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Sophienlust
– 302 –

Unerwartetes Wiedersehen

Petra lernt ihren richtigen Vater kennen

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-961-6

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Vorsichtig schloß Melanie Bingel die Tür des Wohnzimmers hinter sich. Sie wollte ihren Mann nicht stören.

Thilo Bingel hatte ihr Weggehen jedoch bemerkt. Sein Gesang brach ab, und schon ertönte sein Ruf: »Melanie!«

Melanie seufzte.

»Melanie! Wohin gehst du?« Die Stimme des Sängers klang gereizt.

Melanie hielt es deshalb für besser, die Tür wieder zu öffnen. Sanft sagte sie: »Ich wollte nur nach Petra sehen.«

»Ich übe doch.« Anklagend sah Thilo sie an. »Kannst du nicht einmal während dieser Zeit bei mir bleiben?«

Ich bin doch sowieso die ganze Zeit bei dir, wollte Melanie sagen, schluckte es aber hinunter. Ihr Mann übte, und das war wichtig. Sie hatten ja extra auf eine Urlaubsreise verzichtet und dieses kleine Häuschen in der Nähe der Kreisstadt Maibach gemietet, damit Thilo ungestört üben konnte. In vierzehn Tagen hatte er bereits wieder einen Auftritt in Salzburg. Er mußte also üben.

Melanie setzte sich wieder still auf einen Stuhl und faltete die Hände im Schoß.

Zufrieden sah Thilo zu ihr hin. Dann stellte er sich in Positur und fing an zu singen. Voll und rein kamen die Töne aus seinem Mund. Seine Stimme fesselte Melanie noch immer. Sie vergaß ihre Tochter Petra und hörte ihrem Mann zu.

Abrupt brach Thilo nach einiger Zeit ab. »Ich weiß nicht, irgend etwas stimmt mit meiner Stimme nicht. Ich werde mich doch nicht erkältet

haben?« Ängstlich sah er seine Frau an.

Melanie lächelte. Sie wußte, was nun von ihr erwartet wurde. »Ich finde, du hast wunderschön gesungen.«

Sekundenlang lächelte Thilo selbstgefällig, dann meinte er:

»Trotzdem! Ich muß etwas für meinen Hals tun. Kannst du mir nicht ein rohes Ei in ein Glas Milch schlagen? Ich muß vorbeugen. In vierzehn Tagen stehe ich in Salzburg auf der Bühne.«

Melanie erhob sich sofort. »Natürlich. Das wird dir sicher guttun«, stimmte sie ihm zu und ging in die Küche.

Vom Küchenfenster aus sah Melanie ihre neunjährige Tochter. Petra saß auf der Gartenmauer und ließ ihre Füße baumeln. Die Schultern hatte sie vorgeneigt. Sie sah nicht gerade glücklich aus.

Melanie seufzte, aber ihr schlechtes Gewissen konnte sie mit diesem Seufzer nicht wegwischen. Sie wußte, daß sie sich viel zu wenig um ihre Tochter kümmerte. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, sie hätte Thilos Wunsch entsprochen und Petra während der großen Ferien in ein Ferienlager gegeben. Dort hätte das Kind zumindest Spielgefährten und Unterhaltung gehabt.

Melanie wandte sich vom Fenster ab. Sie füllte ein Glas mit Milch, schlug ein Ei hinein und verquirlte es. In Gedanken war sie dabei noch immer bei Petra, ihrer Tochter aus erster Ehe. Sie hatte gehofft, daß Thilo die Ferien dazu benutzen würde, dem Kind etwas näherzukommen. Doch nichts dergleichen geschah. Thilo hatte nur seinen Gesang und seine Karriere im Kopf. Wenn sie ehrlich war, dann mußte sie sich eingestehen, daß Petra ihm in gewissem Sinne sogar lästig war. Er hatte sie zum Beispiel nach Salzburg, wo er vier Konzerte geben mußte, nicht mitnehmen wollen.

Schwere Sorgenfalten standen auf Melanies Stirn. Sie dachte an ihren ersten heftigen Streit mit Thilo vor Beginn der Ferien. Nun, sie hatte sich durchgesetzt. Petra war nicht ins Ferienlager gekommen und durfte in vierzehn Tagen auch mit nach Salzburg fahren. Hatte sie damit aber richtig gehandelt? Auf alle Fälle war es allein damit nicht getan. Sie mußte sich mehr um das Kind kümmern.

Melanie trug das Glas ins Zimmer, stellte es auf den Tisch und verließ, ohne ein Wort zu sagen, rasch wieder den Raum. Sie eilte hinaus in den Garten.

Petras Miene hellte sich auf, als sie die Mutter kommen sah. Sie sprang von der Mauer. Mit einer Kopfbewegung wies sie hinüber zum Haus und fragte: »Ist er fertig?«

»Ich glaube nicht.«

»Und dann bist du da?« Der altkluge Blick, den Petra ihrer Mutter zuwarf, schmerzte diese.

»Ich wollte nur rasch nach dir sehen«, sagte Melanie und legte ihrer Tochter kameradschaftlich den Arm um die Schultern. »Was treibst du so den ganzen Vormittag?«

Petra schob ihre Unterlippe vor und warf den Kopf zurück, so daß ihr langes braunes Haar nur so flog. »Das siehst du doch! Ich langweile mich.«

»Kannst du nicht irgend etwas unternehmen? Mach einen kleinen Spaziergang«, schlug Melanie vor.

»Allein?» Kopfschüttelnd sah Petra ihre Mutter an. »Das ist doch langweilig.«

»Dann lies etwas. Du hast doch eine Menge Bücher dabei.«

»Das habe ich gestern fast den ganzen Tag getan.« Herausfordernd sah Petra ihre Mutter an.

Melanie dachte nach. »Wie wär’s, wenn du etwas bauen würdest? Auf der anderen Seite des Hauses ist doch ein sehr schöner Sandkasten.«

»Bin ich ein Baby?« Petras Unterlippe schob sich noch weiter nach vorn.

Melanie hob die Achseln und ließ sie wieder sinken. Es war wirklich nicht einfach. »Vielleicht willst du etwas essen? Obstsalat ist noch im Kühlschrank.«

»Danke, ich warte bis zum Mittagessen.« Petra steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans und meinte: »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich weiß ja, daß er es keine Minute ohne dich aushält.«

Petra nannte ihren Stiefvater selten Vater, sondern bevorzugte das unpersönliche »Er«. Melanie duldete das stillschweigend.

»Du, ich habe eine Idee«, meinte Melanie nun plötzlich. »Was hältst du davon, daß wir nach dem Essen schwimmen gehen?«

Petras Augen leuchteten auf. »Das wäre prima!« Dann warf sie einen skeptischen Blick zum Haus hin. Sie wußte, ihre Mutter hatte in der letzten Zeit viel versprochen, aber wenig gehalten.

In diesem Moment wurde das Wohnzimmerfenster aufgerissen. Thilo beugte sich heraus.

»Melanie, wo steckst du denn?« rief er ungeduldig.

»Ich unterhalte mich mit Petra.« Etwas wie Trotz erschien auf Melanies hübschem Gesicht. »Wir haben gerade beschlossen, daß wir am Nachmittag baden gehen werden.«

»Baden«, echote Thilo. »Aber das geht doch nicht.«

»Warum nicht?« Melanie sah ihre Tochter an. Sie dachte nicht daran, wieder klein beizugeben. »Wenn du Angst hast, daß es deiner Stimme schadet, mußt du ja nicht ins Wasser gehen. Nicht weit von hier ist ein Waldsee. Er ist nicht überlaufen, aber sehr romantisch. Dort können wir uns einen schönen Nachmittag machen. Ich richte ein kleines Picknick für uns. Dann können wir bis zum Abend bleiben.«

»Ausgeschlossen. Ich muß auch am Nachmittag mindestens zwei Stunden üben.«

»Gut. Dann übst du, während ich mit Petra schwimmen gehe.« Aus den Augenwinkeln heraus sah Melanie Petras erstauntes Gesicht. Die Kleine war nicht gewohnt, daß ihre Mutter sich ihrem Stiefvater gegenüber so energisch benahm.

»Spitze, Mutti.« Petra zögerte sekundenlang, dann flog sie der Mutter an den Hals.

»Es ist schon gut, Kleines.« Melanie strich ihrer Tochter über das Haar. »Du kannst schon einmal die Badesachen hervorholen. Vergiß die Luftmatratzen nicht. Ein Spiel kannst du auch mitnehmen. Wir beide machen uns einen gemütlichen Nachmittag.«

»Danke«, flüsterte Petra überwältigt und stürmte davon.

Thilo stand noch immer unbeweglich am Fenster. Seine Miene zeigte deutlich Mißbilligung.

»Muß das sein? Kann sich das Kind nicht selbst beschäftigen?«

»Thilo, Petra ist erst neun Jahren alt. Und was soll sie hier tun? Weit und breit gibt es keine Kinder.«

»Da hast du es!« Anklagend streckte Thilo seine Hand aus. »Ich habe ja gleich gesagt, daß sie in ein Ferienlager soll.«

Mit der gleichen Bewegung wie zuvor ihre Tochter, warf Melanie ihren Kopf in den Nacken. »Ich bin froh, daß sie hier ist. So kann ich mich wenigstens ein wenig um sie kümmern. Petra braucht mich doch.« Sie wollte noch hinzufügen: »Sie braucht auch dich. Sie braucht einen Vater.« Aber wie schon so oft unterließ sie es auch diesmal.

Dafür sagte Thilo: »Und ich, ich brauche dich auch.«

Melanie könnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Du bist erwachsen.«

Beleidigt zog Thilo die Augenbraue hoch.

»Ich komme ja schon.« Melanie quälte sich ein Lächeln ab. »Eine Stunde habe ich noch Zeit, dann muß ich mich ums Essen kümmern.«

Obwohl Thilo sie länger als erwartet aufhielt, schaffte Melanie es, das Essen pünktlich auf den Tisch zu bringen. Petra aß hastig, dann rutschte sie ungeduldig auf dem Stuhl hin und her.

»Mutti, kann ich dir noch irgendwie helfen? Hast du den Picknickkorb schon gepackt?«

»Es ist alles fertig.« Melanie lächelte ihrer Tochter zu.

Petra sprang auf. »Dann kann ich die Sachen ja ins Auto bringen.«

Thilo sah hoch. Seine Augenbrauen zogen sich empor. »Ihr fahrt also wirklich?«

»Natürlich.« Melanie lachte, aber es klang gekünstelt. »Wir haben es doch ausgemacht.«

»Deine Tochter kann zumindest sitzen bleiben, bis ich mit dem Essen fertig bin.«

»Du bist doch fertig, bis auf den Apfel. Ich nehme meinen Apfel mit zum Baden.« Petra griff nach ihrem Apfel und schob ihn in ihre Hosentasche.

»Soll ich den Apfel für dich schälen?« erbot sich Melanie und sah ihren Mann an.

»Danke. Ich sehe, auch du hast es eilig. Laß dich nur nicht aufhalten.«

»Also los, Mutti! Komm!« Petra übersah geflissentlich den ärgerlichen Blick ihres Stiefvaters. Unbekümmert begann sie das Geschirr zusammenzustellen. »Ich räume die Sachen noch in den Geschirrspüler, falls du mit Vater noch etwas zu besprechen hast.« Sie sah ihre Mutter dabei an. ihre Augen baten darum, daß sie sich beeilen möge.

»Gut«, sagte Melanie, und diesmal fiel ihr Lächeln herzlich aus.

Kaum hatte sich die Tür hinter Petra geschlossen, hob Thilo seinen Blick vom Apfel und richtete ihn anklagend auf seine Frau.

»Ich verstehe dich nicht. Willst du wirklich den ganzen Nachmittag am See bleiben?«

»Ja«, entgegnete Melanie fest, wich dabei aber dem Blick ihres Mannes aus. Sie dachte daran, daß sie sich wirklich zum erstenmal, seit sie mit Thilo verheiratet war, über seine Wünsche hinwegsetzte.

Melanie wollte gerade wieder nachgeben, als Petra hereingestürmt kam. Das Gesicht der Kleinen strahlte, in den Händen schwang sie die Badesachen.

»Ich bin fertig, Mutti, wir können!«

Nein, Melanie konnte ihre Tochter nicht wieder enttäuschen. Sie erhob sich und wandte sich an ihren Mann. »Sollen wir die Räder nehmen? Dann kannst du, wenn du genug geübt hast, nachkommen.« Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, daß Petra ihre Lippen verzog. Das tat ihr weh. Sie hatte so gehofft, daß sich die beiden in den Ferien näherkommen würden.

Da sagte Thilo auch schon: »Du kannst ruhig das Auto nehmen. Ich komme auf keinen Fall nach. Du müßtest eigentlich wissen, daß das für mich eine Todsünde wäre.« Er griff sich an den Hals. »Stell dir vor, ich würde mich erkälten. Was wäre dann mit meinen Konzerten?«

Wieder spürte Melanie seinen vorwurfsvollen Blick, aber sie ging nicht darauf ein. »Ich stelle dir den Liegestuhl in den Garten. Dann kannst du dich draußen etwas hinlegen.«

»Mutti, das mache ich«, erbot sich Petra eifrig. Melanie wußte aber, daß Petra das nicht sagte, um ihrem Stiefvater behilflich zu sein, sondern um so schnell wie möglich wegzukommen. In ihren Augen stand die Angst, daß ihre Mutter es sich am Ende doch noch anders überlegen würde.

»Gut«, erwiderte Melanie. Sie ging zu ihrem Mann, wollte ihn küssen, aber Thilo drehte den Kopf weg. Das war ein deutliches Zeichen dafür, daß er vorhatte, den Beleidigten zu spielen.

Mit einer leichten Bewegung strich Melanie sich die Haare zurück. »Also, dann bis zum Abend. Im Kühlschrank findest du Aufschnitt, falls du Hunger bekommen solltest.«

»Das wird wohl kaum der Fall sein«, entgegnete Thilo, ohne seine Frau anzusehen. »Ich bin nicht gewohnt, allein zu essen.«

Melanie verzichtete auf eine Antwort. Sie nahm ihre Tochter an die Hand. Zusammen gingen die beiden vor das Haus und stiegen ins Auto ein.

Es war nicht weit bis zu dem kleinen, etwas versteckt gelegenen Waldsee, aber während der Fahrt taute Petra immer mehr auf.

Melanie warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. So kannte sie ihre Tochter gar nicht mehr. In letzter Zeit hatte sie sich eher still und in sich zurückgezogen verhalten.

Der Nachmittag wurde für beide sehr lustig. Lange schwamm Melanie mit ihrer Tochter um die Wette. Dann fand Petra einige Mädchen und Jungen, mit denen sie spielte und herumtobte.

Melanie lag währenddessen in der Sonne und genoß die Ruhe. In Thilos Gegenwart hatte sie kaum Zeit für sich. Da mußte sie ihm stets zuhören und auf seine Probleme eingehen.

*

»Petra, wir müssen uns beeilen«, rief Melanie Bingel hinter ihrer Tochter her. Doch diese wollte nicht hören. Sie war dicht an das schmiedeeiserne Tor herangetreten und sah nun in einen Park hinein. Das, was sie sah, gefiel ihr. Es war ein großes Gebäude mit großen Fenstern und grünen Fensterläden. Das Dach war mit grauen Schindeln gedeckt. Petra stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

Melanie kam heran. Ungeduldig fragte sie: »Was hast du denn? Wir müssen sehen, daß wir zum Auto zurückkommen. Es ist spät geworden.«

»Mutti«, aufgeregt drehte sich Petra zu ihrer Mutter um. »Glaubst du, daß das das Haus ist, in dem die Kinder wohnen? Ich meine das Mädchen, das den lustigen Namen Pünktchen hatte, die kleine Heidi und den Jungen, der so alt war wie ich und Henrik hieß.«

Melanie wußte sofort, was Petra meinte. Seit Tagen sprach ihre Tochter von nichts anderem. Als sie am Waldsee gewesen waren, hatten sie einige Kinder kennengelernt, die in einem Kinderheim lebten. Es waren sehr lustige und liebe Kinder gewesen, und Petra war über diese Gesellschaft selig gewesen.

»Es könnte Sophienlust sein«, meinte Melanie.

»Richtig«, stimmte Petra ihr sofort zu. »Sophienlust heißt das Haus, in dem die Kinder wohnen.« Ein sehnsüchtiger Ausdruck kam in ihre Augen. »Da muß es sehr lustig zugehen. Alle wohnen sehr gern da.«

Melanie trat näher und spähte jetzt ebenfalls durch die Gitterstäbe. »Es ist wirklich sehr schön«, meinte sie. »Die Kinder haben nicht zuviel erzählt.«

»Mutti, gehen wir hinein?« Petra griff nach der Hand der Mutter.

»Aber das geht doch nicht.«

»Natürlich geht das«, widersprach Petra ihr. »Pünktchen hat mich doch eingeladen. Jedes Kind darf nach Sophienlust kommen. Hier gibt es auch einen großen Spielplatz.« Als Melanie nichts sagte, fuhr sie fort: »Henrik hat es auch gesagt, und der muß es ja wissen. Er heißt von Schoenecker und ist der Sohn der Frau, die das Kinderheim verwaltet.« Petra strahlte ihre Mutter an. »Nicht wahr, ich habe mir alles gut gemerkt?«

»Das hast du«, stimmte Melanie ihr zu und strich ihrer Tochter liebevoll über das Haar. »Aber nun laß uns weitergehen. Du weißt, Vati wartet nicht gern.«