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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Jürg Liechti
Monique Liechti-Darbellay

Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit

Wege zur Veränderung im Kontext naher Beziehungen

2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

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Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe: »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © Richard Fischer

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0332-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8210-8 (ePUB)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Eine frühere Version dieses Buches ist 2008 unter dem Titel »Magersucht in Therapie. Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme« erschienen. Der Text wurde gegenüber dieser Veröffentlichung grundlegend überarbeitet und wesentlich erweitert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. + 49 6221 6438-0 • Fax + 49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Geleitwort

Vorwort von Gabriella Milos

Vorwort von Dagmar Pauli

Vorwort der Autoren

1Einführung

1.1Was will dieses Buch?

1.2Was nottut

1.3Fatale Unterversorgung

1.3.1 Ein Paradox

1.3.2 Probleme mit der Therapiemotivation

1.3.3 Essstörungen haben (noch) keine Lobby

1.4Faszination, Irritation, Besorgnis, Vorurteile und Ideologien

1.4.1 Faszination und Superlative

1.4.2 Irritation: Einflussreicher Schlankheitskult

1.4.3 Auf dem Laufsteg

1.4.4 Besorgniserregende Verhältnisse

1.4.5 Fatale Vorurteile

1.5Eine prägende Erfahrung

2Erscheinungsbild, Diagnose und einige Fakten

2.1Erscheinungsbild

2.2Typische Merkmale der Anorexia nervosa

2.3Funktion, Diagnose und Differenzialdiagnose

2.3.1 Gründe und Funktionen des Hungerns

2.3.2 Diagnostische Leitlinien

2.3.3 Diagnose der Anorexia nervosa nach DSM-V – Abschied von der Idee der Krankheitsverleugnung

2.3.4 Differenzialdiagnose

2.3.5 Komorbidität

2.4Zur Epidemiologie

2.5Wichtige Risikofaktoren

2.5.1 Der Faktor Untergewicht – Die Minnesota-Studie

2.5.2 Biologisch-genetische Faktoren

2.5.3 Psychologische Faktoren, Bindungsmuster, familiäre Einflüsse

2.6Verlauf, Prognose und »Cross-over«

3Eine Vielfalt von Modellen und Ansätzen

3.1Integration, Kombination, Behandlungsketten

3.2Das evidenzbasierte Modell

3.2.1 State of the Art der Wirksamkeitsforschung zur Anorexia nervosa

3.2.2 Evidenzbasierte Familientherapiemodelle

3.2.3 Evidenzbasierte mehrfaktorielle Modelle

3.2.4 Fortschritte durch evidenzbasierte Therapien

3.3Das Suchtmodell

3.4Das Depressionsmodell

3.5Das Angst- bzw. Angstvermeidungsmodell

3.6Psychodynamische Modelle

3.7Familientherapeutische Modelle

3.7.1 Die »psychosomatische Familie«

3.7.2 Das »Mailänder Modell«

3.8Weitere »wegleitende« Modelle

3.9Der Maudsley-Ansatz (Maudsley Approach)

3.10Körper- und entspannungstherapeutische Modelle

3.11»Fernerliefen«-Modelle

3.11.1 Der Montreux-Ansatz

3.11.2 Unfähige-Mutter/Eltern-Modelle

3.11.3 Flucht-vor-dem-Hunger-Programm

4Konzeptuelle Impulse aus der systemischen (Familien-)Therapie

4.1Die Entdeckung der Angehörigen

4.1.1 Widerstände gegenüber dem Einbezug der Angehörigen

4.2Impulse aus der systemischen (Familien-)Therapie

4.2.1 Stufenentwicklung von intimen Beziehungssystemen

4.2.2 Differenz von System und Umwelt – Systemgrenzen

4.2.3 Systemische Kreisläufe nutzen

4.2.4 Lerntheorie und der »anorektische Teufelskreis«

4.2.5 Dreiecksprozesse

4.2.6 »Familie macht Anorexie« – Ein obsoleter Mythos

4.2.7 »Anorexie macht System« – Das produktive Konzept des Problemsystems

5Konzeptuelle Impulse aus der Bindungstheorie

5.1Für die Psychotherapie wichtige Konzepte der Bindungstheorie

5.2Bindungsmuster und Beziehungsgestaltung

5.3Bindungsmuster und psychische Störungen

5.4Die Entwicklung des Problemsystems aus bindungsbasierter Sicht

5.4.1 Aktivierung der Bindungs- und Fürsorgeverhaltenssysteme

5.4.2 Symptomentstehung im Dienst der Selbstberuhigung

5.4.3 Das Symptom kontrolliert das Geschehen (Problemsystem in Aktion)

5.4.4 Demoralisierung, Chronifizierung

5.5Zusammenfassung

6Klinische Anforderungen an ein Modell

6.1Ein klinisches Hexagon

6.1.1 Lebenserhaltende Maßnahmen

6.1.2 Therapiemotivation als therapeutische Herausforderung

6.1.3 Störungsspezifische Hilfen – Hilfen für die Symptombewältigung

6.1.4 Erarbeiten der Grundprobleme

6.1.5 Komorbidität und Rückfallprophylaxe

6.1.6 Kurze Bemerkung zur Pharmakotherapie

7Therapiephasen, Methodisches und ein Dreischritt

7.1Phasen

7.1.1 Diagnostik

7.1.2 Phase der Remoralisierung (erkennbar durch das Wohlbefinden)

7.1.3 Phase der Remediation (erkennbar an der Symptomverbesserung)

7.1.4 Phase der Rehabilitation (erkennbar an der verbesserten Alltagsbewältigung bei gleichzeitiger Symptomkontrolle)

7.2Wenn Jugendliche sich verweigern

7.2.1 Der »konsiliarische Einbezug«

7.2.2 Erweiterung des Problemsystems durch eine relevante Bezugsperson

7.2.3 Direkte Kontaktaufnahme

7.2.4 Der familiäre Notstand

7.3Das Primat der Beziehungsgestaltung

7.4Zur therapeutischen Problembeschreibung

7.5Linda M. – Vom Problem- zum Therapiesystem: ein Dreischritt

7.5.1 Der erste Schritt

7.5.2 Zweiter Schritt: im Auftrag der Patientin die Eltern unterstützen

7.5.3 Dritter Schritt: vom Problemsystem zum Therapiesystem

7.5.4 Der lange Weg zur Normalität

7.5.5 Der Blick zurück

7.6Schlussfolgerungen

Nachwort

Literatur

Über die Autoren

Geleitwort

Die Behandlung von Patientinnen mit Anorexia nervosa war einer der Ausganspunkte der systemischen Familientherapie. Noch immer stellt die Überwindung dieser gravierenden Essstörung für Betroffene und ihre Familien eine große emotionale Herausforderung dar. Jürg Liechti und Monique Liechti-Darbellay berichten aus ihrer über 30 Jahre währenden Erfahrung mit der Behandlung einer sehr großen Zahl magersüchtiger Patientinnen und ihrer Familien. Neben einem fundierten Überblick über die Grundlagen, Epidemiologie, Risikofaktoren, den Verlauf der Anorexie und die Zugangsweisen anderer Therapieverfahren werden ausführlich die bekannteren systemischen Behandlungsansätze diskutiert. Die fundierten Kenntnisse des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes und evidenzbasierter Behandlungsansätze schaffen einen wohltuenden Abstand zu alten Mythen über die Rolle der Familie bei der Entstehung einer Magersucht.

»Eine Magersucht nimmt die besten Jahre des Lebens!«, so berichtet eine Patientin in einem Fallbericht im Buch. Patientinnen mit einer Magersucht sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen; die Behandlung soll Eltern befähigen, ihrer Tochter zu helfen, ihre Angst zu überwinden. In zahlreichen authentischen Fallberichten wird dargestellt, wie die fürsorgliche Unterstützung der Eltern angeregt werden kann. Die oftmals wackelige Therapiemotivation und die Angst vor einem Kontrollverlust sind zentrale Herausforderungen für den therapeutischen Prozess. Gegenüber dem Vorgängerbuch »Magersucht in Therapie« haben Liechti und Liechti-Darbellay auch Impulse aus der Bindungstheorie aufgenommen. Die beiden Autoren beschreiben, wie sie in einer feinfühligen Weise die Autonomie der Patientinnen respektieren und wie Gefühle von Sicherheit und Vertrauen geweckt werden können, die eine Selbstverpflichtung zur Gewichtszunahme als einen zentralen Schritt für die Überwindung der Magersucht ermöglichen.

»Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit« ist ein ausgezeichnetes Buch, unerlässlich für alle, die mit der Therapie von Essstörungen befasst sind. Vermutlich wird es viele Betroffene und ihre Angehörigen inspirieren und ihnen Hoffnung machen, dass ein Leben jenseits der Anorexie möglich ist.

Rüdiger Retzlaff, Heidelberg

Vorwort von Gabriella Milos

Schon aus den ersten Zeilen dieses Buches erkennt man die große Expertise der Autoren im Bereich der Anorexia nervosa. Sie ist sehr wertvoll für alle Therapeuten, die sich neu mit der Behandlung der Anorexia nervosa beschäftigen. Das Buch hilft gekonnt in das Verständnis dieser geheimnisvollen Erkrankung und ist selbst für langjährige Therapeuten sehr empfehlenswert, weil auch diese oft noch Schwierigkeiten haben, mit den Betroffenen umzugehen.

Essstörungen haben nicht nur eine große Auswirkung auf die betroffene Person, sondern auch auf die Familie und die Gesellschaft im Ganzen. Der Verlauf dieser Erkrankungen variiert je nach Art und Schweregrad, aber grundsätzlich sind Essstörungen – vor allem Anorexia nervosa – als gravierende Erkrankungen anzusehen. Bei jungen Menschen ist das Risiko, an der Magersucht zu sterben, höher als bei anderen schweren Erkrankungen im Jugendalter. Es ist damit sehr wichtig, diese Krankheit ernst zu nehmen und Alarm zu schlagen, damit alles unternommen wird, um die Dauer der Erkrankung möglichst kurz zu halten – nicht zuletzt, weil mit der Dauer des untergewichtigen Zustands eine erfolgreiche Therapie immer schwieriger wird.

Das Buch beleuchtet die fatale Unterversorgung für die Behandlung der Anorexia nervosa sowohl im ambulanten als auch im stationären Rahmen. Diese Unterversorgung fußt zum einen auf der fehlenden medizinischen Infrastruktur, zum anderen auf dem mangelhaften Verständnis für die Erkrankung: Die Essstörungspathologie wird oft bagatellisiert und reduziert auf ein Kokettieren mit Diäten und Schlankheit. Anorexia nervosa ist kein Hungerstreik, sondern eine Krankheit, die dramatische Folgen haben kann. Daran erinnern die Autoren und zeigen gleichzeitig mögliche Auswege auf.

Von Magersucht Betroffene sind klug, verbal oft gewandt. Sie selber leiden in der Regel nicht unter den Symptomen der Krankheit und sind wenig motiviert, eine Therapie in Anspruch zu nehmen; gleichzeitig leben sie nicht selten in gefährlichem Untergewicht. Das macht die Therapie schwierig, und häufig bringen uns Patientinnen und Patienten in therapeutische Sackgassen. Wer mit ihnen arbeitet, hat oft das Gefühl, in eine «verkehrte Welt» geraten zu sein. Verhalten und Aktivitäten, die für einen gesunden Menschen angenehm und belohnend wären, sind für die magersüchtigen Menschen nicht nur unerwünscht, sondern auch mit extremer Angst besetzt. All dies führt dazu, dass viele Fachpersonen solche Menschen nicht gern – oder gar nicht – behandeln wollen.

Die Autoren gehören zu den Pionieren der Systemischen Psychotherapie in der Schweiz und haben die Entwicklung der systemischen Ansätze miterlebt und mitgeprägt. Wurden früher die Eltern oft als Ursache von Essstörungen angesehen, werden sie heute als Ressource wahrgenommen und dementsprechend in der Behandlung eingesetzt. Wie man innerhalb von Familiensitzungen mit dem Spagat zwischen Autonomie der erkrankten Person und verzweifelter Fürsorge der Eltern umgeht, kann man in diesem Buch nicht nur in der Theorie, sondern auch in vielen illustrativen Beispielen erfahren.

Positive Veränderungen in der Familie zu bewirken ist für unerfahrene Therapeuten eine Herausforderung, aber auch für erfahrene Behandler leider nicht immer einfach zu erreichen. Betroffene und Angehörige müssen sich ernst genommen und verstanden fühlen, auch wenn die Krankheit und die Dynamik, die aus ihr entsteht, so schwierig zu verstehen ist. Der exzellente Überblick, den die Autoren über die modernen systemischen Ansätze in der Psychotherapie der Anorexia nervosa geben, bringt Licht in den dunklen Dschungel möglicher Behandlungsansätze. Das Buch ist eine Einladung insbesondere für die junge Generation von Therapeutinnen und Therapeuten, sich mit dieser Erkrankung auseinanderzusetzen. Es kann sich auszahlen: Denn gute Verläufe sind durchaus möglich und für Behandler sehr belohnend.

Prof. Dr. med. Gabriella Milos
Leitende Ärztin des Zentrums für Essstörungen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsspital Zürich

Vorwort von Dagmar Pauli

Essstörungen sind Krankheiten, die sowohl für die Betroffenen als auch für die Familien großes Leid verursachen. Die Angehörigen sind oft verzweifelt, weil ihre Bemühungen am Widerstand der Betroffenen abprallen und sich kein gemeinsamer Weg für eine hilfreiche Unterstützung finden lässt. Die Magersucht lässt es häufig nicht zu, dass die betroffenen Menschen sich selbst hilfesuchend an die Angehörigen oder Behandler wenden. In den Familien herrscht der Streit ums Essen vor, und entsprechend anspruchsvoll ist der Einbezug der Angehörigen in die therapeutischen Sitzungen. Viele Fachpersonen vermeiden daher gemeinsame Gespräche zu Beginn der Therapie und versuchen erst einmal, in einzeltherapeutischen Sitzungen die Motivation der Betroffenen zur Gesundung zu wecken. Was aber ist mit denjenigen, die noch gar nicht zur Therapie kommen wollen, wenn sich die besorgten Eltern an Fachpersonen wenden?

Es ist das große Verdienst dieses Buches, dass die Autoren einen Weg aufzeigen, wie es gelingen kann, die Angehörigen von Anfang an konstruktiv in die Behandlung der Magersucht einzubeziehen. Jürg Liechti und Monique Liechti-Darbellay zeigen auf, welche Ressourcen in der Angehörigenarbeit liegen und auf welchem Wege die Betroffenen gewonnen werden können, eine Verpflichtung für den gemeinsamen Kampf gegen die Essstörung einzugehen. Ein Heilungsprozess wird möglich, wenn die vorhandenen Beziehungen den Beziehungsbedürfnisse der Betroffenen entsprechend aktiviert werden. Insbesondere in der Behandlung von jungen Erwachsenen mit anorektischen Essstörungen kann die Beziehungsenergie dazu genutzt werden, die durch die Essstörung bedingte Entwicklungsblockade aufzulösen. Das Buch gibt dazu wertvolle Praxisbeispiele.

Den Autoren gelingt es, sowohl die Autonomiebedürfnisse der jungen Erwachsenen zu berücksichtigen und wertzuschätzen als auch die Sorge der Angehörigen einzubeziehen. Dadurch können eine gemeinsame Haltung und ein gemeinsames Krankheitsverständnis entwickelt werden. Die Familie wird dabei nicht als krank oder schuldig an der Essstörung betrachtet. Vielmehr wird auf die familiären Ressourcen fokussiert und der Beitrag der Eltern wertgeschätzt.

Das in diesem Buch beschriebene Modell beruht auf systemtherapeutischen Grundlagen. Die Lesenden erfahren, mit welchen Techniken die ersten Gespräche gerade bei großem Widerstand der Betroffenen geführt werden können und wie eine multiperspektivische Herangehensweise den Fokus der Erkrankten, aber auch der Familie erweitern kann. Gleichzeitig werden bindungstheoretische Elemente genutzt, um die tiefer liegenden Ursachen der Essstörung für alle Beteiligten verständlich zu machen und die bindungsbezogenen Bedürfnisse hinter der vordergründigen Essensverweigerung konstruktiv aufzugreifen.

Das Buch ist empfehlenswert für alle, die mit von Essstörungen betroffenen jungen Menschen und deren Familien arbeiten.

Dr. med. Dagmar Pauli
Chefärztin, Stv. Klinikdirektorin
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapies

Vorwort der Autoren

Es ist ein eher kleiner Kreis von Fachleuten, die sich im ambulanten Kontext mit der Therapie der Anorexia nervosa auseinandersetzt. Seit vielen Jahren beschäftigen wir (MLD und JL) uns mit dieser Krankheit, die jungen Menschen viel Lebenszeit und manchmal das Leben stiehlt und ihr Umfeld zur Verzweiflung bringt. In diesem Buch rücken Patientinnen und ihnen Nahestehende, die wir in vielen Fällen über lange Zeit auf ihrem Leidensweg begleitet haben, in den Blickpunkt. Ihre Geschichten, ihr Ringen ums Überleben, ihre verzehrende Suche nach Sicherheit sind Inhalt und Grund dieses Buches.

Oft hören wir von Betroffenen, wenn sie die anonymisierten Transskripte aus dem Buch lesen, dass sie verblüfft wären über die Ähnlichkeit der krankhaften Empfindungen. In Sitzungen hören wir von Fall zu Fall tatsächlich dieselben Beschreibungen von Zuständen, Gedanken, Befürchtungen und Abläufen seitens der Patientinnen und ihrer Angehörigen. Sie ähneln sich in einer bemerkenswerten Weise und sind doch einzigartig.

Den Rückmeldungen entnehmen wir, dass vor allem der Bezug auf konkrete Krankengeschichten und die vielen Fall- und Gesprächsbeispiele hilfreich sind. Für die Patientinnen scheint die Erkenntnis tröstlich zu sein, dass jede Situation unvergleichbar individuelle Züge trägt. Für die Angehörigen ist es die geteilte Erfahrung, dass das Schicksal gewissermassen über Nacht Unordnung, Verzweiflung und Verlustangst in eine Familie bringt. Aber auch die fachlichen und konzeptuellen Bezüge werden als Verständnishilfen geschätzt. Von wissenschaftlicher Seite her gibt es heute allen Grund, die Therapie optimistischer zu sehen als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Fachleute zu erreichen, ist uns ein zentrales Anliegen. Wir sind davon überzeugt, dass der geschickte Einbezug wichtiger Angehöriger zu einer Verbesserung der sekundären Prophylaxe führt. Dass aus einem Erstkontakt mit Menschen, die von Anorexia nervosa betroffen sind, eine wirksame und nachhaltige Therapie entsteht, dafür tragen wir Fachleute eine große Verantwortung. Zugang zu diesen Menschen zu finden, um ihr Leid besser zu verstehen und um sie zu ermutigen, sich den Anforderungen an ein selbstverantwortetes Leben zu stellen, dafür stehen wir in diesem Buch ein.

Das Feedback aus einer unserer Weiterbildungen an den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD Bern, Mai 2016) drückt unser Anliegen bestens aus:

»Bitte weiterhin betonen, dass es ein großes Missverständnis zwischen Magersucht-Patienten und Ärzten, Umfeld, Gesellschaft zur Frage der Gewichtszunahme gibt, dass es sich um ein Nicht-Können und nicht um ein Nicht-Wollen handelt und dass die Krankheit bei Betroffenen mit enormen Qualen einhergehen kann, die einer Folter gleichen. Danke für die Sympathie für diese Patientinnen, die in Fachkreisen und der Gesellschaft oftmals fehlt.«

Unser Dank gilt in erster Linie den mutigen Patientinnen und den engagierten Eltern, die in den vergangenen Jahrzehnten unsere Hilfe in Anspruch genommen und uns ihr Vertrauen geschenkt haben. Ihnen allen sei dieses Buch gewidmet.

Unser Dank gilt auch den Kolleginnen, Kollegen und Mitarbeitenden am ZSB Bern1, das seit vielen Jahren für uns die berufliche Heimat bedeutet.

Wir sind hoch erfreut, dass zwei ausgewiesene Expertinnen für Essstörungen bereit waren, je ein Vorwort beizusteuern. Wir bedanken uns bei Frau Prof. Dr. med. Gabriella Milos (Leitende Ärztin des Zentrums für Essstörungen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsspital Zürich ) und bei Frau Dr. med. Dagmar Pauli (Chefärztin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Stv. Klinikdirektorin, Universitätsklinik Zürich).

Schließlich danken wir Ralf Holtzmann für die wertschätzende und hilfreiche Zusammenarbeit sowie Veronika Licher für das ebenso sorgfältige wie engagierte Lektorat und weiteren Mitarbeitenden des Carl-Auer Verlags für die Unterstützung und Geduld.

Jürg Liechti & Monique Liechti-Darbellay
Frauenkappelen, im Januar 2020

1 Das Zentrum für Systemische Therapie und Beratung, ZSB Bern, ist ein interdisziplinäres Psychotherapiezentrum in der Stadt Bern (www.zsb-bern.ch).

1Einführung

Denken Sie im Umgang mit den Kranken immer daran, dass es jemanden oder sogar viele gibt, für die Ihr Patient das Wertvollste auf der Welt ist und Gegenstand feinfühligster Zuneigung; deshalb ist es Ihre Pflicht, dass Sie sich nicht nur darum bemühen, sein Leben zu erhalten, sondern es auch vermeiden, die Empfindsamkeit eines mitfühlenden Elternteils, einer verzweifelten Ehefrau oder eines liebenden Kindes zu verletzen. Lassen Sie Ihr Verhalten menschlich und aufmerksam sein, seien Sie an seinem Wohlergehen interessiert, und zeigen Sie Verständnis für seine gefahrvolle Situation.

Samuel Bard, 1769 (zit. n. Kandel 2006a, S. 313)

1.1Was will dieses Buch?

Das Mantra der Therapie bei Magersucht (Anorexia nervosa) sind Behandlungsresistenz und Therapieabbrüche (Drop-out). Sie sind die meistgenannten Gründe für das Risiko von leidvollen, lang dauernden und kostenreichen Verläufen und werden als Folgen unzureichender oder fehlender Therapiemotivation gesehen.

Motivation ist zwar bei allen Anorexie-Patientinnen vorhanden, meistens sogar in erheblichem Ausmaß, aber sie weist in eine der gesunden Entwicklung entgegengesetzte Richtung. Statt auf eine Normalisierung des Gewichts, des Essverhaltens und der Körperwahrnehmung hinzuzielen, ist anorektisches Verhalten darauf ausgelegt, genau das zu vermeiden. Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, diese Vermeidung sei das Problem und müsse bekämpft werden – Motto: die AN2 ist ein Hungerstreik und die Patientin verweigert das Essen, weil sie nicht essen will – führt nicht nur in eine falsche Richtung, es richtet auch Schaden an, indem ein Machtkampf um die Interpretationshoheit über das Hungersyndrom vom Zaun gebrochen wird. Die AN ist kein Hungerstreik (auch wenn es mitunter danach aussieht), sondern eine Krankheit. Die AN-Patientin muss hungern, sie kann nicht anders, weil jede reale oder auch nur antizipierte Nahrungsaufnahme eine für Gesunde nicht nachvollziehbare, irrationale Angstreaktion (Gewichtsphobie) auslöst. Aus der Sicht der Patientin bedeutet die Essensvermeidung deshalb nicht das Problem, sondern eine willkommene Lösung, um die krankheitswertige Panik unter Kontrolle zu bringen. Aus medizinischer Sicht wird damit allerdings der Teufel durch den Beelzebub ausgetrieben. Denn der fortdauernde Hungerzustand geht mit dem Risiko einher, dass nicht nur die seelische Entwicklung der Betroffenen behindert wird, sondern dass mit schwerwiegenden körperlichen Schäden gerechnet werden muss, die im Tod enden können.

Die zentrale Frage lautet daher: Welche Umgebung muss Psychotherapie schaffen, in der die Betroffenen lernen, gesunde Ziele anzustreben, statt sie zu vermeiden?

Gelingt es nämlich, Patientinnen möglichst bald nach Erkennen der Krankheit in eine Therapie einzubeziehen, bei der die Gewichtsrehabilitation sowie Verbesserung der Körperwahrnehmung und des Essverhaltens vorgesehen ist, ist Genesung möglich. Das gilt besonders im akuten Stadium der Krankheitsentwicklung (bis drei Jahre nach einem initialen, markanten Gewichtsverlust) sowie auch noch für das mittlere, subakute Stadium (voll ausgeprägtes Krankheitsbild bis ca. sechs Jahre nach Krankheitsbeginn), während bei länger dauernden Verläufen Heilung immer unwahrscheinlicher wird. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass sich Therapieszenarien vermehrt auf die Überwindung der krankhaften Ängste konzentrieren und auf die Motivationsprobleme gerichtet sind, die einen frühzeitigen Therapiebeginn verhindern oder zum Abbruch von begonnenen Therapien führen.

Im vorliegenden Buch befassen wir uns mit diesen Themen. Es geht dabei hauptsächlich um die AN, eine der gefährlichsten entwicklungspsychiatrischen Störungen des Jugendalters, um deren Erscheinungsbild, die Diagnostik, Epidemiologie, Psychologie und um die zahlreichen Erklärungs- und Therapiemodelle. Damit beschäftigen wir uns in unserer psychiatrischen Praxis in der Tat seit vielen Jahren (Liechti 2006, 2007). Es geht aber auch um die Darstellung eines systemisch-bindungsbasierten Therapiemodells, das sich losgelöst von einer spezifischen Störung eignet, die im Jugendalter so häufigen Motivationsprobleme zu lösen. Insofern stellt die Therapie mit Menschen mit AN und ihren Bezugspersonen geradezu den »Modellfall« dar. Er vereint praktisch sämtliche Probleme, die sich im Umgang mit anderweitig psychisch belasteten Jugendlichen nur in der einen oder anderen Form ergeben, etwa:

Fehlende Therapiemotivation, Drop-out, Rückfälle

Unsichere (im Falle der AN meist vermeidende) und desorganisierte Bindungsmuster

Symptomatisches Verhalten als Erfahrung von Wirksamkeit und Kontrolle

»Behaviorale« Probleme, die nur durch die sinnlich-korrektive Erfahrung (Exposition mit dem Unlust auslösenden Reiz) und nicht allein kognitiv (mittels Einsicht) gelöst werden können

Musterbeispiel eines Problemsystems (problemdeterminiertes Sozialsystem)

Notwendigkeit einer komplexitätsgerechten, adaptiven (statt selektiven) Indikation

Das explizierte Therapiemodell nutzt familientherapeutische, systemische und bindungsorientierte Einsichten und Erfahrungen und versteht nahe Beziehungen, Bindungen und die Beziehungsdynamik, die sich um ein beklagtes Problem herum entfaltet, als Therapiekontext und Ressource für die Problemlösung.

Obwohl zahlreiche und hervorragende Bücher zum Thema der AN vorliegen und auch das Problem der sogenannten Behandlungsresistenz als Ursache dramatischer Therapieverschleppung erkannt und benannt wird, werden entsprechende Behandlungsoptionen eher stiefmütterlich und meist auf der Ebene der Dyade Fachperson – Patientin behandelt. Das kontrastiert zur klinischen Erfahrung, dass bei psychisch belasteten Jugendlichen Probleme mit der Therapiemotivation allgegenwärtig sind und darin resultieren, dass professionelle Hilfe gar nicht erst in Anspruch genommen wird.

Summa summarum: was die motivationale Praxis bei psychisch belasteten Jugendlichen im Allgemeinen und bei AN-Patientinnen im Speziellen betrifft, liegt einiges noch im Argen. Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, die Chancen für eine möglichst frühzeitige und nachhaltige Therapie der AN zu verbessern. Dabei orientieren wir uns nicht primär an der Pathologie der AN oder an irgendwie gearteten »Defekten«, sondern an den davon betroffenen Menschen, diesen kognitiv oft weit entwickelten, affektiv aber hoch vulnerablen und meist einsamen Menschen, die an reich gedeckten Tischen nicht essen können – sowie an ihren engagierten, oft verzweifelten und ohnmächtigen Eltern, Geschwistern oder Partnern. Dass Therapeutinnen und Therapeuten ihre Optik nicht allein auf die Störung richten sollten, hat der britische Neurologe, Neuropsychologe und Verfasser einfühlsamer Krankheitsgeschichten Oliver Sacks (1933–2015) in aller Deutlichkeit festgehalten; nämlich …

»… dass Krankheit nie lediglich ein Überschuss oder eine Einbuße ist, sondern dass es immer eine Reaktion des betroffenen Organismus oder des Individuums gibt, die darauf abzielt, etwas wiederherzustellen, zu ersetzen, auszugleichen und die eigene Identität zu bewahren, ganz gleich, wie seltsam die Mittel zu diesem Zweck auch sein mögen« (Sacks 2009, S. 21).

Beispiel 1: Charlotte H. – Eine Sehnsucht nach Beziehung

Charlotte H., 32-jährig, leidet unter Anorexia nervosa vom bulimischen Typ seit ihrem 16. Lebensjahr; zwei stationäre Behandlungen (insgesamt über anderthalb Jahre), fünf Jahre ambulante Therapie, heute Normalgewicht und seit über einem Jahr ohne Erbrechen, kurz vor Abschluss einer von der Invalidenversicherung unterstützten Lehre als Kosmetikerin. Im Folgenden ein Ausschnitt aus der Abschlusssitzung:

THERAPEUT Sie meinen, es wäre besser, wenn Ihre Mutter die Sorge um Sie abgeben könnte?

CHARLOTTE Also, meine Mutter kann das nicht. Sie wird die Sorgen nie abgeben können. Aber heute verstehe ich sie auch besser. Sie hat immer an mich geglaubt.

THERAPEUT Ist das wichtig gewesen für Ihre Gesundung?

CHARLOTTE Ja. Ich glaube, das Allerwichtigste. Ich denke, die Tatsache, dass meine Mutter so … so unerschütterlich an mich geglaubt hat, das hat mir gezeigt, dass ich … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, vielleicht dass ich kein Recht habe aufzugeben, obwohl ich ja auch einmal fast gestorben bin … Da habe ich mich irgendwie verpflichtet gefühlt … Oder nein, es ist eher so gewesen, dass es nicht mehr funktioniert hat, ich meine, die Magersucht … Auf einmal hat sie nicht mehr funktioniert … Früher ist der Fressanfall und die ganze Sache drum herum das Wichtigste gewesen … Alles hat sich um das gedreht, um Punkt fünf … Am Morgen das Telefon mit der Mutter, dann zwei Stunden Laufen mit der Mutter, dann Putzen und noch einmal Putzen, dann Einkaufen im Shoppy mit der Mutter, dann Vorbereiten in der Küche und dann Fressanfall, Punkt fünf … Es musste immer um Punkt fünf sein … Und auf einmal … Auf einmal hat das nicht mehr funktioniert, das ist zuerst schlimm gewesen, denn ich habe mich nicht mehr auf den Fressanfall freuen können, das ist furchtbar gewesen, das Einzige, das meinem Leben Sinn gegeben hat, plötzlich hab ich ihn gehasst … Es hat mich wütend gemacht und traurig, eine Traurigkeit, die neu gewesen ist … Ich bin so traurig gewesen, obwohl … Meine Mutter ist ja immer da gewesen … Aber es ist halt noch etwas anderes dazugekommen … So eine … So eine riesige Sehnsucht nach Beziehungen … und da habe ich … Da habe ich entdeckt, dass es nicht an den andern liegt … Dass ich mich selbst … Oder nein, ich muss es so sagen, früher habe ich mich immer einsam gefühlt … Dann ist diese Sehnsucht gekommen, eine Sehnsucht zu leben, ja … Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich am Leben bin.

Das Buch richtet sich an Kolleginnen und Kollegen, die trotz schwieriger Erfahrungen mit AN-Therapien nicht aufgegeben haben, Menschen wie Charlotte H. und ihrer verlässlichen Mutter in der ambulanten Praxis beizustehen. Der sehr lückenhafte Stand gesicherten Wissens zur AN erlaubt es nicht, einen einfachen roten Faden durchzuziehen. Jeder einzelne »Fall« verhält sich vielmehr nach eigenen Gesetzen, Möglichkeiten und Grenzen. Wir sind weit davon entfernt, den Hilfesuchenden eine Therapie nach Maß anbieten zu können (methoden- oder manualdefinierte, d. h. für die Störung selektive Indikation für eine größtenteils kausale Behandlung). Zwar hat die Therapieforschung in den vergangenen Jahrzehnten einige empirisch gut abgestützte Grundsätze für die AN-Therapie herausgearbeitet (Abschnitt 3.2), indes bleibt es Tatsache, dass jede einzelne Therapie an die individuelle Situation der Hilfesuchenden angepasst werden muss (man spricht von der adaptiven, kooperations- und patientenorientierten Indikation, d. h. von einer auf individuelle Prozesse und Erfordernisse abgestimmten Behandlung). Als Praktikerinnen und Praktiker richten wir uns infolgedessen nach Ad-hoc-Heuristiken und nach einer adaptiven Prozessbegleitung (Navigation von Therapieprozessen).

Um unsere Vorstellungen von einer der biologischen, psychologischen und sozialen Komplexität angemessenen Therapie der AN zu erläutern, diese zu illustrieren und zu begründen, haben wir die Informationen in diesem Buch mosaikartig zusammengestellt. Sie stammen vorwiegend aus folgenden Bereichen:

Wissenschaftliche Informationen und konzeptuelle Ideen aus zugänglichen Quellen

Äußerungen seitens jener, die ihre Situation am besten kennen: die Patientinnen und ihre Angehörigen

Zahlreiche authentische Dialogbeispiele und anekdotische Fallsituationen aus unserer klinischen Erfahrung über drei Jahrzehnte3

1.2Was nottut

In unserer Sprechstunde suchen uns oft Eltern, alleinerziehende Mütter, seltener auch einmal Väter auf, weil sie verzweifelt sind, sich in großer Sorge wähnen und ratlos sind. Sie wissen nicht, wie sie mit ihren Töchtern und deren seltsamem Essverhalten umgehen sollen. Sie müssen miterleben, wie schlecht es ihnen geht, diesen begabten Mädchen und jungen Frauen, die allen Grund hätten aufzublühen und stattdessen darben, sich zurückziehen, tief unglücklich sind und sich einem ebenso sonderbaren wie unerbittlichen Hungerregime unterziehen. Gleichzeitig nagen Schuldgefühle und eine tiefe Verunsicherung am elterlichen Selbstwertgefühl, weil diese Entwicklung weder vorgesehen noch vorhersehbar war. Mit der Verschlimmerung der Störung dreht sich in der Familie bald alles nur noch um Essen bzw. Nicht-Essen; das Thema bestimmt alle Aktivitäten, Gespräche und Gefühle der Familie – ganz ähnlich einem Magnet, der herumliegende Eisenspäne nach eigenen Gesetzen in sein Kraftfeld zieht.

So brachte eine alleinerziehende Mutter, deren Tochter eine schwere AN entwickelt hatte, ihre Verzweiflung wie folgt auf den Punkt: »Ich habe alles versucht. Zuerst habe ich mit Sarah gestritten, dass sie doch essen soll, habe ihr den vollen Teller hingestellt und sie gezwungen, zumindest am Tisch zu bleiben. Als ich merkte, dass das nicht weiterführt, habe ich sie einfach machen lassen. Doch das führte dazu, dass sie noch weniger gegessen hat. Jetzt, nachdem ich einiges über die Störung gelesen habe, habe ich damit begonnen, Sarah mit Ich-Botschaften zu begegnen, etwa: Ich bin der Meinung, du hast nicht genug gegessen. Doch ich muss zugeben, auch das bringt nichts. Das Einzige, das ich unterdessen wirklich begriffen habe, ist, dass ich machtlos, verzweifelt, in größter Sorge und völlig erschöpft bin« (Sarah V., Erstinterview, 06.04.2005).

Lange Zeit wurde elterliche Hilflosigkeit und Ohnmacht als ein »familiäres Defizit« – wenn nicht gar als Ursache der AN – gesehen. Das hatte zur Folge, dass die Familie oder Eltern als »Störfaktoren« betrachtet und aus der Therapie ausgeschlossen wurden. Aus heutiger Sicht ist die elterliche Ohnmacht in erster Linie Ausdruck einer ganz normalen und gesunden (Fürsorge-)Reaktion auf die bedrohlichen Körper- und Wesensveränderungen ihres Kindes. Die Überforderung beruht auf einer störungsbedingten, widersprüchlichen Beziehungsdynamik: Je größer die Sorge und das Engagement der Eltern(-personen) um das Wohl ihrer hungernden Tochter, umso vehementer ist deren Widerstand (bzw. Reaktanz). Die Bindungstheorie, deren Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten Eingang in das psychotherapeutische Repertoire gefunden haben, bietet dazu nicht nur den Verständnisrahmen, sondern liefert überdies daraus ableitbare Strategien zur Bewältigung des Paradoxons. Ihr räumen wir in diesem Buch viel Platz ein.

Insofern richten wir uns auch an die Eltern. Die Bedeutung der Eltern und deren Stellenwert in Bezug auf das Sicherheitsbedürfnis der Patientin werden von Fachleuten unterschätzt. In Nachbefragungen hört man von AN-Patientinnen oft Sätze wie: »Für den Einstieg in die Therapie ist es für mich wichtig gewesen, von meiner Mutter zu hören, es gehe nicht um einen Klinikeintritt, sondern um mich und meine Verantwortung« oder: »Nur meinen Eltern habe ich geglaubt und vertrauen können, als man mir gesagt hat, es werde in der Therapie nicht über meinen Kopf bestimmt«. Eltern sind weder Störfaktor noch Ursache der AN (aus heutiger Sicht eine obsolete Kausalzuschreibung), im Gegenteil, sie sind die wichtigsten Ressourcen für das Schaffen eines motivationalen Therapierahmens.

Beispiel 2: Sally T. – Auf (Beziehungs-)Prozesse bauen

Nach einem abrupten Gewichtssturz bei der 12-jährigen Sally, einer hoffnungsvollen Fussballerin mit ausgeprägtem Torinstinkt in der regionalen, von ihrem Vater gecoachten Fussballmannschaft, beschloss der beigezogene Kinderarzt eine sofortige stationäre Zuweisung in die Kinderklinik des Universitätsspitals. Vor dem Spitalportal zeigte Sally verzweifelt auf die oberen Stockwerke des Hochhauses und drohte den Eltern: »Wenn ihr mich da hineinbringt, springe ich von dort oben zum Fenster hinaus.« Unverrichteter Dinge kehrten die Eltern nach Hause und erkundigten sich gleichentags beim Kinderarzt über mögliche Alternativen. Sie wurden an unsere Praxisambulanz verwiesen und erhielten einen Ersttermin für einen Montagmorgen. Am Sonntagabend davor ruft der Vater den Therapeuten auf der Privatnummer an, die er irgendwie ausfindig gemacht hat, und schildert die missliche Lage wie folgt, während im Hintergrund verzweifeltes Schluchzen des Kindes zu hören ist:

VATER Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sally droht uns Eltern, sie wolle sich lieber umbringen, als morgen zum Termin zu Ihnen zu kommen.

THERAPEUT Verstehe ich das richtig, Sie haben eine Tochter, die sich durchsetzen kann mit ihrem Willen?

VATER Ja, da haben Sie Recht, das ist schon immer so gewesen, sie hat einen ausgeprägten Willen …

THERAPEUT Na gut, dann wissen wir wenigstens, woran wir sind. Ich denke übrigens nicht, dass sie nicht kommen will, sondern ich gehe davon aus, dass sie das einfach nicht kann, weil sie riesige Angst davor hat.

VATER Ja, das denken wir auch, dass sie Angst hat. Aber ohne Therapie geht es auch nicht, und wir Eltern sind überfordert, wir halten das einfach nicht mehr aus, immer diese Kämpfe, bei jeder Mahlzeit … Jeder Bissen wird gleich zum Zankapfel.

THERAPEUT Ja, ich denke auch, das hat keine Zukunft. Im Gegenteil, wenn man nicht handelt, wird es schlimmer.

VATER Sollen wir sie denn zwingen zu kommen? Aber sie droht, etwas zu tun, wenn wir sie zwingen, und davor haben wir Angst.

THERAPEUT Ich glaube nicht, dass Sie das tun sollten, es wäre wohl nicht sinnvoll, und ich glaube auch nicht, dass das notwendig ist. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?

VATER Das wäre eine große Hilfe.

THERAPEUT Gut. Sagen Sie Ihrer Tochter Folgendes: »Der Therapeut hat gesagt, wenn du morgen nicht mitkommen willst, dann ist das in Ordnung. Er glaubt, dass es dir einfach zu große Angst macht. Vielleicht haben wir Eltern das bisher nicht richtig verstanden. Deshalb gehen wir auf jeden Fall hin, um es besser zu verstehen. Du kannst also wählen, ob du mitkommst, aber wir Eltern gehen auf jeden Fall hin.« Wiederholen Sie das am nächsten Morgen und überlassen Sie die Entscheidung Ihrer Tochter. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sie mitkommen wird. Wenn nicht, dann kommen Sie ohne Sally zur Erstsitzung und wir besprechen in Ruhe das weitere Vorgehen. Wenn Sally mitkommt, dann vermeiden Sie irgendwelche Kommentare, bis Sie im Wartezimmer sind, hier sagen Sie zu ihr: »Wenn du ins Sprechzimmer kommen willst, ist das in Ordnung, wenn nicht, dann auch, denn wir wissen, dass du große Angst hast. Aber wir Eltern gehen auf jeden Fall hinein.« Wahrscheinlich wird sie dann mit in die Sprechstunde kommen. Hier werde ich es ihr ebenfalls freistellen, ob sie etwas sagen will oder nicht. Und ich werde ihren Mut anerkennen, dass sie trotz allem mitgekommen ist. Ich werde Sallys Entscheidung hundertprozentig respektieren. Hauptsache, ein Erstkontakt kommt sobald als möglich zustande. Sie sehen: Es geht zu allererst darum, der Angst den Boden zu entziehen und Sally die reale Erfahrung zu ermöglichen, dass hier nicht über ihren Kopf hinweg gehandelt wird. Meistens haben Mädchen mit dieser Erkrankung eine panische Angst vor Kontrollverlust. Im innersten Herzen wissen sie genau, dass etwas nicht stimmt mit ihnen, aber sie haben Angst, dass es noch schlimmer wird, wenn sie die Kontrolle abgeben.

Wenn wir den (videobasierten) Fall von Sally in der Weiterbildung zeigen, wird mitunter moniert, dass mit diesem Vorgehen der »Machtkampf« nur auf später verschoben, nicht aber aufgehoben würde. Gewiss ist dieser Einwand legitim, unterschlägt aber die Tatsache, dass die Bewertung einer Situation im Kontext eines prozesshaften Beziehungsgeschehens veränderungssensibel ist; ganz im Sinne von Werden und Wandel: »Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu« (Heraklit). Beziehungsprozesse haben eine Ablaufgestalt auch in der Zeit, es sind »Zeitgestalten« (Dörner 1990). In jeden Zustand fließt die Information des vorherigen mit ein. Damit führen Zustandsveränderungen fortlaufend zu Neubeurteilungen. Die telefonische Empfehlung des Therapeuten an den Vater bezweckt, Sally die mit dem Arztbesuch assoziierte Angst vor Kontrollverlust zu nehmen, um zu bewirken, dass sie überhaupt herkommt und die sinnliche Erfahrung macht, dass die Angst unberechtigt war. Es geht nicht darum, sie zu »ködern« oder in eine Falle zu locken, sondern ganz im Gegenteil, sie als Hauptperson zu behandeln und ihr die legitime Erfahrung zu bieten, dass die Beunruhigung mit dem Arztbesuch nicht zu-, sondern abnimmt.

Sally erschien tatsächlich zur Erstsitzung, prüfte den Therapeuten durch Schweigen und erfuhr zu ihrer Überraschung, dass das ganz in Ordnung war. Bereits in der zweiten Sitzung äußerte sie sich auf die Frage, ob es für sie immer noch schlimm gewesen sei herzukommen: »Viel weniger, weil ich ja gewusst habe, was mich erwartet und dass niemand mich zwingt, Dinge zu tun, die ich nicht will.«

In den vergangenen Jahren wurden in der Schweiz in praktisch allen größeren Städten essstörungsspezifische Therapiestellen eingerichtet. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die insoweit aber relativiert werden muss, als sich die Hilfen allzu oft auf die medizinische Abklärung, Diagnostik und (Ernährungs-)Beratungen beschränken, sich dabei vorwiegend an die AN-Patientin im traditionellen Einzelsetting richten oder allenfalls separat an die Eltern. Angebote für die Einzeltherapie sind aber insofern problematisch, als AN-Patientinnen eine Therapie aus störungsbedingten Gründen vermeiden und daher durch die Maschen des Versorgungsnetzes fallen (oder sie kommen ein einziges Mal her, um ihre Eltern oder eine zuweisende Fachperson zu beruhigen, bleiben aber weiteren Kontakten fern). Angebote separat an die Eltern sind zwar sinnvoll, da Eltern motiviert und auch bereit sind, sich den störungsbedingten Fragen zu stellen. Insofern sind sie aber ungenügend, als damit die intrafamiliären und störungsaufrechterhaltenden Interaktions- und Kommunikationsmuster für die Therapie nicht oder nur indirekt zugänglich sind. Im Spontankontakt zu Hause bleiben Eltern weiterhin überfordert (der Großteil dieser Muster ist »unbewusster« Natur, es handelt sich also um prozedurale Faktoren, die nicht durch Information und Psychoedukation zu erreichen sind). Das filigrane Wirkgefüge einer die Psychopathologie aufrechterhaltenden Interaktion und Kommunikation beschrieb der amerikanische Psychoanalytiker mit österreichischen Wurzeln Otto Friedmann Kernberg (geb. 1928) wie folgt:

»Man findet psychische Störungen in den besten Häusern und organisiertesten Familien ohne jedes Trauma … Es gibt da sehr subtile Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die im Allgemeinen sehr schwer zu erkennen sind« (Kernberg 2000).