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Band 220

 

Imperium am Abgrund

 

Oliver Plaschka

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

TEIL I – Grabreden

1. Böses Erwachen

2. Flaschenpost

3. Kondolenzbesuch

4. Ein Totengräber für den Protektor

5. Testamentseröffnung

6. Sieben Tage

7. Requiem

8. Die Stimme des Monds

9. Der König ist tot

TEIL II – Die Endliche Nacht des Mentro Kosum

10. Klärende Worte

11. Hela Ariela

12. Alte Götter, neue Freunde

13. Kira Ariela

TEIL III – Die Wiederkehr

14. Des Falken Flug

15. Zeremonien der Unschuld

16. Der Ruf des Falkners

17. Das Innerste zerbricht

18. Im weiten Kreise

19. Die Flut bricht los

20. Nur die Besten

21. Der Zerfall

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen und die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben sich terranische Siedlungen auf verschiedenen Welten entwickelt. Die Solare Union bildet die Basis zu einem Sternenreich der Menschheit.

Ende 2089 kehrt Perry Rhodan von einer Fernexpedition nach Hause zurück. Die Besatzung der FANTASY bringt wertvolle Erkenntnisse über das rätselhafte Dunkelleben mit. Auf der Erde muss sich Rhodan aber einer ungewohnten Herausforderung stellen: Er hat sich über ein ausdrückliches Verbot der terranischen Regierung hinweggesetzt – ihm drohen massive Konsequenzen.

Zugleich dringen beunruhigende Nachrichten aus dem Imperium der Arkoniden zur Erde. Mysteriöse »alte Herrscher« wollen dort die Macht ergreifen, mit unwägbaren Folgen für die Menschheit. Rhodan will der Sache nachspüren, um einen neuen Krisenherd zu verhindern – aber am Zielort erwartet ihn bereits ein IMPERIUM AM ABGRUND ...

Turning and turning in the widening gyre

the falcon cannot hear the falconer;

things fall apart; the centre cannot hold;

mere anarchy is loosed upon the world,

the blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

the ceremony of innocence is drowned;

the best lack all conviction, while the worst

are full of passionate intensity.

William Butler Yeats, The Second Coming

 

 

TEIL I

Grabreden

 

1.

Böses Erwachen

 

Die letzte Stunde einer Reise ist wie die letzte Stunde eines Traums. Noch hatte einen das Erlebte fest im Griff, doch man ahnte bereits, dass sich alles ändern würde, sobald man erwachte. Was man noch nicht wusste, war, wie viel von dem Geträumten Bestand haben würde und wie viel verwehen würde wie gefallenes Laub.

Perry Rhodan ließ den Blick durch die Zentrale der FANTASY schweifen. So viel kam ihm weiterhin vor wie ein Traum: die Erlebnisse mit den fremdartigen Bewohnern des Omnitischen Compariats und auf der Forschungswelt Lashat, die Begegnung mit dem sterbenden, uralten Callibso, der einst ein erbitterter Feind gewesen war. Verglichen damit erschienen ihm die unwirklichen Quallenwesen, die sich in der Kuppelwölbung des Außenbeobachtungshologramms bewegten, beinahe vertraut.

Unter diesem Schauspiel der hyperdimensionalen Linearraumeffekte ruhte der Emotionaut Mentro Kosum auf seiner Liege und steuerte die FANTASY kraft seiner Gedanken, unterstützt von Laura und Sophie Bull-Legacy, Alberto Pérez sowie der übrigen Zentralebesatzung. Rhodan stellte sich vor, wie es für Kosum sein musste, das Raumschiff mit allen Sinnen zu erfahren, ganz als wäre es der eigene Körper: die beiden Triebwerksgondeln wie ausgebreitete Schwingen, der Libraschirm wie eine zweite Haut über dem stählernen Rumpf; er teilt die Energien des Hyperraums wie Wellen unter dem Bug eines Seeschiffs. Der Schneeklang in den Korridoren knistert wie glitzernde Gischt. Doch das Herz des Schiffs schlägt nur noch schwach – die Hyperkristalle zerfallen, der Wandeltaster blickt mit blindem Auge dem Zielstern entgegen. Wenn die FANTASY das nächste Mal in die Wirklichkeit stürzt, wird sie darin stranden.

Die Oproner hatten den Menschen geholfen, das Raumschiff noch einmal notdürftig instand zu setzen – für eine letzte große Reise: den Flug nach Hause. Trotzdem war die FANTASY längst kaum mehr als ein besseres Wrack. Denn die Reparaturen hatten nichts am grundlegenden Problem der Lineartriebwerkstechnologie geändert.

Der experimentelle Antrieb würde immer zu Fehlsprüngen führen: Massive Gravitations- und Hyperenergiequellen wie zum Beispiel Schwarze Löcher im galaktischen Umfeld des Austrittspunkts störten durch unberechenbare Fünf-D-Ausbrüche jegliche zuverlässige Kontrolle der Rücksturzsequenzen. Die Energien überluden zwangsläufig das Triebwerk, was spätestens bei längeren Flugetappen die Hyperkristallmatrizen zerstörte und eine fatale Rückkopplungskaskade auslöste. Massive Schäden an den Systemen des Schiffs waren die Folge.

Der Linearantrieb funktionierte genau einmal über größere Distanzen – und auch dann nur mit unkalkulierbaren Risiken.

Lange hatten sich die Spezialisten auf der FANTASY dagegen gesträubt, diese Wahrheit anzuerkennen. Jahrelange Forschung warf man nicht achtlos über Bord. Inzwischen hatten sie sich aber mit ihrem Scheitern abgefunden und klammerten sich wenigstens an diesen Erkenntnisgewinn – schon damit die Opfer, die der Flug gefordert hatte, nicht vergebens gewesen waren.

Auch Rhodan versuchte es so zu sehen, doch es fiel ihm nicht leicht. Die bittere Ironie war, dass es ihm persönlich gut ging – seine Gesundheit war der Hauptgrund des Flugs gewesen: der Krieg von Viren und Dunkelleben in seinem Körper, der drohende Ausfall seines Zellaktivators.

Nun war er geheilt. Und im Gegensatz zur FANTASY anscheinend auf Dauer – hatte ihm zumindest die Chefärztin Pari Sato bestätigt. Von den verschiedenen Infektionen war keine Spur geblieben, und Rhodan fühlte sich besser als je zuvor. Er wusste nicht, wem er für diesen Zustand zu danken hatte; vielleicht Callibso, vielleicht noch geheimnisvolleren Kräften, die innerhalb des Zeitbrunnens wirkten, den Rhodan durchquert hatte.

Als er nach seinem Treffen mit Callibso wieder durch den Brunnen zurückgekehrt war, war zudem sein Zellaktivator verschwunden gewesen – jenes verwunschene Stück alter, unverstandener Technik, das stets Fluch und Segen zugleich gewesen war. Seine positiven Auswirkungen auf Rhodans Gesundheit aber waren geblieben. Es hatte nicht viel mehr als eine schlaflose Nacht, ein paar Drinks und einen Schnitt in den Finger gebraucht, das herauszufinden. Ungewiss war, was nun aus ihm werden würde. Hatten höhere Mächte entschieden, dass er ewig zu leben hatte, bis er so alt wie Atlan, Mirona Thetin oder Callibso war? Würde er wie nach einer Zelldusche in dreiunddreißig Jahren schlagartig altern und zu Staub zerfallen? Rhodan wusste keine Antwort, und er wusste auch nicht, was ihm lieber wäre.

Er wusste nur, dass sie einen hohen Preis für ihren Flug gezahlt hatten. Die Bedenken, die er vor ihrem Aufbruch geäußert hatte, waren mehr als berechtigt gewesen. Doch seine Freunde hatten ihn überredet, hatten ihm gar keine andere Wahl gelassen, als diesen letzten Versuch zu seiner Rettung zu unternehmen. Dafür hatten sie Gesetze gebrochen und ihre Karrieren riskiert; Rhodan hatte sie nicht davon abhalten können. Allerdings hatte er die Schuld an der Mission allein auf sich genommen. Sie hatten die FANTASY gestohlen, um alles auf eine Karte zu setzen – und wie befürchtet, hatten sie Menschenleben verspielt. Nun kehrten sie zurück nach Hause und mussten sich ihrer Verantwortung stellen.

Perry Rhodan schloss die Augen. Noch einmal stellte er sich vor, er wäre die FANTASY, doch diesmal spürte er nicht das Schiff, sondern seine Besatzung. All die Techniker, Wissenschaftler und Flottenmitglieder, die während der zurückliegenden Wochen seine Familie gewesen waren. Die sich nun fragten, was sie daheim erwartete, ob die Reise es wert gewesen war. Ob sie die Rätsel, die sie vorgefunden hatten, je verstehen würden. Er spürte ihre Unsicherheit, ihre Erschöpfung, ihren unerschütterlichen Optimismus. Vor allem aber ihre Freude, endlich nach Hause zu ihren Familien und Freunden zurückzukehren.

Auch Rhodan teilte diese Vorfreude. Er dachte an Thora, an Thomas und Farouq. Mehr als alles andere wünschte er sich, sie wieder in die Arme zu schließen.

»Normalraumwiedereintritt in zehn Minuten«, gab die Erste Offizierin Gabrielle Montoya über Bordkom bekannt. Überall auf dem Raumschiff, vom Maschinenraum bis zur Krankenstation, machten sich die Frauen und Männer bereit, falls die Technik doch noch einmal versagte und ihnen eine neuerliche Katastrophe blühte.

Die letzten Minuten des Flugs verstrichen in gespanntem Schweigen. Rhodan trat hinter den Sitz von Kommandant Conrad Deringhouse und beobachtete die Bewegungsmuster der imaginären Quallen im Holo, die so oft schon Schwierigkeiten mit dem Triebwerk angezeigt hatten. Die Illusionen wirkten transparent und unscharf wie die ferneren Luftbläschen in einem Wasserglas.

Dann hauchten die Projektoren dem Libraschirm ein letztes Mal Atem ein, und im selben Moment stieß Kosum ein bedauerndes Seufzen aus wie ein Schläfer, der nur widerwillig erwachte. Der Schneeklang verwehte, und das Licht in der Zentrale hellte sich auf.

»Ende der Superposition«, meldete Montoya.

»Bericht!«, erbat Deringhouse, und in Windeseile gingen die Statusmeldungen der einzelnen Stationen ein. Die Versprechen der Oproner hatten sich erfüllt: keine Schäden außer dem erwarteten Verschleiß – sofern man das totale Versagen aller Überlichtsysteme noch als Verschleiß bezeichnen mochte. Entgegen der insgeheim gehegten Befürchtung war es jedoch zu keinem weiteren Unglück mehr gekommen. Der Traum vom Linearantrieb starb nicht mit einem Knall, sondern verwehte mit einem stillen Abschied.

»Es ist vorbei«, sagte Kosum und zog sich die SERT-Haube von seiner rostroten Mähne. »Wir sind wieder im Solsystem.« Offenbar hatte der Emotionaut beschlossen, dass man seine Fähigkeiten für den restlichen Flug mit Unterlicht nicht mehr brauchte. Der große Mann schwang die Beine von der Liege und sah sich blinzelnd um, als wüsste er nicht recht, wo er sich befand. »Ich glaube, wir kriegen gleich Besuch«, setzte er noch hinzu.

»Wir werden angefunkt!«, bestätigte Pérez. »Es ist die SAN DIEGO. Kommandantin Rushmore für Perry Rhodan.«

»Stellen Sie sie durch«, bat Rhodan und nahm Haltung an. Sie hat nicht meinen Rang genannt, registrierte er. Wenn er sich nicht sehr täuschte, war die SAN DIEGO eins der Kampfschiffe, die er bei dem überstürzten Aufbruch des Experimentalraumers vor zweieinhalb Monaten zur Umkehr gezwungen hatte. Damals hatte Rhodan geblufft und behauptet, er allein habe die FANTASY entführt und das Leben der ganzen Besatzung stünde auf dem Spiel. Es war keine sehr glaubhafte Lüge gewesen, aber sie hatte die nötigen Sekunden erkauft, um zu entkommen.

Egal wie die neuen Befehle der Kommandantin lauteten – diese Unterhaltung konnte keinen erfreulichen Verlauf nehmen.

»Rhodan hier«, sagte er. Im Kommunikationsholo erschien das Gesicht einer hageren Frau mit grauem Haar, die ihn streng musterte. »Wir sind gekommen, uns zu stellen.«

»Dann desaktivieren Sie alle Waffen- und Verteidigungssysteme, und folgen Sie uns mit zwanzig Prozent Lichtgeschwindigkeit zur Lunar Research Area. Betrachten Sie dies als direkten Befehl von Administratorin Michelsen und Systemadmiral Bull! Sie haben sich für schweren Diebstahl, die Gefährdung von Flottenmitgliedern, Missachtung des Rats und eine Reihe weiterer Delikte zu verantworten. Jeder Versuch, sich uns zu widersetzen, wird schwerwiegende Konsequenzen haben.«

»Verstanden«, sagte Rhodan, ohne zu zögern. Ein geschickter Schachzug, Reginald Bull in diese kleine Rede mit einzubeziehen. Rhodan hatte keine Fürsprecher mehr auf der Erde, sollte das heißen. Er hegte keinen Zweifel daran, dass Reg das anders sah ... war sich aber ebenso gewiss, dass seinem ältesten Freund keine andere Wahl blieb. Davon abgesehen, war es immer Rhodans Absicht gewesen, für seine Taten geradezustehen. »Du hast die Kommandantin gehört«, wandte er sich deshalb an Deringhouse, ehe dieser sich auf Diskussionen einließ.

Grimmig gab der alte Kommandant Laura und Sophie ein Zeichen, und die beiden NATHAN-Interpreterinnen, die mit den Systemen der FANTASY so vertraut waren wie kaum jemand sonst, übernahmen die Steuerung.

»Weitere Schiffe sind auf dem Weg«, meldete Pérez. »Sie meinen es wirklich ernst.«

»Wir bieten ihnen keinen Vorwand für Ärger«, machte Rhodan klar. »Wir gehen mit – freiwillig und erhobenen Hauptes, mit großem Geleit.« Die Männer und Frauen ringsum tauschten Blicke. Offenbar war Rhodan nicht der Einzige, der gerade das Gefühl hatte, in Handschellen abgeführt zu werden.

Die SAN DIEGO und ihre Begleitschiffe eskortierten die FANTASY bis in den von Transitionsdämpfern geschützten Bereich rings um Terra und weiter zum Erdmond. Keine Viertelstunde nach der Ankunft im Solsystem setzte der Experimentalraumer zur Landung in demselben Hangar an, aus dem Schiff und Mannschaft damals geflohen waren.

Sie hatten wieder den Ausgangspunkt ihrer Reise erreicht.

Rhodan sah zum MINSTREL hinüber – der schwebenden, aus vielen kleinen Metallkuben bestehenden Sphäre, die den Flug in NATHANS Auftrag begleitet hatte. Wusste die Hyperinpotronik schon, dass sie zurück waren? Mit Sicherheit. Es deutete vieles darauf hin, dass NATHAN die ganze Reise über im Hintergrund die Fäden gezogen hatte.

Die FANTASY sank durch den weiten Vertikalschacht in den lunaren Untergrund hinab und setzte mit sanftem Stoß auf dem Hangarboden auf.

Rhodan warf einen letzten Blick in die Runde. »Danke«, sprach er, weil er nicht wusste, was sonst noch blieb. Es kam nicht häufig vor, dass ihm die Worte fehlten. »Für alles.« Dann machte er kehrt und verließ die Zentrale, begab sich ins Heck zur Hauptausstiegsrampe, um sich dem Unvermeidlichen zu stellen.

Als er sah, wer draußen am Fuß der Rampe auf ihn wartete, wurde ihm einen Moment lang schwer ums Herz. Reginald Bull war unrasiert und hatte in den vergangenen Wochen offenbar ein paar Pfunde zugelegt. Rhodan erinnerte sich noch deutlich, wie sie bei ihrem Abschied böse Worte getauscht hatten, halb im Spaß, halb im Ernst. Bull war wütend gewesen, weil Rhodan Bulls Hilfe zwar unter Protest angenommen, ihm aber die Mitreise verwehrt hatte. Rhodan bedauerte seinen Entschluss jedoch nicht, auch nicht im Nachhinein.

Sobald Bulls Blick auf seine beiden Töchter fiel, die hinter Rhodan auf die Heckschleusenrampe traten, hellte sich seine Miene auf.

»Laura!«, rief er. »Sophie!«

Die beiden Frauen eilten an Rhodan vorbei und fielen ihrem Vater um den Hals, der in der zweifachen Wolke roter Locken beinahe verschwand. Rhodan wartete geduldig, wollte diesen Moment nicht stören. Gerade Sophie hatte eine Menge durchgemacht und erst kürzlich ihr Sprechvermögen wiedererlangt. Rhodan empfand tiefe Dankbarkeit – er hätte seinem Freund nicht unter die Augen treten können, hätten seine Töchter bleibenden Schaden erlitten.

Er fragte sich, wo Thora und seine Söhne steckten. Hinter Bull scharten sich mehrere Raumsoldaten, die Waffen im Holster, doch die Gesichter so hart, dass kein Zweifel an ihrer Entschlossenheit bestand. Und vom Ende der Halle näherte sich ein Mann, den Rhodan schon lange nicht mehr gesehen hatte, an dem die Jahre jedoch anscheinend spurlos vorübergingen: Leibnitz, der geheimnisvolle Schiffbrüchige aus Andromeda, der inzwischen zum Sprecher NATHANS und Majordomus der Lunar Research Area, der LRA, avanciert war. Hinter ihm schwebte nicht minder mysteriös die Posbi Monade, mit der Leibnitz in ständiger quasitelepathischer Verbindung stand. Der MINSTREL glitt lautlos die Rampe hinab und schwebte den beiden entgegen.

Laura und Sophie lösten sich von ihrem Vater.

»Hallo, Perry!« Bulls Augen waren so klein, dass man nicht erkennen konnte, ob Tränen der Trauer oder der Freude in ihnen standen.

Perry Rhodan ging auf seinen Freund zu und umarmte ihn. Die Raumsoldaten machten ihnen Platz, rührten aber sonst keinen Muskel.

»Gut siehst du aus«, sagte Bull leise. »Wie geht es dir?«

»Besser«, antwortete Rhodan und wählte seine Worte mit Bedacht – denn natürlich durften sie nicht zugeben, dass sein Flug nach Lashat eigentlich Bulls und Thoras Idee gewesen war. »Man sagt mir, ich sei wohl geheilt. Und du? Hattet ihr Schwierigkeiten?«

Bull schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte niemand ihm und den anderen eine Beteiligung am Diebstahl der FANTASY nachweisen können. Rhodan fiel ein Stein vom Herzen.

Bull drückte ihn noch einmal, dann ließ er Rhodan los.

Rhodan kannte ihn lange genug, um zu sehen, dass dem Freund etwas auf der Seele lag. »Was ist mit dir? Wo drückt der Schuh?«

Kurz sah es aus, als wollte Bull es als Nichtigkeit abtun, dann gab er nach. »Thora. Sie und deine Jungs sind mit der CREST II nach Arkon geflogen.«

Rhodans Magen krampfte sich zusammen. »Nach Arkon? Wieso das?«

»Es gab ein offizielles Ersuchen ihrer kristalldurchlauchten Animosität, Theta der Wichtigen«, ulkte Bull. »Und glaub mir, ich bin ebenso wenig begeistert davon wie du. Aber Thora wollte unbedingt. Und Michelsen hat es ihr erlaubt – sie kann dir alles Weitere erklären.«

»Ich werde sie kontaktieren, sobald ...«

»Perry Rhodan«, unterbrach da der Anführer der Raumsoldaten, der die Abzeichen eines Leutnants trug und sich bisher zurückgehalten hatte. »Sie stehen unter Arrest! Im Namen der Terranischen Union werden Sie aufgefordert, uns ohne Widerstand zur Erde zu begleiten, um sich vor dem Rat zu verantworten. Bis dessen Urteil ergeht, sind Sie all Ihrer Ämter enthoben.«

Rhodan verstummte. Das war es also. Was ihn zu Hause erwartete, und der Grund, weshalb man ihn nicht mit »Protektor« angesprochen hatte. Nun, es traf ihn nicht unvorbereitet.

Bull warf dem Leutnant, der keine Miene verzog, einen säuerlichen Blick zu. Als Systemadmiral war Bull eigentlich der oberste Befehlshaber aller Raumflottenangehörigen. Es war offensichtlich, wie wenig ihm die Situation gefiel und dass er sie sich nicht ausgesucht hatte.

»Tolles Timing«, lobte er den Leutnant. »Guter Mann.«

»Lass es gut sein«, lenkte Rhodan ein, ehe sich sein Freund in einen seiner berüchtigten Wutausbrüche hineinsteigerte. »Ich habe nicht vor, mich zu widersetzen.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Conrad wird dir vollständigen Zugriff auf unsere Logbücher geben. Mach dir am besten selbst ein Bild, in Ordnung? Und ... sag John und Belle Bescheid! Belle soll sich auf eine Überraschung einstellen.«

Inzwischen hatte sich ein großer Kreis um sie gebildet: die Besatzung der FANTASY auf der einen Seite, die ungeduldigen Soldaten und das Hangarpersonal der Lunar Research Area auf der anderen. An der Grenze beider Gruppen standen Leibnitz und Monade, die noch mit dem MINSTREL konferierte. Nur die Farbreflexe auf ihrer nachtschwarzen Oberfläche und das endlose Spiel der kleinen Kuben verrieten die lautlose Unterhaltung der beiden Maschinenwesen.

Dann räusperte sich Leibnitz vernehmlich und trat auf Rhodan zu. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte ...« Er hielt Rhodan ein kleines Stück Papier hin. »Reden Sie mit niemandem, ehe Sie nicht von uns hören.«

Unter den achtsamen Blicken der Wachmannschaft nahm Rhodan das Papier entgegen und runzelte die Stirn. Es war eine altmodische Visitenkarte. »Jeremiah Goslin«, stand darauf in fröhlichen Lettern. Und darunter, etwas seriöser: »Rechtsberater«. Daneben war ein stilisierter, schwarzer Melonenhut abgebildet.

Uns?, fragte sich Rhodan, sprach es aber nicht aus.

Leibnitz nickte freundlich.

»Danke.« Perry Rhodan steckte die Visitenkarte ein. »Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Dann wandte er sich dem Anführer des Arresttrupps zu. »Gehen wir!«

2.

Flaschenpost

 

Die Wahrheit war, Reginald Bull mochte den Mond nicht. Das hieß, vielleicht hatte er ihn einmal gemocht – sehr wahrscheinlich sogar, sonst wäre er kaum Astronaut geworden. Aber spätestens seit sich NATHAN auf Luna breitgemacht hatte, bedeutete der Erdtrabant nur noch Schwierigkeiten. Und für all den Ärger, den der Mond machte, war er eigentlich noch immer ein recht hässlicher Brocken.

Luna war der Ort, an dem Bulls Töchter arbeiteten, sodass er sie viel zu selten zu Gesicht bekam. Und die Arbeit hatte sie verändert. Etwas war mit Sophie auf dem Flug der FANTASY geschehen, und obgleich sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ginge und sie ihm später alles erzählen würde, traute er dem Braten nicht. Sie befand sich derzeit auf der Medostation – Routine, natürlich, es war immer alles nur Routine – und Laura hatte irgendwas Dringendes mit NATHAN zu besprechen.

Der Mond war wie eine besonders hässliche Stadt, überlegte Bull, während er den Flur zur Luftschleuse entlangging. Nur dass sie vor einem halben Jahrhundert plötzlich unglaublich wichtig geworden war und er seitdem ständig dienstlich dorthin zurückkehren musste wie ein lustloser Pendler.

Wenigstens war er nicht der Einzige.

Die Schleuse öffnete sich: John Marshall und Belle McGraw traten heraus, beide mit einer Reisetasche über der Schulter.

»Reg!«, rief die Wissenschaftlerin und schloss Bull in die Arme. »Schön, dich zu sehen. Es ist schon wieder so lange her.«

»Stimmt«, gab ihr Bull recht. »Viel zu lange.« Marshall und McGraw waren zwei der wenigen Menschen, bei denen er sich so gut aufgehoben fühlte, dass es ihm beinahe unheimlich war. Wahrscheinlich, weil sie sich buchstäblich nicht verändert hatten – genau wie er. Sie alle trugen Zellaktivatoren. Und genau wie Bull trug McGraw den ihren vor allem deshalb, weil sie andernfalls nach Ablauf der lebensverlängernden Frist ihrer Zelldusche gestorben wäre.

»Gut siehst du aus!«, scherzte sie.

Bull rang sich ein müdes Lächeln ab. »Sehr witzig.«

Sie waren Gauner – das dachte er häufig. McGraw vielleicht noch mehr als er selbst. Sie und der Rest des Leyden-Teams hatten sich damals die Unsterblichkeit ergaunert, es hatte einen Skandal oder zwei gegeben, aber natürlich hatte man die junge Wissenschaftlerin nicht einfach ihrem Schicksal überlassen wollen. Deshalb trugen sie nun alle eines dieser Teufelsdinger, von denen niemand wusste, wie lange sie noch funktionieren würden – nicht mal die Experten am Lakeside Institute, das Marshall immerhin leitete.

»Nun erzähl schon!«, drängte sie ihn. »Weshalb wolltest du uns unbedingt sehen?«

»Das werdet ihr noch früh genug merken«, gab er zurück, dann hob er warnend einen Zeigefinger vor Marshalls Gesicht. »Wage es nicht! Es soll eine Überraschung sein.«

»Natürlich«, beteuerte der Telepath höflich.

Bull führte sie durch eine Reihe von Korridoren, die wie alle Flure in der Lunar Research Area aussahen: eine unangenehme Mischung aus Verwaltungs- und Krankenhausflair.

»Wie geht es Noah?«, erkundigte er sich, um nicht über die Überraschung – die Überraschung, die Überraschung! – nachzudenken, denn er traute Marshall in dieser Hinsicht fast genauso wenig wie Gucky.

»Gut«, sagte McGraw. »Er geht völlig in seinem Studium auf.« Bull erinnerte sich: Der Sohn von John Marshall und Belle McGraw studierte mittlerweile Musik an der Akademia Terrania. Bull konnte sich bloß nie merken, welches Instrument Noah spielte. »Aber irgendwie sehen wir uns kaum noch. Ist das nicht traurig? Wir leben und arbeiten in der gleichen Stadt und haben trotzdem keine Zeit für die Familie.«

»Kenn ich«, brummte Bull.

Sie gelangten zu den Fahrstühlen und traten in eine Kabine.

»Und wie geht es Perry?«, fragte Marshall, während sie nach unten fuhren.

Sie fragen nicht nach meinen Töchtern, registrierte Bull. Sondern nach Perry. Ein schöner Vater bin ich.

»Er steht unter Arrest. Ich bin mir noch nicht sicher, wie ernst sie es damit meinen. Wir hatten bislang kaum Gelegenheit zu reden.«

Marshall machte ein besorgtes Gesicht. Bull musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, was dem Mutanten durch den Kopf ging; Marshall war ebenso in den Diebstahl der FANTASY verstrickt gewesen wie Bull selbst. Perry Rhodan hatte den Kopf für sie hingehalten. Ohne ihn stünden sie wohl längst alle unter Arrest und hätten ihre Jobs verloren. Stattdessen saß die Besatzung der FANTASY zur Stunde noch in Sicherheitsverwahrung und musste endlose Fragen über sich ergehen lassen.

»Ich bin noch etwas geblieben, um hier aufzuräumen«, fügte Bull hinzu. »Perry hat mich darum gebeten.«

Sie erreichten die Etage, wo die wracke FANTASY in ihrem Hangar ruhte, verließen den Lift und passierten einige Wissenschaftler und Techniker, die mit trübsinnigen Gesichtern ihre Gerätschaften umhertrugen. Es war deprimierend. Das einst so stolze Raumschiff war nur noch ein Schrotthaufen, eine Fallstudie, eine Sackgasse der Antriebstechnik.

»Wir sind da.« Bull blieb vor einer geschlossenen Sicherheitstür stehen. »Seid ihr so weit?« Er gab seinen Sicherheitscode ein, dann warf er einen prüfenden Blick in die Gesichter seiner Begleiter.

»Nun mach's nicht so spannend!«, protestierte McGraw. »Diese Geheimniskrämerei ist ja kaum ...«

Bull hieb auf den Öffner. Das Schott glitt zur Seite, das Licht ging an.

»... auszuhalten«, hauchte McGraw.

Im Innern des gesicherten Raums, von zahlreichen Sensoren und Instrumenten bewacht, ruhte der Kreellblock, den die FANTASY von ihrem Flug mitgebracht hatte.

Und eingeschlossen in dem bläulich-transparenten Material wie im Tableau eines verrückten Bildhauers, angestrahlt von gleißend weißen Scheinwerfern unter- wie oberhalb des Blocks, standen Belle McGraws alte Freunde: Eric Leyden, Luan Perparim und Abha Prajapati.

»Ich habe es erst selbst kaum glauben wollen«, gestand Bull, während Marshall und McGraw mit offenen Mündern um den Block wanderten. »Das hat Gucky schon probiert«, schickte er nach, als Marshall vorsichtig die Hand auf das Kreell legte. Wahrscheinlich versuchte er, telepathisch zu den Eingeschlossenen vorzudringen.

»Sie sind älter geworden«, sagte McGraw mit tonloser Stimme und studierte die nur verschwommen erkennbaren Gesichter. »Wie ist das möglich?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Bull. »Aber du denkst vielleicht an das Gleiche wie ich?«

»Tuire Sitareh«, bejahte McGraw. Auch der Aulore war in einem Kreellblock eingeschlossen gewesen und in diesem Zustand um etwa dreißig Jahre gealtert – trotz seines Zellaktivators. Sie sah Marshall an. »Wieso sind immer alle Menschen, die mir lieb und teuer sind, in irgendwas eingeschlossen?«

»In meinem Fall war es kein Kreell«, verteidigte sich Marshall.

»Aber Fremdmaterie!«

Er gab ihr einen Kuss. »Ich verspreche dir, es nie wieder zu tun.«

Sie studierte weiter den Block. »Mit diesem Kreell stimmt etwas nicht. Diese dunklen Stellen da ...«

»Dunkelleben«, erläuterte Bull. »Der Block ist damit infiziert.«

»Wir müssen sie rausholen!«, rief McGraw. »Haben wir nicht irgendwo noch etwas Katlyk übrig?«

Bull schüttelte bedauernd den Kopf. Das seltene Enzym, mit dem sich Kreell zersetzen ließ, konnte nur von den Blues zur Verfügung gestellt werden. Und seit diese von ihrer tödlichen Seuche geheilt worden waren, hatte eine Bevölkerungsexplosion zu neuen Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Gelegen geführt. »Nachrichten aus der Eastside sind derzeit noch spärlicher als aus dem Großen Imperium. Es kann eine Weile dauern, bis wir jemanden finden, der uns noch Katlyk verkauft – falls überhaupt.« Zumal die Entfernungen dorthin gewaltig waren.

»Es stellt sich auch die Frage, ob sie es überleben würden, wenn wir sie befreien«, gab Marshall zu bedenken. »Eure Zelldusche liegt länger als dreiunddreißig Jahre zurück ...«

»Und jetzt sind sie älter als ich«, begriff McGraw. »Sie sollten entweder überhaupt nicht gealtert oder gestorben sein! Nicht ... so. Außerdem hat Tuire es auch überlebt ...« Dann machte sie große Augen und ging in die Hocke. »Da unten ist ja sogar Hermes!«

Reginald Bull lächelte schwach. Es war grotesk, es war grandios, es war zum Heulen. Er hatte ja lange seine Differenzen mit Eric Leyden gehabt, aber er hatte nie die Genialität des Wissenschaftlers und seines Teams angezweifelt. Nachdem sie vor über dreißig Jahren spurlos verschwunden waren, hatte er irgendwann seinen Frieden damit gemacht, sie wohl nie wiederzusehen. Dass sie nun alle doch noch einmal zueinanderfanden, und unter diesen Bedingungen ... Es war wie ein Gruß aus der Vergangenheit.

»Habe ich zu viel versprochen?«, fragte er.

»Nein«, sagte Belle McGraw. »Ich danke dir.« Sie tauschte Blicke mit John Marshall. »Ich würde sagen, es gibt die nächsten Wochen eine Menge zu tun, oder?«

3.

Kondolenzbesuch

 

Perry Rhodan saß in seinem Büro im fünfzigsten Stock des Stardust Towers und blickte durch die bodentiefen Panoramafenster auf die Stadt an den Ufern des glitzernden Salzsees hinab. Es waren dieselben Räumlichkeiten, die vor sehr langer Zeit Homer G. Adams und danach Maui John Ngata gedient hatten. Einst war von diesem Ort aus das Schicksal Terranias und der ganzen Erde gelenkt worden, ehe die Regierungsbehörden Gebäude im neu errichteten Stadtviertel Government Garden bezogen hatten. Es war ein Raum, der Geschichte geatmet hatte. Mittlerweile war er fast ohne Bedeutung.