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Nr. 3096

 

Das Meisterstück

 

Operation im Sternenrad – Gucky erforscht das Gebilde der Shenpadri

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Flüsterwasser

2. Lauernde Geschütze

3. Erstumlauf

4. Relikt

5. Konsul und Narr

6. Station Terrania

7. Hyperschub

8. Shonono

9. Mikro-Suppressor

10. Die Neige

11. Bleisphäre

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner. Mit ihren Raumschiffen sind sie in die Tiefen des Universums vorgestoßen und dabei immer wieder außerirdischen Lebensformen begegnet; ihre Nachkommen haben Tausende von Planeten besiedelt und sich den neuen Umwelten angepasst.

Perry Rhodan ist der Mensch, der den Terranern diesen Weg zu den Sternen eröffnet und sie seitdem begleitet hat. Nun steht er vor einer seiner größten Herausforderungen: Er wurde mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, vorwärts durch die Zeit in eine Epoche katapultiert, in der Terra und Luna verloren und vergessen zu sein scheinen.

Mittlerweile hat er in einem Zwilling unseres Universums die beiden Himmelskörper wiederentdeckt und es mithilfe der Staubfürsten geschafft, sie in den Heimatzweig des »Dyoversums« zurückzubringen. Aus dem Mythos Terra ist wieder Realität geworden.

In der Milchstraße eskaliert derweil die Situation: Die Cairaner und andere Mitgliedsvölker eines fernen Sternenbundes, die derzeit in der Milchstraße den Ton angeben, versuchen ihrerseits in dieses Zwillingsuniversum zu gelangen. Dazu stehen ihnen beeindruckende Machtmittel aus den Arsenalen entschwundener Superintelligenzen zur Verfügung wie das Sternenrad.

Sie setzen alles daran, dorthin zu gelangen, denn sie fliehen vor einer Macht des Chaos: der Kandidatin Phaatom. Diese verwirklicht an ihnen DAS MEISTERSTÜCK ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Galaktiker überschreitet eine Grenze.

Gucky – Der Ilt stößt auf gefährliche Relikte.

Zemina Paath – Die Thesan jagt die Vergangenheit.

Ataidse Sturu – Der cairanische Konsul trifft eine folgenschwere Entscheidung.

Shanjar – Der Shenpadri träumt vom Meisterstück.

»Zwei Lichtschleusen stehen offen. Fremde Schiffe fliegen ein. Wir stehen an einer Grenze, dünn wie die Schneide eines Monofilamentskalpells. Stoßen wir einander ab? Gehen wir aufeinander zu? Was geschehen ist, ist geschehen. Der Spiegel ist zerbrochen. Beklagen wir die Scherben, oder suchen wir das Weiße im Schwarzen?

Die Galaktiker haben ihn ausgewählt, sie zu vertreten: Perry Rhodan. Kann ich ihm vertrauen? Muss ich es vielleicht? Er ist ein Fremder, in dessen unvollkommenen Händen unser Schicksal liegt. Ein Unsterblicher wie ich und doch ein Wesen, das mir unbegreiflicher kaum sein könnte.

Ich will neue Wege gehen. Den einen Sternenpfad finden, der uns ans Ziel führt. Das Trajekt muss gelingen, ganz gleich was es kostet. Die Kandidatin darf nicht gewinnen.

Das Meisterstück wird scheitern.«

Ataidse Sturu, private Aufzeichnungen

 

 

1.

Flüsterwasser

Aithuriad, Konsulatsgarten

 

Das Flüsterwasser schmerzte im Kopf. Es ergoss sich aus einer antigravgehaltenen Spiegelkugel, die wie ein kopfgroßer Planet fünf Meter über Shanjar schwebte und dünne Fäden in das Becken spuckte, wo der Shenpadri reglos auf dem Grund lag und beobachtete. Über ihm schäumte das Wasser auf, kräuselte sich, malte sinnverwirrende Muster aus Licht.

Den milchig-weißen Nachthimmel des Sternenrads konnte Shanjar kaum erkennen. Er mochte das Wasser nicht, was sowohl an der Kälte lag als auch an dem unangenehmen Sirren, das von ihm ausging. Eigentlich war es gar nicht das Wasser, das Shanjar zusetzte. Es war der winzige Reinigungsroboter, der am schwarzen Boden wie eine Schnecke mit onyxfarbenem Haus hin und her sauste und das kunstvoll geschwungene Becken säuberte. Dabei setzte der Roboter Ultraschall ein – unhörbar für die zweibeinigen Cairaner, die vor dem Becken am Wasser standen, aber unangenehm für ihn. Die Töne fraßen sich regelrecht in seinen Kopf.

Dennoch gab es keinen Ort auf ganz Aithuriad, an dem Shanjar in diesem Moment lieber gewesen wäre. Er kauerte in sich zusammengerollt auf dem Boden unter dem kreisrunden Wasserfall. Im tiefen Becken konnte Shanjar sich verbergen, ohne dass der schützende Weißwald aus Narjos-Pflanzen Alarm schlug.

Er atmete das Wasser, lauschte durch den Lärm hinaus zu den beiden goldhäutigen Zweibeinern, die jeder auf Aithuriad kannte: Goldomir Direi und Lehamu Sarendise. Die beiden Großen trafen sich, weil Großes geschah. Die zwei Triumviratsmitglieder konnten sich wohl nur aus einem Grund treffen: Konsul Ataidse Sturu wollte zu ihnen kommen! Hierher! In den Konsulatsgarten. Zu Shanjar. Endlich. Wie lange war es her, dass der Konsul zuletzt am Flüsterwasser gestanden hatte? Shanjar hatte es vergessen.

Das Wissen um den Besuch und die Chance, die sich damit bot, hätten ihn in Hochstimmung versetzen sollen – wenn das fernblaue Schiff nicht gewesen wäre. Shanjar hatte es gesehen. Die todbringende Kugel, die eingeflogen war. In ihr wohnte die Kraft, die Arbeit von Jahrhunderten zunichtezumachen. Sie brachte Unheil und Chaos. An Bord war ein gefährliches, unsterbliches Wesen: Perry Rhodan. Er war von ebenso gefährlichen Geschöpfen umgeben, die ihm dienten: Mutanten.

Shanjar wusste, dass der fremdartige Zweibeiner mit der hellen, federlosen Haut da draußen war. Im Sternenrad. Irgendwie war es ihm gelungen, zwei Lichtschleusen zu öffnen. Das Trajekt stand auf dem Spiel. Dabei hatte seine Nono so viel gegeben, damit die große Flucht vorbereitet werden konnte. Sollte ihr Lebenswerk umsonst gewesen sein?

»Unerhört«, hätte seine Nono gesagt. »Unerhört«.

Es geschahen große Dinge da draußen im Sternenrad. Dinge, die den Untergang bringen konnten.

Die raschen Veränderungen beunruhigten Shanjar, aber mehr noch als Furcht trieb ihn Neugierde an. Wenn sich Goldomir Direi und Lehamu Sarendise am Flüsterwasser trafen, sprachen sie vielleicht über das, was Shanjar jagte. Er musste ganz still sein, leiser als das Wasser; am Grund des Beckens liegen bleiben wie eine Steinskulptur, damit keiner der beiden ihn bemerkte. Der schwarze Anzug tarnte ihn, verbarg die weißen, verräterischen Federn mit dem rubinroten Muster.

Draußen über dem Wasser erkannte Shanjar verschwommen die Umrisse der beiden hoch aufragenden Zweibeiner. Sie standen einander zugewandt vor dem Weißwald. Die Stimme von Lehamu Sarendise war eindringlich. Er hatte die Innenhände gehoben, als müsste er ein Kind beschwichtigen.

»Du bist dir deiner Verantwortung bewusst?«, sagte er.

»Natürlich.« Goldomir Direi klang brüsk. »Ich werde Quari sein, die Stimme. Und du Tavali. Das Ohr.«

Zu seinem Schrecken erkannte Shanjar eine kleine weiße Feder, die am Beckenrand auf dem Wasser trieb und träge gegen die schwarze Einfassung stieß. Sie war nahe genug, dass Goldomir Direi sie berühren könnte. Wenn die beiden Großen sie bemerkten, würde es Ärger geben. Viel Ärger. Vielleicht musste Shanjar dann fort. Zurück zu Nono. Für immer. Es wäre nicht das erste Mal, dass man ihn erwischte.

Lehamu Sarendise konzentrierte sich ganz auf seine Gesprächspartnerin. »Was sagst du als Quari zu dem, was der Konsul plant?«

»Er ist Ataidse Sturu. Die Fünfte Hand wird es richten. Das muss sie. Ich will nicht über ihn urteilen.«

»Ich frage als Tavali.«

Goldomir Direi schwieg einen Moment, ehe sie antwortete. »Ich denke, es ist der richtige Weg. Wir müssen verhandeln, nun, nachdem das Supramentum zu entgleiten droht. Das Schlimmste muss aufgehalten werden.«

»Konsulin Satim Tainatin wartet nur darauf, dass die Verhandlungen enden. Sie würde am liebsten für jedes eingeflogene Fremdschiff der Galaktiker einen Planeten in den Leerraum schleppen.«

»Sie ist informiert, dass wir das derzeit nicht tun.«

»Ja. Deswegen hält sie die Flotte zurück. Noch.«

»Der Konsul wird Perry Rhodan in Empfang nehmen. Hier. Das ist sein Plan. Er wird Mero Kezaz sein und eine Entscheidung treffen. Ist diese Entscheidung erst gefällt, gibt es kein Zurück. Du weißt, wie er ist.«

Ja, ja, ja. Das wusste Shanjar. Hatte Ataidse Sturu eine Entscheidung gefällt, gab es keine Umkehr.

Lehamu Sarendise bückte sich und streckte eine der vier Hände ins Wasser. Er schöpfte ein wenig davon, ließ es durch die Finger rinnen. Die Feder trieb träge von ihm fort, ohne dass er ihr Beachtung schenkte.

»Wir können das Wasser nicht festhalten, wohl aber seinen Aggregatzustand ändern, indem wir sein Umfeld kontrollieren«, sagte er. »In diesem Garten werden sie zusammenkommen. Rhodan und der Konsul. Zwei Unsterbliche.

Wir wissen das, was viele nicht wissen oder noch nicht glauben. Dass Perry Rhodan ein Terraner ist, der seine Welt wiedergefunden hat. Eine Welt, die wir auf die andere Seite des Dyoversums geschafft haben. Vielleicht ist sein primäres Ziel Vergeltung. Ich traue ihm einen Anschlag auf das Leben des Konsuls zu. Sicher wird er versuchen, sich mit Parabegabten zu umgeben. Mutanten, die dafür gesorgt haben, dass zwei Lichtschleusen offen stehen. Das müssen wir verhindern. Bist du bereit, dich der Aufgabe zu stellen, die auf dich wartet? Gleich, was es kostet?«

»Ich bin bereit. Und ich werde tun, was ich tun muss. Für das Trajekt. Selbst wenn ich den Befehl erhalten sollte, Perry Rhodan oder einen seiner Begleiter zu töten.«

»Gelobst du es vor dem Flüsterwasser, das jedes Geheimnis kennt?«

Die verschwommene Gestalt der Cairanerin schien ein Stück zu wachsen. Sie trat näher heran, streckte sich. Ihr Blick durchbohrte das Wasser. Hatte sie die Feder bemerkt? Shanjar hielt ganz still, atmete nicht.

Goldomir Direi hob den Kopf. Sie blickte auf die schwebende Spiegelkugel. »Ich gelobe es. Im Namen der VECU.«

»Dann lass uns gehen. Genug der alten Traditionen. Ancaisin ist weit fort, und wir haben viel zu tun.«

Gehen? Schon? Nein! Shanjar tauchte ein Stück auf – und glitt wieder nach unten. Beinahe hätte er sein Versteck in der Beckenmitte verlassen. Er unterdrückte einen Aufschrei. Warum gingen sie? Das durften sie ihm nicht antun! Er musste mehr wissen. Weshalb sprach nie jemand über sein Wissensartefakt? Es hieß, dieses ehrwürdige schwarze Becken wüsste jedes Geheimnis. Wieso nicht das, das er lüften wollte?

Ein Gedanke kam ihm. Offensichtlich hatte der Konsul vor, sich mit Perry Rhodan zu treffen. Auf Aithuriad. Von Rhodan wusste Shanjar, dass er wissbegierig war und alles herausfand. Er galt als unsterblicher Unruhestifter und war ein echtes interkosmisches Übel, aber er war zugleich neugierig.

Es hieß, er sei sogar in Ancaisin gewesen und hätte Terra von der anderen Seite zurückgeholt. Dafür musste man schon sehr neugierig und abenteuerlustig sein. Viel neugieriger und abenteuerlustiger, als Shanjar es in seinem Leben je sein könnte: ein echter Held. Einer, der nie aufgab, und der so viel besser darin sein musste, das Wissensartefakt zu erringen und damit Shanjars Danima zu erreichen: sein Lebensziel.

Ein Plan reifte in Shanjar. Vielleicht würde er doch noch bekommen, wonach er sich seit über 20 Umläufen sehnte. Er brauchte Perry Rhodan.

2.

Lauernde Geschütze

RAS TSCHUBAI

 

Die Lichtschleusen standen offen, doch es flog weder ein Schiff aus noch ein Schiff ein. Die Invasion der Galaktiker war zum Erliegen gekommen. Jedes weitere Vorstoßen wäre eine unnötige Provokation gewesen. Der Verband um Markul agh Fermi hatte seine Endposition erreicht. Die Schiffe standen in Reichweite des Hyperschub-Doms und der Enzephalotronik auf Ghibona. Beide Einrichtungen waren elementar für das Sternenrad.

Die Bedrohung lag wie giftiges Gas in der Luft. Die Cairaner konnten jederzeit die Nerven verlieren und die Schiffe der Galaktiker angreifen – Schiffe, die im Vergleich zur Größe der cairanischen Flotte hoffnungslos unterlegen waren. Die Cairaner hatten an die 250.000 Augenraumer vor Ort – gute Argumente, sich jede einzelne Fingerbewegung genauestens zu überlegen.

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Illustration: Dirk Schulz

Perry Rhodan fühlte die Anspannung körperlich. Es fiel ihm schwer, tief und ruhig zu atmen. Zu viel hing davon ab, was in den nächsten Minuten und Stunden geschah. Galaktiker und Cairaner standen an einem Scheideweg, umgeben von Abgründen und Schwarzen Löchern. Eine falsche Entscheidung, und die Lage würde eskalieren, was Krieg bedeutete: Krieg der Milchstraße gegen die Cairaner und womöglich ein Bürgerkrieg unter den 76 Milliarden Einwohnern des Sternenrads, zu denen auch Galaktiker zählten. Wie viele Leben dabei auf dem Spiel standen, mochte Rhodan sich nicht ausmalen. In dem Fall wäre Tschirmayn nur ein Anfang gewesen. Eine Welt von Hunderttausenden, die in Chaos und Tod stürzen würden.

»Wird schon schiefgehen, Großer«, sagte Gucky neben ihm.

Eigentlich hätte man annehmen sollen, dass sich ein knapp einen Meter großes Wesen in dem breiten Kontursessel verlor, in dem der Ilt in der Zentrale der RAS TSCHUBAI lungerte. Das Gegenteil war der Fall. Gucky wirkte präsenter denn je. Über dem seidigen Pelz in seinem Gesicht lag ein rötlicher Schimmer. Er blickte auf das Holo, als könnte er seine telekinetische Gabe nutzen, um mit den Planeten und den beiden rot-orangefarbenen Sonnen innerhalb des Sternenradsystems wie mit Bällen zu jonglieren.

Es war gut, Gucky an seiner Seite zu wissen. Ebenso Sichu Dorksteiger, die ihm jederzeit Halt gab und ihn nie vergessen ließ, warum er das alles auf sich nahm. Und Zemina Paath, die einerseits eine große Unbekannte geblieben war, sich aber mehrmals bewährt hatte und der Rhodan vertraute. Er dachte daran zurück, wie er die Thesan das erste Mal getroffen hatte, damals auf der RAS. Er war auf den Paau gestoßen, der Koffer und Raumschiff in einem war, und hatte laut gefragt, wessen Koffer das sei.

»Er gehört mir«, war die Antwort gewesen. »Es ist mein Paau.«

Mit diesen Worten war Zemina Paath in sein Leben getreten. Sie sah genauso aus wie damals: groß, grazil, feminin proportioniert. Die helle Haut kontrastierte zu den blauschwarzen Haaren. Damals waren ihre schräg stehenden, fast blendend blauen Augen auf ihn gerichtet gewesen – nun schauten sie auf das Holo, das ihnen das Innere des Sternenrads samt dem Weißen Loch im Zentrum zeigte. Die Iriden der Thesan wirkten wie Schneeflocken, die von innen heraus leuchteten. Die schmalen Brauen, die an dunkle Mondsicheln erinnerten, hatte Paath leicht zusammengezogen.

Nach wie vor trug sie die einteilige Kombination aus rötlich glänzendem Stoff, auf dem sich blaue Bahnen und Linien abzeichneten und der ihre Füße so eng umschloss, dass die Zehen sichtbar waren. Ihre linke Hand, an der zwei Finger fehlten, lag auf der Sessellehne. Außer auf den Daumen saßen Fingerhüte auf allen Fingern, mit denen sie cairanische Geräte bedienen konnte. Um den Hals schlang sich eine handbreite Krause von technischer Beschaffenheit, die zahlreiche Ausbuchtungen und Vertiefungen aufwies.

»Tochter Zem ...«, flüsterte Paath abwesend. »Wenn ich nur wüsste, was genau er damit gemeint hat ...«

Immerhin wussten sie nun, dass Zemina eine Vertex-Schwester von Jasmyne da Ariga war. Ihre fehlenden Hirnfragmente waren Jasmyne da Ariga eingesetzt worden. Zemina Paath hatte eigentlich eine Vertex-Kundschafterin werden sollen. Ein Werkzeug der Cairaner, das sie für ihr Trajekt benutzt hätten, wenn es möglich gewesen wäre. Doch Paath war geflohen und auf die RAS TSCHUBAI geraten. Ebendort hatte Rhodan sie getroffen.

In das Holo vor ihnen kam Bewegung. Ein Kugelraumer, der Markul agh Fermi und seinem Kommando auf der TARTS unterstand, löste sich vom Verband. Er bewegte sich in Richtung Ghibona.

Rhodan reagierte, ehe ein anderer auch nur den Mund aufgemacht hatte. »ANANSI! Verbindung zu agh Fermi! Er soll dieses Schiff zurückrufen! Sofort!«

Auch in die cairanische Flotte kam Bewegung, ja, nahezu Unruhe. 50 Augenschiffe fächerten auf, schossen auf den silbrigen Kugelraumer zu. Die roten Elemente in ihrer Mitte glosten unheilverkündend. Rhodan konnte sich vorstellen, was in Konsulin Tainatin vorging, der Oberbefehlshaberin der Flotte. Sie wartete nur auf einen Vorwand, endlich angreifen zu können. Dieser musste ihr unter allen Umständen versagt bleiben. Offensichtlich hatte agh Fermi reagiert. Das arkonidische Schiff glitt träge zurück, als hätte es sämtliche Zeit des Universums.

Gucky schüttelte den Kopf. »Die Arkoniden können es nicht lassen.«

Rhodan wandte sich an ANANSI. »Wir müssen weiterverhandeln, ehe die Konsulin die Nerven verliert. Funk Ataidse Sturu an und bitte um ein Gespräch.«

»Bitten?«, hakte Sichu Dorksteiger nach.

»Ja, bitten.« Rhodan lächelte. »Wir haben keinen Grund zur Unhöflichkeit.«

Cascard Holonder, der ertrusische, glatzköpfige Kommandant, hob den Kopf und hielt den Folienstift in seiner Hand still, mit dem er gerade eben noch eine Zeichnung gekritzelt hatte. Er schien etwas sagen zu wollen, hielt sich dann jedoch zurück und kritzelte stattdessen weiter.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis Konsul Ataidse Sturu sich meldete. Seine Statur war beeindruckend, er war selbst für einen Cairaner groß. Die Haut war faltig, der Blick wirkte gelassen, die Innenhände regten sich nicht. »Ich habe mit dieser Kontaktaufnahme gerechnet.«

»Dann danke ich, dass du ihr nicht im Weg stehst. Du weißt, was ich dir vorschlagen möchte?«

»Das Einzige, was derzeit angemessen ist: Du möchtest weiterverhandeln.«

»Richtig. Diese Angelegenheit darf man nicht den Arbeitshänden überlassen.«

Der Konsul weitete leicht die Augen, als Rhodan dieses cairanische Sprichwort benutzte.

»Wege entstehen dadurch, dass man sie geht«, zitierte er seinerseits einen Satz, den Rhodan lange Zeit nicht gehört hatte.

»Franz Kafka, wenn ich mich nicht täusche«, sagte Rhodan »Welchen Weg wollen wir gehen?«

»Ich schlage vor, du lässt dich von cairanischen Schiffen nach Aithuriad eskortieren. Die Welt sollte dir bekannt sein.«

Der letzte – sehr freundlich gesprochene – Satz auf Interkosmo enthielt eine deutliche Spitze. Auf Aithuriad lag das Panarchiv, in das Gucky mit einem Einsatzteam eingedrungen war. Ebenda hatten sie die Lichtschleusen manipuliert, dadurch letztlich vorübergehend geöffnet und die Schiffe einfliegen lassen, die nun die beiden Einrichtungen auf Ghibona bedrohten.

Rhodan lehnte sich zurück, gab sich entspannt. »Und dort wirst du mit mir verhandeln? Persönlich? Wer sagt mir, dass das kein Hinterhalt ist?«

Ataidse Sturu blähte die flache Nase. »Wer sagt mir, dass du keinen Anschlag auf mich planst? Ich will offen sein. Zu diesen Verhandlungen werden weder Konsulin Satim Tainatin noch Legat Kaio Shevisbari erscheinen. Aber ich bin dazu bereit. Du solltest es ebenfalls sein.«

»Das bin ich.«

»Gut. Ich erwarte dich auf Aithuriad.« Der Konsul unterbrach die Verbindung.

»Wir fliegen Aithuriad an«, sagte Rhodan.

»Echt jetzt?«, ätzte Gucky. »Du gehst dahin? Einfach so? Dir ist schon klar, dass ich da mitmuss. Einer muss ja auf dich aufpassen.«

»Ich habe nichts anderes erwartet.«

Sichu presste die Lippen zusammen. Als sie sprach, schimmerten ihre goldenen Zähne heller denn je. »Ist es nicht blauäugig, wenn ihr Aithuriad aufsucht? Was sollte Konsul Sturu davon abhalten, euch gefangen zu nehmen und als Trumpf gegen die Galaktiker einzusetzen? Schon auf dem Weg dahin könnte Konsulin Tainatin die Nerven verlieren und uns pulverisieren. Es ist bekannt, wie locker die Finger ihrer Gespürhände an den Geschützkonsolen sind.«

»Sie wird die RAS nicht anrühren«, behauptete Rhodan. »Wir haben Aipu an Bord.« Aipu war wertvoll für die Cairaner. Er stellte eine Art Versicherung dar.

»Oder«, sagte Sichu, »sie wird die RAS gerade deswegen angreifen. Aipu könnte für die Cairaner ein Schatz sein, den zu heben sich lohnt. Soweit wir wissen, gehen ihnen die Lotsen aus.«

»Am Bedrohungsszenario hat sich nichts geändert«, stellte Rhodan fest. Es gefiel ihm nicht, dass er diesen Druck aufbauen und aufrechterhalten musste, aber es war notwendig. »Sie werden nicht riskieren, ihr Trajekt zu gefährden.«

»Ich stimme Rhodan zu«, sagte ANANSI. Der Avatar der Bordsemitronik zeigte sich als junge Frau mit blassblauer, durchscheinender Haut, die vor dem Kommandantensessel auf dem COMMAND-Podest stand. Dabei ging ihr Rücken nahtlos in den Hologlobus über, als wäre sie eine Erweiterung der aktuellen Darstellung.

»Die Cairaner könnten mit dem Sternenrad und dessen Waffen sowie ihrer gigantischen Flotte weite Teile der Milchstraße in Schutt und Asche legen – aber wozu? Es würde ihr Trajekt nicht befördern. Wenn es ihnen darauf ankäme, hätten sie es längst tun können.

Ataidse Sturu hat bereits zuvor Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Wir wissen, dass den Cairanern das Supramentum zu entgleiten droht. Und wir wissen auch, dass sie Rhodan in ihre Hände bekommen wollten, damit er Terra nicht zurückholt und dadurch nach einer Vorhersage der Thesanit ihre Pläne durchkreuzt.

Doch Terra ist heimgekehrt. Die Lage hat sich geändert, was die Cairaner verunsichern muss. Aufgrund ihrer nahezu paranoiden Angst müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei ihnen oder besser ihrer Führung um Wesen handelt, die zutiefst verunsichert sind. Sie müssen neue Pläne machen, und sie haben dafür vermutlich kaum mehr Zeit.

Zudem scheint ihre Suche nach dem nächsten Volk, das ihnen dauerhaft als Lotsen dient, nur mäßig erfolgreich zu verlaufen. Sie sind an Aipu interessiert und an möglichst wenigen weiteren Komplikationen. Vor allem wollen sie das Herz ihres Reiches schützen: das Sternenrad. Ich schätze das Treffen auf Aithuriad von daher als echte Chance ein.«

»Eine Chance, zum Ziel eines Attentats zu werden?«, unkte Gucky.

»Eine Chance auf echten Frieden.«

Rhodan nickte. »Wir schwenken in den Orbit um Aithuriad ein!«

 

*

 

Zemina Paath hörte den Gesprächen in der Zentrale zu. Die angespannte Stimmung hatte sie schon vor Stunden erfasst und ließ sie nicht mehr los. Sie fürchtete sich, traute den Cairanern jedes Übel zu. Dabei hatte sie erfahren, dass die Cairaner ihre Gehirnfragmente gar nicht geraubt hatten.

Zemina starrte auf die cairanischen Augenraumer im Orbit, die der RAS TSCHUBAI und ihren Begleitschiffen einen Korridor zum Planeten öffneten. Die Waffengeschütze könnten jederzeit feuern. Dann wäre es vorbei mit der RAS TSCHUBAI und den vielen Fragen, die Zemina bewegten. Sie wünschte sich, Monkey wäre da. Seine ruhige, unerschütterliche Art wäre der Fels gewesen, nach dem Zemina sich sehnte.

Sie selbst hatte also ihre Gehirnfragmente hergegeben. Freiwillig. Dieses Wissen erschütterte sie, und sie war wütend, weil sie nicht mehr wusste, weshalb sie das getan hatte. Ja, sie verstand zwar mittlerweile, wie sie damals auf die RAS TSCHUBAI gekommen war. Aber sich selbst verstand sie immer weniger. Wie hatte sie das tun können? Warum? Gab es in ihr einen Selbsthass, den sie verdrängt hatte? Verloren, wie so viele Erinnerungen? Hatte sie sich bestrafen wollen? Jemand, der sich selbst liebte, konnte sich das nicht antun. Es musste einen Grund gegeben haben, weshalb sie sich verstümmelt und zum mentalen Krüppel gemacht hatte.

ANANSIS Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Im Grunde ist es eine besondere Ehre, von Ataidse Sturu persönlich eingeladen zu werden. Durch Daten, die wir aus dem Panarchiv und aus dem System haben, kenne ich die Gebräuche der Cairaner inzwischen besser.« Die Semitronik verstummte, und Sichu Dorksteiger übernahm.

»Was wir bisher erlebt haben, war eine Art Vorgeplänkel«, sagte die Ator. »Die Cairaner bewerten persönliche Gespräche anders als Holoverhandlungen. Auf der Konsulatswelt gibt es einen ganz besonderen Ort: den Konsulatsgarten. Dort zu verhandeln bedeutet eine große Ehre, aber auch bestimmte Regeln. Wobei wir berücksichtigen müssen, dass weder die Konsulin noch der Legat teilnehmen werden. Du wirst es neben Ataidse Sturu mit völlig neuen Verhandlungspartnern zu tun bekommen, Perry, auf die du nicht eingestellt bist. Es werden hochrangige Cairaner dieser Welt sein, die bisher im Hintergrund geblieben sind.«

»Das ist korrekt«, bestätigte ANANSI. Sie lächelte so liebenswürdig, dass Zemina beinahe vergessen hätte, dass sie es mit einer Semitronik zu tun hatte und nicht mit einer echten Frau. »Aithuriad ist die