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Josef H. Reichholf

Die Bereinigung der Natur

punctum 009

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Inhalt

Vorbemerkung

Unter Brücken

Erinnerungen

Glyphosat: Teufelszeug oder nur zu viel des Guten?

Rückblende DDT

Ein Abstecher nach Australien

Vernichtung der Geier

Flächenwirkung

Die Natur voller Gift

Die Fiktion vom Gleichgewicht

Subventionen

Fern vom Gleichgewicht – ein Teufelskreis?

Vorbemerkung

Pflanzenschutzmittel sind umstritten. Die meisten mussten nach Jahren ihres Einsatzes wieder vom Markt genommen werden, weil sich Schäden zeigten, mit denen nicht gerechnet worden war. Besonders um das Glyphosat, das Allround-Pflanzenvernichtungsmittel, tobt seit Jahrzehnten ein regelrechter Kampf. Dieser erinnert an die 1960er und 1970er Jahre, als es um DDT, das Wundermittel der Insektenvernichtung ging. Wie damals liegen die wirtschaftlichen Vorteile von Glyphosat und seine Auswirkungen auf Menschen und Umwelt so weit auseinander, dass eine ausgewogene Bilanzierung geradezu unmöglich anmutet. Wie soll das Schwinden von Lerchen und Schmetterlingen, der Blumen und Kräuter »verrechnet« werden gegen die Vorteile und Gewinne, die der Einsatz von Glyphosat und anderen Pflanzenschutzmitteln den Landwirten, den Herstellern und über die niedrigen Preise auch den Konsumenten bringt? Welche Gewichtung kommt Umweltschäden zu? Wie ist die mögliche Auslösung von Krebs zu beurteilen, die sich sehr schwer, wenn überhaupt, auf direkte Wirkungen von Pflanzenschutzmitteln zurückführen lässt? Müssen wir negative Effekte einfach in Kauf nehmen, weil wir so billige Lebensmittel haben wollen? Welche Rolle spielen die staatlichen Subventionen, also die Leistungen, die der Gesellschaft über die Steuermittel abverlangt werden, für die Problematik, die durch den umfassenden Einsatz von Agrochemie entstanden ist? Überproduktion war und ist ihre Folge: Butterberge, Milchseen und Massen von Billigfleisch; auch Getreidemengen, die so groß wurden, dass sie bei Verwertung als Brennstoff für Pelletheizungen finanziell mehr brachten als für Brotgetreide. Die Massenproduktion verursachte eine Bereinigung der Natur. Sie war nicht notwendig, um die Bedürfnisse der Bevölkerungen zu decken, von denen die Subventionen kommen. Die Überproduktion drückte dagegen die erzielbaren Preise für die Landwirte. Global geriet sie zur erdrückenden Konkurrenz für wirtschaftlich schwächere Länder und löste desaströse soziale und politische Folgen aus. Zudem trägt sie am meisten zur Erwärmung des Klimas bei. Der Klimawandel ist keineswegs nur vom Autoverkehr verursacht. Vielmehr entfällt auf die moderne Landwirtschaft der Großteil der freigesetzten klimawirksamen Gase. Wir haben es also mit einem der global bedeutendsten Probleme zu tun. Eine halbwegs erschöpfende Behandlung würde den Umfang jedes Buchs sprengen, es kann hier daher nur um Facetten gehen, die den ganzen Komplex umreißen. Glyphosat ist ein Aufhänger, nicht das zentrale Problem. Aber an seinem Beispiel lässt sich verdeutlichen, worum es insgesamt geht.

Sollte Glyphosat tatsächlich nach dem 31. Dezember 2023 EU-weit und damit auch in Deutschland nicht mehr zulässig sein, stellt sich die Frage: Was dann? Die Agrarindustrie wird nicht akzeptieren, dass danach das »Unkraut« rein mechanisch wie früher kurzzuhalten ist. Neue Gifte werden nachfolgen und großflächig eingesetzt werden. Ob sie besser sind und weniger Neben- und Nachwirkungen zeigen, wird wiederum erst nach Jahren oder Jahrzehnten zu sehen sein. Von dieser Verzögerungszeit profitieren Hersteller und Anwender. Die Zeit der Anfangserfolge und der Unsicherheit über die weiteren Folgen ist ihre große Zeit; die Phase, die Gewinne bringt. So war es von Anfang an, von DDT, Aldrin und Dieldrin über alle Pflanzenschutzmittel, die in großem Stil eingesetzt wurden. Gegen den anderen Ansatz, die Nutzpflanzen selbst für die sie schädigenden Insekten, Pilze und die Erreger von Krankheiten unverwertbar zu machen, wehren sich politisch höchst wirksame Gruppierungen der Bevölkerung wegen unkalkulierbarer Risiken, die sie befürchten. Sie bekämpfen diesen noch stärker als den Gifteinsatz und lehnen »Gentechnik« kategorisch ab. Ähnliche Widerstände richten sich gegen den Masseneinsatz von Organismen zur biologischen Schädlingsbekämpfung, denn auch diese könnten ausbrechen aus der ihnen zugedachten Funktion und unabsehbare Folgen anderweitig in der Umwelt zeitigen. Das Dilemma von Massenproduktion, die so anfällig ist für Wetter und Klima, und den Erfordernissen von Menschen-, Umwelt- und Naturschutz wird also weiter bestehen. Aus grundlegend ökologischen Gegebenheiten muss sogar die Diskrepanz zwischen notwendiger und gewünschter Produktivität einerseits und dem sogenannten Naturhaushalt andererseits aufrechterhalten werden, weil Überschüsse nur fern vom Gleichgewicht in der Natur zustande kommen.

Die eigentliche Herausforderung besteht somit darin, hinreichend stabile Ungleichgewichte aufzubauen. In der seit dem Umweltgipfel von Rio 1992 bestehenden Zielsetzung von ›nachhaltiger Entwicklung‹ stecken diese stabilen Ungleichgewichte. Ob es gelingt, solche zu erzielen, ist eine der Kernfragen für die Zukunft. Denn es wird noch lange dauern, bis die Menschheit ihr Anwachsen beendet und in ein globales Populationsgleichgewicht einschwenkt. Und selbst dann wird sie sich auch nur aus Ungleichgewichten ernähren können. Die seit Jahrzehnten laufenden und die gegenwärtig wieder besonders intensiv diskutierten Veränderungen in »der Natur« sind Bioindikatoren. Das Schwinden der Lerchen und Blumen sollte als Anzeiger gedeutet und nicht als romantische Schwärmerei missverstanden werden. Zu den chemischen und ökonomischen Fakten gehört der Wirkraum, den wir Natur zu nennen pflegen, wenn auch diese künstliche Welt von natürlich gewordener Natur weit entfernt ist. Die Ökologie, die die umfassendere Betrachtungsweise vertritt, wird von der Landwirtschaft aus ihren Kalkulationen und Bilanzen weitestgehend ausgeklammert. Sie kann nichts damit anfangen, wenn »der Naturhaushalt« einem Organismus gleichgestellt wird. Und noch weniger mit der Forderung, dass dieser einen fein geregelten, festen Zustand einzuhalten habe. Dieser Zustand, der vor Beginn des Zeitalters der Chemie geherrscht hatte, würde die Welt als beste aller Welten charakterisieren. Wir müssten zu ihm wieder zurückfinden. So die vielfach geäußerte Vorstellung. Doch ist sie realistisch? Deckt sich so ein Wunschbild mit den Befunden der wissenschaftlichen Ökologie? Auch solche Aspekte werden nachfolgend anklingen. Die Natur enthält und erzeugt tödliche Gifte in großer Fülle. Warum sollte sie dann nicht auch mit den künstlich (chemisch) hergestellten Stoffen zurechtkommen? Lassen sich »natürlich« und »künstlich« so klar trennen, wie es dem Wortlaut zufolge scheint? Fragen über Fragen, in die man sich verlieren kann. Vieles muss nun vereinfacht werden. Das macht es Kritikern leicht, gleichgültig, aus welcher Richtung sie argumentieren. Dennoch sei dieser Essay gewagt.

Unter Brücken

Dschungelartig wuchert der Auwald am Fluss. Über der schmalen Uferstraße schließen sich im Sommer hohes Buschwerk und Baumkronen zum Hohlweg. Spaziergänger und Jogger benutzen den Weg gern. Zum Ausführen von Hunden ist er ideal. Die grüne Uferidylle stört lediglich der Lärm der Autobahn, die auf einer mächtigen Brücke den Fluss überquert. Als Bauwerk beeindruckt sie mit ihrer Wucht und der klaren Linienführung. Ihre funktionale Technik kontrastiert zur strukturlosen Üppigkeit der Auwaldnatur daneben. Oft ging ich mit unserem Hund unter der Brücke hindurch den Fluss entlang. Er beschnüffelte alles sehr genau und setzte alle paar Meter mit angehobenem Bein seine Duftmarke. Doch unter der Brücke lief er schnell und geradlinig weiter. Erst ein paar Meter danach fing er sein normales Kontroll- und Markierverhalten auf dem Uferweg wieder an. Es dauerte, bis mir auffiel, dass unter der Brücke nichts wuchs. Absolut nichts. Kein Pflänzlein, kein Grashalm. Der Boden war immer völlig frei von Bewuchs. Die gewaltigen Brückenpfeiler ragten daraus hervor wie frisch gesetzt. Jenseits des Flusses das gleiche Bild. Vollwüste aus Steinen und Staub. Auch wenn es viel geregnet hatte. Dann floss graubraunes Wasser über die Uferkante zum Fluss hinunter. Kleine Canyons schnitt es in die Böschung und legte die Granitblöcke frei, mit denen das Ufer gesichert worden war. Vollwüste nicht nur unter der Autobahnbrücke, sondern bereits seitwärts, wo ungehindert Regen und Licht hingelangen. Das Buschwerk des Auwaldes, das kaum dichter hätte werden können, endet wie abgeschnitten meterweit vor der Fläche unter der Brücke.

Der Hund hatte es seltsam eilig durchzukommen. Alle Hunde verhielten sich so. Keiner markierte am mächtigen, aus Menschensicht dafür ideal geeigneten Brückenpfeiler. Offenbar fand ihre Nase nichts oder nichts Gutes. Allmählich wurde mir die Brückenzone unheimlich. Denn je genauer ich darauf achtete, desto deutlicher wurde, dass nicht nur keine Pflanzen wuchsen. Es gab auch keine Tiere. Spinnen mochten sich gelegentlich dorthin verlaufen. Einzelne Schmetterlinge, Kohlweißlinge meistens, flogen über die völlig nackte Fläche zum anderen »Ufer« hinüber, als ob ein Gewässer zu überqueren wäre. Nie suchten Finken unter der Brücke nach Sämereien, wie sie das auf dem Uferweg taten. Es gab offenbar nichts zu holen. Die Üppigkeit des Auwaldes trug nichts hinein auf diesen weiten offenen Boden. Plötzlich kam die Erkenntnis, die den »Fall« zur Regel werden ließ: Unter anderen Brücken sieht es genauso aus. Es wächst und gedeiht nichts. Nur wenn sie klein und niedrig sind, fällt dies nicht so auf wie bei der hohen Autobahnbrücke. Also musste der Boden behandelt worden sein mit etwas, das alles Wachstum verhindert und ihn weitestgehend steril hält. Das Mittel, das wahrscheinlich dafür benutzt wird, trägt verschiedene Handelsnamen, weil es für unterschiedliche Zwecke jeweils etwas verschieden zusammengesetzt ist. Der entscheidende Wirkstoff ist meistens eine chemische Verbindung namens Glyphosat. Es ist potent genug, alles Wachstum zu unterbinden und damit auch alles Tierleben unmöglich zu machen, sofern es regelmäßig genug angewandt wird.

Doch einmal keimte dort etwas. Große Blätter entwickelten sich. Blüten kamen. An den Blättern ließ sich erkennen, was da aus dem vergifteten Boden spross. Als sich Blüten öffneten, gab es keinen Zweifel mehr: Tollkirschen. Diese Giftpflanze schafft es also, aus dem vergifteten Boden aufzuwachsen. Zur Beerenreife kamen die Tollkirschen nicht. Man hatte die Stauden entdeckt und entfernt. Wie dies geschah, bekam ich nicht mit. Jedenfalls herrschte danach wieder die makellos graue Leere. Vermutlich wurde mit der Entfernung der Giftpflanzen heftig nachvergiftet. Wie es die Vorschrift vorsieht. In aller Gründlichkeit wird sie umgesetzt. Oder aus Bequemlichkeit, weil Gift zu sprühen kaum Arbeit macht.

Warum aber darf unter hohen Straßenbrücken kein Gras wachsen? Vertragen diese gewaltigen Gebilde aus Beton mit Stahlskelett keine Gräser und Blumen unter sich? Die Standfestigkeit der Brücken gefährdet ein Bewuchs gewiss nicht, der den Boden abdeckt und davor schützt, ausgewaschen zu werden. Eher ist das Gegenteil der Fall, wenn starke Hochwasser den Boden unter der Brücke wegspülen, den keine Pflanzendecke absichert. Wie man es dreht und wendet, eine überzeugende Begründung für das Totalvergiften des Bodens unter Brücken kommt nicht zustande. Die Jugendlichen, die sich dort im Sommer gelegentlich treffen und Musik hören oder mit einer Gitarre musizieren, denken wohl nicht an Glyphosat. Mit dem vom kalten Fluss her fast immer etwas wehenden Wind atmen sie Staub, der das benutzte Gift enthalten kann, worum es sich dabei auch handeln mag. Es muss viel davon im Boden sein, sonst würde er den Sommer über nicht so völlig pflanzenfrei bleiben. Mit dem Regen wird es in den Fluss gewaschen, wie die Abflussrinnen zeigen. Schädlich? Gefährlich? Für wen? Korrekte Anwendung? Warum überhaupt die Vergiftung?

Ein Anglerplatz ein paar Hundert Meter weiter flussabwärts fügte eine weitere Facette an. Die Stelle war offensichtlich mit einem Pflanzenvernichtungsmittel behandelt worden. Auf fünf bis sechs Metern war das Ufer völlig pflanzenfrei mit vergilbenden Randzonen zur ansonsten genauso üppig wuchernden Vegetation wie neben der Autobahnbrücke. Mittel, die das leisten, sind leicht zu bekommen. Sie werden überall in Gärten und auf öffentlichen Anlagen eingesetzt. Ganz legal. Ohne Giftschein. Und wie bequem sie sind. Kurz gesprüht, und man ist das lästige Wachsen los. Fluch oder Segen, Vernichtung oder Schutz? Angemessen oder überzogen? Wer soll wie werten?

Erinnerungen