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Impressum

1. Auflage

ISBN E-Book: 978-3-903183-99-5

Cover: Clemens Toscani

Gesamtherstellung:

Inhalt

Starke Seiten!

BUMILLER-PFEILER UND ORTLERNORDWAND VOM SUPERSTAR ZUM BUHMANN

#Trailbeard – Spielwiese Natur

Goldene Zeiten für Abenteurer

5895 Meter Kilimandscharo, mit einer kaputten Schulter

4892 Meter Mount Vinson, und ein bekannter Libanese

Spartathlon 2001 245.300 Meter und vier Stufen

Der Aufstieg auf den Gipfel der Welt

Starke Seiten!

Mit einigen E-Books, die herausragende Persönlichkeiten vor den Vorhang holen und spannende Geschichten erzählen, will der egoth Verlag seinem selbstgewählten Leitmotiv gerecht werden.

Unsere Bücher erzählen, fesseln, wühlen auf. Sie wollen einen Beitrag zur Reflexion bieten. Sie sollen wertvoll sein.

Sie alle haben aber mit Sicherheit eines: starke Seiten.

Viel Spaß beim Lesen!

Egon Theiner

www.egoth.at

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BUMILLER-PFEILER UND ORTLERNORDWAND

VOM SUPERSTAR ZUM BUHMANN

Etwas verdattert stehe ich da und werde vor meinem Bergkameraden kleiner und kleiner. „Du Trottel“, schreit er mich an, „was fällt dir überhaupt ein, du Idiot? Du hast uns alle gefährdet, du Vollkoffer.“ Nein, eigentlich ist das, was er sagt, ungleich schlimmer. Trottel, Idiot, Vollkoffer fallen eher in die Kategorie der wenig schmeichelhaften Kosenamen während einer zehnminütigen Tirade, die ich in meinem Bergsteigerleben vorher noch nie gehört habe und nachher nie wieder hören würde. In diesem Sommer 1985 bin ich zwar erst 22 Jahre alt, aber kein Anfänger mehr. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, doch nur mein Bruder Otto verteidigt mich, wie immer. Die anderen sind schockiert und mehr oder weniger beleidigt. Und einer eben ganz besonders. Eigentlich müssten er und auch alle anderen mir dankbar sein! Es ist meine Idee gewesen, den Bumiller-Pfeiler in direktem Ausstieg über eine überhängende Eisnase zu bezwingen. Und dafür werde ich jetzt nun beschimpft?!

Dabei hat sich unser ältester Bruder Norbert etwas wirklich Schönes einfallen lassen – eine Tour auf den 3905 Meter hohen Piz Palü über den 1887 von Hans Bumiller erstbegangenen Nordpfeiler des Mittelgipfels und anschließend, sofern wir noch bei Kräften wären, weiter auf den höchsten Berg Südtirols, auf den 3904 Meter hohen Ortler. Und zwar über dessen Nordwand.

Otto und Norbert waren dabei, Patrick Gufler aus Längenfeld und Robert Stenico aus Landeck/Zams. Wir brachen zu viert auf, wollten Robert bei sich zu Hause abholen und wussten, dass wir uns beeilen mussten, um die letzte Gondel vor Betriebsende vom Berninapass auf die Diavolezza-Hütte zu erwischen. Doch als wir bei unserem Klettergefährten eintrafen, lief gerade ein Formel-1-Rennen im Fernsehen, auf das er nicht verzichten wollte. Wir warteten und warteten, und als ich zu drängen begann – „wir müssen endlich los“ –, beruhigten mich die anderen. Als wir endlich unterwegs waren, ging es flott rein ins Engadin, nach Pontresina, Richtung Bernina. Doch als wir auf den Parkplatz der Seilbahn ankamen, fuhr gerade die allerletzte Gondel über unsere Köpfe hinweg Richtung Hochgebirge.

Ich war verärgert. Verärgert über Robert und über Beamte im Allgemeinen – Personen, die nicht gelernt haben, mal Gas zu geben, wenn es notwendig ist. Das ist eine bösartige Verallgemeinerung – doch in diesem Moment schob ich ihm alle Schuld zu, dass wir jetzt fast 900 Höhenmeter bis zur Hütte aufsteigen mussten. Dort würden wir in der tiefsten Nacht ankommen und ich würde den Bumiller-Pfeiler, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, nicht betrachten können. Und das alles nur wegen eines dummen Formel-1-Rennens. Die Energie, die ich heute aufbringen musste, hätte ich viel lieber morgen am Pfeiler verpulvern wollen. Aber wie auch immer: Wenn du den Bumiller erklimmen willst, dann muss du eben heute noch da hoch, koste es, was es wolle. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß den Hüttenanstieg zu bewältigen. Allerdings sprach ich mit den älteren beiden Bergkameraden nicht wirklich viel, denn in diesen Augenblicken waren sie mir einfach nur, nun ja: unsympathisch.

Immerhin erhielten wir noch ein Abendbrot, als wir auf der Diavolezza-Hütte eintrafen. Die Nacht war kurz, um vier Uhr stiegen wir mit Stirnlampen rund 200 Höhenmeter auf dem Persgletscher ab. Als wir den Wandfuß des Pfeilers erreichten, war der Plan, dass wir das erste Drittel seilfrei klettern würden und dann Otto mit Patrick und Norbert mit Robert die Seilschaften bilden sollten.

Ich wollte weiterhin ungesichert aufsteigen. Die Eiskletterei und die Felspassagen erschienen mir nicht schwierig, der Eisschlag konnte noch die größte Gefahr darstellen. Aber dafür hatten wir ja Helme dabei.

Doch manchmal nützen die schönsten Pläne nichts. In der ersten Seillänge warf der Berg einen halben Kubikmeter Steine nach mir, hatte aber zu ungenau gezielt. Sie zischten ein paar Meter von mir entfernt vorbei. Norbert befahl und wir alle gehorchten: „Ans Seil!“ Ich hatte nicht die Courage, meinem älteren Bruder zu widersprechen – im Gegenteil, in diesem Moment schätzte ich sein Verantwortungsbewusstsein. Just als wir angeseilt waren, wurde es bitterkalt: Ein Eissturm kam auf, und er wehte Schneekristalle in unsere Gesichter. Otto zog einen nagelneuen Anorak aus dem Rucksack, doch kam nicht dazu, ihn anzuziehen – der Wind riss ihm das Kleidungsstück aus der Hand, und weg war es. Wenig später stürzte auch sein Fotoapparat die Wand hinunter, was mich mehr ärgerte als ihn. Wir würden keine Bilder von unserer Besteigung haben.

Der 800 Meter hohe Bumiller-Pfeiler bot an diesem Tag eine nette kombinierte Fels-Eis-Kletterei im fünften Schwierigkeitsgrad, die auch mit groben Bergschuhen gut bewältigt werden konnte. Locker überholten wir zwei andere Seilschaften. Und dann standen wir, nach rund sechs Stunden, vor den letzten 60 oder 70 Metern des Seracs unter dem überhängenden Ausstieg. Es hätte auch eine leichtere Variante gegeben, doch dieses Heldenstück wollte ich mir nicht nehmen lassen: den Bumiller-Pfeiler in der „Direttissima“ zu besteigen, den Hängegletscher direkt zu überwinden und ihn nicht zu umgehen. Also bat ich darum, im Vorstieg klettern zu dürfen und schaffte es unproblematisch zwei Drittel des Weges hinauf. Dort baute ich einen Stand und ließ Norbert nachkommen, der dann Otto nachsicherte. Dieser wiederum sicherte die beiden anderen. Doch die letzten Meter erwiesen sich als heimtückisch. Die Eisgeräte fanden eineinhalb oder zwei Meter unter dem Ausstieg keinen Halt mehr und rutschten durch. Schon interessant: Zwar stand ich noch auf Eis, doch über mir lag pappiger Schnee. Das wird spannend, dachte ich mir. Gedanken über Gedanken durchwanderten mein Gehirn: Wie stelle ich das an? Abseilen geht auf keinen Fall - dazu bin ich schon zu weit gegangen. Gib dir jetzt nur ja keine Blöße, redete ich mir ein. Aber wie um aller Welt komme ich über diese Schlüsselstelle drüber?

Ich versuchte alles, damit ich über diese Schneewechte einen Weg finden konnte: Ich probierte, die Eisgeräte zu drehen, während sie im tiefen, pappigen Schnee versanken, ich drehte sie sogar um 180 Grad, ich versuchte es mit bloßen Händen. Nichts. Langsam war ich mit meinen Kräften am Ende, und meine Oberarme wurden in diesem überhängenden Serac immer dicker und dicker. So legte ich durch andauerndes Auf- und Absteigen zuerst einmal eine Art Trittspur in den teils überhängenden Hängegletscher mit 800 Metern Luft unter den Sohlen an. Dann fixierte ich die Eisgeräte am höchsten Punkt der Eis- und Schneewand, an der sie einigermaßen stabil hingen, und zog meine Hände aus den Geräteschlaufen. Zuletzt verlangte ich von Norbert viel Seil – ich wusste, dass er ein Sicherheitsdenker war, der mit dem Strick geizte: Je weniger Seil, desto weniger tief kann man bei einem Sturz fallen. Doch in diesem Fall benötigte ich viel Seil, denn ich wollte mich mit aller Kraft und etwas Glück über die Wechte winden – da durfte ich auf keinen Fall den geringsten Seilzug spüren.

Dann ging es los. Ich stieg so weit wie möglich nach unten, so, dass ich die Eisgeräte am untersten Ende gerade noch halten konnte, lief mit Anlauf so schnell ich nur konnte in den vorher angelegten Trittstufen mit wenigen Schritten hinauf, hechtete in der immer weicher werdenden, überhängenden Schneenase nach oben und begann mit aller Gewalt ein außergewöhnliches Unterfangen. Während ich mich mit der einen Hand noch an einem Steileisgerät festhielt, griff ich mit der anderen Hand weit oberhalb meines Kopfes in den Schnee und begann, darin zu wühlen. Sobald ich etwas Halt gefunden zu haben schien, nahm ich die andere Hand zu Hilfe. Ich kam mir vor wie ein Schwimmer – eben nur nicht im Wasser. Doch dann hatte ich es geschafft, mich über Fels, Eis und Schnee den Bumiller-Pfeiler hochzukämpfen. Am Ende meiner Kräfte wälzte ich mich zufrieden im Schnee, juchzte und war einer der glückseligsten Gestalten auf Gottes Erdboden. Ich hab‘s geschafft, rief ich in mich hinein, ich bin der Chef hier am Bumiller-Pfeiler.

Nun sollte ich einen Standplatz für meine Freunde bauen, doch ich befand mich auf einem großen schneebedeckten Plateau auf knapp 3900 Metern Seehöhe, auf dem es keinen Felsen, keinen Stein und kein Eis gab. Zudem hatte ich nur eine Reepschnur, eine rund 20 Zentimeter lange Eissschraube und meine Handschuhe zur Verfügung. Alles andere war unten am Standplatz. Was tun?

Ich begann mit der flachen Hand ein Loch zu graben, das letztlich so tief war wie mein Arm – also rund 40, 50 Zentimeter. Mein Ziel war es, einen so genannten „toten Mann“ zu bauen. Ich legte in einen der Wollhandschuhe die Eisschraube, stülpte den anderen Handschuh aus der entgegengesetzten Richtung ebenfalls darüber, band die Reepschnur darum und achtete darauf, dass ich die im Handschuh eingepackte Eisschraube sauber in die Mitte des Schneeloches legte. Dann schüttete ich das Loch mit viel, viel Schnee zu, stapfte ihn fest und hängte einen Karabiner an die aus dem Schnee ragende Reepschnur, und an diesen das Seil. Ich hatte einen Stand!

„Norbert, Stand“, schrie ich nach unten. „Gewaltig, Ali! Sensationell, du Wildsau, du!“, bellte er zurück, während die anderen inzwischen noch im überhängenden Serac standen und unbedingt so rasch wie möglich zu mir nachsteigen wollten. Denn hierbei handelte es sich um eine sehr schwierige, vor allem total ausgesetzte Kletterei mit viel Luft unter den Steigeisen, die jeder gerne hinter sich gebracht haben wollte.

Entgegen anderer Usancen habe ich mich nicht ausgehängt. Zwar hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, doch gleichzeitig war ich mir auch sicher, dass der Stand einen Sturz aushalten würde. Oder sagen wir: ziemlich sicher. Ich war eben in der Situation eines Verdurstenden. Dieser würde trinken, was immer er bekommen könnte. Und ich musste einen Stand bauen mit dem, was mir zur Verfügung stand. Ich hatte so gut wie nichts.

In der Wand standen meine Bergkameraden aufgefädelt. Ich sicherte gerade Norbert und Otto, letzterer Patrick und Robert. „Stand!“, rief ich nochmals und stellte mich auf den Schnee, unter dem eine Eisschraube und zwei Handschuhe lagen. Ich wollte das wenige Material mit so viel Gewicht wie möglich belasten und hoffte, dass alles gut gehen möge. Norbert hängte sich aus dem Standplatz aus und kletterte am leicht gespannten Seil nach, und er tat sich verdammt schwer bei dieser Aktion an seiner Leistungsgrenze…

…und dann stürzt Norbert. Innerhalb von einer Schrecksekunde werde ich weiß im Gesicht, und innerhalb der gleichen Sekunde muss ich von einem Ohr zum anderen grinsen: Der Stand hält! Freilich versuche ich mit meinem Körper so viel Last wie nur möglich vom Sturz aufzunehmen, doch hätte der Stand nachgegeben, wären wir alle gestürzt. Otto steigt als nächster aus der Wand, sturzfrei klettert er bis zu mir nach, dann kommt Patrick, den zuvor eine Eisscholle an der Lippe getroffen hat, blutend und grantig zu uns hoch: Auch er belastet den Stand mit einem Sturz. Es ist der zweite Sturz. Immer noch bin ich sehr unsicher, aber erleichtert und froh, dass es auch Patrick nicht mitsamt allen anderen ins Leere reißt. Als letzter ist Robert an der Reihe. Wir sehen bereits seine Kappe, dann seine Augen, beobachten, wie er sich über die Kante schiebt – er freut sich schon unsere fröhlichen Gesichter zu sehen – doch dann geht auch ihm der Saft aus und er verschwindet wieder aus unserem Blickfeld. Es ist der dritte Sturz, den mein Stand überlebt. Ich bin fast stolz, nein: sehr stolz auf mich.

Als wir alle wieder vereint sind, liegen wir uns in den Armen, gratulieren uns und freuen uns unheimlich über unsere Leistung. Ich werde von allen als Held gefeiert. „Super Albert“, sagen sie, „ein Wahnsinn, was hast du dir dabei gedacht…“ Ich komme mir vor, als hätte ich etwas Überirdisches geleistet. Meine Kameraden loben mich in den Himmel, und ich bin derart stolz, dass ich mich über diese Gratulationen mehr freue als über den nahe liegenden Gipfelerfolg. Dann sortieren wir unser Material, wir wollen ja weiter zum nahegelegenen höchsten Punkt des Piz Palü, während Patrick den Stand abbauen soll, und er beginnt zu graben. Patrick ist ein gutmütiger, vor allem aber ein bedachter Mann, der Ruhe ausstrahlt und Sicherheit vermittelt. Einen Schritt nach dem anderen machen, ohne Hektik – das ist sein Motto: Was ich heute nicht erledige, das werde ich morgen oder übermorgen machen. Patrick hat einen gutmütigen Charakter, er ist selten zornig oder böse, nein: Er ist eigentlich die Ruhe selbst.

Wahrscheinlich denkt Patrick, dass er zwei Eisschrauben findet, gar ein Eisgerät – jedenfalls mehr als das, was er letztlich in Händen hält. Als er die Hälfte des „toten Mannes“ ausgegraben hat, wird er kreidebleich, starrt angewurzelt auf das kleine Häufchen Handschuhe, zieht die Schraube heraus und beginnt fluchend auf mich zu zeigen. „Was soll das, nennst du das hier einen Stand? Hast du wirklich an diese mickrigen Dinger die Leben von zwei deiner Brüder und zwei deiner Freunde gehängt, in einem überhängenden Serac?“ Sein Wortschwall ist imminent und nicht enden wollend. „Wir haben 800 Meter Luft unter den Sohlen, und du baust einen solchen Scheiß-Stand!? Hast du überhaupt keinen Verantwortungssinn? Du dumme Nuss, du Trottel, du Arsch. Mit dir zu klettern ist ja gemeingefährlich.“ „Was hätte er sonst machen sollen?“, meint mein Bruder Otto, doch seine Verteidigung und meine Rechtfertigungen prallen an den Ohren der anderen ab. Norbert, unser Sicherheitsfanatiker, wird sich auch gedacht haben: „Diesen Irren nehmen wir nicht mehr mit.“ Dennoch will ich nicht sofort den Schwanz einziehen und versuche, mich herauszureden, gehe fast zu einem sinnlosen Gegenangriff über. „Ja, was wollt ihr denn! Das war doch wohl ein tadelloser Stand, zumal ihr euch alle einen Sturz geleistet habt, die der Stand verkraften musste.“ „Das ist doch das Mindeste – dass ein Stand hält“, hallt es fast gleichzeitig aus allen Mündern. Ich gebe es auf, ziehe langsam ab von meinen schimpfenden Gefährten und marschiere Richtung Gipfel. Jammert nur da hinten, denke ich mir, ich hab‘s geschafft, den Bumiller mit dem direkten Ausstieg und das im Vorstieg bei diesen Verhältnissen zu bezwingen. Dass ich innerhalb von Minuten vom Superstar zum Buhmann gestempelt werde –ich werde es überleben. Im Nachhinein verstand ich sie schon auch ein bisschen. Sie hingen alle an meinem seidenen Faden – an einer sechs Millimeter dünnen Reepschnur, die an einer 18 Zentimeter langen, im Schnee eingegrabenen Eisschraube befestigt war.

An einem wunderschönen Sommertag marschiere ich also mit den anderen wie ein Häufchen Elend stumm zum Gipfel. Spätestens da gratulieren mir dann jene Kameraden, die mich vor wenigen Minuten noch steinigen wollten, nichtsdestotrotz in guter Bergsteigertradition. Ein kräftiger Händedruck, ein ehrlicher Blick ins Gesicht, eine Umarmung. Lediglich Patrick ist immer noch ein wenig sauer und beleidigt auf mich. Wird schon vergehen, denke ich mir und bin wieder voller Stolz, als uns andere Bergsteiger auf dem Gipfel, die unseren Ausstieg mitbekommen haben, auf das Ehrlichste gratulieren. Vom Piz Palü geht es über den Ostgipfel und den Gletscher zurück zur Diavolezza-Hütte, und mit dem Verstreichen der Höhenmeter beruhigen sich auch wieder die Gemüter. Jeder ist innerlich froh, den Pfeiler überwunden zu haben, und jeder mag auch ein wenig stolz sein, den direkten Ausstieg geklettert zu sein. Zweieinhalb Stunden und 1000 Höhenmeter später sind wir wieder Kameraden. „Das war echt lässig“, sagt der eine, „einfach nur super“, stimmt der andere zu.

*

Normalerweise stößt man nach solch einer Tour an, lässt sich hochleben und fährt wieder nach Hause. Doch wir hatten uns für dieses Wochenende vom 13. bis 15. Juli 1985, von Samstag bis Montag, etwas ganz Besonderes vorgenommen. Wir fünf wollten auch noch die Ortler-Nordwand durchsteigen. So verloren wir auf der Diavolezza-Hütte keine Zeit, fuhren mit der nächsten Gondel zurück zur Talstation und mit dem Auto über den Berninapass Richtung Bormio. In der Nähe der norditalienischen Stadt campierten wir hinter dem Auto, um tags darauf die Fahrt Richtung Sulden fortzusetzen.

Dort angekommen, stiegen wir auf die Tabarettahütte hoch und querten von dort weiter den Fuß der Wand, wo wir zwischen Steinen biwakierten. Wir hatten auch unsere Schlafsäcke dabei, doch diese konnten uns nicht vor einem schlechten, harten Untergrund bewahren. Es waren nur Steine, alles nur Steine weit und breit, auf denen wir etwas schlafen hätten können. Die Nacht war sternenklar. Immer noch aufgeputscht von den Erlebnissen am „Bumiller“ wusste ich, dass es klettertechnisch zwar einfacher, konditionell allerdings um einiges schwerer werden würde. Nervosität war keine zu spüren, dafür aber wuchs der Respekt mit jeder Stunde. Ich war jedenfalls froh, als wir um zwei Uhr nachts aufbrachen. Die Ortler-Nordwand war keines der großen, ungelösten Probleme der mitteleuropäischen Bergwelt. Sicher, mit 1200 zu überwindenden Höhenmetern ist sie eine der größten Wände der Alpen, doch sie bietet technisch wenige Probleme.

Wir wussten aus Erzählungen und aufgrund unserer Recherchen, dass man früh unterwegs sein musste, um Eis- und Steinschlag zu entgehen, der von der „Gurgel“ – der Verengung der Wand zwischen zweitem und drittem Eisfeld – nach unten donnert, wenn die Sonne diese Stelle zu küssen beginnt. Deswegen war unsere Strategie wieder einmal auf Schnelligkeit angelegt. Wir wollten zwei Drittel der Wand seilfrei erklettern; dass es eine mehr oder weniger reine Eiskletterei war, kam mir entgegen – im Eis fühlte ich mich besonders wohl!

Doch auch wenn wir sehr früh aufgebrochen waren, konnten wir den Gewalten der Natur nicht entrinnen. Es regnete Eis und Stein, und ich wusste: Wir sind, trotz all unserer Vorsätze, zu spät unterwegs. Kaum hatte ich diesen Gedanken fertig gedacht, traf mich ein faustgroßer Eisbrocken am Knie, doch außer eines stechenden Schmerzes, der wieder nachließ, blieb dieser Gletschergruß ohne weitere Folgen. Je höher wir kamen, umso intensiver wurden allerdings Eis- und Steinschlag.

So waren wir alle glücklich, nachdem wir es durch die „Gurgel“ geschafft hatten. Wir seilten uns für die verbliebenen 400 Höhenmeter an und erreichten problemlos den Ausstieg. Auf dem Weg zum Gipfel setzte mir – wie gewohnt – die dünne Luft zu, aber müde waren wir alle. Über den Normalweg ging es hinunter zur Payer-Hütte, dann über die Tabaretta-Hütte zum Wandfuß, wo wir unser deponiertes Biwak-Material auflasen. Und schon waren wir wieder auf dem Rückweg nach Sulden und nach Hause.

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#Trailbeard – Spielwiese Natur