieb ich weiter ­Bewusstseins-, Sterbe- und Jenseitsforschung. Gründete eine »Schule der Unsterblichkeit«, an der ich bis vor einigen Jahren Seminare hielt.

Habe ich diese Bücher geschrieben? Die Seminare gehalten? Oder war es Isis, meine tote Schwester?

3

Isis

Wir scheinen eineiige Zwillinge zu sein. Eineiige Zwillinge teilen sich eine Seele. Sind eine doppelte Person. Isis ist tot, und ich lebe.

Bin ich gleichzeitig lebendig und tot? Ist Isis tot und lebt? Ich rede mit Toten, und die Leute halten mich für verrückt. Ist es Isis, die mit Toten spricht? Die Tote mit Toten. Ich gestehe, dass sie mir immer unheimlicher wird.

Aber da ist noch etwas. Ich bin nämlich eine Doppelgängerin. Mit zwanzig fing es an. Mein Vater, meine beste Freundin, mein Liebhaber. Sie trafen mich an Orten, an denen ich gar nicht war. Redeten mit mir, ich reagierte nicht. Nahm sie nicht wahr.

Ich stehe in fremden Schlafzimmern und Küchen. Von Wien bis Australien. Normalerweise allein, aber bei der Schauspielerin Brigitte Holzinger mit meinen sechs Katzen. Damals brannte die Hofburg, ich stand wirklich mit sechs Katzen, aber auf dem Michaelerplatz.

Und wusste nicht einmal, wo sie – die einmal eine Komödie von mir inszeniert hat – überhaupt wohnt. Ich erscheine Bekannten und Unbekannten. Aber nicht in Jeans und Pullovern, die ich gewöhnlich trage, sondern in schönen langen Kleidern, die ich gar nicht besitze. Ich sitze in Autobussen, obwohl ich daheim bin. Mache Hausbesuche bei Fremden. Und weiß von nichts. Leute schreiben mir. Rufen an. Hunderte Male ist es schon passiert.

Manchmal rede ich, manchmal nicht. Im Rathaus diskutierte ich über Gott. »Gescheit, was du gesagt hast«, lobt mich der Theaterwissenschaftler Greisenegger. Wolfgang Tuppy (damals unser Wissenschaftsminister) hat es auch gut gefallen.« – »Aber Wolfgang, ich war gar nicht im Rathaus! Wusste auch nichts von einem Kongress.« Er schüttelt den Kopf.

Womöglich bin ich es gar nicht, die sich überall als ihre eigene Doppelgängerin herumtreibt? Sondern Isis, meine tote Schwester, die mir noch immer gleicht. Altern Tote?

Ich oder Isis – über meinen Neocortex läuft es jedenfalls nicht. Schade. Ich hätte sonst jede Menge Schabernack getrieben.

4

Die doppelte Lotte

Statt des unterbliebenen Schabernacks schrieb ich ein Buch über Doppelgänger und parallele Universen, dem der Verlag den Titel »Die doppelte Lotte« gab. Darin überlieferte ich alle Geschichten, die ich selbst nicht verstand, mit einem SOS an die Wissenschaft:

»Gestatten, ich bin ein Riesenteilchen, das gleichzeitig an zwei Orten sein kann. Das heißt, ich bilokalisiere mich seit Jahrzehnten, ohne es allerdings selbst zu bemerken. Eine Verwechslung ist auszuschließen, denn zu den Personen, die mich im zweiten Zustand wahrnahmen, gehörten u. a. mein eigener Vater, Liebhaber, Ehemann. Freunde an verschiedenen Orten. Viel häufiger Fremde, die mich nur aus den Medien kennen und bei denen ich plötzlich im Wohnzimmer oder sonstwo stehe. Halten Sie es für möglich, dass wir a) in verschiedenen Zuständen (Doppelgänger) b) auf verschiedenen Ebenen (Paralleluniversen) existieren könnten?«

Das schickte ich an berühmte Wissenschaftler, zwölf hielten es für möglich, wahrscheinlich, sicher.

Ich zitiere nur Helmut Rauch, Univ.-Prof. der Experimentellen Kernphysik an der TU Wien, Atominstitut der Österreichischen Universitäten, Mitglied der Academia Europaea, Deutsche Akademie der Naturforscher, Leopoldura, Halle, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften:

»Bilokalisation ist gemäß der Quantenphysik durchaus möglich. Wir sprechen von sogenannten ›Schrödinger-­Katzenzuständen‹, wo ein Objekt in zwei Zuständen (lebend oder tot) gleichzeitig sein kann. Wir haben derartige Experimente mit Neutronen durchgeführt und die Vorhersagen voll bestätigt gefunden. Neutronen sind an sich unteilbare Elementarteilchen, können aber in einem Interferometer über zwei weit voneinander getrennte Wege gehen …«

5

Ein SOS mit Folgen

Ich war neugierig auf Professor Rauch. Wir trafen uns und redeten bei einem oder zwei Krügeln Bier über den Tod. Das heißt, ich fragte und fragte, und er antwortete mit einer Engelsgeduld. »Tod ist der stabile Grundzustand. Wird ihm Energie zugeführt, etwa durch ein Lichtquantum oder kosmische Strahlung, wird er zum Leben angeregt.«

Ich war fasziniert. Wir redeten fünf Jahre lang über Leben und Tod. Und wie beide miteinander verschränkt sind. Dabei wurden wir Freunde und schrieben zum Unmut seiner Kollegen das Buch »Der Quantengott«, einen Dialog über die Physik des Jenseits.

Ich habe Rauch meine und Gottfrieds gespenstische Erfahrungen erzählt, und manche konnte er quantenphysikalisch erklären. Dabei geriet er – wie Heisenberg, Schrödinger und fast alle Nobelpreisträger des zwanzigsten Jahrhunderts – in gefährliche Nähe zur Transzendenz. »Physik und Transzendenz« ist auch der Titel des Buches, in dem Hans-Peter Dürr – Friedensnobelpreis 1987 – die Größten unter ihnen versammelte, um Physik und Metaphysik zu versöhnen.

Dasselbe haben Rauch und ich mit dem »Quantengott« unternommen, sind doch beide zwei Seiten einer einzigen Münze. Zwei Fenster in die Welt, die in jedem von ihnen anders erscheint und doch dieselbe ist. Mich hat man längst für diese Erkenntnis verdammt. Und Kollegen des Professors, welche noch immer an den Materialismus glauben, rümpften die Nase, runzelten die Stirn.

Als hätte Philipp Lenard nicht experimentell bewiesen, dass Materie reine Leere ist, und 1905 dafür den Nobelpreis bekommen. Und Erwin Schrödingers Wellengleichung! Wahrscheinlich sind wir beides, Welle und Teilchen, sowohl als auch. Ich aber kann Helmut nicht genug für seinen Mut danken, ein nicht nur antiquiertes, sondern schlicht falsches Modell zu verabschieden.

Die Essenz unseres Buches: Wir können gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Raums auftreten, an verschiedenen Stellen der Zeit und in verschiedenen Zuständen! Lebende und Tote sind verschränkt.

Zwillinge, von denen einer lebendig und der andere tot geboren wird, auch?

6

Der verlorene Zwilling

»Teilchen, die vereint waren und getrennt wurden«, sagt Niels Bohr, »scheinen vom Zustand des anderen zu wissen, gleich, wie weit entfernt sie voneinander sind.« Mit Photonen experimentiert man das gerade rund um die Welt. Es wäre interessant, die Zwillingsforschung mit der Quantenphysik zu verknüpfen. Auf beiden Seiten könnte es Überraschungen geben.

Braucht jeder Zwilling einen eigenen Leib? Oder genügt einer für beide. Wenn zum Beispiel der tote Zwilling sich während der Schwangerschaft vollständig aufgelöst hat, also kein Riesenteilchen mehr ist – bleibt er als Welle?

Wir wissen heute, dass der tote Zwilling weiter im Körper des lebenden existiert. Auch wenn er nur aus ein paar Zellen besteht. Blutstropfen, häufig einer Zyste, einem Abszess, in denen man Spuren von Haaren, Zähnen, Knochen findet.

Und die Seele? Von der wir zwar nicht wissen, was sie eigentlich ist. Aber wir haben, ja SIND womöglich sogar eine. Als verlorener Zwilling dazu verdammt, als Embryo, Fötus oder gar Fistel im Körper des Lebenden gefangen zu sein.

»Es ist die Hölle«, höre ich meine tote Schwester Isis. »Ich hasse dich!« Bin ich schuld an ihrem schrecklichen Schicksal? War ich ein egoistischer, gieriger Fötus, eine Art Kapitalistin im Mutterleib? Ich hatte geglaubt, sie würde mich lieben. Nein, sie rächt sich. Sitzt Tag und Nacht, vor allem nachts, als Schmerz in meinem Sakralgelenk. Lässt mich nicht schlafen. Was habe ich alles versucht! Keine Medizin half. Isis ist unheilbar.