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Die Autorinnen und der Autor

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Kirsten Guthöhrlein ist Projektmitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau und Förderschullehrerin mit langjähriger Unterrichts- und Beratungserfahrung in integrativen und inklusiven Settings.

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Christian Lindmeier ist seit 01. April 2019 Univ.-Professor für Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und Pädagogik im Autismus-Spektrum an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2007 war er Professor für Grundlagen sonderpädagogischer Förderung an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau.

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Désirée Laubenstein ist Professorin für Sonderpädagogische Förderung und Inklusion mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung an der Universität Paderborn.

Kirsten Guthöhrlein, Christian Lindmeier, Désirée Laubenstein

Unterrichtsentwicklung und Unterrichts- gestaltung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036457-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036458-5

epub:    ISBN 978-3-17-036459-2

mobi:    ISBN 978-3-17-036460-8

Vorwort zu diesem Band

 

 

Der gemeinsame Unterricht an Schwerpunktschulen ist geprägt von heterogenen Lerngruppen, die von multiprofessionellen Teams unterrichtet werden. Für die gelingende Praxis spielt die Unterrichtsorganisation eine wesentliche Rolle.

Die Beispiele und Empfehlungen in diesem Praxisbegleiter Inklusion – Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsgestaltung basieren auf den Ergebnissen und Erkenntnissen der langjährigen Forschungen des Projektes Gelingensbedingungen des gemeinsamen Unterrichts an Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz (GeSchwind), des Folgeprojekts Gelingensbedingungen der inklusiven Schulentwicklung an Schwerpunktschulen der Sekundarstufe I in Rheinland-Pfalz (GeSchwind Sek I) und auf dem aktuellen Forschungsstand zur Unterrichtsentwicklung.

Als Forschungsprojekt, das sich der Akteursforschung zuordnet, stellt GeSchwind unter der Leitung von Prof. Dr. Désirée Laubenstein und Prof. Dr. Christian Lindmeier und GeSchwind Sek I unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Lindmeier und Prof. Dr. Désirée Laubenstein seit 2011 die Perspektiven der Beteiligten (insbesondere Lehrkräfte, Pädagogisches Landesinstitut, Beraterinnen und Berater Inklusion, Bildungsadministration) in den Mittelpunkt der Forschungen. Das Forschungsprojekt GeSchwind Sek I fokussiert primär auf gelingende Praxis der Team- und Unterrichtsentwicklung, der Berufsorientierung und des Übergangs Schule-Beruf.

Selbstverständlich gibt es kein Patentrezept dafür, wie guter inklusiver Unterricht, gelingende inklusive Teamarbeit oder inklusive Berufsorientierung funktionieren können. Dennoch zeigt unsere Praxisforschung an Schwerpunktschulen exemplarische und durchaus konkrete Möglichkeiten, wie das Handeln der Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte zur Umsetzung der inklusiven Entwicklungsprozesse beitragen kann.

Durch diesen Praxisbegleiter Inklusion – Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsgestaltung möchten wir uns für Ihre Mithilfe beim Forschungsprozess bedanken, insbesondere bei den Schulleitungen, Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften und Integrationshelferinnen und Integrationshelfern, die uns während unserer Evaluationen in Rheinland-Pfalz für vielfältige Gespräche zur Verfügung standen und uns Einblicke in ihre schulische Praxis ermöglicht haben. Wir möchten Ihnen die Ergebnisse und Erkenntnisse der Schwerpunktschulforschung für Ihre Praxis zurückspiegeln und zugänglich machen.

Gleichzeitig denken wir, auch wenn sich viele Angaben explizit auf das Bundesland Rheinland-Pfalz beziehen, dass diese Informationen auch für weitere Bundesländer eine hohe Relevanz besitzen. So zeigt sich in den letzten Jahren in fast allen Bundesländern eine Novellierung bestehender Schulgesetze mit Aufnahme des ›Bildungsauftrags Inklusion‹, der Auswirkungen auf die zu gestaltenden Unterrichtsorganisationsprozesse hat. Ebenfalls finden sich in den einzelnen Schulverordnungen der Länder spezifische Angaben zum Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf/Behinderung. Schulen aller Bundesländer verfügen über ein spezifisches Fortbildungsbudget, das unserer Meinung nach gut für die Gestaltung inklusiver Schulentwicklungsprozesse genutzt werden kann.

In den einzelnen Bundesländern stehen den Schulen in der einen oder anderen Form Beratungs-, Unterstützungs- und Fortbildungsangebote zur Verfügung, sei es nun das Pädagogische Landesinstitut (PL) in Rheinland-Pfalz, auf das wir uns in diesem Praxisbegleiter Inklusion explizit beziehen, oder die Qualitäts- und Unterstützungs-Agentur (QUA-LiS) in NRW (https://www.qua-lis.nrw.de). In jedem dieser beratenden Institutionen gibt es, wie wir es für Rheinland-Pfalz dargestellt haben, spezielle Ansprechpartner für Ihre Belange. Auch die erwähnten Beraterinnen und Berater Inklusion in Rheinland-Pfalz lassen sich beispielsweise in Nordrhein-Westfalen in Form von Inklusionsfachberaterinnen und Inklusionsfachberatern finden.

Nicht zuletzt verfügen alle Bildungsministerien (wie auch immer sie explizit in den einzelnen Bundesländern bezeichnet werden) über einen Bildungsserver, der wesentliche Informationen für Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte in den einzelnen Bundesländern bereit hält – den Beteiligten mit erweiternden Informationen oft auf einer Intranetplattform der Bildungsserver zugänglich.

So sind wir uns darüber bewusst, dass die Tipps, die wir Ihnen als ›Nicht-Rheinland-Pfälzer‹ in diesem Praxisbegleiter Inklusion geben, Rheinland-Pfalz fokussieren, aber nicht ausschließlich exklusiv für dieses Bundesland gelten.

Aus eigener Erfahrung wissen wird, dass es einige Mühen kostet, an gezielte Informationen zu bestimmten Fragen zu kommen – doch wir wissen auch: Die Suche lohnt sich, denn die Informationen eröffnen Schulen Freiräume in der Gestaltung ihres inklusiven Entwicklungsprozesses, eines Prozesses, bei denen wir Ihnen viel Engagement und Erfolg wünschen!

Landau, Halle-Wittenberg und Paderborn im November 2019

Kirsten Guthöhrlein

Christian Lindmeier

Désirée Laubenstein

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort zu diesem Band
  2. 1   Unterrichtsentwicklung und Inklusion
  3. 1.1   Das Inklusionsverständnis dieses Praxisbegleiters Inklusion
  4. 1.2   Inklusive Schulentwicklung in Rheinland-Pfalz
  5. 2    Mit Heterogenität umgehen – Heterogenität gestalten
  6. 2.1   Inklusiven Unterricht entwickeln
  7. 2.2   Inklusiven Unterricht planen
  8. 2.3   Inklusiven Unterricht durchführen und reflektieren im Rahmen einer kooperativen Berufskultur
  9. 3   Das Lernbüro
  10. 3.1   Ein exemplarisches Beispiel inklusiver Unterrichtsorganisation
  11. 3.2   Die Integrierte Gesamtschule Edigheim
  12. 3.3   Was ist ein Lernbüro?
  13. 3.4   Einführung in die Organisationsform Lernbüro
  14. 3.5   Organisation des Lernbüros
  15. 3.6   Prozessorientiertes und selbstgesteuertes Lernen
  16. 3.7   Die Rolle der Lehrkraft
  17. 3.8   Herausforderungen und Chancen
  18. 4    Vielfalt und Leistung an Schwerpunktschulen
  19. 4.1   Vielfalt in Schwerpunktschulen
  20. 4.2   Lern- und Leistungsverständnis
  21. 4.3   Fördern und Bewerten im Kontext schulgesetzlicher Verordnung am Beispiel der rheinland-pfälzischen Schwerpunktschulen
  22. 4.4   Leistungsanforderung und Leistungsbewertung in der Praxis
  23. 4.5   Lern- und Leistungsdynamik am Beispiel der Lerninsel
  24. 4.6   Abschließende Empfehlung für Schulleitung, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte
  25. 5    Unterstützungsangebote für den inklusiven Unterricht
  26. 5.1   Unterstützung und Fortbildung zum kooperativen Lernen
  27. 5.2   Hospitationsangebote
  28. 5.3   Beraterinnen und Berater Autismus
  29. 5.4   Digitale Medien zur Unterrichtsorganisation am Beispiel des Bildungsservers Rheinland-Pfalz
  30. 6   Literaturverzeichnis

 

 

 

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Unterrichtsentwicklung und Inklusion

1.1       Das Inklusionsverständnis dieses Praxisbegleiters Inklusion

Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 stellt sich nicht mehr die Frage, ob in Deutschland ein inklusives Bildungssystem umgesetzt werden soll, sondern lediglich, wie dies geschehen kann. Die Vielzahl der jüngst veröffentlichten Publikationen mit einer Schwerpunktsetzung auf inklusive Didaktik und inklusiven (Fach-)Unterricht zeigt, dass inzwischen intensiv um die bestmögliche Realisierung schulischer Inklusion gerungen wird (s. auch u. a. Hackbart & Martens 2018; Schultz et al. 2018; Ziemen 2018; Moser Opitz 2018, 2014; Sturm & Wagner-Willi 2016; Musenberg & Riegert 2016; Trumpa et al. 2014; Werning & Arndt, 2015; Riegert & Musenberg 2015; Textor 2015; Amrhein & Dziak-Mahler 2014; Reich 2014; Wocken 2014a, b; Arndt & Werning 2013; Seitz 2009). Allerdings ist der inklusive Unterricht in Deutschland bislang nach wie vor nur wenig erforscht. Dies gilt insbesondere für den inklusiven (Fach-)Unterricht in der Sekundarstufe I.

Inklusive (Schul-)Pädagogik stützt sich auf ein Bildungsverständnis, das die gerechte Bildungsteilhabe aller Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt und »auf strukturelle Veränderungen der regulären Institutionen« abzielt, »um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden« (Biewer 2009, 193). Dies schließt allerdings eine partielle Hervorhebung vulnerabler Gruppen nicht aus, denn nur ein doppelgleisiger Ansatz (twin-track approach) inklusiver Erziehung und Bildung ist mit Blick auf die internationalen Entwicklungen erfolgversprechend (Lindmeier 2018a).

Ein Praxisbegleiter Inklusion, der sich mit der Umsetzung eines gelingenden inklusiven Unterrichts auseinandersetzt, kommt nicht umhin, zumindest kurz den zu Grunde gelegten Inklusionsbegriff zu klären. Ainscow und Miles (2009) benennen vor dem Hintergrund ihrer langjährigen international vergleichenden Forschungen vier Schlüsselelemente inklusiver (Schul-)Pädagogik, die die Entwicklungen eines inklusiven Schulsystems und das Gelingen der inklusiven Schulentwicklung maßgeblich beeinflussen, und die auch in unseren Ergebnissen zur Schwerpunktschule in Ansätzen zu finden sind (Laubenstein et al. 2015):

•  Inklusion ist ein Prozess: Inklusion ist eine nicht endende Suche nach besseren Wegen im Umgang mit Diversität. Es geht darum zu lernen, mit Differenzerfahrungen zu leben und aus Differenzerfahrungen zu lernen. Inklusive Pädagogik geht also davon aus, dass Differenzerfahrungen positiv und als Anreiz zur Stärkung des Lernens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aufzufassen sind.

•  Inklusion beschäftigt sich mit der Identifikation und mit dem Abbau von Barrieren: Inklusion verändert den »diagnostischen Blick«. In den Vordergrund rücken Barrierenanalysen, die das Sammeln, Systematisieren und Auswerten von Information über eine große Bandbreite von Bezugsquellen beinhalten und in der Absicht durchgeführt werden, Verbesserungen von Politik und Praxis initiieren zu können. Dabei geht es darum, unterschiedliche Anhaltspunkte für Barrieren gezielt zu nutzen, um Kreativität und Problemlösungen anzuregen.

•  Bei Inklusion geht es um die Präsenz, die Partizipation und den Erfolg aller Lernenden: »Präsenz« meint zum einen den Ort, an dem Schülerinnen und Schüler gemeinsam erzogen und unterrichtet werden, und zum anderen, wie verlässlich sie an diesem Lernort tatsächlich anwesend sind. »Partizipation« bezieht sich auf die Qualität der Lernerfahrungen, die die Kinder und Jugendlichen an diesem gemeinsamen Lernort machen, wobei die Frage nach der Qualität auch die Sicht der Lernenden enthalten muss. »Erfolg« meint die individuellen Lernergebnisse über den gesamten Lernprozess bzw. das gesamte Curriculum hinweg und nicht lediglich Test- oder Prüfungsergebnisse.

•  Inklusion beinhaltet eine partikuläre Hervorhebung derjenigen Gruppen von Lernenden, für die Exklusion, Marginalisierung und Underachievement ein besonderes Risiko darstellen: Es geht darum, Verantwortung und Aufmerksamkeit für diejenigen Lernenden sicherzustellen, die statistisch gesehen am stärksten gefährdet sind. Dies beinhaltet auch, dass gegebenenfalls Schritte unternommen werden müssen, um deren Präsenz, Partizipation und Erfolg im allgemeinen Erziehungssystem zu gewährleisten. Entscheidend dabei ist, dass dies erfolgt, ohne sie zugleich dauerhaft als grundsätzlich anders zu etikettieren, sie dauerhaft räumlich auszusondern und die Lern- und Verhaltenserwartungen an sie zu senken (s. auch Terzi 2008; Norwich 2013; Lindmeier & Lütje-Klose 2015, 2018).

Das vierte Schlüsselelement gibt auch eine Antwort auf internationale Tendenzen zur sog. »Dekategorisierung« (Musenberg, Riegert & Sansour 2017; Wocken 2012)1, die wir für problematisch halten, weil innerhalb inklusiver Schulen gerade auch dann Ausschlussprozesse entstehen können, wenn die spezifischen Unterstützungsbedarfe derjenigen Gruppen von Lernenden, die »vulnerabel«2 in Bezug auf Barrieren des Lernens und der Partizipation sind, keine besondere pädagogische Berücksichtigung finden.

Inklusion bewegt sich also immer in einem Spannungsfeld von Universalisierung und Partikularisierung bzw. Individualisierung, in dem als dritte »Größe« die Differenz als soziales Zugehörigkeits- und Ordnungsschema Berücksichtigung finden muss (Budde 2018). Bezieht man soziale Differenz als Bezugsgröße inklusionspädagogischen Denkens und Handelns mit ein, dann versteht es sich von selbst, dass mehrere Dimensionen sozialer Differenz und deren Wechselwirkungen (Stichwort: Intersektionalität) in den Blick ge-

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Abb. 1: Schlüsselelemente inklusiver (Schul-)Pädagogik (eigene Grafik)

nommen werden müssen. In der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion werden in diesem Zusammenhang immer wieder die Differenzkategorien »Geschlecht« (gender), »Ethnizität« (race), »sozio-ökonomische Herkunft« (class) und »Behinderung« (disability) genannt. Die Differenzlinie ›Behinderung/Nichtbehinderung‹ ist also nur eine Differenzlinie neben anderen, die es im Inklusionsdiskurs zu berücksichtigen gilt (Tervooren & Pfaff 2018). Das Gleiche gilt für die schulrechtliche »Kategorie« des »sonderpädagogischen Förderbedarfs«, die in der Erziehungswissenschaft umstritten ist, weil sie ebenfalls eine »Zwei-Gruppen-Theorie« provoziert (Lindmeier 2018b).

Der Abbau von Lern- und Partizipationsbarrieren ist möglich, wenn folgende Unterrichts- und Lernstrategien Berücksichtigung finden (Lindmeier 2018a):

•  die differenzsensible und reflektierte Anerkennung von Diversität,

•  die Kind- bzw. Personzentrierung als Ausgangspunkt der Reflexion des professionellen Handelns von Lehrerinnen und Lehrern,

•  die Differenzierung von Methoden und Materialien,

•  das Vorhalten einer stimulierenden und interessanten multisensorischen Lernumgebung,

•  die Flexibilisierung der Curricula und damit einhergehend die flexible Gestaltung der Klassenräume und der Materialien für lernprozessbezogene »Diagnostik«,

•  das kooperative Lernen (»collaborative learning«), bei dem Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte zusammenarbeiten,

•  die wechselseitige Unterstützung (»peer support«) der Schülerinnen und Schüler in akademischer und sozialer Hinsicht und die Zurückweisung von abwertendem Verhalten und negativem Sprachgebrauch,

•  das Vorhalten eines »Anti-Vorurteil-Curriculums«, das traditionelle Perspektiven auf Geschlecht, ethnische und sprachliche Zugehörigkeit, sozio-ökonomische Bedingungen und Behinderung kritisch hinterfragt sowie

•  genügend Zeit für sinnvolles Lernen und die Würdigung für Anstrengungen unter Berücksichtigung der bisherigen Erfolge (individuelle Bezugsnorm).

1.2       Inklusive Schulentwicklung in Rheinland-Pfalz

Die Forschungsprojekte »Gelingensbedingungen des gemeinsamen Unterrichts an Schwerpunktschulen3 in Rheinland-Pfalz« (GeSchwind) und »Gelingensbedingungen der inklusiven Schulentwicklung an Schwerpunktschulen der Sekundarstufe I in Rheinland-Pfalz« (GeSchwind Sek I) haben die schulorganisatorische und didaktische Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf in Schwerpunktschulen des Landes Rheinland-Pfalz untersucht.

Im ersten Forschungsprojekt, »Gelingensbedingungen des gemeinsamen Unterrichts an Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz« (GeSchwind), wurden alle von 2011 bis 2014 benannten Schwerpunktschulen in einer Vollerhebung evaluiert. Die umfangreichen Ergebnisse wurden in einem umfassenden Forschungsbericht veröffentlicht (Laubenstein et al. 2015). Das Folgeprojekt »Gelingensbedingungen der inklusiven Schulentwicklung an Schwerpunktschulen der Sekundarstufe I in Rheinland-Pfalz« (GeSchwind Sek I) fokussierte insbesondere auf Beispiele gelingender Unterrichtspraxis an ausgewählten Schwerpunktschulen des Landes. Durch Videographie, Gruppeninterviews und Dokumentenanalyse wurden Strukturen analysiert, die allen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich ihres individuellen Unterstützungsbedarfs gerecht werden.

Im Zuge der inklusiven Weiterentwicklung des rheinland-pfälzischen Bildungssystems seit den 1980er Jahren haben die Aufgabenbereiche aller Lehrkräfte und die unterrichtlichen Praktiken erhebliche Veränderungen erfahren. Damit schulische Inklusion gelingen kann, muss das Kollegium von der Schulleitung im gesamten Prozess mitgenommen, aber auch begeistert werden (Scheer & Laubenstein 2018; Laubenstein et al. 2015, 108f.). Die Ergebnisse der GeSchwind-Projekte zeigen, dass die Umsetzung inklusiver Praxen einerseits von der Rolle der Schulleitung (s. auch Scheer & Laubenstein 2018; Scheer 2016; Scheer, Laubenstein & Lindmeier 2014), der Haltung der Lehrkräfte, der begleitenden Unterstützung der externen Beraterinnen und Berater Inklusion und der Etablierung von Teamstrukturen abhängt (s. dazu Guthöhrlein, Laubenstein & Lindmeier 2019, Praxisbegleiter Inklusion I: Teamentwicklung und Teamkooperation), aber ebenso von Unterrichtspraxen, die in der Lage sind, auf die besonderen Bedürfnisse aller Lernenden zu reagieren (s. auch Laubenstein et al. 2015).

Die Ergebnisse des ersten GeSchwind-Projekts (2011–2015) zeigen, dass die Sorge, besondere Lernunterstützungserfordernisse könnten nicht ausreichend berücksichtigt werden, meist von Schulen und Lehrkräften formuliert wurde, die wenig Erfahrungen im Umgang mit einer stark heterogenen Schülerschaft hatten. Lehrkräfte hingegen, die bereits über umfangreiche Erfahrungen hinsichtlich der Präsenz von Vielfalt verfügen, konnten angemessene inklusive Kulturen, Strukturen und Praktiken (s. auch Booth & Ainscow 2017) entwickeln und Lernunterstützungserfordernisse auf Basis einer ausgeprägten Zusammenarbeit aller an Schule Beteiligten (insb. Schulleitung, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte) ausreichend berücksichtigen.

Die Forschungsergebnisse von GeSchwind Sek I zeigen, dass Kooperation, nach Einschätzung der Lehrkräfte selbst, eine zentrale Bedingung für das Gelingen inklusiver Prozesse darstellt und als Bereicherung, aber auch als erhebliche Schwierigkeit wahrgenommen wird (s. auch dazu auch Lütje-Klose & Miller 2017; Serke et al. 2014; Lütje-Klose & Willenbring 1999). Die Untersuchungen machen ebenso deutlich, dass die Potentiale der Schwerpunktschule ohne gelingende Kooperation aller Beteiligten ungenutzt bleiben. Die sich ergänzenden Kompetenzen von Regelschul- und Förderschullehrkräften liegen ohne Lehrerkooperation, Austausch, Kompetenztransfer und Coteaching brach. Deshalb muss der Teamarbeit an Schwerpunktschulen hohe Bedeutung zugemessen werden.

Der Praxisbegleiter I: Teamentwicklung und Teamkooperation (Guthöhrlein, Laubenstein & Lindmeier 2019) beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Teamentwicklung und der professionellen Zusammenarbeit der Teams als zentraler Gelingensbedingung inklusiver Schulen und liefert Empfehlungen und Impulse für die Umsetzung der Aufgabenstellungen und Herausforderungen der Teamarbeit an inklusiven Schulen.

Die Entwicklung eines »effektiven, gemeinsamen Unterrichts für alle Lernenden« gehört zu den Kernaufgaben der inklusiven schulischen Praxis (s. dazu auch Wember 2013, 380).

»Im Mittelpunkt schulischer Bemühungen um Inklusion steht die Frage, wie konzeptionelle Ansätze sowie Erziehungs- und Unterrichtspraktiken verbessert werden können, um Barrieren für das Lernen und die Teilhabe an Schule abzubauen« (Scheer et al. 2016, 246).

Inklusiver Unterricht berücksichtigt ganzheitliches Lernen, die Entwicklung der Persönlichkeit, lässt individuelle Ziele zu (Aspekte künftiger Lebensführung und Lebensbedeutsamkeit) und versucht individuelle Stärken weiterzuentwickeln. In besonderem Maße legt inklusiver Unterricht Wert auf die Aspekte Anerkennung, Wertschätzung, Solidarität und Partizipation und hat das Ziel niemanden auszuschließen.

Bei der Frage der Umsetzung des inklusiven Unterrichts beschäftigen sich die Schwerpunktschulen stark mit möglichen Organisationsformen, die geeignete Antworten auf die Bedarfe ihrer Schülerinnen und Schüler liefern. Die Gestaltung des inklusiven Unterrichts erfordert somit die ständige Weiterentwicklung und Evaluation des gemeinsamen Unterrichts, um der Heterogenität und Vielfalt in inklusiven Schulen gerecht zu werden.