Daniel Silbiger

Ein Geheimnis, das nie gelüftet werden sollte

Mystery

Prolog

Andover, England, 1962

Es war eine klare Nacht. Am Himmel verteilten sich unzählige Sterne. Die Luft war nahezu windstill und frühsommerlich warm. Kein Laut kam aus dem kleinen Wald, der das Herrenhaus von Arthur Cessler umgab wie ein natürlicher Schutzwall. Es war alles ruhig. Zu ruhig, beinahe wie ausgestorben.

Das Herrenhaus thronte inmitten der Lichtung und ragte als gewaltiger Prachtbau aus der Dunkelheit. In den meisten der zahlreichen Fenster in der Steinmauer war es finster, sodass sich der Schein des Vollmondes darin spiegelte. Im zweiten Stockwerk erlosch still und heimlich ein Licht, ohne dass jemand etwas davon merkte. Das einzig übrige beleuchtete Fenster befand sich auf der Hinterseite des Hauses im ersten Stockwerk.

Arthur Cessler stand in gebückter Haltung davor und sah hinunter zum verschlossenen Steinbrunnen, der sich einige Meter entfernt befand. Seine Arme hielt er hinter dem Rücken verschränkt, während er seinen Blick besorgt vom Garten zur Waldfront wandern ließ. Im Schein der Außenlaternen war niemand zu sehen.

Er war ein betrübter Mann und mit seinen achtundsiebzig Jahren vom Leben gezeichnet. Sein schütteres, graues Haar war notdürftig zur Seite gekämmt, sein schmales Gesicht lag in tiefen Falten. Er hatte die Lippen grimmig zusammengepresst, obwohl er eigentlich kein grimmiger Mensch war. Es waren die vielen Ereignisse der letzten Jahrzehnte, die ihm jegliche Freude genommen hatten. Das einzig Adrette an seinem Äußeren war nunmehr der sorgsam gepflegte Anzug.

In dieser Nacht erwartete Arthur keinen Besuch. Er erwartete Schlimmeres, wie seit so vielen Nächten. Der Knall der Bombe ertönte jedes Mal erneut, wenn er daran dachte, ebenso die Schreie der Leute vor dem Haus. Er spürte die Panik, die ausgebrochen war, die Angst um seinen Sohn und seinen Enkel. Sah das schwarze, komplett ausgebrannte Autowrack vor sich. Sein Herz war für einen Augenblick stehengeblieben, bevor Abraham zu Tode erschrocken, aber unversehrt neben ihn getreten war.

Es hätte eines seiner Kinder treffen sollen, das wusste Arthur. Seine ganze Familie, sie alle sollten verschwinden. Damit sie nicht mehr im Weg standen und nicht mehr das beschützen konnten, worauf man es tatsächlich abgesehen hatte. Sein Geheimnis, das sicher verborgen war. Stattdessen hatte das Bombenattentat seinen engsten und treuesten Freund und einige seiner Bediensteten getötet.

Sie waren zu allem fähig, war sich Arthur sicher. Dass er Abraham und Regina weggeschickt hatte war das Beste, das er tun konnte. Er vermisste die beiden – und Andrew. Sie alle verstanden den Grund nicht, den Arthur ihnen genannt hatte. Er hatte ihnen nur einen Teil der Wahrheit verraten, und sie hatten ihn angesehen, als hielten sie ihn für verrückt. Zum Glück hatten sie seine Anordnung schlussendlich ohne Fragen befolgt und waren unerkannt abgereist.

Niemand außer Arthur kannte ihren Aufenthaltsort. Und er betete, dass es so blieb. Bis endlich alles überstanden war, was er selbst wahrscheinlich nicht mehr erleben würde. Und es musste ein Wunder passieren, damit seine übrige Familie alles heil überstand. Ein großes Wunder …

Arthur wandte sich vom Fenster ab und trat an seinen Arbeitstisch. Das Amulett lag mitten auf der Tischplatte. Es war aus einem glatten, runden Stein gefertigt und etwa so groß wie sein Handteller. Eine blaugrün schillernde runde Oberfläche, umgeben von einem größeren, bernsteinfarbenen Stein. Und auf der Rückseite die seltsamen Zeichen. Seit so vielen Jahren rätselte er, was es damit auf sich hatte. Was sie bedeuteten. Er hatte es nie herausgefunden.

Jedes Mal, wenn er das Amulett begutachtete, dachte er an damals. An die Nacht, die sein Leben für immer verändert hatte. Die Ereignisse hatten seine Familie ins Unglück gestürzt. Sie hatten nie aufgehört, ihn zu verfolgen. Auf die Antworten, nach denen er seitdem gesucht hatte, war er nie gekommen.

Ein Geräusch riss Arthur aus seinen Gedanken. Der Knauf seiner Zimmertür drehte sich. Wie ein alarmierter Hund spähte er zur Tür, die langsam geöffnet wurde. Eine vermummte Gestalt trat in den Raum. In langem Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Dazu der Kapuzenumhang, der das Gesicht der Person verdeckte.

„Wer sind Sie?”, fragte Arthur erschrocken.

Die Gestalt ließ die Kapuze nach hinten fallen. Arthur rang nach Luft als er sah, wer es war.

„Margaret!”, rief er keuchend und stützte sich auf der Tischplatte ab. „Was tust du hier? Du solltest dich doch fernhalten!”

„Ich kann nicht, Arthur”, sagte Margaret aufgewühlt. Ihr Gesicht war aschfahl, umgeben von ihren hellbraunen, lockigen Haaren, die ihr weit den Rücken hinunter hingen.

„Ich konnte nicht mehr”, wiederholte sie und schloss die Tür hinter sich. „Seit Wochen bekam ich keinen einzigen Brief von dir. In der Zeitung habe ich von der Bombe gelesen, Arthur. Was ist passiert? Geht es Abraham und Andrew gut?”

Er schluckte und eilte zu allen Fenstern im Raum, um die Vorhänge vorzuziehen. Anschließend verschloss er die Tür.

„Die beiden leben”, erklärte er kurz angebunden. „Du musst sofort von hier verschwinden, niemand darf dich sehen!”

„Ich gehe nicht weg”, wehrte sich Margaret. „Ich will zu Abraham und meinem Sohn. Wo sind sie, Arthur? Ich muss sie sehen! Ich ging an ihrem Zimmer vorbei und habe Stimmen gehört. Doch jemand kam den Flur entlang und ich musste mich verstecken.”

Arthur schüttelte besorgt den Kopf.

„Es bleibt keine Zeit”, drängte er. „Du musst verschwinden, Margaret. Jetzt sofort! Wenn sie dich finden, dann bekommen sie was sie wollen, und das darf nicht passieren.”

Er griff nach ihren dürren und eiskalten Händen.

„Ich werde ihnen nicht helfen.” Margarets Stimme klang vor Aufregung schrill und verzerrt. Ihre Augen waren stark gerötet. „Ich will bloß meine Familie sehen!”

„Das wirst du, früher oder später”, sicherte Arthur zu und warf einen vorsichtigen Blick auf den Flur. Jemand kam. Er schloss die Tür sofort wieder und sperrte ab.

„Sie beobachten uns”, stellte er fest. „Sie können alles mithören, wenn sie wollen. Bring dich in Sicherheit und warte auf meinen nächsten Brief.”

Arthur öffnete die Tür zum Speiseaufzug und deutete Margaret, sich hineinzusetzen. „Beeil’ dich!”

In diesem Moment ertönte ein bedrohliches Grollen. Es folgte ein Knall, der von unten zu kommen schien und Margaret zusammenfahren ließ.

„Was ist das für ein Lärm?”, fragte sie panisch.

„Ich kümmere mich darum”, meinte Arthur. „Aber du musst weg, so schnell es geht. Fahre mit dem Speiseaufzug in das Speisezimmer und flüchte durch die Hintertür. Gib Acht, dass dich niemand erwischt!”

Margaret folgte seiner Anweisung und zwängte sich hinein.

„In meinem Brief habe ich dir geschrieben, dass die Visionen aufgehört haben!”, fiel Margaret plötzlich ein. „Ich habe sie nicht mehr, Arthur. Sie sind verschwunden, schon seit Monaten. Es geht mir besser!”

Er erwiderte nichts, sondern warf ihr einen traurigen und ernsten Blick zu.

„Du musst wissen, Margaret, dass mir alles schrecklich leidtut”, flüsterte er. „Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Ich hoffe, dass du mir irgendwann vergeben kannst.”

„Dich trifft keine Schuld, Arthur”, sagte sie und legte eine Hand auf seine Schulter. „Dich trifft keine Schuld. Aber bitte, sag mir, wo ich Abraham und Andrew finden kann.”

Arthur senkte den Kopf. Dann bemerkten sie den schwarzen Rauch, der durch die Türritzen hereinkam. Ohne zu zögern schloss Arthur den Aufzug.

„Leb Wohl, Margaret. Gott sei mit dir.”

Er ließ sie hinunterfahren und trat erneut ans Fenster. Kurze Zeit später sah er Margaret durch die Hintertür an der Wand entlang in den Wald laufen. Sie drehte sich ein letztes Mal um, bevor sie in der Dunkelheit verschwand.

Arthur spürte, wie es wärmer wurde. Der Raum füllte sich mit Rauch. Wenig später züngelten Flammen unter dem Türschlitz hervor und breiteten sich im ganzen Zimmer aus. Arthur sank unterhalb des Fensters zusammen. Unfähig, sich zu bewegen. Nach kürzester Zeit hatte ihn eine breite Flammenfront eingeschlossen und machte jede Flucht unmöglich. Seine Kehle schnürte sich zu, als der Rauch in seine Lunge drang.

Mit letzter Kraft stieß er die Vorhänge zur Seite und sah hinunter zum Brunnen. Sein Geheimnis war in Sicherheit, beruhigte er sich. Es lag an einem geheimen Ort, wo es sicher verborgen war. Wo es niemand entdecken konnte.

Niemand.

Bis in alle Zeit.

Kapitel 1

Viele Jahre später

Alexander Stancen saß im Flugzeug und langweilte sich seit Stunden. Das Filmprogramm hatte nichts Aufregendes zu bieten und auch sonst fand er keine Beschäftigung. Müde lehnte er sich ans Fenster und sah in den dunklen Himmel. Bis vor kurzem war noch eine sternenklare Nacht gewesen, als von einem Moment auf den anderen eine dicke Wolkendecke aufgetaucht war. Dazu kam der starke Regen, der auf den Scheiben zerrann und im Licht der Blitze und Flugzeuglichter glänzte.

Nahezu regungslos verharrte Alex im Sitz und lauschte seiner Umgebung. Sein Gesicht fühlte sich wie eingefroren an, als wäre es von Trauer und Hoffnungslosigkeit gelähmt. Die Verzweiflung zerfraß ihn von innen. Der Unfall hatte sein Leben völlig aus der Bahn geworfen. Seit Wochen versuchte er, die schrecklichen Bilder loszuwerden. Sie aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Doch es hatte keinen Zweck, sie waren wie eingebrannt.

Seine Eltern waren bald ratlos gewesen und hatten deshalb beschlossen, Alex den restlichen Sommer bei seinem Onkel John in Andover verbringen zu lassen. Er sollte dort Abstand gewinnen, hatten sie gesagt. Abstand, um zu lernen, mit dem Unfall umzugehen.

Klar, dachte Alex verbittert. Wie stellten sie sich das vor? Der Schock saß viel zu tief.

Er seufzte bedrückt und rieb sich mit der Hand das Gesicht. Seine Stimmung hatte sich in den vergangenen Wochen und während des endlos langen Fluges nicht geändert. Es fühlte sich schrecklich an. So unbeschreiblich, dass er nicht mal weinen konnte. Egal wo er war, egal mit wem, auch ein Sommer weit weg von zuhause würde ihn niemals aufmuntern können.

Eine Durchsage ertönte: „Sehr geehrte Damen und Herren, die Maschine setzt nun zur Landung an und wird in Kürze den Flughafen London-Heathrow erreichen …”

Alex hoffte, dass sein Onkel nicht die Zeiten durcheinandergebracht hatte und ihn deshalb zu spät abholte. Er wollte so schnell wie möglich weg von all dem Getümmel und allein sein. John war zwar kein unzuverlässiger Mensch, aber manchmal konnte er doch ziemlich chaotisch sein.

Sein Onkel war Schriftsteller und lebte seit zwanzig Jahren in England, wo er viel Inspiration für seine Bücher bekam, wie er stets erklärte. Alex mochte ihn sehr und hatte ihn schon oft besucht. Normalerweise konnte er es kaum erwarten, endlich anzukommen und ihn wiederzusehen. Aber diesmal wünschte er sich, er müsste nicht hier sein. Der Unfall überschattete alles.

Die Lichter des Flughafens zogen schnell vor den nassen Fenstern vorbei. Währenddessen musste Alex an Johns Haus denken. Es war ganz schön groß für eine Person und über hundert Jahre alt. Vor seinem Onkel hatte ein Wissenschaftler darin gelebt. Er war alleinstehend gewesen und eines Tages tot aufgefunden worden. Die genauen Todesumstände wurden bis heute nicht geklärt. Die meisten gingen von Selbstmord aus, es kursierten jedoch auch Gerüchte über Mord.

Das Haus war leer gestanden, bis John einige Jahre später eingezogen war. Er hatte erzählt, was für eine Arbeit es gewesen war, es wieder auf Vordermann zu bringen. Der Staub war überall zentimeterdick gelegen und das Gerümpel schien genauso wie zu jenem Zeitpunkt, als das Haus verlassen worden war.

Erst nach einiger Zeit hatte John im Wohnzimmer die Bodentür zu einem Schacht in der Erde entdeckt, von dem ein unterirdischer Tunnel wegführte. Weiter als ein paar Meter hatte er sich allerdings nie hineingewagt, da er nicht wusste, ob alles stabil genug war. Trotzdem hatte Alex es jedes Mal sehr aufregend gefunden, wenn er in den Schacht hineingeklettert war und mit der Taschenlampe in den Tunnel geleuchtet hatte. Die Urlaube bei John waren immer aufregend gewesen. Nur dieses Mal würde alles anders sein.

Mit der Reisetasche um die Schulter und seiner Jacke in der Hand, steuerte Alex in der Warteschlange auf den Ausgang zu. Von weiter vorne konnte er das Gespräch zwischen zwei Flugbegleitern hören:

„Ich verstehe nicht, wieso wir das Unwetter nicht umflogen haben”, meinte die eine.

„Der Kapitän sagte, es ist plötzlich am Radar aufgetaucht”, antwortete der andere. „Ganz unvorhersehbar. Es ist zu groß um es zu umfliegen.”

Alex brachte ein leises „Auf Wiedersehen” über die Lippen. In der Ankunftshalle teilten sich die Passagiere auf mehrere Schalter auf. Er holte seinen Reisepass heraus und wartete.

In der Halle war es kühl und irgendwie trostlos. Alex trug nur eine dunkelblaue Weste über einem weißen T-Shirt, fast zu wenig bei diesem Wetter. Seine Frisur sah durch die Spiegelung in den verglasten Wänden eigentlich gut aus, obwohl seine kastanienbraunen Haare ungekämmt waren.

Nachdem sein Pass abgestempelt war, wartete er auf seinen Koffer bei der Gepäckausgabe und schlenderte dann hinaus.

Die Stimmung in der Empfangshalle war ruhig. Bei ihm zuhause musste es jetzt sechs Uhr am Abend sein, hier war es elf Uhr. Wahrscheinlich würde er den nächsten halben Tag verschlafen. Aber was sollte es? Er hatte sowieso nichts vor und wollte auch nicht mehr Zeit mit Nachdenken verbringen, als ohnehin bereits. Schon ein Nachmittag wäre zu lange gewesen. Und vor ihm lag fast ein ganzer Sommer!

Alex sah auf die Anzeigetafeln. Viele Flüge schienen wegen der schlechten Wetterlage gestrichen worden zu sein. Er ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Sofort entdeckte er seinen Onkel, der ihm zuwinkte und sich einen Weg zwischen den Leuten bahnte.

„Hallo Alex!”, rief er.

„Hi John”, grüßte Alex zurück und umarmte ihn kurz.

John sah erstaunlich munter aus für diese Uhrzeit – immerhin war es bald Mitternacht – und erstaunlich jung für sein Alter. Sein sandfarbenes Haar war dicht und leicht gewellt, seine Körperhaltung aufrecht, aber sehr locker und lässig. Er trug dunkelblaue Jeans und eine braune Lederjacke.

Eigentlich war John wie immer. Sogar dass er um Alex besorgt war, ließ er sich äußerlich nicht anmerken. Doch Alex konnte es spüren. Es war dasselbe Gefühl, das er nach dem Unfall ständig gehabt hatte. Schwach zu sein und die Hilfe von anderen zu benötigen. Er hasste es! So sehr er seinen Onkel mochte, in diesem Moment wäre er am liebsten umgedreht.

„Wie geht es dir, Junge?”, erkundigte John sich freundlich und klopfte Alex auf die Schulter. „Hattest du einen guten Flug?”

„Geht so”, meinte Alex und wich dem Blick seines Onkels aus. „Der Flieger ist direkt in ein Unwetter geflogen.”

„Mich hat das Wetter auch überrascht, kurz bevor ich aufgebrochen bin”, meinte John. „Komm, wir gehen zum Auto. Dort kannst du mir alles erzählen.”

Alex nickte und sie gingen auf den Ausgang zu. Es fühlte sich surreal an, wieder hier zu sein. Als ob es eigentlich nicht so bestimmt war. Als ob das ein Albtraum war, aus dem er jeden Moment erwachen würde. Alex hätte alles dafür gegeben.

„Ich stehe gleich gegenüber im Parkhaus, ist nicht weit. Soll ich dir den Koffer abnehmen?”

„Danke, schon in Ordnung”, lehnte Alex ab. Er ließ die Umgebung auf sich wirken. Vor den großen Fenstern zischten Blitze im Sekundentakt und Donnerschläge tönten grollend durch die Halle. Dass so viele Flüge nicht stattfinden konnten, wunderte ihn nicht.

Ein kühler Wind wehte den beiden ins Gesicht, als sie die Empfangshalle verließen. Alex zog sich die Jacke über und schloss den Reißverschluss bis zur Hälfte. In der Ferne konnte man durch den heftigen Regen kaum etwas sehen.

„Steig ein!”, rief John Alex zu, als sie beim Auto angelangt waren. „Ich packe deine Sachen in den Kofferraum.”

„Okay”, sagte Alex und öffnete die Beifahrertür. Verdutzt starrte er auf das Lenkrad über dem Sitz.

„Wo willst du denn hin?”, fragte John amüsiert. „Hier ist Linksverkehr, du musst auf die andere Seite.”

„Richtig”, stieß Alex hervor und schlug sich auf die Stirn. „Hätte ich mir merken können.” Er versuchte ein Lächeln aufzusetzen, was ihm nur schwer gelang.

John startete den Motor. Kaum waren sie aus der Garage draußen und auf dem Weg zur Autobahn, prasselte der Regen in Fluten auf die Scheiben und das Dach. Sofort setzten die Scheibenwischer ein.

„Das ist ja ein toller Empfang für dich”, sagte John trocken. „Aber was soll’s, wie fühlst du dich?”

Diese Frage traf Alex wie ein Schlag. Wie oft hatte er sie in den letzten Wochen gehört? Er hasste diese Frage! Er fühlte sich scheußlich, seit damals, als er im Krankenhaus aufgewacht war. Es war mit der Zeit sogar noch schlimmer geworden. Seine Gedanken kreisten immer um dieselben Dinge, die Szenen schienen als Endlosschleife in seinem Kopf abzulaufen. Als würden sie ihm immer wieder ins Gedächtnis rufen wollen, dass er daran schuld war. Obwohl ihm seine Eltern und alle anderen mehrmals versichert hatten, dass ihn keine Schuld traf. Alex dachte anders. Hätte er sich nicht auf die ganze Sache eingelassen, wäre es nie so weit gekommen. In seinem Inneren schämte er sich. Jedes Mal, wenn ihn jemand fragte, wie er sich fühlte, wurde er daran erinnert.

„Alex?” John riss ihn aus seiner Gedankenspirale, nachdem er nicht geantwortet hatte.

„Ganz okay”, murmelte Alex und seufzte.

„Hör mal, es tut mir wirklich leid, was passiert ist”, setzte John an. „Das hast du nicht verdient, niemand hat das. Ich hoffe, dass ich dir irgendwie helfen kann. Ich meine, du bist älter geworden, seit du das letzte Mal hier warst und wir haben uns länger nicht gesehen, aber wir haben immerhin an die zwei Monate Zeit. Wir bringen dich wieder auf andere Gedanken, da bin ich sicher!”

Alex erwiderte mit einem leisen „Mhm” und sah geradeaus durch die Windschutzscheibe. Obwohl er jedes Wort gehört hatte und wusste, dass John es gut meinte, wirkte es, als wäre alles ganz weit weg. Er hatte das nicht verdient … Alex war nicht sicher. Er wollte es nicht verdient haben, doch er befürchtete, dass er das doch hatte. Vielleicht hätte er viel Schlechteres verdient, vielleicht sollte er gar nicht hier in Johns Auto sitzen.

„Wenn das Wetter besser wird, können wir Ausflüge an die Küste oder aufs Land machen”, redete John weiter, während er auf die Autobahn fuhr. „Einige Orte kennst du ja schon, aber es gibt viel, das du noch nicht gesehen hast. Wenn du irgendwo hinfahren willst, lass es mich wissen!”

„Danke.” Mehr brachte Alex nicht heraus.

„Und vergiss nicht, du kannst mir alles erzählen, was du möchtest”, stellte John klar. „Wenn du Zeit brauchst, verstehe ich das. Aber du sollst es wissen.”

Alex nickte nur und vermied es weiterhin, seinen Onkel anzusehen. In den letzten Wochen hatte er das Gefühl gehabt, keinem Menschen mehr in die Augen sehen zu können. Jeder Blick erschien ihm vorwurfsvoll, auch wenn die Leute nichts dergleichen sagten. Er schämte sich vor allen anderen, am meisten aber vor sich selbst.

Der Regen hämmerte auf das Autodach, als ob er mit aller Kraft ins Innere gelangen wollte. Die wilde Szenerie lenkte Alex ein wenig von seinen Gedanken ab. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals ein so starkes Unwetter erlebt hatte.

„Ist es hier immer so heftig?”, fragte Alex.

„Eigentlich nicht”, antwortete John. „Es regnet oft, aber diese Stärke hat es jetzt schon, seit ich von zuhause losgefahren bin.”

„Ich habe vorhin zwei Flugbegleiter miteinander reden hören”, erzählte Alex. „Sie sagten, das Unwetter sei plötzlich am Radar aufgetaucht.”

„Seltsam …”, murmelte John. „Auch in den Nachrichten haben sie gesagt, dass die Wolken ohne vorherige Anzeichen auf den Satellitenbildern aufgetaucht sind.”

„Wohl eine Wetterlaune”, meinte Alex schulterzuckend.

„Wahrscheinlich”, erwiderte John. „Wollen wir hoffen, dass sie sich schnell wieder einkriegt.”

Er schaltete das Radio ein, um die Atmosphäre im Auto etwas aufzuhellen. Ihm schien nichts mehr einzufallen, worüber er mit Alex reden konnte. Doch das war Alex im Moment auch lieber.

Er sah aus dem Fenster. Durch das helle Scheinwerferlicht glänzte die nasse Straße, während sich die Scheibenwischer rhythmisch auf und ab bewegten.

Fängt echt super an, dachte Alex zynisch. Das Wetter passte perfekt zu seiner Stimmung. Könnte auch den ganzen Sommer über so bleiben, fand er. An Spaß konnte er absolut nicht denken.

Kapitel 2

Anderthalb Stunden waren sie über nasse Fahrbahnen durch verregnete Landschaften gefahren, ehe sie nach Andover kamen. John wohnte am Stadtrand in einer abgelegenen Straße, die auf beiden Seiten von Häusern geziert war. Viele davon waren aus Ziegelsteinen gebaut, manche mit lackierten Holzdielen verkleidet. Einige hatten eine Veranda und kunstvoll verzierte Fassaden und Fenster.

Das ganze Gebiet rundherum hatte vor langer Zeit den Cesslers gehört, einer reichen Unternehmerfamilie. Was Alex aus Johns Erzählungen wusste, klang alles wie eine mysteriöse Gruselgeschichte. Denn vor vielen Jahren war das Herrenhaus der Cesslers bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dabei war die ganze Familie ausgelöscht worden. Bis heute war die genaue Ursache des Feuers nicht aufgeklärt, wie John erfahren hatte. Deshalb gab es seither viele Legenden und Mythen über die Familie Cessler und ihre Geschichte.

Der Regen hatte keine Stufe nachgelassen, als die beiden in die Straße einfuhren. Alex konnte im Scheinwerferlicht das alte Straßenschild erkennen. Mendelaine Road war in rostigen Metallbuchstaben zu lesen. John wohnte am anderen Ende, wo die Nummerierung der Häuser begann.

Sie fuhren an allen Häusern vorbei, die still und dunkel hinter der dichten Regenfront dalagen. Die Straße wirkte fast unbewohnt, die wenigen noch brennenden Lichter waren von den Regenfontänen verwischt. Die Häuser hatten allesamt Vorgärten, lagen auf einer leichten Anhöhe und hatten ein paar Stufen, die zu den Haustüren führten. In der nächtlichen Dunkelheit wirkte Johns Haus gewaltig, wie eine Villa aus früheren Zeiten.

Alex bemerkte zuerst das Nummernschild neben der Tür, auf dem in großem Metallbuchstaben die Zahl „2” genagelt war. Es war das erste Haus der Straße, eine Nummer eins gab es nicht. Gähnend wartete er, bis John geparkt hatte.

„Also”, meinte dieser und reichte ihm die Schlüssel für die Haustür. „Hier ist ein Regenschirm, geh schon mal ins Haus. Ich hol’ deine Sachen aus dem Kofferraum.”

Alex nickte und öffnete die Tür.

So schnell er konnte, sprintete er die Treppen hinauf unter das Vordach und schloss auf. Ein Donner ertönte, als Alex hineintrat. Er fröstelte. Sofort stieg ihm der leicht bittere Geruch von Schwarztee in die Nase. Neugierig sah er sich im Vorraum um.

Auf der rechten Seite führte ein breiter Gang um die Ecke nach hinten ins große Wohnzimmer. Geradeaus führte ein langer Flur ans andere Ende des Hauses, wo links die Küche und rechts das Wohnzimmer lag. Eine grauweiß gestreifte Tapete ließ die Wände massiv wirken. Typisch für John hingen überall gerahmte Bilder von Landschaften und Städten, um den Raum nicht leer wirken zu lassen.

Links war die Tür zu dem großen Arbeitszimmer, in dem John meist an seinen Büchern schrieb. Etwas weiter den Flur entlang befand sich die Abstellkammer und schräg gegenüber auf der rechten Seite die Treppe nach oben, die von einem weißen Geländer aus Holz geziert wurde und sich zweimal um die Ecke bog.

„Und?” John war soeben mit Alex’ Koffer angekommen und schüttelte seinen Regenschirm vor der Türe aus.

„Kannst du dich an alles erinnern, oder muss ich dich durchs Haus führen?”, fragte er scherzhaft.

„Als wäre ich gestern erst hier gewesen”, antwortete Alex und hängte seine Jacke an den Kleiderhaken.

Der Boden war mit altem Parkett ausgelegt, das stellenweise knarrte. Von oben hörte man dumpf den Regen auf das Dach trommeln.

„Komm, ich trag’ dir den Koffer hinauf in dein Zimmer”, meinte John und ging voran.

Die Treppe war mit einem weichen, dunkelblauen Teppich belegt, der die Schritte dämmte. Es war, als ginge man auf Watte. Vom Flur im oberen Stockwerk führten mehrere Türen in die verschiedenen Räume.

„Dein Zimmer ist dasselbe wie immer”, erklärte John, als sie dort angelangt waren. „Richte dich ein wie du willst. Ich bin im Wohnzimmer, falls du mich brauchst.”

„Ich hol’ mir später noch was zu Trinken, bevor ich ins Bett gehe”, ließ er seinen Onkel wissen, der ihm freundlich zunickte und anschließend nach unten ging.

Hier war er nun, dachte Alex trübsinnig.

Sein Zimmer lag auf der Straßenseite. Vom Fenster aus konnte er auf die gegenüberliegenden Häuser und ein Stück die Straße hinaufsehen. Die Wände des Zimmers waren angeordnet wie ein halbes Achteck und in verschiedenen Blautönen tapeziert.

Neben der Zimmertür stand ein einfacher Schreibtisch aus Holz, weiter hinten befand sich ein begehbarer Wandschrank. Direkt gegenüber stand das einladende King-Size-Bett, auf dem Alex früher oft rumgesprungen war, bis alle Federn gequietscht hatten. Es sah alles so aus wie beim letzten Mal. Dennoch kam er sich vor wie in einer anderen Realität. Einer Welt, in der alles so aussah wie in seiner Erinnerung, aber tatsächlich ganz anders war. Überschattet von Gedanken, die alles Positive zerstörten.

Alex stellte seinen Koffer zum Schrank und die Reisetasche auf den Tisch. Seine Sachen wollte er morgen auspacken.

Im Wohnzimmer war es angenehm warm, im Kamin knisterte ein Feuer und der Fernseher erleuchtete den Raum. Die Satellitenbilder zeigten, wie ganz Großbritannien unter einer Wolkendecke verschwand.

Ein heftiges Unwetter hat heute die gesamten britischen Inseln erfasst”, tönte es aus den Nachrichten. „Meteorologen rätseln über den plötzlichen Wetterumschwung.”

John saß auf dem Sofa davor und verfolgte die Berichte. Alex holte sich ein Glas Saft und setzte sich neben seinen Onkel. Es war irgendwie unwirklich, dachte Alex. Nach dem langen Flug mit John im Wohnzimmer zu sitzen, weit weg von zuhause, während die Welt draußen tobte. Immer wieder zuckten Blitze, gefolgt von Donnerschlägen, die die Luft erzittern ließen.

„Ich hoffe, du kannst heute Nacht gut schlafen”, sagte John, nachdem er die Lautstärke runtergedreht hatte. „Es ist wirklich zu blöd, dass ausgerechnet jetzt ein Unwetter ausbricht, wo du ankommst.”

„Kein Thema”, winkte Alex ab. „Du kannst ja nichts dafür.”

„Das meine ich nicht.” John drehte den Fernseher ab und versuchte, Alex’ Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Du bist ohnehin etwas durch den Wind und brauchst eigentlich Ruhe, denke ich. Hoffentlich ist das morgen vorbei.”

Alex gab mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er nicht weiter darüber reden wollte und trank sein Glas aus. Er brauchte Ruhe, natürlich. Ruhe von seinen Gedanken, die ihn in den Wahnsinn trieben, Ruhe von seinem ganzen Leben, das gerade in vollem Tempo den Bach runterging. Doch wie sollte die Ruhe ihm helfen? Sie änderte nichts an den Umständen.

„Alex”, setzte John erneut an und legte ihm eine Hand auf die Schulter, „wenn du mir erzählen willst, was passiert ist, dann kannst du es jetzt tun. Vielleicht bist du dann etwas erleichtert.”

Wieder hatte Alex das Gefühl, dass sich alles in ihm zusammenkrampfte. In der Falle zu stecken, etwas gestehen zu müssen, eine Schuld zuzugeben – nur um dann festzustellen, dass ihn niemand verstand und niemand ihm helfen konnte. So nett er Johns Angebot fand, er wusste, dass er es nicht konnte.

„Wozu?”, brachte er heraus. „Du weißt ohnehin, was passiert ist. Mom oder Dad haben es dir sicher erzählt.”

„Natürlich”, erwiderte John und wirkte ratlos. „Du machst dir Vorwürfe, nicht wahr?”

Alex starrte ins Leere und umklammerte sein Glas. Er spürte, wie es in ihm zu brodeln begann.

„Hör mal, das sollst du nicht”, versuchte John ihm klarzumachen. „Du bist nicht daran schuld, dass Josh …”

„Ich bin müde”, unterbrach Alex und erhob sich. „Ich geh ins Bett.”

John senkte den Blick und nickte dann verständnisvoll.

„Wir sehen uns morgen”, fügte Alex hinzu.

„Alles klar. Zähneputzen nicht vergessen”, witzelte John.

„Bestimmt nicht, Mom”, gab Alex zurück, stellte das leere Glas in der Küche ab und ging nach oben.

Die schweren Vorhänge hüllten das Zimmer in völlige Dunkelheit, sodass Alex nur das monotone Rauschen des Regens wahrnahm. Während er auf dem Rücken lag und in die Dunkelheit starrte, ließ er sich den vergangenen Tag durch den Kopf gehen. Den langen Flug, das extreme Wetter … und den eigentlichen Grund, warum er hier war. Etwas, das ihn schaudern ließ, wenn er zurückdachte, wie alles vor ein paar Wochen seinen Anfang genommen hatte …

„Komm schon, Mom!”, bettelte Alex.

„Nein, Alex!”, sagte sie. „Du fährst da nicht mit, kommt überhaupt nicht in Frage.”

„Wieso nicht?”, fragte er genervt. „Ist doch überhaupt nichts dabei!”

„Zum hundertsten Mal: Nein”, schärfte sie Alex ein. „Ich kenne diese Leute nicht mal. Das Ganze dauert vielleicht bis spät in die Nacht.”

„Na und?”, redete Alex dagegen. „Ich bin fünfzehn, nicht fünf! Wenn es Alkohol gibt, trinken wir sowieso keinen, versprochen.”

„Das ist mir egal, du fährst da auf gar keinen Fall mit. Keine Diskussion mehr!” Damit drehte sie sich um.

„So was Bescheuertes!”, fluchte Alex, rannte die Treppen hinauf und knallte die Tür zu. Er warf sich aufs Bett und schlug mit der Faust ins Kissen, als sein Handy klingelte.

„Hallo!”, maulte er.

„Und?”, fragte Josh erwartungsvoll. „Hast du sie überredet?”

„Nein”, antwortete Alex.

„Verdammt, wieso nicht?” Auch Josh klang jetzt zermürbt.

„Meine Mom will es nicht. Sie hat Angst, dass wir Blödsinn anstellen und mitten in der Nacht irgendwo rumfahren.”

„Dasselbe hat meine Mom auch gesagt.”

„Das heißt, du darfst auch nicht?”

„Nein”, war die verärgerte Antwort. „Aber die kann mich mal, ich schleich’ mich von hier weg.”

„Und wenn sie es merkt?”

„Komm schon, das wird cool – die Party des Jahres!”, schwärmte Josh. „Da muss man so ein Risiko eben eingehen. Hau doch auch einfach ab!”

„Ach, ich weiß nicht …”, meinte Alex verunsichert.

„Willst du der Einzige sein, der nicht dabei war?”, fragte Josh in seiner typisch herausfordernden Art.

Alex konnte nicht anders.

„Also gut, überredet”, erwiderte er. „Auch wenn das Ärger geben wird.”

„Jimmy ist um neun bei der Schulbushaltestelle. Sei pünktlich, wir können nicht warten!”

„Ja, ich bin da. Bis dann!”

Das würde cool werden, hatte Alex gedacht.

Richtig cool …