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WILFRIED

ERDMANN

WARUM WIR
IMMER
WEITERSEGELN

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Inhalt

Zu diesem Buch

Es ist Mai

Ein Traum vor unserer Haustür

Im Kalmarsund

Vor Anker in Solberganäset

Einsam: Båtsviken

Kurs Gotland

Ziel Fårö erreicht

Sehr viel Sonne

Die Ostküste

Öland erobert

Grönhögen mögen

Klippe Utklippan

Christiansø und Bornholm

Rügen unter Segel

Stille auf dem Wasser

Privatinsel Vejrø

August und Ende

Anhang

Unser Resümee

Das Schiff KATHENA NUI

Ansichten zu Schweden

Porridge

Alt und älter

UV-Schutz und Segeln von Dr. Katharina C. Kähler

Die bedeutendsten Erinnerungen

Besonderheiten

Mein ganzes Leben war ich ein Reisender

Danksagung

Seemänische Ausdrücke

»Die Erfahrung lehrt uns,
dass Liebe nicht darin besteht,
dass man einander ansieht, sondern dass man
in die gleiche Richtung blickt.«

Antoine de Saint-Exupéry

Zu diesem Buch

Die Sonne brennt. Wasser gurgelt. Log dreht sporadisch hoch. Großsegel und Genua stehen. Ich liege im Cockpit, Astrid sitzt aufrecht und beobachtet See und Kompass. Unser Schiff zieht langsam seine Bahn. Astrid und ich sind mit KATHENA NUI auf der Ostsee unterwegs: Kurs Schweden. Und vielleicht weiter, womöglich als Zugabe ein Abstecher ostwärts nach Estland. Ziel soll mindestens Gotland sein, über 600 Meilen entfernt. Dort genauer Fårö, die kleine Insel im Norden Gotlands, mit Augenmerk auf Elvis, Ingmar Bergman und die gigantischen Kalksteinsäulen. Darauf freuen wir uns beide. Sehr. »Für Elvis würde ich sogar noch mal um die Welt segeln«, sagt Astrid nebenbei.

Fahrtensegeln ist die archaischste Art des Reisens. Gerade in diesem Sommer, der viel Sonne und wenig Westwind bietet. Man muss Geduld haben. Auf See nimmt der Segelnde das einfach so hin. Trinkt einen Tee und wartet. Ich bin seit 53 Jahren Segler. Meine Frau noch länger. Sie leider all die Jahre begleitet von der Seekrankheit – absurd. Dennoch stammen Idee und Umsetzung dieses Ostseetörns allein von ihr. Nach der Nordsee, Norwegen und den Färöer-Inseln meinte sie, der Seegang der Ostsee könne ihr nicht so zusetzen. Sei nicht so anstrengend, und man müsse sich nicht bei jeder Welle übergeben. Doch das Unerwünschte geschieht: Augenflackern, Erbrechen, Gleichgewichtsstörungen. Vom ersten Tag an ist ihr Magen dem zeitweise nicht gewachsen. Trotzdem liebt sie das Leben mit dem Boot über alle Maßen und sagt: »Ich habe ja meinen Einhandsegler fürs Grobe.«

Segeln ist inzwischen oftmals Konsum. Immer mehr Menschen schaffen sich große Boote an und gehen segeln. Das ist uns in diesem Sommer besonders aufgefallen. Wir sahen sehr viele Boote um einen Platz auf dem Wasser und im Hafen kämpfen. Niemand schien sich zu interessieren, wer du bist und woher du kommst. Keiner hatte Lust, seinen Nachbarn auf ein Glas in die Kajüte einzuladen. Auch wir nicht.

Wir segeln also nach Dänemark. Erst mal. Dann haben wir uns Südschweden vorgenommen. Die See ist ruhig, der Wind mild. Die Wolken hoch. Die Ostsee. Hm, die Ostsee mit ihren geringen Ausmaßen ist eigentlich kein Meer und wäre doch so gern eines. Sie ist seit Jahrzehnten das Lieblingsrevier der deutschen Segler. Seit 1989 zum Glück auch das der ostdeutschen Segler. Zwar ohne Palmen und ohne Haie, aber mit echten Landesgrenzen, die bewirken, dass auf der anderen Seite andere Kulturen und andere Lebenseinstellungen existieren. Das macht es überaus spannend.

Der einzige Aspekt meiner in diesem Buch beschriebenen Reise, der garantiert Leser fesseln würde, wäre ein Unglück. Aber das hat nicht stattgefunden. Wir sind auf keinen Schärenfelsen gebrummt, haben keinen Sturm abgewettert, keinen Container gerammt. Sind nicht von Piraten überfallen, vom Affen gebissen worden oder auf ein Riff aufgelaufen. Das hatten wir früher schon.

Der Text beinhaltet unsere Gedanken über das Leben an Bord, unser Tun an und unter Deck und den Umgang mit einem Schiff auf der Ostsee. Ein Seglerbuch? Ja, sicher. Aber nicht in der Form eines Logbuchs, obschon alle kursiv gedruckten Zeilen meinem Logbuch entnommen sind, weil sie authentisch und nachhaltig sind. Es ist zudem ein Loblied auf Schweden. Das hoffe ich.

Segeln heißt erleben, weil man unterwegs genug Zeit hat, sich einzuprägen, was an einem vorbeizieht. Wir erinnern uns lebhaft an die reiche Natur in Schweden. Sie ist unsere wahre Liebe, besonders diese herrlichen Punkte, wo die See auf Schären und Inseln stößt. Wir sind fasziniert von meilenlangen weißen Stränden und hoch aufgetürmten Klippen und genießen etliche Male die außergewöhnliche Einsamkeit.

Für Leser, die Anregung, Ermutigung und Tipps suchen, habe ich diese in einem Anhang festgehalten.

Dann mal weg. Gutes Lesen.

Wilfried Erdmann

Goltoft/Schlei, August 2019

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Es ist Mai

Der 10. Mai ist ein Montag. Das gleiche Aufbruchdatum wie zu unserem Nordseetörn zu den Färöern. Ich hocke im Cockpit, noch in langer Hose und im Pullover. Astrid liegt derweil auf der Koje. Es geht ihr schlecht. Die Aries, unsere Windsteueranlage, steuert uns sehr zuverlässig. Es gibt nichts weiter zu tun. Das Schiff ist ausgerüstet. Proviant und Wasser gebunkert, Ölzeug und Gummistiefel eingepackt, dicke Pullover sowie eine Flasche Rum und ein paar Flaschen Wein, um in den Häfen und Buchten für innere Wärme zu sorgen, falls der Sommer wieder kalt und nass wird. Wie in den Jahren zuvor.

Doch der erste Morgen sieht gut aus. Der Himmel ist hoch, ein paar federleichte Wolken schmücken ihn. Die See bietet eine Szenerie, in der Farben und Konturen verlaufen wie auf einem impressionistischen Gemälde. An diesem Tag ist auf dem Wasser eine so brillante Sicht, dass ich auf direktem Kurs den Leuchtturm von Bagenkop auf 20 Meilen erahnen kann. Ich stelle mich an Deck, reiße die Arme hoch und rufe laut: »Land in Sicht.«

»Blödsinn«, sagt Astrid, »mach endlich Frühstück.«

Gut, dass wir auf unserer Hochzeitsreise 1972 in der Biskaya nicht untergangen sind. Seitdem führe ich noch intensiver Logbuch, um mein Leben festzuhalten. Es bildet eine Chronologie für jede Reise. – Mal sehen, was ich im Schweden-Sommer notiert habe:

Beide um 09 h an Bord in Missunde. Kommen bei Abfahrt schwer aus der Box. Zu eng, da Wasser gefallen. Nur mit aller Kraft quetschen wir uns zwischen den Dalben raus. Es quietscht, aber gelingt. Wunderschöner Himmel und stilles Wasser. Leichter Wind und eine feine Strömung helfen uns bis Schleimünde.

Anderntags geht es also aus der Schlei auf die Ostsee nach Bagenkop. Fast noch im Schlaf machen wir uns auf den Weg. Wie üblich sehr schnell. Raus aus der Koje, Tee im Stehen und ran an die Festmacher. Das Großsegel lässt sich verdammt schwer hochziehen, das Fall hat sich mit dem Kutterfall vertörnt. Rufe laut: »Scheiße«, und ordne die Wuhling. Danach brauche ich zum Abreagieren eine Stunde Wache. Astrid folgt mit zwei Stunden und ist letztendlich bis eine halbe Meile vor der Hafeneinfahrt seekrank. Wir machen gleich links an Platz fünf fest und sind müde – nach lumpigen 25 Meilen. Recht leer der Hafen. Genießen Kaffee und Eiskrem im einzigen Lokal des Hafens. Na, es ist eher eine Frittenbude. Wir bummeln durchs Dorf. Außer der Kirche, die leider verschlossen ist, können wir nichts Reizvolles entdecken. Auch der Friedhof drum herum ist ein Schmuckstück. Dänemark eben. Vielleicht etwas zu ordentlich und sauber angelegt, doch das scheint ein Standard auf diesen Inseln zu sein.

Im Hafen liegen überwiegend deutsche Yachten. Zum Abend hin nur deutsche, die, wie ich vermute, auf der Durchreise nach Schweden sind. Wie wir. Die Dänen haben offenbar ihre Schiffe noch nicht zu Wasser gelassen.

Tags darauf herrscht viel Wind. Genauer: Zu viel Wind, um abzulegen. Also bleiben wir, und ich darf vorrangig Bücher signieren. Zugegeben: So viele habe ich unterwegs noch nie signiert. Alle naselang kommt ein Skipper und noch öfter seine Frau, die mit äußerst freundlichen Sätzen um eine Unterschrift bitten. Gelegentlich mit der Zusatzfrage: »Wird aus dieser Fahrt wieder ein Buch?« Meine Antwort bleibt offen.

Astrid ist währenddessen um unseren Bootsnachbarn in Sorge. Er segelt mit seiner Frau auf einer schmucken X 34 und hat sich mit seinem ebenso schicken Rennrad aufs Pflaster gelegt. Bei vermutlich höchstem Tempo mit Rückenwind rutschte er von der Pedale ab und landete kopfüber auf dem Asphalt. Ihn, der wie man hört, Chirurg ist, hat es an der Stirn erwischt, ebenso an Arm und Bein, und die Finger der linken Hand sehen ebenfalls übel aus. Er braucht gewiss einen Krankenwagen, der ihn schnell ins Krankenhaus nach Svendborg transportiert, immerhin 45 Kilometer entfernt. Der Unfall erinnert mich an meinen Bruder, der ebenfalls bei hoher Fahrt solch einen Sturz hatte und danach nie mehr richtig Hunderte Kilometer am Stück abreißen konnte. Die Rennmaschinen der Nachbarn standen fein angelascht an der Reling, als sie mit ihrer X festmachten. Sie stachen mir gleich ins Auge. »Meine ›Maschine‹ hätte ich auch gern mit an Bord«, sage ich zu Astrid. Als wir am folgenden Tag wieder auf See wollen, ist unser Nachbar seit Mitte der Nacht verarztet und überall verbunden aus dem Krankenhaus zurück. Seine Finger, »sein wichtigstes Werkzeug«, machen ihm Sorgen. Ich biete an, seine X mit seiner Frau zurück zur Küste nach Grömitz oder Heiligenhafen zu segeln. Doch das will er eindeutig nicht.

Eine Kreuz steht uns bevor, ziemlich nass und schräg, klar, kaum eines der deutschen Boote bewegt sich mit uns. Ihre schönen Schiffe bleiben fein vertäut am Steg. Die Crews stehen am Kai und zeigen sauber gekämmtes Haar im Gegensatz zu dem, was uns erwartet. Nämlich klatschnasse Köpfe. Mit voller Kraft geht es an den Wind. Dreimal zick und zack, schon ist das Kap Dovnsklint gerundet, und der Wind hat gedreht. Weiter mit Kurs 100, das ist gut Ost und folglich mit achterlichem Wind. Ich fiere die Segel und lege mich lang. Klasse, so allein im Cockpit und die Aries macht es. Astrid liegt trotz Wilhelms Pillen gegen Drehschwindel bei Astronauten flach. Es geht ihr nicht gut. Höchstwahrscheinlich trägt die schlechte Nacht im Hafen mit Wind und quietschenden Fendern zu ihrer Lage bei. Mir geht es auch nicht besonders. Ich bin nicht in Form. Mir ist kalt, ich fühle mich schwach, und gleichzeitig zappele ich irgendwie aufgeregt umher. Ich tröste mich damit, dass ich mich ans Bordleben erst gewöhnen muss.

Rødby ist das Ziel. Wir schneiden im Bojenweg eine Tonne, und schon stehen wir linker Hand vor dem großen Fährhafen. Am kurzen Schwimmsteg ist ein guter Platz frei. Die anderen sind belegt mit einheimischen Booten. Es scheint, dass Gastlieger selten Rødby anlaufen. Ist auch nicht sonderlich attraktiv. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mit KATHENA 7 und KATHENA GUNILLA gute Erinnerungen mit Rødby verknüpfe. Wir suchen nach dem Festmachen ein Café und finden im Dorf eine Pølserbude. Astrid bestellt lässig zweimal Grillwurst mit Fritten. Keiner isst alles auf. Es schmeckt halt nicht. Ob die Dänen so wenig Wert legen auf Qualität? Hauptsache, sie haben eine Flasche Tuborg Grøn vor sich. Sogar zwei oder drei, es ist ja Sonntag. Warum nur trinken die Dänen am liebsten Bier aus der Flasche?

An Bord machen wir uns ein Spiegelei und trinken warmes Bier – auch aus der Flasche. Sind dabei ungewöhnlich lustig und legen uns mit einem angenehmen Glimmer früh in die Kojen, weil wir schon seit der Morgendämmerung auf den Beinen sind. Astrid nutzt die Steuerbord-Hundekoje, es ist die breiteste, und ich ziehe Backbord im Salon die Decke über mich. Gute Nacht, Rødbyhavn.

Hier wird schon tüchtig am Fehmarnbelttunnel gebuddelt. Überall Kräne, Erde, Bagger. Noch hat man nicht angefangen, unter der Ostsee zu graben, aber die dänischen Arbeiten schreiten voran, während auf deutscher Seite der Planfeststellungsbeschluss für die Anbindung und den Ausbau der Autobahn usw. noch nicht durchgewinkt sind – soviel ich weiß.

Wir segeln an mindestens 100 Windrädern vorbei. Schönes Erlebnis, manchmal ganz dicht oder dazwischen hindurch auf dem Weg nach Gedser. Beim Segelbergen gibt es einen kleinen Disput mit meiner Frau. Sie möchte unbedingt, dass ich das Groß bei Wind von vorn einpacke, und hält dann schon dementsprechend Kurs. Mir ist jedoch mit dem Wind lieber, und so stöhne ich herum. »Monatelang habe ich das im Südmeer und bei hartem Wetter ohne Probleme hingekriegt. Hinkriegen müssen.« Das geht aber nicht in ihren Kopf, sie bleibt auf ihrem Kurs.

Nach dem Festmachen im Lystbådehavn von Gedser beim Gang durch die Stadt schmeckt der Kaffee trotzdem. Es ist ein langweiliger Spaziergang. Praktisch jedes zweite Haus steht zum Verkauf. Viele Geschäfte sind geschlossen. Kein Mensch unterwegs. Was ist los? Gedser müsste ein lebendiger Fährhafen sein, die Fähren nach Rostock verkehren im Zweistundentakt.

Im Logbuch steht:

Porridge zum Frühstück. Danach starten wir mit Kurs Klintholm: 35 Seemeilen. See flach. Schönste Spiegelungen auf der glatten Ostsee. Rot, gelb, blau. Nach all den warmen Tagen kalt. Fest in Klintholm an Patz 25. Frisch geduscht als Erstes. War nach einer Woche nötig. Gönnen uns zum Abend eine exzellente Pizza im Restaurant schräg vis-à-vis. Vor dem Essen viele Komplimente ausgetauscht. Überfreundlich die Deutschen, die schon jetzt mit uns auf Ferientörn sind.

Erneut recht früh los. Sechs Uhr und ohne Frühstück – diesmal ist es nicht meine Welt. Beide wollen wir Sverige sehen und spüren. Endlich. Wir brennen förmlich.

Flaute. Totale Flaute. Bleibt nur die Maschine. Oje, 40 Meilen. Eine Stunde ich an der Pinne, zwei Stunden A. Nach sieben Stunden sind wir in Smygehamn, dem südlichsten schwedischen Hafen. Das Hurra verhalten.

Ein Schmuckstück ist der Hafen nicht. Eng und flach, doch KATHENA NUI schafft es vom Tiefgang her bis an den kleinen Kai unterm Kran. Niemand ist vor Ort, als wir eintreffen. Wir blicken auf einen nahezu leeren Hafen. Nur ein paar Jollen sind vertäut. Schon vorm Einlaufen roch es undefinierbar. Jetzt drinnen stinkt es. Der Gestank sprudelt in großen Blasen aus dem Grund. Sieht aus wie kochender Faulschlamm. Mehr als unangenehm. Vor allem nach der frischen Luft unterwegs.

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SEGEL HOCH UND LOS. MIT »KATHENA NUI« STÜRZEN WIR UNS ZUM WIEDERHOLTEN MAL IN DIE FERNE. SCHWEDEN IST DAS ZIEL.

Wir steigen mal gleich über die Kante. Astrid voran hasten wir den Hügel hoch. Dort oben findet ein Wochenendfest statt mit zahlreichen hübschen Buden für Eiskrem und Leckereien aus dem Meer. Oh Wunder, hier ist die Luft rein. Oberhalb des Hafens keine Spur vom Gestank. Wir gönnen uns eine köstliche, mächtige Portion Eis. Mächtig heißt im Schwedischen: einen Suppenteller voll. Mit viel Sahne. Auf der kleinen Straße kurven im Schritttempo gepflegte amerikanische Straßenkreuzer. Wie üblich in Schweden, werden sie spazieren gefahren. Schon von Weitem hört man vertraute Töne von Bill Haley und Elvis aus ihren »Amischlitten« der 50er- und 60er-Jahre. Es ist eine lieb gewonnene Zeremonie in Schweden. Genau wie Kaffeetrinken. Ein Becher kostet 20 bis 25 Kronen, egal wie oft du die Tasse auffüllen lässt, es kostet nichts extra. Übrigens: Ich trinke ihn schwarz. »Das einzig Wahre.«

Allein hocken wir, sehr sommerlich gekleidet, die Beine angezogen im Cockpit, bis ein Mann auf Distanz KATHENA NUI in Augenschein nimmt. Mal von rechts, dann von links und im rechten Winkel. Immer aus einer gewissen Entfernung. »Der scheint irre neugierig zu sein«, sagt Astrid. Kurze Zeit später tritt er näher und begrüßt uns mit dem schwedischen »Hej«. Oscar interessiert sich für unser Schiff, speziell für den Bootsbau. Blechstärken, Elektrolyse, das Unübliche sind seine ersten Fragen. Als er hört, dass KATHENA NUI 30 Jahre ohne eine installierte Maschine war, wird er wild. Er wünscht das Boot zu besichtigen. »Am besten sofort.«

Ich zeige ihm die Bilge, worauf er sich spontan äußert: »So ein Schiff möchte ich auch.« Unsere Bilge ist weiß, sauber ausgemalt und wirklich trocken. Weiter interessieren ihn die Schweißnähte der Spanten und Längsstringer. Er ist zwar zurückhaltend, aber doch zu einem Smalltalk aufgelegt: »Das schlichte Deck mag ich.« Vieles gefällt ihm. Wanten, Mast, nur zwei Löcher im Rumpf mit Ventilen über der Wasserlinie. Oscar schaut sich alles genau an. Ebenso das Rigg verblüfft ihn. »30 Jahre dasselbe?« »Ja, keine Abnutzung an den Püttings, kein Kardeel der Drähte zeigt Verschleiß«, antworte ich. Dass ich das Ganze mit einem Minimum an finanziellem Aufwand zusammengebracht habe, macht ihn sprachlos. Ich füge an: »Weil wir nur geringe Ansprüche an die Ausrüstung gestellt haben.«

Verständigt haben wir uns in Englisch, das Oscar perfekt beherrscht.

»See you tomorrow«, sagt er zum Abschied.

In den 80er-Jahren nannte eine Segelzeitschrift mein Boot primitiv. Aber sie hatten nichts begriffen. Ich hatte keinen Bedarf an all dem technischen Klüngel, der angeboten wurde. Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Kühlschrank und einem Paar optimalen Gummistiefeln, nehme ich die Stiefel. Astrid denkt ähnlich. Sie will an Bord ausdrücklich Komfort vermissen, weil ja zu Hause die Bedienungsknöpfe der Maschinen demnächst wieder zur Verfügung stehen.

Oscar ist Kunstmaler. Er wohnt praktisch um die Ecke in Smygehamn direkt am Wasser auf einem großen Grundstück. Wir freuen uns über das Wetter und verabreden uns für den nächsten Tag in seinem Haus am Strand. Wie eindrucksvoll und erfolgreich er ist, zeigen seine Werke an den Wänden. Einige grafische Zeichnungen von Leuchttürmen weltweit gefallen mir besonders. Am liebsten möchte er sein Haus gegen ein Aluschiff tauschen. Das sagt er nicht direkt, lässt aber Ähnliches durchblicken. »Du hast ein Schiff für das Meer. Mir gefällt dein konsequenter Sinn für das Einfache.« Astrid ist, klar doch, begeistert: von Mann und Haus, mehr noch von seinem »Garten«, einer Riesengrasfläche mit altem Baumbestand, die ihm viel Zeit raubt. Er mäht den Rasen noch mit einem einfachen Benzinrasenmäher.

Beim Abschied holt Oscar ein Buch, das er uns zeigen will. Astrid kann es nicht glauben: »›Tausend Tage Robinson‹ auf Schwedisch.« Und an was erinnert er sich? »Eure Geschichte in Komodo, wo ihr nach zwei Jahren rausgefunden habt, dass sich mit den Bodenbrettern des Dingis im Cockpit leicht ein Doppelbett bauen lässt.« Wir lachen und wundern uns, dass er die Geschichte behalten hat. Lange her – 1970.

Mein ganzes Leben war ich ein Reisender. Angefangen hat es als 18-Jähriger mit dem Rad nach Indien, wo ich erstmals ein Segelboot sah und in der Lagune mitsegeln durfte. Dahinter lag das Arabische Meer, ein Teil des Indischen Ozeans. Ich war begeistert von dem Anblick. Noch nie zuvor hatte ich ein wirkliches Meer gesehen. Und reagierte ohne Umschweife und mit voller Leidenschaft: Ich will ein Boot haben und damit übers Meer reisen. Zwei Nächte konnte ich vor Aufregung nicht schlafen.

Doch erst einmal ging es von Indien über Land bis Japan, wo ich mich beim Wandern durchs Inland bis zum Hals in einem Gülleteich wiederfand. Ich fing an zu schreien, aber es hat mich niemand gehört, geschweige denn gesehen. Auf Zehenspitzen versuchte ich an die Kante zu kommen, doch zu allem Übel hatte die Grube keinen festen Rand. Es dauerte, bis es mir gelang, zuerst den Oberkörper ins Gras zu rollen. Da lag ich nun in dickflüssiger Jauche. – Dann doch lieber Orte an der Küste: Kyoto, Hakodate, Yokohama. Ortsnamen in der Fremde bedeuteten für mich einen verlockenden Zauber. Und sie sind’s noch. Heute ist es Smygehamn. Um 1960 war ich stark auf Tahiti fixiert. Wie verrückt habe ich darauf hingearbeitet, diese Südseeinsel mit einem eigenen Boot zu besuchen. Erst nach vier Jahren Arbeit auf Handelsschiffen der Schweden und Norweger hatte ich das Geld für ein Segelboot zusammen. KATHENA wurde kurzerhand gekauft, und los ging es mit geringen Segelkenntnissen. Durchs Alleinsegeln bekam ich direkt das richtige Gefühl und die Sicherheit für mein Segelboot. Speziell nach der gelungenen Atlantiküberquerung in der Karibik. Ich war angekommen, trank einen Planter’s Punch und war überglücklich.

Ich brauchte 47 lange Tage für den Atlantik. Ich machte Fehler, aber ich habe auch sehr viel gelernt.

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Ein Traum vor unserer Haustür

Wir passieren Ystad und Simrishamn. Beide Städte sind ein Gefühl: weit, groß, windig. Sie bieten Kaffee schwedisch. Alle Leute sind freundlich und salopp. Ein Hafenmeister lädt zum ersten Saisongrillen ein. Steaks und Kartoffeln. Dazu Tomatensalat und Baguette. Ausgezeichnet, speziell die Tomaten. Der Strand in Simrishamn ist nicht weit: zermahlenes, grobes Gestein, auf dem die Wellen aus Nordost enden. Die frühen Schwimmer trauen sich schon ins Wasser, obwohl die Temperatur noch weit unter 20 °C liegt. Nix für uns. Unermüdlich brechen sich die Wellen, denn es weht, und das nicht zu knapp. Irgendwer hat Blaualgen gemeldet. Irgendwo. Um mich herum stehen Menschen, die ich nicht verstehe. Segler, die zum Bootwaschen den Wasserschlauch nutzen oder wiederholt mit den Festmachern hantieren, aber kaum miteinander reden. Deutsche Segler sind in der Überzahl. An der Sprache liegt’s also nicht.

Weiter gefaltete See. Astrid greift zu einem Buch: »Ganz allein« von Christophe Chabouté. Eine »Graphic Novel«, die mit einfühlsamer Zeichenkunst die Geschichte eines Mannes auf einem französischen Leuchtturm erzählt. Er wurde dort auch geboren und bewirtschaftete später den Turm. Spannend und sehr unterhaltsam mit einem überraschenden Ende. Schon etwas Besonderes, vor allem ungewohntes Blättern und Lesen. Die Geschichte geht durch die zahlreichen Zeichnungen schnell voran. So hat Astrid 400 Seiten flott durch. Mir schwant, womöglich habe ich für sie nicht genug Lesestoff eingepackt. Das ist mir noch nie passiert.