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Über dieses E-Book

Reed Holloway, Polizist beim Philadelphia Police Department, wird des Mordes an seiner Freundin Mary beschuldigt. Doch er kann sich an die grausame Tat, die ihm vorgeworfen wird, nicht erinnern. Während für seine Kollegen feststeht, dass Reed ein skrupelloser Mörder ist, glaubt Holly Morgan, Reeds Freundin aus Kindheitstagen, an dessen Unschuld. Die Reporterin setzt alles daran, Licht ins Dunkel zu bringen und ihn zu entlasten. Aber schon bald findet sie sich im Fadenkreuz des Verbrechens wieder – ohne zu wissen, dass ihr der Feind näher ist als gedacht …

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe Februar 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-907-7
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-032-9
Hörbuch-ISBN: 978-8-72641-046-4

Covergestaltung: Buchgewand
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © tomtsya, © romakoma, © Johannes Kornelius, © Miloje, © Peangdao, © Free Life Design
Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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dp Verlag

Kapitel 1

Mitten in der Nacht erwachte Reed mit staubtrockenem Mund. Ihm war speiübel. Stöhnend fasste er sich an die Stirn. Hinter seinen Schläfen hämmerte es wie verrückt.

Er konnte Alkohol nicht ausstehen und rührte nur selten welchen an, höchstens bei besonderen Anlässen. Reed mochte die Auswirkungen nicht – die Bewusstseinsveränderung, den Verlust von klaren Gedanken und der Kontrolle über seinen Körper. Gestern hatte er eine Ausnahme gemacht und mit Mary auf ihre gemeinsame Verlobung angestoßen. Zwei Gläser Wein, vielleicht drei. Seinem Kater nach zu urteilen, hatte er es übertrieben. Benommen sank er zurück aufs Kissen und zermarterte sich das Hirn über den vergangenen Abend. Aber da war nichts. Nichts außer Schwärze und Kopfschmerzen.

»Fuck«, murmelte er und massierte sich die Schläfen. Seine Finger waren feucht. Jetzt merkte er auch, dass die Luft von einem schweren Geruch erfüllt war, den er sonst nur von Tatorten kannte.

Mühsam öffnete er die Augen. Sie schmerzten und fühlten sich an, als hätte er Sand unter den Lidern. Kein Licht drang durch die Vorhänge des Schlafzimmers. Er tastete nach der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, und schaltete sie ein. Stöhnend blinzelte er. Erst dann nahm er die klebrige Feuchtigkeit auf dem Bettlaken wahr.

Reeds Blick klärte sich, und die Details um ihn herum fügten sich zu einem grausamen Bild zusammen. Der Schock ließ seinen Herzschlag kurzzeitig aussetzen. Eine böse Vorahnung erfasste ihn. Wie in Trance starrte er auf die andere Bettseite. Der Anblick, der sich ihm bot, verstärkte Reeds Übelkeit.

Die weiße Bettdecke – blutgetränkt.

Seine zitternden Hände – blutig.

Seine zukünftige Frau – blutverschmiert und mit leblosen Augen, anklagend zur Decke gerichtet.

Reed zerrte die Bettdecke von sich, hastete ins Bad und übergab sich in die Toilettenschüssel. Sein Kopf war voller rotierender Gedanken und gleichzeitig wie leer gefegt. Was war passiert? Wieso hatte er nichts mitbekommen?

Was für ein gottverdammter Albtraum!

Es war nicht die erste Leiche, die er zu sehen bekam. Als Detective beim Philadelphia Police Department, kurz PPD, im Bereich Criminal Investigation, hatte er beinahe täglich mit derartigen Verbrechen zu tun. Doch es war etwas völlig anderes, selbst emotional involviert zu sein und seine Verlobte tot neben sich im Bett vorzufinden. Reed spülte sich den Mund aus und fixierte sich im Spiegel. Sein blasses Gesicht war voller Blut. Marys Blut. So gut wie möglich wusch er es sich ab und ging zögernd zurück ins Schlafzimmer. Er atmete tief durch und versuchte, sich nicht von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Langsam näherte er sich dem Bett und wich der dunklen Lache auf dem Boden aus, die sich unter Marys herunterhängendem Arm gebildet hatte. Die erneut aufsteigende Übelkeit schluckte er hinunter und tastete, aller augenscheinlicher Beweise zum Trotz, nach ihrem Puls. Seine Hände zitterten, der Druck in seinem Magen nahm zu. Nichts, kein Leben war mehr in Mary. Eine einzelne Träne tropfte aufs Laken. Er kniete sich neben das Bett, nahm ihre Hand und lehnte die Stirn gegen ihre miteinander verbundenen Finger. Ihre sonst so weiche Haut fühlte sich wie Plastik an und war seltsam unelastisch.

Unvermittelt richtete er sich auf und sah ins angrenzende Wohnzimmer. Reed legte Marys Hand sanft auf dem Bett ab. Hielt sich der Mörder noch in der Wohnung auf? Er holte seine Dienstwaffe aus dem Tresor und suchte jeden Raum einzeln ab. Als er sicher war, allein zu sein, kehrte er zurück zu Mary. Seine Kehle wurde eng. Die Wand hinter dem Bett war mit roten Spritzern übersät, genau wie die Nachttischlampe und der Schrank.

Da Mary zu jeder Jahreszeit nur mit einem Slip bekleidet schlief, konnte er genau erkennen, wo sich die Messereinstiche befanden. Reed presste die Lippen zusammen, als er die Wunden auf ihrem blutverschmierten Leib näher betrachtete. Sein Blick folgte den straffen Schenkeln nach oben zur sanften Kurve ihrer Taille und der Rundung ihrer Brüste. Was für ein Monster tat so etwas? Und warum? Mary war so verdammt liebenswert gewesen. Sie hatte nie etwas Unrechtes getan! Sie war aufrichtig und loyal gewesen, anders als Reed, der sie erst kürzlich derart hintergangen hatte.

Nachdem er sich von seiner Verlobten abgewandt hatte, zog ein Messer mit bauchiger Klinge seine Aufmerksamkeit auf sich, das halb versteckt unter dem Bett auf dem Fußboden lag. Er kniete sich hin und musterte die rostbraune Schneide. Anscheinend hatte er die Mordwaffe gefunden. Dass das Messer aus seiner eigenen Küche stammte, davon zeugten der abgeplatzte Griff und die auffällige königsblaue Farbe, die Mary so geliebt hatte.

Wut kochte in ihm hoch, und Reed schwor sich, das Monster zu finden und es seiner gerechten Strafe zuzuführen. Niemand vergriff sich ungestraft an den Menschen, die er liebte. Er ballte die Hände zu Fäusten und schrie. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder, die am Ende brach und in ein Schluchzen überging.

Verflucht! Er hätte längst den Notruf wählen müssen, wollte sich jedoch nicht von Mary entfernen. Er hatte den Gedanken nicht zu Ende gebracht, da knallte die Wohnungstür gegen die Wand. Alarmiert sprang er auf und stellte sich verteidigend vors Bett. Eine Vase zerschellte am Boden. Stimmen brüllten durcheinander. Ein Sondereinsatzkommando stürmte vom Wohnzimmer in das angrenzende Schlafzimmer, dicht gefolgt von seinem langjährigen Freund und Kollegen Aaron Davies. Dessen fassungsloses Gesicht, nachdem er knapp den Raum in Augenschein genommen hatte, würde Reed auf ewig verfolgen.

»Aaron«, sagte er, nicht fähig weiterzusprechen.

»Auf die Knie und Hände hinter dem Nacken verschränken«, bellte ein mit Sturmhaube maskierter Cop und schnellte mit vorgehaltener Waffe auf ihn zu.

Sofort kam Reed der Aufforderung nach. Aus Erfahrung, weil er solche Einsätze unzählige Male selbst durchgeführt hatte, wusste er, dass dies die einzig vernünftige Lösung war. Trotzdem sträubte sich jede einzelne Faser seines Körpers gegen die Festnahme – die grobe Art, seine Hände auf den Rücken zu drehen, und die Handschellen, die viel zu stramm saßen. Aaron erklärte ihm auf dem Weg nach draußen seine Rechte.

Reed hielt den Kopf gesenkt, während sie an seinen Nachbarn vorbeikamen, die aufgebracht miteinander tuschelten. Sie taten gerade so, als hätte er seine Verlobte ermordet. Und das hatte er nicht, oder etwa doch?

 

***

 

Reed lockerte seine Nackenmuskulatur und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Sofort hatte er die leblose, blutüberströmte Mary vor sich. Das Dröhnen in seinen Ohren und die Übelkeit wollten nicht nachlassen. Und dieser verdammte Durst! Angestrengt atmete er aus und sah sich um. Der Raum war ihm so vertraut wie kein anderer. In Handschellen auf der Seite der mutmaßlichen Verbrecher zu sitzen, war hingegen ein völlig neues Gefühl für ihn. Er hasste es.

Wie er es auch drehte und wendete, er fand keine Erklärung für das, was in seinem Apartment geschehen war. Wie konnte jemand unbemerkt in seine eigenen vier Wände gelangen und Mary töten? Früher war er aufgewacht, wenn sich Mary nur auf die andere Seite gedreht hatte. Und dann sollte er es nicht merken, wenn neben ihm ein Mord verübt wurde? Das war schlichtweg unmöglich und ergab keinen Sinn. Zu allem Überfluss war er der Hauptverdächtige. Dabei würde er lieber die Kollegen bei der Suche nach dem wahren Täter unterstützen.

Er leckte sich über die rauen Lippen. Sein Organismus spielte verrückt – er schwitzte, war nervös und fror entsetzlich. Der zuständige Arzt hatte ihm Blut abgenommen. Es waren Spuren unter seinen Fingernägeln gesichert worden. Vor zwei Kollegen hatte er bei offener Tür in einen Becher pinkeln müssen, damit der Arzt eine Urinprobe erhielt. Er hatte nie etwas Demütigenderes erlebt.

Die Kamera in der oberen Ecke blinkte munter und schien ihn zusätzlich zu verhöhnen. Die Vorgehensweise, die seine Kollegen anwendeten, war ihm vertraut. Sie wollten ihn mürbe machen. Ihn jedoch seit einer geschlagenen Stunde warten zu lassen, war unverschämt. Wenigstens sein Freund Aaron könnte sich blicken lassen und ihm erklären, was genau hier ablief. Oder sein Vorgesetzter, Captain Sudano. Sie alle kannten Reed und mussten wissen, dass er zu solch einer Tat niemals fähig wäre. Er hatte Mary geliebt. Sie hatten heiraten wollen, verdammt! Reed versuchte erneut, den vergangenen Abend Revue passieren zu lassen. Aber je mehr er sich anstrengte, die Erinnerungen blieben aus. Stattdessen hüllte Dunkelheit seinen Geist ein.

Eine Sache ließ ihm keine Ruhe. Reed hatte keinerlei Einbruchspuren entdeckt und keinen Hinweis darauf, dass jemand in der Wohnung gewesen war. Wenn also niemand Fremdes dort gewesen war, wer hatte dann Mary ermordet? Konnte es möglich sein, dass er selbst es getan hatte?

Endlich öffnete sich die Tür. Herein kamen zwei ihm fremde Männer in dunklen Anzügen. Sie unterschieden sich nicht wesentlich voneinander, beide waren groß mit kurz geschnittenen Haaren und ernsten Zügen. Einer blond, der andere brünett. Müsste er raten, würde er auf Special Agents vom FBI tippen. Doch was sollten die von ihm wollen?

»Wie meine Anwälte seht ihr nicht aus«, begrüßte Reed die Anzugträger. »Habt ihr euch verlaufen?«

»Erstaunlich, dass Sie in Ihrer Lage noch zu Scherzen aufgelegt sind«, entgegnete der Blonde kühl, setzte sich Reed gegenüber und legte eine Akte auf den Tisch, der andere blieb an die Wand gelehnt stehen.

»Kann ich etwas zu trinken bekommen?« Seine Zunge klebte ihm am Gaumen.

Der Mann ihm gegenüber nickte seinem Partner zu. Der verließ den Raum und kehrte kurz darauf mit einem Becher zurück. Gierig stürzte Reed das Wasser herunter, während der Mann seinen Platz an der Wand wieder einnahm.

»Supervisory Special Agents Carter und Bryant. Wir arbeiten fürs FBI und wurden vom Captain des Reviers mit diesem Fall betraut.«

Reed zog die Brauen zusammen. Von seiner Verhaftung bis zum Eintreffen der Feds im Verhörraum waren nicht einmal drei Stunden vergangen. Wieso übernahm das FBI den Fall? Ausgerechnet jene Behörde, für die Mary tätig gewesen war? Seine Instinkte schlugen Alarm. Irgendetwas war entsetzlich faul an der Sache.

»Erzählen Sie mir, was gestern Abend zwischen Ihnen und Miss Armstrong vorgefallen ist.« Abwartend stützte der Agent seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab.

»Haben Sie nicht etwas Wichtiges vergessen? Wie lange machen Sie den Job – eine Woche?«, fragte Reed und musterte die Männer spöttisch.

»Natürlich haben Sie das Recht, auf Ihren Anwalt zu warten. Doch je schneller Sie unsere Fragen beantworten, desto eher sind wir hier fertig.«

»Ich war es nicht«, sagte Reed und verzichtete vorerst auf einen Anwalt. Er hatte nach den vielen Stunden des Wartens das Bedürfnis sich zu rechtfertigen und zu verteidigen.

Agent Carter stieß hörbar Luft durch die Nase.

Bryant verzog keine Miene. »Hören wir öfter. Auch wenn Sie es abstreiten, die derzeit vorliegenden Beweise sprechen eindeutig gegen Ihre Unschuld. Also tun Sie uns allen einen Gefallen und erzählen, was gestern Abend geschehen ist, Mister Holloway.«

»Detective Holloway«, verbesserte er automatisch.

Agent Bryant lächelte boshaft. »Vorerst nicht. Sie müssen am besten wissen, wie ausweglos Ihre Situation ist. Also noch mal – was ist gestern geschehen?«

»Ich kann nicht sagen, was passiert ist, weil ich mich an nichts erinnere.« Das klang abgedroschen und fadenscheinig. Doch was sollte er machen? Es war die Wahrheit. Immerhin wusste er jetzt, wie sich Verdächtige fühlten, wenn sie verhört wurden. Wenn die ihm eine derartige Antwort lieferten, schenkte er ihnen ebenso wenig Glauben.

Erneutes Schnaufen von Agent Carter. »Ja«, er dehnte das Wort, »das hören wir ebenfalls öfter.«

Reed sah den Agent lange an. »Glauben Sie nicht, dass ich nach all den Jahren als Detective bei der Criminal Investigative cleverer vorgehen würde, als einen Gedächtnisverlust vorzutäuschen?«

Unbeeindruckt hob der Agent auf der anderen Tischseite die Schultern. »Sie sagten es gerade, Sie würden cleverer vorgehen, könnte demnach genauso gut Taktik sein. Sie ermorden Ihre Freundin und stellen es so dar, als versuche jemand, Ihnen die Tat in die Schuhe zu schieben.«

Reed reagierte nicht darauf. Die beiden hatten sich ihr Urteil längst gebildet.

»Haben Sie denn eine Theorie, die Sie mit uns teilen wollen?«, erkundigte sich Bryant spitz.

»Es ist absolut ausgeschlossen, dass ich der Mörder bin und auch, dass ich es nicht mitbekommen hätte, wenn meine Freundin neben mir ermordet wird. Wenn Sie also die Analyseergebnisse meiner Blut- und Urinprobe vorliegen haben, werden Sie feststellen, dass mir Betäubungsmittel eingeflößt worden sind. Entweder bereits im Restaurant oder in meinem Apartment.«

Die beiden Special Agents tauschten einen Blick, der so ziemlich alles bedeuten konnte.

Bryant erlöste ihn nach einer schier endlosen Zeit. »Das ist die schwammige Theorie, mit der Sie Ihre Unschuld beweisen wollen?«

Kapitel 2

Holly hatte es nie leiden können, wenn jemand zu nachtschlafender Zeit bei ihr anrief. Es weckte hässliche Erinnerungen an die Nacht, in der ihre Eltern tödlich verunglückt waren, und sorgte dafür, dass sie Herzrasen bekam und in Panik verfiel.

Als Reporterin musste sie 24/7 erreichbar sein, schließlich wartete eine gute Story nicht darauf, bis sie ausgeschlafen hatte. Gefallen musste es ihr trotzdem nicht. Obwohl bisher nie etwas wichtig genug gewesen war, wenn es mit ihrem Job zusammenhing, nahm sie nachts jedes Gespräch an. Als sie den Namen auf dem Display erkannte, bekam sie sofort Herzklopfen. Nicht weil er der Vorbote einer schlimmen Nachricht war, sondern weil sie sich ihrer Gefühle für den Anrufer nicht klar war und keinen Schimmer hatte, wie sie damit umgehen sollte. Hatte sie Gefühle für ihn, die über Freundschaft hinausgingen?

»Aaron«, seufzte sie ins Telefon und setzte sich auf. »Hast du wieder einen über den Durst getrunken?«

Eine Zeit lang hatte er sie angerufen, wenn er mit seinen Kollegen nach der Spätschicht noch ins Cheryl’s, eine Bar in unmittelbarer Nähe des Reviers, gegangen war.

Es war still in der Leitung, sodass sie fast annahm, er hätte wieder aufgelegt.

»Reed wurde verhaftet.«

»Deine Scherze waren auch mal besser. Bist du betrunken?« Sie verdrehte die Augen und unterdrückte ein Gähnen.

»Holly«, meinte Aaron in seinem speziellen ernsten Ton, den er privat nur selten anschlug. »Ich bin stocknüchtern und war bei seiner Festnahme dabei.«

»Was ist passiert?« Sie sprang aus dem Bett.

»Nicht am Telefon.«

»Alles klar, bin unterwegs.«

Sie unterbrach das Gespräch, bevor sie zu hören bekam, sie dürfte nicht kommen. Schnell machte sie sich frisch, kleidete sich an und verließ die Wohnung. Wieso war Reed verhaftet worden? Sie waren seit beinahe zwanzig Jahren befreundet, und in all der Zeit konnte sie sich nicht daran erinnern, dass er auch nur ein Mal bei Rot über die Straße gegangen wäre. Er liebte seinen Job als Detective und würde nichts tun, was diesen in irgendeiner Art und Weise gefährdete.

Der Morgen graute bereits. Vor dem Revier hatte sich eine Traube an Reportern gebildet, die gierig auf Neuigkeiten warteten. Demnach hatte sich Reeds Verhaftung schon herumgesprochen.

Mit einem »Darf ich mal vorbei?« quetschte sich Holly durch eine Lücke und betrat die Dienststelle von Reed und Aaron. Als langjährige Freundin der beiden und weil sie dafür sorgte, dass die Cops in ihren Artikeln gut wegkamen – schließlich war alles ein Geben und Nehmen –, genoss sie ein paar Privilegien. Der diensthabende Officer winkte sie durch und hielt die anderen Journalisten mit strenger Miene fern.

Auf dem Revier herrschte eine explosive Stimmung. Die anwesenden Cops liefen umher, wenn sie nicht in Gruppen beisammen standen oder in ihre Telefone brüllten. Eine festgenommene Prostituierte versuchte, einen Officer zu bezirzen, damit er sie gehen ließ. Was Holly nachdenklich stimmte, waren die Männer in Anzügen und FBI-Jacken, die Kartons durchs Revier schleppten und knappe Anweisungen gaben.

Aus den hinteren Fluren kam Aaron ihr entgegen und zog sie in eine tröstliche Umarmung. Das war sein Allheilmittel – Umarmungen und flüchtiger Körperkontakt, der zeigte, dass jemand da war, ohne aufdringlich zu sein. Damit unterschied er sich von Reed, der es nicht leiden konnte berührt zu werden. Erst recht nicht, wenn es nicht notwendig war. Sie erinnerte sich, dass seine Mutter einmal erwähnt hatte, dass er bereits als Kind nicht gerne gekuschelt oder hatte in den Arm genommen werden wollen.

Reed, Aaron und Holly verband eine langjährige Freundschaft, die in der Schule begonnen hatte. Sie hatten viel durchgestanden und waren immer füreinander da gewesen. Zuletzt, als Hollys Eltern tödlich verunglückt waren.

»Was ist passiert?«, wollte sie wissen.

Aaron schaute sie niedergeschlagen an. »Mary wurde in ihrer Wohnung tot aufgefunden – erstochen.«

Holly schwankte. Mary war ermordet worden? Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. »O Gott, wie geht es Reed? Weshalb wurde er verhaftet? Habt ihr Marys Mörder schon?«

Unbehaglich räusperte er sich. »Reed ist momentan unser Hauptverdächtiger.«

Sie schnappte nach Luft. »Dann habt ihr den wahren Täter noch nicht.« Aaron wollte etwas einwenden, sie unterbrach ihn jedoch sofort. »Reed ist kein Mörder, er hat Mary geliebt.« Ihr Herz raste. Die aufgeheizte Stimmung auf dem Revier hinterließ bei ihr Spuren. Sie packte Aaron an seiner Uniform und blickte ihn scharf an. »Sag mir bitte, dass du diesen Unsinn nicht eine Sekunde lang geglaubt hast!«

Aaron führte Holly in ein leeres Büro. »Hör zu, ich kann mir das nicht vorstellen, doch es ging ein Notruf ein, dass hysterische Schreie aus dem Apartment gedrungen sind. Und er war am Tatort, vollkommen mit ihrem Blut besudelt.«

»Das hat nichts zu bedeuten.« Sie verschränkte die Arme und musterte Aaron unnachgiebig.

»Holly«, seufzte er und lehnte seine Stirn an ihre. »Ich weiß, dass die bisherigen Indizien nicht ausreichend sind. Aber es sieht nicht gut für ihn aus.«

»Darf ich zu ihm? Er muss völlig fertig sein. Nicht nur, dass seine Freundin ermordet wurde, er sitzt auch zu Unrecht im Vernehmungszimmer.« Sie wollte Reed Trost spenden. Für ihn da sein.

Bedauernd schüttelte Aaron den Kopf. »Nein, du hast schon genug Informationen erhalten, für die ich meinen Job riskiere.«

»Er ist unser Freund.« Mit feuchten Augen sah sie zu ihm hoch.

»Ich weiß, und ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu entlasten.«

Holly nickte an seiner Schulter und sog Aarons beruhigenden Geruch ein. »Kann ich irgendwas tun?«

»Halt dich einfach raus. Sobald sich etwas Neues ergibt, melde ich mich bei dir.«

Zum Abschied zog Aaron Holly fest an sich. Sie genoss den Trost, den ihr die Umarmung schenkte, und verlor sich für einen Moment in seinen starken Armen.

»Keine Alleingänge, hörst du? Ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst«, murmelte er in ihr Haar.

»Okay.« Holly musste unbedingt diese Nähe unterbrechen und nicht zu viel in seine Fürsorge hineininterpretieren. Sie räusperte sich, brachte Abstand zwischen sie beide und meinte im Gehen: »Du kennst mich.«

»Deshalb sage ich es ja«, rief er ihr hinterher.

 

***

 

Nachdenklich trommelte Holly mit den Fingern auf dem Lenkrad ihres alten Ford Mustang herum. Ihr war bewusst, dass sie sich nicht in die Ermittlungsarbeit der Polizei einmischen durfte. Doch als Reporterin war sie von Haus aus neugierig, und immerhin handelte es sich nicht um irgendwen, sondern um Reed. Er war kein Mörder, auch wenn angebliche Beweise etwas anderes behaupteten. Niemals hätte er seiner Mary etwas angetan.

Sie stieg aus dem Wagen, schloss ab und ging gemächlichen Schrittes auf das Gebäude zu. Sie verhielt sich völlig normal, als würde sie an diesen Ort gehören und nicht gerade versuchen, einen Tatort zu besichtigen, an dem sie nichts verloren hatte. Aus der Tasche holte sie den Ersatzschlüssel, den Reed ihr für Notfälle gegeben hatte, und öffnete die Haustür. Sie lief die Treppen in den zweiten Stock hoch und stand unschlüssig vor der aufgebrochenen Wohnungstür, das schwarz-gelbe Flatterband skeptisch musternd. Natürlich wusste sie, dass sie sich strafbar machte, wenn sie einen polizeilich abgesperrten Tatort betrat. Sie wollte nur einen kurzen Blick riskieren. Schauen, ob ihr irgendwelche Ungereimtheiten auffielen. Fünf Minuten, sagte sie sich. Schließlich war die Wahrscheinlichkeit verdammt hoch, dass die Polizei jeden Moment zurückkehrte, um den Tatort zu versiegeln.

»Furchtbar, was hier geschehen ist, nicht wahr, Schätzchen?«

Holly schreckte zusammen und sah die alte Lady an, die aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. »Haben Sie mitbekommen, was passiert ist, Mrs. Perkins?«

Wenn jemand etwas wusste, dann diese Frau. Sie war über alle Bewohner im Haus informiert und kannte jedes noch so schmutzige Geheimnis.

Die Alte beugte sich zu Holly. »Ich habe ein Gespräch belauscht. Die Polizisten meinten, Mister Holloway steht unter dem Verdacht, Miss Armstrong ermordet zu haben. Aber wir zwei wissen, dass das großer Humbug ist. Ich habe die beiden zusammen gesehen. Außerdem ist er selbst ein Cop, das ist ein ehrenhafter Beruf. Mein Mann – Gott hab ihn selig – war ebenfalls Detective beim Philadelphia Police Department.« Es folgte ein langer Monolog über die herausragenden Leistungen ihres Ehemannes und darüber, dass er viel zu früh gestorben war. Diese Geschichte hörte Holly weder zum ersten und bestimmt nicht zum letzten Mal.

»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie etwas gehört? Vielleicht sogar jemanden gesehen, der hier nichts zu suchen hat?«, unterbrach Holly sie und lächelte charmant.

»Nein. Ich habe tief und fest geschlafen. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte ich nichts gehört.« Sie zeigte auf das Hörgerät in ihrem Ohr. »Das nehme ich zum Schlafen raus.«

»Wissen Sie zufällig, ob die Nachbarn etwas bemerkt haben?«

»Agnes hat die Wohnung direkt neben dem Paar, und sie hat nichts gehört.« Ein schelmischer Ausdruck trat auf das Gesicht der alten Lady. »Die Wände sind dünn. Agnes hat sonst wirklich alles mitbekommen, was dort vor sich gegangen ist.«

»Wenn nicht einmal die direkte Nachbarin etwas mitgekriegt hat, wer hat dann die Polizei alarmiert?«, überlegte Holly laut.

Mrs. Perkins wurde ernst. »Das weiß ich nicht. Zumindest niemand von den Mietern, mit denen ich bisher gesprochen habe. Wollen Sie ins Apartment?«

»Selbstverständlich nicht. Da ist ein Absperrband«, erklärte Holly überzeugt.

»Das war alles sehr aufwühlend. Ich werde jetzt eine Weile aus dem Fenster sehen, und sollte ich etwas Verdächtiges bemerken, klopfe ich einfach gegen die Heizung.« Die Frau schlich davon.

Holly grinste ihr hinterher. Da die Tür nur provisorisch angelehnt worden war, gab sie dem Holz einen Schubs mit dem Finger und warf einen Blick ins Innere. Sie vergewisserte sich, dass niemand mehr im Hausflur war, und lief unter dem Band hindurch in die Wohnung. Sicherheitshalber schloss sie die Tür so weit wie möglich.

Ihr Herzschlag erhöhte sich mit jeder Sekunde. Sie beging gerade wissentlich eine Straftat! Ihre Hände zitterten, Schweiß trat ihr auf die Stirn. Das konnte sie in Teufels Küche bringen. Aarons ermahnendes Gesicht tauchte vor ihr auf. Dann dachte sie an ihre Freunde Reed und Mary und atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Im Wohnzimmer fand sie eine zerbrochene Vase auf dem Boden. Mitten in der verdunstenden Pfütze lagen traurig die Blumen. Sessel und Couch waren verschoben, der Tisch umgekippt, Schranktüren standen offen. Sie blickte nach rechts in Richtung Schlafzimmer. Die helle Bettwäsche war blutgetränkt. Auf wackligen Beinen ging sie auf den Raum zu.

»O Gott!« Sie schlug die Hand vor den Mund.

Matratze und Bettgestell waren mit Blut besudelt. Rote Spritzer waren an der Wand, an der Gardine, dem Nachtschrank und der Lampe zu sehen. Holly nahm ihr Smartphone aus der Tasche und machte etliche Aufnahmen. Erst oberflächlich, bevor sie sich auf Details konzentrierte – ein fast geleertes Glas und eine Flasche Wasser auf dem Nachttisch sowie eine braune Medizinflasche, die versteckt zwischen Schränkchen und Wand auf dem Fußboden lag. Selbst die getrocknete Blutlache vor dem Bett hielt sie fest und die Blutspuren, die am Bett hinuntergetropft waren.

Wieso hatte die Polizei die Beweismittel nicht in der Nacht mitgenommen? Das hätte das Erste sein sollen, was sie hätten tun müssen. Das erklärte zumindest, warum die Tür nicht versiegelt war. Sie sollte schleunigst verschwinden, bevor die Cops in der Wohnung standen und sie entdeckten. Ihre Neugier hielt sie davon ab, sofort zu gehen.

Das Bett sah aus, als hätte hier ein Massaker stattgefunden, der metallische Geruch in der Luft verursachte ihr Übelkeit.

Holly wollte gerade die Medizinflasche auf Inhalt und den ausgestellten Namen überprüfen, als es mehrfach gegen die Heizung klopfte. Sofort wurde sie panisch. Kamen die Kriminaltechniker zurück, um die restlichen Beweismittel abzuholen? Schweiß lief ihr den Rücken hinunter und durchnässte ihre dünne Bluse.

»Mist, verfluchter«, zischte sie und verließ das Apartment fluchtartig.

Niemand kam ihr entgegen. Im ersten Stock erlaubte sie sich ein erleichtertes Ausatmen und ging die letzten Stufen gemächlicher hinunter. Sie trat nach draußen.

»Manchmal glaube ich, du hast was an den Ohren.« Aaron lehnte mit verschränkten Armen an ihrem Wagen und schüttelte den Kopf.

»Was ist denn mit dir los? Ich war bei Mrs. Perkins.« Holly setzte eine unschuldige Miene auf.

»Und das soll ich dir glauben? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was passiert, wenn jemand erfährt, dass du an einem Tatort herumgeschnüffelt hast? Das wird Reed nicht im Mindesten helfen, Holly! Im Gegenteil. Alles, was du gefunden haben könntest, dürfte nicht zu seiner Entlastung verwendet werden.« Aaron redete sich so sehr in Rage, dass er immer lauter wurde. Die Ader am Hals pulsierte.

»Entspann dich, ich war nicht in Reeds Wohnung. Das ist ein abgesperrter Tatort, und ich würde mich wohl kaum freiwillig strafbar machen.«

»Komm mich bald mal wieder besuchen, Schätzchen«, rief Mrs. Perkins aus dem Fenster.

Holly winkte ihr und hätte die Frau küssen können. Offensichtlich hatte sie den Streit mit angehört und wollte ihr helfen. Aaron musterte die beiden skeptisch. Schließlich seufzte er und gab die Wagentür frei.

»Warst du schon bei Reed?« Holly entriegelte das Fahrzeug, stieg aber nicht ein.

»Von uns darf niemand zu ihm. Das FBI hat den Fall übernommen, er wird nach wie vor vernommen. Außerdem hast du ja selbst gesehen, dass sie sein Büro durchsucht und sein ganzes Zeug in Kartons herausgetragen haben.«

»Du scheinst nicht glücklich darüber zu sein, dass das FBI vor Ort ist.«

»Es ist nicht von Vorteil, wenn Kollegen von Mary ihren vermeintlichen Mörder verhören.« Aaron rieb sich über die Augen. Die Erschöpfung der letzten Stunden war ihm deutlich anzusehen.

Holly zog die Stirn in Falten. »Ich dachte, sie hätte dort nur als technische Analystin gearbeitet.«

»Kollege bleibt Kollege, das hat immer Vorrang vor allem anderen«, meinte er nach kurzem Zögern. »Ich fahre nach Hause, brauche dringend eine Mütze voll Schlaf.«

»Mach das.« Holly öffnete die Wagentür und drehte sich noch einmal zu Aaron um. »Du hältst mich auf dem Laufenden, oder?«

Er lächelte. »Natürlich.«

 

***

 

Holly druckte die Bilder vom Smartphone aus. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf: Wieso war Reed der Hauptverdächtige in Marys Mordfall?

Philly Courier

Ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht ins Büro musste, rief sie ihre Chefin an und erklärte, was geschehen war.

»Nehmen Sie sich den Rest der Woche frei, Holly. Wenn Sie etwas brauchen, geben Sie mir Bescheid.«

»Danke, Claire. Ich melde mich.« Sie zögerte und fragte schließlich: »Glauben Sie an Ermittlungsfehler?«

Claire lachte kühl. »Ich glaube daran, dass Menschen alles tun, um ihren eigenen Arsch zu retten. Haben Sie etwas gefunden?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Holly und dachte sofort daran, dass die Kriminaltechniker den Tatort verlassen hatten, ohne die restlichen Beweise mitzunehmen. »Aber ich werde der Sache nachgehen.«