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Rolf Robischon

Morgengrauen

Ein Buch über Schule ... und wie sie sein könnte

Geleitwort

Mit Morgengrauen legt Rolf Robischon eine grundlegende Kritik an der, wie er es nennt, »üblichen Schule« vor. Wie kann es sein, dass so viele Kinder voller Lebensmut und Freude in die Schule eintreten und bereits nach wenigen Wochen jegliche Lust daran verlieren? Aus kinderrechtlicher Sicht scheint mir dieser Aspekt besonders problematisch zu sein. Denn jedes Kind hat ein Recht auf eine qualitativ hochstehende Bildung. Dies haben die Vereinten Nationen mit den nachhaltigen Entwicklungszielen 2015-2030 ebenfalls betont. Nun gehe es nicht mehr primär um den Zugang zu Bildung, sondern um Qualität in der Bildung.

Wenn aber »Belehrung, Disziplinierung, Ermahnung, Appelle, Drohungen, Strafen, Kontrollen und unablässige Bewertungen«, wie Robischon es beschreibt, im Vordergrund stehen, dann kann in keiner Weise von Qualität gesprochen werden. Eindrücklich zeigt der Autor auf, wie ein solches Verständnis von Pädagogik die Bedürfnisse der Lehrperson und der Schule, und nicht jene des Kindes, ins Zentrum stellt. Robischon plädiert deshalb für einen Perspektivenwechsel: Die Schule soll sich an den individuellen Bedürfnissen des Kindes ausrichten, und nicht umgekehrt. Er bezeichnet dies als »die Kunst, lernen zu lassen«.

Dabei spielt natürlich auch die Beziehungsebene eine wichtige Rolle. Kinder, so das Argument des Autors, merken sehr schnell, wenn sie ernst genommen werden, und fühlen sich wohl dabei. Die übliche Schule zeichnet sich jedoch durch Prozesse und Strukturen aus, welche in der Soziologie beispielsweise mit »Disziplinierung« und »Normalisierung« beschrieben werden. Da nimmt die Beziehungsebene eine untergeordnete Rolle ein. Jedes Kind soll in gleichen kleinen Schrittchen lernen, nach vorgegebenem Muster, damit jederzeit verglichen, bewertet und diszipliniert werden kann. Bereits in der zweiten Woche nach Schulbeginn lassen sich in einem solch organisierten Schulraum erste Einschätzungen vornehmen, auf welche Schulen diese Kinder nach der Grundschule verteilt werden sollen.

Der durch diese Prozesse bei vielen Kindern entstehende Leidensdruck führt jedoch zu immer mehr Diagnosen und therapeutischen Maßnahmen, insbesondere zu »Angststörungen« und »ADHS« (Aufmerksamkeitsdefizit – Hyperaktivitätsstörungen), und einer »Behandlung« mit Psychopharmaka. Wenn Kinder in der Schule viel sprechen, sich bewegen, viele Fragen stellen, experimentieren und eigene Lernwege einschlagen möchten, dann wird das in der üblichen Schule als Störung empfunden.

Das eigentliche Problem, so der Autor, liegt darin, dass Kinder nicht so lernen, wie die übliche Schule es annimmt. Mit seiner Ansicht steht Robischon keineswegs alleine da. So hat beispielsweise der Soziologe Michel Foucault 1975 mit seinem Werk »Überwachen und Strafen« ähnliche Kritik angebracht und die Schule, wie Robischon, ebenfalls mit einem Gefängnis verglichen.

Das vorliegende Buch geht jedoch einen Schritt weiter. Es zeigt nicht nur, wie die übliche Schule unseren Kindern schadet und deren Lernprozess erschwert. Es bietet darüber hinaus auch ganz praktische Ideen wie Schule zu einem Raum für selbstorganisiertes Lernen, und Lehrkräfte zu Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern werden können. Robischon verwendet »Brücken« und »Netze« als Bilder, um seine Sicht auf Lernwege zu beschreiben. Kinder, welche statt auf vorgegebenen Schienen auf eigenen Lernspuren unterwegs sind, bilden Netze, schlagen Brücken, und erleben dabei, dass die Arbeit im Lernraum direkt mit ihnen selber zu tun hat. Statt mit Psychopharmaka ruhig gestellt zu werden, entdecken sie ihre Handlungsfähigkeit und gestalten ihren eigenen Lernprozess im kooperativen Miteinander.

Dabei lernt jedes Kind, so der Autor, was ihm erreichbar ist. Jedes in seinem eigenen Tempo. Während die übliche Schule stets auf der Suche nach Defiziten ist, unterstreicht Robischons Ansatz vielmehr die Stärken jedes Kindes. Denn jedes Kind könne etwas Besonderes, und es tue jedem Kind gut, wenn ihm das jemand mitteile, betont der Autor. Daran würden Kinder wachsen. Mit dem vorliegenden Buch zeigt Robischon eindrücklich, dass eine offene und geschützte Lernumgebung, in welcher Kinder frei von Angst und Stress reden, spielen, arbeiten und lernen dürfen, gerade auch in einer staatlichen Schule möglich ist. Es ist ein Plädoyer für mehr Kunst. Kunst, lernen zu lassen.

Pascal Rudin, Kindheitssoziologe – Repräsentant an den Vereinten Nationen für Kinderrechte und Kindesschutz für den Internationalen Verband der Sozialarbeitenden

Vorwort

Von einer ehemaligen Schulanfängerin

Ente, Ei, Polizei. An diese Figuren können Diana, Stefanie und ich uns noch gut und bildlich erinnern. Das waren die Protagonisten, mit denen wir gemeinsam das Lesen und Schreiben für uns entdeckt haben. Mit ihnen haben wir herausgefunden, wie Worte klingen und aussehen, wie aus Bildern Buchstaben werden und aus Worten Geschichten. Auf lose Blätter hatte unser Klassenlehrer kleine Erzählungen gezeichnet: eine Ente, der ein Polizist einen Strafzettel schreibt, weil sie ihr Ei vor einem »Parken Verboten«-Schild abgelegt hat; oder ein Vogel, der einen Regenwurm aus einem Erdloch zieht und nicht merkt, dass er den Schwanz einer Maus erwischt hat. Dazu kamen Bären, Katzen und andere Tiere, Bälle, Eimer und Autos. Wir konnten die Bilder mit Buntstiften ausmalen, ihre Bezeichnungen in nebenstehende Kästen schreiben, Regelmäßigkeiten und Unterschiede erkennen. Manchmal gab es selbstgemachte Lesehefte – und nicht selten kamen wir selbst in den Geschichten vor. Wenn wir etwas nicht verstanden haben oder mehr wissen wollten, haben wir nachgefragt und kurze, klare Antworten bekommen. Wir haben viel gefragt. Weil wir wollten, nicht weil wir mussten. Aus Interesse und Neugierde, nicht für die guten Noten oder um unseren Lehrer glücklich zu machen. Dieser Mann mit Hut und Gitarre ist uns auf Augenhöhe begegnet und hat unsere Sorgen und Bedürfnisse ernst genommen.

Von den Erwartungen, Ängsten und dem Misstrauen mancher Eltern haben wir wenig mitbekommen. So konnten wir auch nicht nachvollziehen, warum wir in der 3. Klasse eine andere Klassenlehrerin bekommen haben. Warum wir uns nicht mehr gegenseitig fragen und helfen durften, sondern stillsitzen mussten und aufgerufen wurden, um das Richtige zu sagen.

Für uns war es ein Glück, dass wir das Lernen mit Ente, Ei und Polizei, mit Freude und Vertrauen für uns entdecken durften. Wir haben Abitur gemacht und studiert. Und auch heute, über dreißig Jahre später, denken wir gerne an unsere ersten beiden Schuljahre zurück.

Sophia Greiff

Vorwort

Oder: Warum es dieses Buch unbedingt geben muss

Die ganz normale Schule nimmt an, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene müsse man belehren und erziehen. Die Ergebnisse will die ganz normale Schule gerne vorhersagen.

Man macht sich einen Plan, den Lehrplan. Und das, was darin vorgesehen ist, können die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hinterher. Angeblich. Darum nennt die ganz normale Schule diese jungen Menschen Schüler. Es gibt also gute Schüler, schlechte oder mittelmäßige.

Je nach ihrer Eignung für die normale Schule oder nach ihrem Einverständnis mit dem Umgang der normalen Schule mit ihnen.

In diesem Buch wird vorgeschlagen, das Gegenteil von Erziehung und Belehrung zuzulassen.

Junge Menschen lernen und entwickeln sich von selber. Sie können gar nicht anders. Die Erwachsenen müssen es nur zulassen und ihnen Raum und Lerngelegenheiten zur Verfügung stellen. Und Zeit. Dann nimmt man an, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht gut oder schlecht oder (wie schrecklich) mittelmäßig sind. Sie dürfen sie selber sein und ihre Möglichkeiten selber entwickeln. Nicht belehrt, geführt, geformt, gezogen, sondern frei und selbstständig.

Wie das geht, habe ich erlebt und dokumentiert.

Rolf Robischon