RACHEL NAOMI REMEN

Dem Leben
vertrauen

Geschichten, die gut tun

Aus dem Amerikanischen von Lothar Schneider

INHALT

Vorwort

ERSTER TEIL
Lebenskraft

Pflaumenblüten

Der Wille, zu leben

Ein Platz in der ersten Reihe

Stil

Stille

Zwischen den Zeilen lesen

Ein aufgestauter Fluss

ZWEITER TEIL
Urteile

Das Richtige tun

Begegnung mit Mr. Richtig

Zurück zu den einfachen Dingen

Das Gegenteil von Perfektion

Ein ganz gewöhnlicher Held

Ärzte weinen nicht

Wer ist dieser Mann hinter dem Mundschutz?

Das Wehwehchen küssen

Die Babyküsserin

Durch Zuneigung heilen

Etiketten

Wasser auf die Mühlen

Der Wald, „in dem nichts einen Namen hat“

DRITTER TEIL
Fallen

Heilen aus der Distanz

Das Spiegelbild

Der Lotteriegewinn

Ein Beutel voller Gold

Ein Taschenspielertrick

Des Kaisers neue Kleider

Vor dreißig Jahren …

VIERTER TEIL
Freiheit

Der lange Weg nach Hause

Die Vase

Eine andere Art Stille

Heimkehren

Erinnerungen

FÜNFTER TEIL
Sich dem Leben öffnen

Mentalitätsunterschiede

Einfach zuhören

Im Flugzeug

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“

Rituale

Selbstbefreiung

Berge versetzen

Dem Leben einen Sinn geben

Tradition

Manches gehört uns für immer

SECHSTER TEIL
Das Leben umarmen

Dreihundertzweiundvierzig Stufen

Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen

Das Leben gehört den Gesunden

Zimmer mit Aussicht

Drei Fabeln über das Loslassen I

II.

III.

Endanfänge

Die Waffen strecken

Fixierung oder Bindung

Den Keks essen

Wähle das Leben!

Fixierung oder Bindung II

Alles oder nichts

Das Leben umarmen

SIEBTER TEIL
Die Kraft des Zuhörens

Das Leben ist ein Prozess

Engagement für das Leben

Sehen statt deuten

Berühren

Der Treffpunkt

Der „Heilige Schatten“

Einander heilen

Das Geschenk

ACHTER TEIL
Gott verstehen

Wenn Gott zwinkert

Das Passahmahl

Gebete

Großmutter Eva

Der Rabbi des Rabbi

Zufluchtsorte

Gott ist in allem

Jeder ist einzigartig

NEUNTER TEIL
Geheimnisse

Freiheit

Die Frage

Vom guten und vom wahren Grund

In der Dunkelheit

Der Blick um die Ecke

Heilige Momente

Das Geheimnis

Die letzte Lektion

Nachwort

Dank

Für alle,
die noch nie ihre Geschichte
erzählt haben

VORWORT

Mein Großvater hat mich schon sehr früh und auf eine Art, die einem Sokrates entsprochen hätte, dazu angehalten, nach der Wahrheit zu suchen. In Großvaters Welt, die von einem immanenten und persönlichen Gott bewohnt wurde, verlebte ich den einen Teil meiner Kindheit. Er war ein ernster und gelehrter Mann und schon ziemlich alt, als ich geboren wurde – ein orthodoxer Rabbi, der den größten Teil seiner Zeit damit verbrachte, die Texte des mystischen Judaismus zu lesen. Die Bücher der Kabbala, die er aus Russland mitgebracht hatte, waren alt und in hebräischer Sprache mit der Hand auf sehr dünnes Papier geschrieben. Als kleines Kind saß ich unter dem Tisch, an dem er sie las, streichelte seine purpurroten Samtpantoffel und träumte vor mich hin.

Das andere Reich meiner Kindheit war die Welt der Medizin. Unter den Kindern und Enkelkindern meines Großvaters sind drei Krankenschwestern und neun Ärzte. Als junges Mädchen war ich davon überzeugt, dass erwachsen zu werden gleichzeitig bedeutete, Ärztin zu werden. Ich lernte früh, die „richtigen“ Antworten zu geben, wenn ich gefragt wurde, was ich später einmal werden wolle. Ich war die einzige künftige Ärztin in der Vorschule. Als mein Großvater starb, hinterließ er mir das Geld, das ich benötigte, um Medizin zu studieren. Damals war ich sieben Jahre alt.

Je älter ich wurde, desto mehr belasteten mich die Erwartungen, die meine Familie an mich stellte. Meine Onkel und Vettern waren Männer der Wissenschaft, zurückhaltend, gebildet, intellektuell und erfolgreich. Wie mein Vater belohnten sie mich, wenn ich in ihrem Sinne richtig antwortete. Mein Großvater hingegen hatte mich für die richtigen Fragen belohnt. Zwar bewunderte ich diese Doktoren, aber meinen Großvater und seine Art, Fragen an das Leben zu stellen, hatte ich geliebt. Mit zwölf Jahren wollten mein Lieblingsvetter und ich beide Rabbi werden. Er wurde Arzt, und ich wurde Ärztin.

Ich glaube, für die Medizin habe ich mich letztlich wegen eines Romans entschieden, den ich mit etwa zwölf Jahren las, eine Geschichte über den Evangelisten Lukas mit dem Titel Die Straße nach Bithynien. Historische Romane waren das LSD der Fünfzigerjahre, ein einfaches Rauschmittel für eine Generation von gelangweilten Nachkriegsjugendlichen. Ich war süchtig danach.

Ich hatte nicht gewusst, dass Lukas Arzt war. Die Straße nach Bithynien hatte mich ursprünglich angesprochen, weil mir die biblische Weihnachtsgeschichte in der Version des Lukasevangeliums am besten gefiel. Frank Slaughter, der Autor der Straße nach Bithynien, war ebenfalls Arzt, und er erzählte die Geschichte von Lukas mit einer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, die er seiner Erfahrung und Berufspraxis verdankte. Ich habe den Roman vier Mal gelesen und verblüfft festgestellt, dass keiner der darin geschilderten Ärzte so war wie meine Onkel und dass es möglich sein musste, den Arztberuf so auszuüben, wie es mein Großvater gutgeheißen hätte: als Möglichkeit, das Leben und den Ursprung des Lebens besser kennenzulernen und ihm zu dienen. Der Roman machte mir Hoffnungen, dass jemand wie ich seinen Platz in der Medizin finden könnte, ohne zwischen dem Leben meines Großvaters und dem seiner Söhne wählen zu müssen.

Der Tag, an dem alles anfing, ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben: Mein Vater, der meine Siebensachen in mein Zimmer des Studentenwohnheims trägt, meine Mutter, die meine Kleider auspackt und wie immer die Schubladen mit einem besonderen Papier auslegt – beide in trauter Eintracht arbeitend, bis es nichts mehr zu tun gibt. Ich erinnere mich an ihre besorgten Worte und daran, wie sich endlich die Tür hinter ihnen schloss. Wie gerne wären sie geblieben, hätten mit mir diese letzte Nacht vor dem Beginn meines Medizinstudiums verbracht. Aber mit zwanzig wollte ich diese Herausforderung allein bestehen.

Ich betrachtete die sorgsam gefalteten Kleidungsstücke, die leeren Bücherregale, das harte, schmale Bett und die glatte Oberfläche des Schreibtischs. Das Zimmer wirkte unpersönlich wie eine Klosterzelle, völlig anders als mein eigenes, feminin eingerichtetes Schlafzimmer, in dem ich noch die Nacht davor verbracht hatte. Vier Jahre lang würde ich nun hier zu Hause sein. In dieser Nacht fröstelte ich. Ich fühlte mich verlassen.

Ein altvertrauter Zweifel plagte mich: die Angst, mich auf etwas Falsches einzulassen, wofür ich nicht geschaffen war und woran ich scheitern würde. Mit Philosophie als Hauptfach war ich nur unter Schwierigkeiten an der Cornelluniversität zum Medizinstudium zugelassen worden. Der Leiter des Auswahlkomitees hatte sich meine Examensarbeit über Wittgenstein angesehen und gemeint, mein Hauptfach sei „belanglos“. Dann war er in eine vehemente Diskussion über Genetik, sein Steckenpferd, eingestiegen. Ich hatte mich wacker geschlagen, war mir aber im Stillen darüber im Klaren gewesen, dass ich nicht zur Wissenschaftlerin taugte. Insgeheim hielt ich die Wissenschaft für so farblos, kalt und eckig wie dieses Zimmer.

Ich wandte mich zu dem einzigen Fenster. Schon einmal hatte ich einen Blick nach draußen geworfen und dabei festgestellt, dass es zur Straßenseite hin lag. Mein Blick war auf trostloses Grau gefallen. Aber jetzt war es Nacht, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Haupteingang zur Klinik, einer der berühmtesten der Welt. Er war hell erleuchtet.

Von meinem Standpunkt aus konnte ich das Hauptgebäude sehen sowie die beiden Seitenflügel, die von einer großen halbkreisförmigen Auffahrt umgeben waren. Ein endloser Strom von Autos kam und fuhr wieder, brachte Kranke oder Menschen, die voller Unruhe andere begleiteten, um die sie sich Sorgen machten. Ich trat näher ans Fenster und beschloss, mir das Geschehen eine Weile lang anzuschauen, bis die Lichter gelöscht würden. Kurz vor Mitternacht trafen eine ganze Menge Leute ein, viele davon in weißen Kitteln, und kurz nach Mitternacht verließen sehr viele andere weiß gekleidete Menschen das Gebäude und begaben sich zu ihren Autos auf dem Parkplatz. Die Schicht hatte gewechselt. Ich holte mir die Bettdecke, wickelte mich darin ein und zog mir einen Stuhl heran. Autos, Ambulanzen, Taxis und Streifenwagen der Polizei kamen und verschwanden wieder. Ab und zu nickte ich ein, stellte aber nach dem Aufwachen jedes Mal fest, dass sich nichts geändert hatte. Um vier Uhr morgens wurde mir klar, dass diese Lichter nie ausgehen würden. Es waren immer Menschen hier, die sich um Patienten im kritischen Stadium und um Schmerzpatienten kümmerten. Die Lichter wurden weitergegeben, von Hand zu Hand. Und wie an diesem Morgen würde ich auch zukünftig ein Teil davon sein. Ich wusste noch nichts, aber ich gehörte dazu.

In der Synagoge meines Großvaters gab es ein Licht, das nie ausging. Jede Synagoge beherbergt solch ein ewiges Licht als Zeichen dafür, dass Gott an diesem Ort stets gegenwärtig ist. Beruhigt stand ich auf und legte mich ins Bett. Ich kann mich nicht erinnern, in den nächsten vier Jahren noch einmal Zeit gehabt zu haben, aus diesem Fenster zu schauen.

Es ist undenkbar, jahrelang rund um die Uhr zu lernen, ohne sich dabei zu verändern. Wir arbeiteten sieben Tage die Woche, meistens sechsunddreißig Stunden am Stück mit einer darauffolgenden zwölfstündigen Pause. Wenn wir frei hatten, schliefen wir. Das Verleugnen körperlicher Bedürfnisse wie schlafen, entspannen und sogar essen war ein wesentlicher Bestandteil des Lehrplans. Niemand beschwerte sich. Wir alle führten das gleiche Leben. Viele der Räume, in denen ich arbeitete und lernte, hatten keine Fenster. Oft wusste ich nicht einmal, welchen Wochentag wir hatten oder wie spät es war. Ich erinnere mich daran, wie ich die Krankenschwestern Tag für Tag beim Schichtwechsel an mir vorbeigehen sah. Ich schaute dann auf, erblickte Miss Harrison und wusste, dass ein neuer Tag angebrochen sein musste. Oft hatte ich nicht geschlafen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Einmal besuchte mich während meines Praktikums meine Mutter im Wohnheim der Klinik und stellte beim Öffnen meines Kleiderschranks erschrocken fest, dass ich keinen Wintermantel hatte. „Wo ist dein Mantel?“, rief sie. Ich hatte nicht gemerkt, dass Winter war. Ich war über ein Jahr lang nicht aus der Klinik und deren unterirdischem Tunnelsystem herausgekommen.

Ich erinnere mich an einen jener seltenen freien Sommernachmittage, als ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr, um meine Eltern zu besuchen. Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich unbewusst die Armvenen der sommerlich gekleideten Menschen um mich herum in Augenschein nahm und mir überlegte, ob ich die Nadel schon so geschickt handhaben könnte, um ihnen erfolgreich Blut abzuzapfen. Eine medizinische Ausbildung verändert den Blickwinkel, und sie beeinflusst das Denken. Allmählich wurde vieles, was in meinem bisherigen Leben von zentraler Bedeutung gewesen war, unwichtig und verschwand im Hintergrund, während ich auf anderes, was mir nun lohnender erschien, allzu großen Wert legte. Nach einiger Zeit vergaß ich ganz einfach vieles, was mir wichtig gewesen war. Vor fünfunddreißig Jahren war ich in meinem Lehrgang eine von wenigen Frauen, und meine männlichen Kollegen hielten es im Allgemeinen für selbstverständlich, dass ich als Frau im Umgang mit den emotionalen Nöten der Patienten über mehr Geschick verfügte, besser Trost spenden könnte. Sie hätten sich nicht ärger täuschen können. In vieler Hinsicht waren meine emotionalen Fähigkeiten weniger gut entwickelt als bei manchen Männern, mit denen ich täglich zusammenarbeitete. In den vier Jahren meines Medizinstudiums hatte ich erfolgreich mit Männern konkurriert und wie sie konsequent jene Eigenschaften kultiviert, die in diesem Milieu am meisten galten: Entschlossenheit, Objektivität, analytisches Denken und die Fähigkeit, kompetent und klar zu urteilen. Mir waren diese Eigenschaften vielleicht sogar noch wichtiger als den Männern, weil ich gegen etwas ankämpfte, das die meisten von ihnen als geschlechtsspezifisches Handicap betrachteten. Doch ebendiese Kollegen, die sonst so eifrig bestrebt waren, mich wie einen Mann zu behandeln, wandten sich oft an mich, wenn sie in Situationen gerieten, die ihnen unangenehm waren. Arbeiteten wir beispielsweise alle in der Ambulanz oder in der Notaufnahme – jeder mit seinem Patienten in einem eigenen Behandlungsraum beschäftigt –, konnte es passieren, dass plötzlich jemand an meine Tür klopfte. Wenn ich dann öffnete, stand meist einer der anderen Ärzte vor mir und stotterte verlegen etwas in der Art von: „Mein Patient weint … kannst du mal kommen?“ Ich verhielt mich in einer solchen Situation keineswegs souveräner als er, aber ich merkte bald, dass ich hier Punkte sammeln konnte, und deshalb ging ich gewöhnlich mit und hörte dem Patienten zu, der mir seine Bedenken anvertraute und über seine Erfahrungen mit der Krankheit berichtete.

Anfangs war ich überrascht, dass Menschen mit der gleichen Krankheit völlig verschiedene Geschichten darüber erzählten. Später begannen mich diese Geschichten und die Menschen, die versuchten, in ihren Problemen einen Sinn zu finden, ebenso zu rühren wie die unvermutete Stärke und die tiefen Gefühle der Patienten. Dieses kostbare Muster, aus dem das Leben besteht, zu enthüllen war Sache der Medizin, des Gebietes, das ich studierte und auf dem ich handelte. Schließlich schlugen mich diese Geschichten, die mich persönlich mehr bereicherten als eine richtig gestellte Diagnose, immer stärker in den Bann. Sie trugen dazu bei, dass ich langsam stolz darauf wurde, ein menschliches Wesen zu sein.

Der Grund für mein Interesse an den Geschichten lag indessen tiefer. Ich leide ebenfalls an einer Krankheit, der Crohn-Krankheit, einer chronischen, fortschreitenden Darmerkrankung, die ich im Alter von fünfzehn Jahren bekommen hatte. Die Gespräche mit den Patienten linderten meine Einsamkeit. Sie waren etwas anderes als die lockeren Späße und der kumpelhafte Umgang mit den anderen Assistenzärzten. Hier ging es um den Austausch mit Menschen, die sich in einer Krisensituation, in einer Art Belagerungszustand befanden. Ich hörte Menschen zu, die litten und auf ihr Leiden in einer Weise reagierten, die so einmalig war wie der Fingerabdruck eines jeden. Ihre Geschichten waren anregend, rührend, wichtig. Und mit der Zeit begann die Wahrheit, die darin steckte, mich zu heilen.

Jeder Mensch ist eine Geschichte. Noch in meiner Kindheit saßen die Menschen um den Küchentisch herum und erzählten sich ihre Geschichten. Heutzutage tun wir das kaum mehr. Dabei ist es nicht nur ein Zeitvertreib, um den Tisch herumzusitzen und einander Geschichten zu erzählen – am Küchentisch geben wir unsere Lebensweisheit an die anderen weiter. Das Erzählen hilft uns, ein der Erinnerung wertes Leben zu leben. Trotz der beachtlichen Leistungsfähigkeit unserer Technik führen viele von uns kein sonderlich gutes Leben. Vielleicht sollten wir einander wieder besser zuhören.

Die meisten Geschichten, die uns heute erzählt werden, sind von Schriftstellern beziehungsweise Dramatikern verfasste fiktionale Storys, die einen Anfang und ein Ende haben und von Schauspielern aufgeführt werden. Die Geschichten, die wir einander erzählen können, haben weder Anfang noch Ende. Konkrete Erfahrungen stehen in ihnen jedoch an erster Stelle. Selbst wenn sie sich vielleicht zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zugetragen haben, rufen sie in uns ein vertrautes Gefühl hervor. Denn in gewisser Weise handeln sie von uns allen.

Geschichten, die auf Erfahrung beruhen, brauchen Zeit. Wir haben mit dem Geschichtenerzählen aufgehört, als uns die Zeit abhandenkam, innezuhalten, nachzudenken und zu staunen. Das Leben rast an uns vorbei, und nur wenige Menschen sind stark genug, das Tempo aus eigener Kraft zu drosseln. Meist sind es unvorhergesehene Ereignisse, die uns zum Innehalten zwingen und uns Zeit schenken, uns an den „Küchentisch des Lebens“ zu setzen, unsere eigene Geschichte zu verstehen und sie zu erzählen, aber auch, den Geschichten anderer Menschen zu lauschen und zu erkennen, dass die Welt aus lauter solchen Geschichten besteht.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir innehalten oder, was viel öfter geschieht, unsere Betriebsamkeit gestoppt wird, hoffen wir, bestimmte Dinge im Leben „hinter uns“ bringen und dann wie gewohnt weitermachen zu können. Erst nach einer solchen Unterbrechung erkennen wir, dass uns bestimmte Probleme unser Leben lang begleiten werden. Wir werden immer wieder mit ihnen konfrontiert werden, und zwar jedes Mal im Zusammenhang mit einer neuen Geschichte. Wir werden ihnen aber auch von Mal zu Mal mit größerem Verständnis begegnen. Irgendwann werden wir sie nicht mehr von unseren Wünschen und unserem Wissen unterscheiden können. Auf diese Art schult uns das Leben.

Wenn wir keine Zeit haben, uns gegenseitig zuzuhören, rennen wir zu Experten, die uns sagen sollen, wie wir leben sollen. Je weniger Zeit wir am Küchentisch verbringen, desto zahlreicher werden die Ratgeber in den Buchhandlungen und in unseren Bücherregalen. Aber die Lektüre solcher Bücher ist etwas ganz anderes, als jemandem zuzuhören, der über eigene Erlebnisse erzählt. Es mag sein, dass wir vergessen haben, wie man einander zuhört, wie man die Bedeutung einer Geschichte erkennt, weil wir nicht mehr bereit dazu sind. Stattdessen geben wir uns mit den gewöhnlichen Ereignissen des Lebens zufrieden. Wir sind einsam geworden, verbringen unser Leben lieber lesend und zuschauend als mitteilend und mitwirkend.

Die Geschichte eines jeden ist bedeutsam. Die Geschichte einer hochgebildeten und einflussreichen Person enthält oft genauso viel Weisheit wie die Geschichte eines Kindes, und das Leben eines Kindes vermag uns genauso viel zu lehren wie das Leben eines Weisen. Die meisten Eltern wissen, wie wichtig es für das Selbstverständnis ihrer Kinder ist, die eigene Geschichte immer wieder zu hören. So erfahren Kinder auch, zu wem sie gehören. Einer erzählt für den anderen, und hinter all diesen Geschichten steckt eine große Geschichte. Je besser wir zuhören, umso deutlicher kristallisiert sich diese Geschichte heraus. Sie handelt von unserer wahren Identität, davon, wer wir sind, warum wir hier sind und was uns trägt. Und in allen Geschichten geht es um dieselben Dinge, um das Besitzen und Verlieren, um Sex und Macht, den Schmerz und das Staunen, um Mut, Hoffnung und Heilung, um die Einsamkeit und die Erlösung von der Einsamkeit und um Gott.

Geschichten, die uns in unserem tiefsten Innern berühren, rütteln uns wach und wecken ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Manchmal, wenn ich Leute darum bitte, mir ihre Geschichte zu erzählen, berichten sie mir, was sie im Laufe ihres Lebens erreicht, erworben oder aufgebaut haben. Viele Menschen kennen ihre eigentliche Geschichte gar nicht, nämlich die, die davon handelt, wer sie sind, nicht davon, was sie getan haben. Letztlich geht es darum, was wir durchgestanden und riskiert haben, um uns etwas aufzubauen, was wir während unseres Lebens empfunden, gedacht, gefürchtet und entdeckt haben.

Alle wirklichen Geschichten sind wahr. Es kommt vor, dass mir ein Patient seine Geschichte erzählt und seine Angehörigen Protest erheben: „So ist es ja gar nicht gewesen, es war vielmehr so und so.“ Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass in solchen Fällen beide Versionen aufrichtig gemeint sind und eine Wahrheit enthalten und vermutlich keine der beiden „korrekt“ ist im Sinne einer exakten Beschreibung des Ereignisses. So verstanden, geben Geschichten persönliche Erfahrungen wieder, die auf bestimmten Ereignissen im Leben beruhen, und nicht diese Ereignisse selbst. Wir alle erleben das, was uns widerfährt, auf individuelle Art und interpretieren und erzählen es auch entsprechend subjektiv – so wie auch die Wahrheit in höchstem Maße subjektiv ist.

Alle Geschichten, so einmalig, wie sie sind, bringen bestimmte Vorlieben zum Ausdruck, mischen Fakten mit Interpretationen. Darin liegt ihre Stärke, denn dadurch wird es uns möglich, etwas Vertrautes mit neuen Augen zu sehen. In einem solchen Moment nehmen wir am Leben eines anderen teil. Die Deutung, die wir der Geschichte eines anderen geben, mag sich von der Deutung des Erzählers unterscheiden. Das ist nicht weiter schlimm. Fakten vermitteln uns zwar Wissen, aber Geschichten fuhren uns zur Weisheit.

Die besten Geschichten haben viele Bedeutungen, die zu entschlüsseln wir erst lernen müssen. Beschäftigt man sich nach Jahren noch einmal mit einer Geschichte, wundert man sich oft, dass man sie früher ganz anders verstanden hat, und bedenkt nicht, dass ein weiterer Leser sie vermutlich wieder anders interpretieren wird. Ebenso wie die Geschichten selbst sind all diese Deutungen wahr.

Will man die eigene Geschichte kennenlernen, muss man eine persönliche Antwort auf das Leben finden und sich darum bemühen, offen für Erfahrungen zu sein – so wie Kinder, die häufig viel intensiver als Erwachsene leben. Kinder achten auf Einzelheiten. Für ein Kind besteht die Zeit zwischen Nikolaus und Weihnachten aus Tausenden von Augenblickserlebnissen. Sie alle zu durchleben und sich danach zu richten dauert seine Zeit. Ist man über vierzig, scheint dagegen drei Mal pro Jahr Weihnachten zu sein.

Ich war einmal Kinderärztin, bin es aber nicht mehr. Ich habe mir viele Jahre lang die Geschichten von Krebskranken und Menschen, die an anderen lebensbedrohlichen Krankheiten litten, angehört und habe ihnen beratend zur Seite gestanden. Von ihnen habe ich gelernt, den Augenblick wieder zu genießen, die Annehmlichkeit einer heißen Tasse Kaffee beispielsweise oder die Anwesenheit eines Freundes, die Wonne, sich mit einem neuen Stück Seife zu waschen oder eine Stunde lang keine Schmerzen zu haben. Aus diesen oder ähnlichen Stoffen sind viele Geschichten gemacht. Wenn es uns so vorkommen sollte, als hätten wir keine Geschichte, dann nur deshalb, weil wir unserem Leben nicht genügend Beachtung schenken. Das Leben der meisten Menschen ist reicher und bedeutungsvoller, als sie ahnen.

Was wir einmal gehört oder erlebt haben, bewahren wir sorgfältig in unserem Gedächtnis auf. Die meisten Geschichten tragen wir gleichsam ungelesen bei uns, bis wir bereit beziehungsweise fähig sind, sie zu lesen. In diesem Augenblick entfalten sie eine bisher ungeahnte Bedeutung für uns. Es ist, als hätten wir, manchmal über viele Jahre hinweg und ohne es zu wissen, kleine Einzelteile einer größeren Weisheit gesammelt.

Meine Mutter war eine Frau mit vielen Geschichten. Als Gemeindeschwester hatte sie an zahllosen Küchentischen gesessen, Tee getrunken und zugehört. Mit vierundachtzig Jahren entschloss sie sich notgedrungen zu einer Bypassoperation. Das Risiko, dass sie den Eingriff nicht überleben würde, stand allerdings vier zu zehn, war also ziemlich hoch. Aber meine Mutter war keine gewöhnliche alte Frau. Sie hatte stets mit Risiken gelebt, und deshalb schienen ihr die Aussichten nicht so schlecht. Zwei Stunden vor dem Eingriff kam ich in ihr Krankenzimmer und musste feststellen, dass die Operation vorverlegt worden war und mir gerade noch Zeit blieb, sie zu küssen, bevor man sie in den OP brachte. Obwohl sich die Umstände so plötzlich geändert hatten und die Aussichten alles andere als gut waren, war meine Mutter friedlich, ja strahlte sogar.

„Oh, gut, dass du hier bist!“, begrüßte sie mich. „Eines wollte ich dir noch sagen. Egal, wie diese Sache hier ausgeht, ich bin damit zufrieden, und ich hoffe, dass auch du alles tun wirst, dich damit zufriedenzugeben.“ Dann lächelte sie ihr charmantes, verwegenes Lächeln. Es waren die letzten klaren Worte, die sie zu mir sagte.

Ich habe lange darüber nachgedacht und versucht zu verstehen, was sie wohl bedeuteten. Meine Mutter hatte eine Menge geleistet in ihrem Leben, aber ich konnte nicht glauben, dass es dies war, was sie dem möglichen Tod so gelassen und zufrieden ins Auge blicken ließ. Allmählich ist mir dann klar geworden, dass der Schlüssel zu dieser Art von Zufriedenheit in der inneren Welt liegt, der Welt der Geschichten und Erinnerungen. In dieser Welt spielen irgendwelche Erfolgserlebnisse keine Rolle. Hier geht es um den Reichtum eines gelebten Lebens und die Fähigkeit, von der eigenen Lebenserfahrung anderen etwas mitzuteilen.

Nachdem ich nun fünfunddreißig Jahre als Ärztin tätig bin und bereits über vierzig Jahre selbst an einer lebensbedrohlichen Krankheit leide, habe auch ich ein großes Reservoir an Geschichten, solchen, die ich erlebt habe und solchen, die mir erzählt wurden. Ich kann über mein Leben als Tochter, als Enkelin, als Freundin, Patientin und Ärztin berichten, kann Geschichten erzählen, die andere Ärzte und Patienten mir anvertraut haben, von meiner Katze reden oder über Dinge, die ich nicht verstehe. Wenn ich an Ihrem Küchentisch sitzen würde, wie es Hausärzte einst oft taten, würde ich Ihnen einige dieser Geschichten mitbringen. Jede Einzelne von ihnen hat mir dabei geholfen, zu leben.

ERSTER TEIL

Lebenskraft

 

Klar, einzigartig, geheimnisvoll, ästhetisch. Als ich seinerzeit meinen Doktor der Medizin erwarb, hätte ich das Leben nicht auf diese Weise beschrieben. Denn ich hatte noch nicht begriffen, was Leben wirklich bedeutet, wusste noch nichts von der Liebe und der Lebenskraft, die in allem und jedem steckt. Das Leben hatte mich noch nicht gebeutelt, und das Gefühl, inmitten der tiefsten Schwäche von seiner Kraft überrascht zu werden, kannte ich noch nicht. Ich wusste nicht, was Ehrfurcht ist. Ich glaubte, das Leben sei etwas Zerbrechliches und ich, ausgerüstet mit den mächtigen Werkzeugen der modernen Wissenschaft, sei dazu angetreten, schadhafte Stellen zu reparieren. Auch mich selbst hielt ich für zerbrechlich. Aber das Leben hat mich eines Besseren belehrt.

Viele meiner Patienten suchen mich auf, weil die moderne Medizin bei ihnen versagt hat oder deren Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Oft wissen sie nicht mehr weiter und hoffen einfach auf die Stärkung ihrer Lebenskraft. Nachdem ich mir in den letzten zwanzig Jahren Hunderte von Geschichten angehört habe, glaube ich sagen zu können, dass viele gar nicht wissen, wie stark ihre Lebenskraft ist und in welchen Formen sie sich ihnen darbietet. Und doch hat jeder von uns ihre Macht schon einmal gespürt. Obwohl wir zweifeln, sind wir mit den Narben von zahlreichen Heilungsprozessen bedeckt.

Die Therapie beginnt gewöhnlich an diesem Punkt – wir reden über das Leben und unsere Einstellung dazu, über unsere Erfahrungen, unser Vertrauen ins Leben oder unser Misstrauen ihm gegenüber. Es geht darum, den Blick für das Leben zu schärfen. Zu Beginn ist das Leben reine Kraft. Nachdem nun mehr als fünfzig Lebensjahre hinter mir liegen, habe ich gelernt, dass man dieser Kraft vertrauen kann.

Pflaumenblüten

Vor vielen Jahren sah ich mich während eines Einkaufsbummels mit einem Freund zusammen in einem großen Geschäft für japanische Möbel um, weil ich ihm bei der Einrichtung seines Hauses helfen sollte. Er wurde sofort von der einzigen Verkäuferin in Beschlag genommen, einer winzigen Frau im Kimono, die ihn am Arm fasste und ihn laut und eindringlich in eine Diskussion über japanische Malerei verwickelte. Sie reichte ihm gerade bis zum Ellbogen, und ungeachtet ihrer Größe war mir ihr Verhalten unangenehm, und ich verdrückte mich in Richtung Tür, versteckte mich hinter den Truhen, um abzuwarten, bis er seine Besorgungen erledigt hatte. Ich glaubte, mich gut genug versteckt zu haben, als sich die Frau unversehens umdrehte und zielstrebig auf mich zukam. Ich bemerkte, dass sie ziemlich alt war, außerdem schien sie taub zu sein, was vielleicht der Grund für ihre laute Art war. Sie packte mich am Arm und zog mich durch den Verkaufsraum, ermunterte mich mit kleinen, schnalzenden Lauten und einem wiederholten „Kommen Sie, kommen Sie“, ihr zu folgen. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber für ein so zierliches Persönchen hatte sie einen festen Griff. Ich ging also mit, gefolgt von meinem Freund, der sich unverhohlen amüsierte, dass all mein Sträuben vergeblich gewesen war.

In dem Raum, in den sie uns führte, hingen nur vier Schriftrollen, an jeder Wand eine. Auf ihnen waren die Jahreszeiten dargestellt. Im Unterschied zu den Bildern im Verkaufsraum hatten diese hier Museumsqualität. Auf einem erblühte ein alter und gekrümmter Zweig mit Hunderten von winzigen rosa Blüten. Der Zweig und die Blüten waren von Schnee bedeckt. Ein wunderbares Bild.

Sie veranlasste mich, vor das Bild zu treten, und sagte: „Sehen Sie, sehen Sie? Februar! Die Pflaumenblüte beginnt.“ Auf ihre merkwürdig eindringliche Art erzählte sie mir, dass der Pflaumenbaum leiden müsse, weil er als Erster blühe, nämlich im Februar, wenn oft noch winterliche Verhältnisse herrschten. Mit ihrer schmalen, arthritischen Hand berührte sie den Schnee auf dem Zweig und nickte lebhaft. Dann schaute sie mich scharf an, schüttelte leicht meinen Arm und sagte: „Die Pflaumenblüte ist der Anfang. Sie gleicht den japanischen Frauen, die so weich, zart und sanft wie Pflaumenblüten sind … aber sie überleben.“

Das ging mir lange nicht aus dem Kopf. Als Ärztin glaubte ich zu wissen, was Überleben bedeutete, schließlich arbeitete ich im „Überlebensgeschäft“. In meinem Bereich hing das Überleben von medizinischer Fachkenntnis, Kompetenz, von Geschicklichkeit und vom Handeln ab. Was die Japanerin mir erzählt hatte, ergab für mich keinen Sinn.

Noch aus einem weiteren Grund verwirrte mich der Vorfall. Ähnlich wie der Pflaumenbaum, der zu früh im Jahr blüht, war ich zu früh geboren worden. Da meine Mutter sich während der Schwangerschaft eine Blutvergiftung zuzog, musste sie durch Kaiserschnitt entbunden werden. Ich wog viel zu wenig, und damals, im Februar 1938, erwartete wohl kaum jemand, dass ich überleben würde. Während meiner Kindheit erzählte man mir immer wieder, ich hätte nur durch Einsatz eines Brutkastens überlebt. Viele Jahre lang empfand ich gegenüber dieser Technik, die mir das Leben gerettet hatte, große Dankbarkeit. Später, als junge Kinderärztin, arbeitete ich auf einer Intensivstation für Frühgeborene, auf der weitaus leistungsstärkere Apparate eingesetzt wurden als in meiner Kindheit, um die Babys am Leben zu erhalten. Doch was die alte Japanerin gesagt hatte, machte mich stutzig. Vielleicht war Überleben nicht nur eine Frage der Technik, vielleicht steckte in jedem dieser winzigen, schwächlichen rosa Säuglinge eine angeborene Kraft, die auch mich damals befähigt hatte zu überleben. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.

In diesem Zusammenhang kam mir ein Frühlingstag in den Sinn, an dem ich – damals gerade vierzehn Jahre alt – die Fifth Avenue in New York City entlangging und dabei erstaunt zwei winzige Grashalme bemerkte, die aus dem Bürgersteig wuchsen. Irgendwie mussten sie sich durch den Asphalt gebohrt haben. Obwohl ich die vorübereilenden Menschen behinderte, blieb ich stehen und betrachtete ungläubig die Hälmchen. Dieses Bild blieb mir lange im Gedächtnis haften, wahrscheinlich deshalb, weil mir die Begebenheit wie ein Wunder vorkam. Damals hatte ich einen ganz anderen Machtbegriff als heute. Ich verstand unter Macht die Herrschaft durch Wissen, Reichtum, Staat und Gesetz. Mit jener anderen angeborenen Macht hatte ich noch keine Erfahrung.

Nach Unfällen und Naturkatastrophen empfinden Menschen das Leben oft als etwas sehr Zerbrechliches. Nach meiner Erfahrung können abrupte und unvorhergesehene Ereignisse ein Leben zwar verändern, zerbrechen werden sie es aber nicht. Vergänglichkeit ist etwas anderes als Fragilität. Schon physiologisch gesehen ist der Körper ein komplizierter Mechanismus mit Kontroll- und Gleichgewichtssystemen – Ergebnis unzähliger Überlebensstrategien und Balanceprozesse. Jeder, der nach einem so massiven und gewaltsamen Eingriff wie zum Beispiel einer Knochenmarkstransplantation oder einer Operation am offenen Herzen den weiteren Heilungsprozess verfolgt, hat tiefen Respekt, ja Ehrfurcht vor der Fähigkeit des Körpers, so etwas zu überleben. Über diese Kraft verfügt jeder Mensch, egal, wie alt er ist, und ohne sie wäre kein medizinischer Eingriff von Erfolg gekrönt. Selbst innerhalb der einzelnen Körperzellen ist dieser Lebenstrieb vorhanden, und schon bei Neugeborenen behauptet er sich hartnäckig. Als Medizinstudentin habe ich es einmal miterlebt, wie einer meiner Lehrer einem Neugeborenen den Finger in den Mund steckte und es, sobald es sich festgesaugt hatte, sanft aus seinem Bettchen hochzog.

Mit derselben Kraft wie dieses Baby hält jeder von uns am Leben fest – bis zum Augenblick seines Todes.

Der Wille, zu leben

Ist es unsere Entscheidung, ob wir leben wollen? Wenn ja, entscheiden wir uns dann für das Leben wie für einen Anzug oder ein Auto? Viele Menschen denken offenbar so. Doch es liegt auf der Hand, dass man sich das Leben nicht aussuchen kann wie einen Gegenstand, den man besitzen möchte. Das Leben ist kein Besitz. Manche Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als zu leben, sterben, und andere, denen das Leben wenig reizvoll erscheint, leben weiter. Es ist merkwürdig, wie viele von uns fest davon überzeugt sind, dass sie im Hinblick auf das Leben über eine grundsätzliche Wahlfreiheit verfügen.

All die Jahre, die ich mich schon mit den Themen des Lebens beschäftige, frage ich mich, ob es nicht einen über Träume und mentale Bilder zugänglichen Willen gibt, der Teil einer in unserem Innersten existierenden grundlegenden Codierung ist. Auf dieser unbewussten Ebene „arbeitet“ der Lebenstrieb für Ziele, die das Bewusstsein nicht kennt. Diesem Lebenstrieb sind wir in all unseren konkreten Handlungen verpflichtet. In der gegenwärtigen Debatte über die Frage, ob das Leben wählbar ist, verbirgt sich möglicherweise eine ältere Vorstellung, die nicht leicht zu erklären ist: der Wille zum Leben.

Wenn das so ist, kann das Unbewusste die Stärke, die Deutlichkeit und die Zähigkeit dieses Willens beeinflussen. Die tiefsten, sprich unbewussten Einsichten über die Natur und den Wert des Lebens sind unter Umständen hier wirksam. Manchmal tritt ein unbewusster Konflikt, der den Lebenswillen hemmt, erst zutage, wenn jemand von einer ernsten Krankheit bedroht wird.

Max gehörte zu den Männern, die aufs Ganze gehen, trinken, rauchen, boxen, schnelle Autos fahren. Er war immer zur Stelle, wenn es gefährlich wurde. Mit sechsunddreißig hatte er vier Ehen hinter sich gebracht und zweimal sein Vermögen verloren. Inzwischen war er ein erfolgreicher Rinderzüchter. Er kam mit Cowboyhut und ausgetretenen Stiefeln in meine Sprechstunde, war unruhig und fühlte sich ebenso unbehaglich wie einer seiner geliebten Zuchtbullen in der zu engen Box. Auf meine Frage nach seiner Vergangenheit antwortete er mir, dass er auf einer Ranch im Mittelwesten aufgewachsen sei. Sein Vater war Cowboy, seine Mutter Bankierstochter. Sie war als Einzelkind aufgewachsen, und Max hatte ihr sehr nahegestanden. Sein älterer Bruder, ein robustes und furchtloses Kind, hatte sich mehr dem Vater angeschlossen. Diesen Sohn habe der Vater geliebt, sagte Max und wandte dabei den Blick ab.

Ich betrachtete ihn, wie er so dasaß, groß und tüchtig und unbekümmert wirkend. Seinen Händen, die auf seinen Knien lagen, sah man den ständigen Aufenthalt im Freien an. Es waren Männerhände. Warum nur überkam mich dieser Drang, ihn zu beschützen, wieso sah ich in ihm den zarten kleinen Jungen? Dem Gefühl gehorchend, fragte ich ihn, was er über seine Geburt und seine frühe Kindheit wisse. Er erzählte mir, er sei zu früh zur Welt gekommen. In den ersten zwei oder drei Jahren seines Lebens sei er kränklich gewesen und habe seine Mutter stark beansprucht – seinen Vater hingegen zunehmend enttäuscht. Dieser habe sich mit einer heftigen Bemerkung der Mutter gegenüber Luft gemacht: „Wenn dieser lächerliche Zwerg eines meiner Tiere wäre, würde ich ihn aussetzen. Von mir aus könnte er dann verhungern.“ Ich fragte Max, ob er das gehört habe oder ob es ihm von anderen erzählt worden sei. Er könne sich nicht erinnern, meinte er; er habe jedoch immer von diesem Vorfall gewusst und zweifle nicht im Geringsten daran.

Max’ Vater hatte seinen jüngsten Sohn weiterhin abgelehnt, auch noch, als dieser bereits groß und kräftig war. „Mein Vater war ein unversöhnlicher Mensch“, sagte Max. Manchmal habe sein Vater ihn wochenlang nicht angesprochen und ihn behandelt, als wäre er Luft. Max hatte die Gründe dafür nie begriffen. Seine Kindheit war nicht einfach gewesen, und mit fünfzehn hatte Max sein Elternhaus schließlich verlassen.

Meine Fragen gingen ihm auf die Nerven, und er wollte wissen, warum das alles so wichtig sei. Er klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden, und seine Augen flackerten. Zerstreut tastete er über seine Taschen. Offenbar suchte er nach einer Zigarette. Ich erklärte ihm, dass die Art, wie ein Mensch mit sich selbst umgehe, seine Genesung erleichtern oder erschweren könne und es deshalb wichtig sei, so viel wie möglich über ihn zu wissen.

Er begann nun von seinen selbstzerstörerischen Neigungen zu berichten. Er erzählte mir, dass er, solange er sich erinnern könne, „mit dem Tod gespielt“ habe, und schilderte sein wildes Leben, das ihm bereits zahlreiche Verletzungen eingebracht hatte. Schon als Kind war er ein sicherer Unfallkandidat gewesen und hatte die Aufmerksamkeit seiner Mutter dadurch noch mehr beansprucht. Bei seinem Vater hatte das die Abneigung nur verstärkt. Max verstand nicht, warum ihm als sportlichem und durchtrainiertem Mann so viel passierte. „Ich habe immer das Gefühl gehabt, wertlos zu sein, einfach nicht gut genug.“ Erfolge im Berufsleben, im Sport oder bei Frauen hatten dieses Gefühl nur kaschieren, nicht aber aufheben können. „Ich hab’ sie alle zum Narren gehalten“, meinte Max bitter. „Vielleicht“, gab ich zurück, „ist es Ihnen deshalb so schwergefallen, sich okay zu fühlen, weil Sie nie genau wussten, was von Ihnen erwartet wurde.“ Er schaute mich verdattert an. „Ob es besser für Sie war, am Leben zu bleiben, um Ihrer Mutter eine Freude zu machen, oder ob Sie lieber sterben sollten, um Ihren Vater zufriedenzustellen“, sagte ich.

Meine Bemerkung schockierte ihn. Er hatte sich oft gefragt, ob er ein so verwegenes Leben führte, um die Anerkennung des Vaters zu erringen oder um sich selbst zu beweisen, dass er ein toller Kerl war. Diese Überlegung brachte ihn auf einen neuen Gedanken. „Seit meiner Geburt war ich meinem Vater ein Dorn im Auge, einfach weil ich da war. Es war völlig egal, wie ich mich verhielt. Er wollte mich einfach nicht.“

Ich erinnerte Max daran, dass er trotz seiner vielen Scharmützel mit dem Tod, trotz der gebrochenen Knochen, der Unfälle und seines riskanten Lebenswandels ja immer noch da war. Ich fragte ihn, was ihn seiner Meinung nach immer wieder vor dem Schlimmsten bewahrt habe. „Glück“, sagte er schnell. Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. Niemand hat so viel Glück. Eine Weile saß er nachdenklich da. Dann gestand er leise und mit erstickter Stimme, dass er selbst immer hatte leben wollen. Ich verstand ihn kaum. „Könnten Sie das etwas lauter sagen?“ Er starrte auf das Stück Teppich zwischen seinen Stiefeln. Unfähig zu sprechen, nickte er nur. Dann flüsterte er: „Es ist mir peinlich.“

Ich bekam Mitleid mit ihm. Mit zitternder Stimme sagte er: „Irgendetwas in mir wollte leben.“ Seine Augen fixierten immer noch den Teppich. „Sprich es aus, Max“, dachte ich. „Sprich es aus, damit es Wirklichkeit wird.“ Ich wusste nicht recht, ob ich es wagen konnte, ihn noch weiter zu bearbeiten. „Schaffen Sie es, mir das zu sagen und mich dabei anzusehen?“, fragte ich ihn. Ich spürte förmlich, wie er mit sich kämpfte. War ich zu weit gegangen? Er hatte seinen Vater nie zur Rede gestellt. Wenn er eine so einfache Wahrheit aussprechen wollte, musste er wahrscheinlich ein Grundmuster aufbrechen, das sein Leben bis dahin beherrscht hatte. Vielleicht würde er sich nicht einmal in diesem winzigen Punkt befreien können. Mit großer Anstrengung hob er den Kopf und sagte, immer noch mit erstickter Stimme, aber deutlicher als zuvor: „Ich möchte leben.“ Wir schauten uns eine Weile in die Augen, ohne dass er sich abwandte. Ich lächelte ihn an. „Ich möchte auch, dass Sie leben“, sagte ich.

Es scheint plausibel, die Geschichte von Max als eine ins Unbewusste verlagerte Auseinandersetzung zu interpretieren, in der sich der alte Streit zwischen seinen Eltern fortgesetzt hat. Hin- und hergerissen zwischen dem Lebenswunsch, den seine Mutter verkörperte, und dem Wunsch, den sein Vater ihm mitgegeben hatte, nämlich dass Max verschwinden möge, hatte dieser in all den Jahren auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod balanciert. Dennoch hatte er, wenn auch unbewusst, selbst stets versucht, den Kampf auf die Spitze zu treiben, vielleicht, weil ihn die Intensität des inneren Dialogs dazu gezwungen hatte, sich wieder und wieder seiner eigenen Entscheidung zu versichern. Indem er sein Votum zigmal über den Haufen warf, konnte er, sooft er sich für das Leben entschieden hatte, seinen eigenen Wunsch spüren, nämlich zu leben. Wird eine unbewusste Auseinandersetzung mit solcher Vehemenz geführt, kann es für die betreffende Person notwendig werden, sich Unfallrisiken und gefährlichen Situationen auszusetzen, um die Entscheidung über Leben und Tod immer aufs Neue herbeizuführen.

Eine Krebserkrankung war nun die jüngste Variante einer langen Serie von Krisen, durch die Max auf die Probe gestellt wurde. Deshalb war er zu mir gekommen. Aber diesmal war er dazu gezwungen, sich ein für alle Mal zu entscheiden. Um eine lebensbedrohliche Krankheit zu überwinden, müssen bewusste und unbewusste Wahl übereinstimmen.

Max hatte Metastasen im Dickdarm. Statistisch gesehen bestand wenig Hoffnung, und die Ärzte hatten nur eine vorsichtige Prognose gewagt. Doch ein medizinisches Gutachten ist keine Hellseherei. Wir Spezialisten errechnen Wahrscheinlichkeiten und können keine präzisen Resultate liefern. Wie fast alle, die im medizinischen Bereich tätig sind, habe ich festgestellt, dass eine Prognose nicht mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat als eine Landkarte mit der Landschaft oder der Plan eines Architekten mit dem fertigen Haus. Max hatte nach unserem ersten Treffen noch acht Jahre zu leben. Einige Jahre lang erkundeten wir gemeinsam das Gebiet, zu dem sich Max bei dieser ersten Sitzung Zugang verschafft hatte, und während dieser Zeit fasste ich eine tiefe Zuneigung zu diesem robusten, humorvollen und sehr netten Mann. Allmählich lernte er, nicht nur seine Eltern zu verstehen und ihnen zu verzeihen, sondern auch sich selbst anzunehmen und zu schätzen. Er verletzte sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit und baute auch keine Unfälle mehr. In den ersten Monaten witzelte er oft über den Moment, als ich meine Stimme für ihn abgegeben hatte. „Jetzt ist der Bastard ein für alle Mal ausgezählt“, kicherte er dann.

Als ich zu ihm gesagt hatte, auch ich wolle, dass er lebe, hatte ich ohne Rücksicht auf seine Entscheidung meinem innersten Wunsch Ausdruck verliehen. Jeder Arzt empfindet seinem Patienten gegenüber auf diese Weise, unabhängig davon, was die Gutachten aussagen und wie die Aussichten einzuschätzen sind. Aus dieser Haltung schöpft ein angehender Mediziner die Motivation für seine Ausbildung und ein ausgebildeter Arzt sein Engagement. Manchmal müssen solche Dinge einfach laut ausgesprochen werden.

Ein Platz in der ersten Reihe

Es fällt schwer, an etwas zu glauben, das man nicht sehen kann. Nach sieben schweren Operationen hatte ich manchmal Schwierigkeiten, an meine Genesung zu glauben. 1981 bekam ich einige Tage nach einer sechsstündigen Bauchoperation eine Bauchfellentzündung und eine Infektion, als die Fäden aufgingen. Bis die exakte Diagnose endlich feststand, war mein Zustand bereits kritisch geworden. Man rollte mich in aller Eile in den OP, wo mir eine weitere Operation wahrscheinlich das Leben rettete. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in rasender Fahrt den Gang hinuntergeschoben wurde, wie die Lichter an mir vorbeihuschten, und ich sehe noch vor mir, wie der Chirurg, ein Freund von mir, neben meiner Krankenbahre herlief. Wie üblich in Medizinerkreisen, sprach er über meinen Fall, als unterhielten wir uns im Speiseraum des Krankenhauses über einen gemeinsamen Patienten. „Du weißt ja“, sagte er im Plauderton, „wegen der Infektion werden wir die Wunde offen heilen lassen.“ Vollgepumpt mit Medikamenten und ziemlich fertig, dachte ich damals: „Offene Wundheilung also. Du weißt ja, was das bedeutet.“ Dann ging alles sehr schnell, und ich vergaß das Ganze.

Einige Stunden später erwachte ich im Beobachtungsraum und stellte verwirrt fest, dass ich wieder einmal überlebt hatte. Kaum bei Bewusstsein tastete ich mit dem Finger meinen Bauch ab. Dort befand sich wie vor der Operation der große, weiche Verband. Beruhigt, etwas Vertrautes vorzufinden, schlummerte ich wieder ein.

Am nächsten Tag kam eine Krankenschwester zu mir, um den Verband zu wechseln. Freundlich plaudernd entfernte sie die Kompressen. Ich schaute nach unten, in der Erwartung, den üblichen Fünfunddreißigzentimeterschnitt mit der Naht und hundert oder mehr Stichen zu sehen. Stattdessen klaffte da eine völlig offene Wunde, wie ich sie schon oft im OP gesehen hatte. Blitzartig fielen mir die Worte meines Chirurgen ein – und nun wusste ich, was offene Wundheilung bedeutete. Solange eine Infektion vorliegt, wird die Haut in der Regel nicht zusammengenäht. Man schließt lediglich Bauchfell und Muskelhaut, lässt aber die Wunde offen, damit sie von selbst heilt.

Zutiefst erschrocken betrachtete ich meinen verwüsteten Bauch. Ich dachte damals: „Das ist sicher eine tödliche Wunde. Völlig unvorstellbar, dass so etwas heilt.“ Die Krankenschwester merkte nicht, wie entsetzt ich war, und plauderte fröhlich weiter. Nachdem sie den neuen Verband mit Heftpflaster befestigt hatte, verließ sie das Zimmer. Auch am nächsten Morgen kam sie zum Verbandswechsel. Diesmal drehte ich den Kopf zur Seite, um nichts sehen zu müssen. Sie redete munter mit mir, während sie ihre Aufgabe erledigte. Ich gab keine Antwort. Ich war verzweifelt.

Mehrere Tage lang wiederholte sich die Prozedur: Sie nahm den Verband ab, redete mir gut zu, ich wandte den Kopf zur Seite und wartete auf das Ende. Nach ungefähr einer Woche dämmerte es mir, dass ich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit immer noch am Leben war. Vielleicht würde ich an dieser Wunde doch nicht sterben, dafür aber mit ihr leben müssen. Damit war die Bühne für ganz andere Bedenken und Zwangsvorstellungen frei. Wie sollte ich mit diesem großen Loch da vorne leben können? Vielleicht würde es im Laufe der Jahre zuwachsen – und eine fünfunddreißig Zentimeter lange und mehrere Zentimeter breite Narbe hinterlassen. Bis dahin würden enge Jeans und Badeanzug tabu sein. Ob ich Kleider in Übergröße würde tragen müssen? Oder die tiefe Furche in meinem Bauch mit Watte ausstopfen und verpflastern, sodass man sie nicht sehen würde?

Nachdem ich tagelang darüber nachgegrübelt hatte, wurde mir klar, dass ich mir die Sache, wenn ich schon mit ihr leben sollte, ansehen musste. Als die Schwester das nächste Mal den Verband entfernte, zwang ich mich hinzuschauen und erwartete, die klaffende Wunde von vor zehn Tagen zu sehen. Aber sie hatte sich verändert. Erstaunt stellte ich fest, dass sie sich von unten her zu schließen begonnen hatte und eindeutig kleiner geworden war. Tag für Tag konnte ich nun beim Verbandswechsel beobachten, wie diese große Wunde sich langsam, im Tempo aller natürlichen Abläufe, zu einer haarfeinen Narbe schloss. Und ich, eine Ärztin, hatte keinen Einfluss darauf. Es war demütigend. Aber immerhin hatte ich bei diesem Heilungsprozess einen Platz in der ersten Reihe. Viel später erst begriff ich, dass ich im Grunde seit Beginn meines Medizinstudiums auf diesem Platz saß. Die Lebenskraft, von der ich mich am eigenen Leib hatte überzeugen können, ist eine Mitgift, mit der wir alle von Geburt an ausgestattet sind.