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Eser Akbaba, Jürgen Pettinger

Sie şprechen ja
Deutsch!

Traum und Wirklichkeit einer
anatolischen Österreicherin

Mit Illustrationen von Hüseyin Işık

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Ich möchte dieses Buch meiner Mutter, Gülistan Akbaba, widmen. Sie ist der ausschlaggebende Grund dafür, wieso ich es geschrieben habe. Sie wollte gerne lesen und schreiben lernen und vielleicht einmal studieren. Aber das blieb ihr leider verwehrt. Sie ist Analphabetin und dadurch immer von anderen Menschen abhängig, vor allem von ihren Kindern. „Du sollst es einmal viel besser haben als ich. Du sollst studieren und von niemandem abhängig sein“, waren ihre Worte an mich.

Eser Akbaba

Inhalt

Özet

Unvorhergesehene Wolken

Beklenilmeyen bulutlar

Hinter dem Spiegel

Aynanın arkasında

Im heißen Land

Sıcak ülkede

Die Herrin des Ringes

Yüzüğün hanımefendisi

Auf Reisen

Seyahatlerde

Verschiedene Welten

Farklı dünyalar

Das Mädchen mit dem Feuerzeug

Çakmaklı kız

Mamas Prinzessin

Annesinin prensesi

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Unvorhergesehene Wolken

Beklenilmeyen bulutlar

Eser war wieder einmal allein zu Hause. Anne und Baba (Mama und Papa auf Türkisch) waren in der Arbeit, die Geschwister entweder noch in der Schule oder sonst irgendwo unterwegs. Es war ganz still. Nur gedämpft waren Geräusche von der Straße zu hören. Die Luft draußen war heiß und trocken. Es war Hochsommer, seit einigen Tagen war im Wetterbericht von einem Sahara-Hoch die Rede.

In der Küche, wo es wenigstens halbwegs kühl war, war Eser gerade mit einem Problem beschäftigt, das ihr seit einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: Wie konnte es sein, dass Alice im Wunderland nicht in ihren eigenen Tränen ertrunken war? Eser hatte sich das Buch bei ihrer älteren Schwester ausgeborgt. Schon der Beginn der Geschichte mochte ihr aber nicht einleuchten: Nach dem Sturz in das Kaninchenloch war Alice mehrfach geschrumpft und gewachsen. Als Riesin hatte sie derart viel geweint, dass ihre Tränen das Zimmer überfluteten, und dann wäre sie als Zwergin fast darin ertrunken. Wie konnten sich Alice und die Maus an ein Ufer retten? Wie konnte es überhaupt ein Ufer geben? Wenn in einem Zimmer so viel Wasser ist, dass man darin ertrinken kann, dann müsste doch das gesamte Zimmer überschwemmt sein. Ergo, so dachte Eser, konnte es kein Ufer geben. Ergo, keine Rettung. Und wieder ergo, kein Überleben. (Ergo war eines von Esers Lieblingswörtern, es klang für sie viel geistreicher als also.)

Eser überkam eine Gänsehaut. Nicht wegen des gruseligen Gedankens an einen allzu frühen Tod von Alice im Wunderland, sondern weil es sie plötzlich fröstelte. Während sie über Seen aus Tränen in geschlossenen Räumen sinniert hatte, hatte es offensichtlich stark abgekühlt. Daran fand Eser an und für sich nichts Besonderes. Erst gestern hatte Carl M. Belcredi, der berühmteste Wetter-Ansager seiner Zeit und der Mann, den sie so sehr bewunderte, dass sie ihn irgendwann heiraten wollte, im Fernsehen noch davon gesprochen, dass die Natur den Berechnungen manchmal ein Schnippchen schlagen könne. Auch fand es Eser nicht übermäßig seltsam, dass noch immer die Sonne schien. Als es aber zu tröpfeln begann, war sie mit einem Satz auf den Beinen. Denn die Tropfen fielen nicht von draußen auf die Fensterscheibe, sondern mitten im Zimmer auf ihren Kopf, das Buch und den Küchentisch. Es regnete. In der Küche. Das war dann doch recht seltsam. Direkt über Esers Platz war ein runder Fleck an der Decke entstanden. Er sah aus wie eine aufgemalte Regenwolke. Grau und schwer.

„Unvorhergesehen können ein paar Wolken hereinrutschen, Abkühlung bringen und kleinräumig sogar etwas Regen“, hatte Belcredi gesagt. Eser bewunderte ihn, weil er immer alles wusste, auch wenn sich – so wie jetzt – manchmal erst im Nachhinein herausstellte, dass er recht hatte: Die Wolken waren ins Zimmer hereingerutscht und hatten tatsächlich ganz kleinräumig Regen und Abkühlung gebracht. Eser bekam gleich wieder Gänsehaut. Am Küchenboden hatte sich bereits ein kleiner See gebildet – mit einem Ufer, wie Eser feststellte. Allerdings hätte man schon klein wie eine Ameise sein müssen, um in dieser Pfütze in echte Gefahr zu geraten. Für eine Maus (oder einen Menschen so groß wie eine Maus) wäre sie definitiv zu klein gewesen. Sie wurde aber langsam immer größer und könnte tatsächlich, wenn es weiter regnete, bald das gesamte Zimmer ausfüllen. Eser sah sich in der Annahme bestätigt, dass es in überfluteten Räumen kein Ufer im eigentlichen Sinne geben könne und kleine Menschen und Tiere sich im Notfall auf Stühle, Tische oder andere Möbelstücke retten müssten. Aber mit Sicherheit an kein Ufer. – Das war der Beweis dafür, dass die Geschichte von Alice im Wunderland frei erfunden war und nichts mit dem echten Leben gemein hatte.

Bezüglich der Ursache des unvorhergesehenen Regens in der elterlichen Küche gibt es bis heute zwei Versionen zur Erklärung, die sich aber so stark voneinander unterscheiden, dass schwer zu sagen ist, welche wahr und welche falsch ist.

Version 1: Irgendjemand hatte ein Stockwerk darüber, im Zimmer der Kinder, nicht nur vergessen, das Fenster zu schließen, sondern auch nach einer kühlenden Gesichtswäsche den Wasserhahn im Bad (direkt über der Küche) abzudrehen, was es oben heiß wie in einem Backofen werden und unten regnen ließ.

Version 2: Die Geschehnisse hatten tatsächlich, wie von C. M. Belcredi am Vortag im Fernsehen vorhergesagt, mit einer schwachen Druckverteilung zu tun. Sollte das zutreffen, wäre es eine wissenschaftlich nicht erklärbare Sensation. Aber wo wäre die Welt heute, gäbe es keine Sensationen.

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„Guten Abend beim Wetter!“ Das ist nicht die kreativste Begrüßung, die man sich als Wettermoderatorin einfallen lassen kann, aber mit Sicherheit die präziseste; auf den Punkt gebracht, wie ich finde. So hat Carl Michael Belcredi seine Zuschauerinnen und Zuschauer auch immer begrüßt. In meiner Kindheit war er praktisch jeden Tag auf dem Fernsehschirm zu sehen und hat den Wetterbericht präsentiert. Der Mann war mein Held damals. Heute ist er mein Vorbild. Warum, kann ich gar nicht so genau sagen. Es gab auch schon in meiner Kindheit Aufsehen erregendere Fernsehstars. Gutaussehende Schauspieler, glamouröse Samstagabend-Showmaster, Sporthelden wie Niki Lauda. – Aber nein: C. M. Belcredi musste es sein. Der Allwissende, der Genaue, der Präzise. Das habe ich geliebt. Und die gemusterten Pullover natürlich, die er im Winter immer getragen hat, anstatt der üblichen und langweiligen Anzüge, die man bis heute bei Männern auf dem TV-Schirm gewohnt ist. So wollte ich auch sein: selbstbewusst, gescheit, echt und außergewöhnlich.

Ich bin Eser Akbaba und ich habe es geschafft! Zumindest stehe ich heute genau da, wo damals auch Carl M. Belcredi stand: im Wetterstudio. Naja, im selben Gebäude wenigstens und in der Redaktion, die er gegründet hat. Belcredi hat die täglichen Wetterberichte im österreichischen Fernsehen mehr oder weniger erfunden. Jene Sendungen, die bis heute zu denen mit den höchsten Einschaltquoten überhaupt zählen. Daran hat sich auch trotz Internet und Social Media kaum etwas geändert. Gerade in Zeiten des Klimawandels (oder lassen Sie mich besser weniger beschönigend Klimaerwärmung sagen) habe ich oft das Gefühl, dass vertrauenswürdige und seriöse Informationen über das Wettergeschehen und Prognosen sogar wichtiger sind als je zuvor.

Dabei habe ich gar nicht Meteorologie studiert, sondern Publizistik. Den Umgang mit Wetterdaten und -karten, wie sie ausgewertet und analysiert werden, habe ich erst später im Job gelernt. Learning by doing, genau wie Carl Michael Belcredi. Er hatte Zeitungswissenschaft studiert und wollte eigentlich Berufspilot werden. Wir haben also einiges gemeinsam, er und ich. Wir hatten beide etwas ganz anderes mit unseren Leben vor, sind mehr oder weniger zufällig zur Meteorologie gekommen und sind beide keine echten Österreicher, wie man so schön sagt. Belcredi war ein Flüchtlingskind aus Tschechien, ich bin ein Gastarbeiterkind aus der Türkei.

Meine Eltern sind sechs Jahre vor meiner Geburt von Ostanatolien in der Türkei, oder wie wir sagen, Doğu Anadolu, nach Österreich ausgewandert. Ich habe fünf Geschwister: Özaydın, Kemal, Serdar, Pınar und Ismail. Ich bin die Jüngste, mit Abstand. Zwischen allen liegen genau zwei Jahre Altersunterschied, nur zwischen Ismail (dem Zweitjüngsten) und mir sind es vier Jahre. Ich bin also die sprichwörtliche Nachzüglerin, das Nesthäkchen, oder wie wir auf Türkisch sagen: Anasının kuzusu. Das heißt übersetzt: Mutters Lamm. Wir sind eine echte Gastarbeiter-Bilderbuchfamilie, „mit alles“ sozusagen.

Da meine Eltern Hausbesorger waren, hatten sie eine Dienstwohnung in dem Haus, in dem sie arbeiteten. Es war immer viel los bei uns. Sechs Kinder plus die Eltern und zeitweise auch noch die Großeltern väterlicherseits. Irgendjemand musste ja die Horde Kinder hüten, wenn meine Eltern arbeiteten. Und so haben Oma und Opa, Nine und Dede auf Türkisch, in der Anfangszeit eben auch bei uns gewohnt. Insgesamt waren wir damit zu zehnt. Weil die 30-Quadratmeter-Dienstwohnung dafür dann doch zu klein war, haben meine Eltern eine zweite kleine Wohnung direkt darüber dazu gemietet. Das hat sich damals zufällig so ergeben. Am Ende war die ganze Familie auf zwei kleine Wohnungen aufgeteilt. Eine Gastarbeiter-Maisonette, könnte man sagen.

Kleine Mimi

Küçük Mimi

Auch wenn bei uns in der Familie die Männer in der Überzahl waren – Baba (heißt auf Türkisch Papa), Dede (heißt Opa), Ismail (der Zweitjüngste), Serdar (der Drittälteste), Kemal (der Zweitälteste) und Özaydın (der älteste Bruder) – waren doch die Frauen die größte Stütze für mich: Anne (Mama), Nine (Oma) und Pınar (die ältere Schwester). Auch wenn Pınar und mich sechs Jahre trennen, hatte ich zu ihr immer das engste Verhältnis. Sie war und ist wie eine Ersatzmutter für mich. Auch ihre Heirat nach Deutschland vor mittlerweile 23 Jahren hat daran nichts geändert. Für sie war und bin ich die kleine Mimi. Den Namen habe ich von ihr bekommen, als ich zehn war. Damals hatte ich eine Blinddarmoperation. Pınar hat mich im Krankenhaus besucht (natürlich mit der gesamten Familie; ich glaube mich sogar zu erinnern, dass ein paar Nachbarn dabei waren) und mir ein Stofftier geschenkt, das ich Mimi getauft habe. Seither nennt sie mich so. Die ursprüngliche Mimi – also das Stofftier – gibt es heute noch: Ich habe sie an meine Nichte, an Pınars Tochter, weitervererbt. Als Pınar wegzog, war ich 16 Jahre alt. An diese Zeit kann ich mich nur dunkel erinnern. Ich weiß nur, dass ich mich verlassen gefühlt habe. Die Hochzeit meiner Schwester hat nicht nur ihr Leben, sondern auch meines umgekrempelt. Meine „zweite Mutter“ war von einem Tag auf den anderen weg. Das hat damals vieles für mich verändert. So musste ich zum Beispiel plötzlich auch finanziell sehen, wo ich bleibe. Pınar hatte mir bis dahin immer etwas zugesteckt, weil das Taschengeld der Eltern natürlich nie reichte, als Jugendliche natürlich schon gar nicht mehr. Jetzt, wo Pınar weg war, war nicht nur meine seelische Stütze weg, mein Halt, sondern auch meine heimliche Geldgeberin. Also musste ich mein Leben erstmals selbst in die Hand nehmen. Ich begann, neben der Schule in einer Werbeagentur und in den Ferien zusätzlich in einer Pizzeria zu arbeiten. Aus dem Gefühl, verlassen worden zu sein, wurde schnell ein Gefühl der Unabhängigkeit. Nach der Matura begann ich dann, Vollzeit zu arbeiten und nebenbei zu studieren. Eigentlich sollte es umgekehrt sein (Vollzeit-Studium und nebenbei arbeiten), aber das ging sich beim besten Willen finanziell nicht aus. Außerdem war ich die Arbeit, und vor allem die Unabhängigkeit, schon gewohnt und hätte es auch gar nicht mehr anders gewollt.

Dass ich überhaupt studiert habe, ist meiner Mutter zu verdanken. Zumindest ein Kind sollte ein Studium abschließen. Erstens, weil es das Ansehen der Familie steigert und zweitens, weil Anne eben selbst nie in einer Schule war, geschweige denn an einer Uni. Ihr Vater wollte nicht, dass sie schreiben lernt. Sie hätte ja Liebensbriefe verfassen können, und das war für ihn ein absolutes No-Go. Irgendwie denke ich, dass meine Mama all das, was sie immer machen wollte – nämlich in die Schule gehen und anschließend vielleicht auch studieren –, durch mich quasi aufgeholt hat. Eigentlich bin ich mir sicher, denn sie war diejenige, die gesagt hat: „Anoş“, so nennt sie mich bis heute, es bedeutet so viel wie mein Baby, „du heiratest erst dann, wenn du fertig studiert hast.“ – Ihr Wort in Allahs Ohr! Genau so ist es gekommen: Fünf Jahre nachdem ich meinen Abschluss hatte, habe ich geheiratet.

Meine Mama kann bis heute nicht lesen und schreiben, sie ist Analphabetin. Damals im Dorf meiner Eltern in Ostanatolien (Doğu Anadolu) war es ganz normal, dass Mädchen nicht in die Schule gingen und zu Hause blieben, bis sie (früh) heirateten.1 Ihren Alltag kann meine Mutter zwar selbst bewältigen, aber ihren Traum, einmal ein Buch zu lesen, konnte sie sich nie erfüllen. Auch dieses hier werde ich ihr wohl vorlesen müssen.

Neue Welt

Yeni dünya

Aber auch, wenn meine Anne nicht lesen, schreiben und nicht wirklich rechnen kann: Mama ist eine sehr gescheite und starke Frau und könnte für viele andere ein echtes Vorbild sein. Angekommen in der neuen Heimat fing sie sofort an zu arbeiten. Damals gab es Isi (so nennen wir meinen Bruder Ismail) und mich noch nicht – wir sind beide in Österreich geboren. Meine Schwester Pınar war gerade einmal sechs Monate alt. Meine Mutter musste zunächst alle Kinder – auch Baby Pınar – bei den Großeltern in der Türkei zurücklassen. Nicht lange, aber für eine Mutter doch zu lange. In Österreich gab es ja noch nichts: keine Wohnung für die ganze Familie, keine Schule etc. Und meine Eltern wussten nicht wirklich, was da in der Fremde auf sie zukommen würde, wie das mit den Jobs sein würde und ob sie nicht bald wieder zurück in die Türkei müssten. Mein Papa war auch erst kurze Zeit da, er war die Vorhut sozusagen. Er wurde damals vom Staat Österreich eingeladen zu kommen, als Arbeiter, und eigentlich nur für eine bestimmte Zeit, solange man ihn gebrauchen konnte. Für ihn und meine Mama muss es eine Reise ins Ungewisse gewesen sein. Erst nachdem sie sahen, dass alles so funktionieren könnte, wie sie es sich vorgestellt hatten, holten sie die Kinder nach. Nine und Dede brachten meine vier älteren Geschwister nach Österreich und blieben selbst noch ein paar Monate, bis die Familie in halbwegs stabilen Verhältnissen hier leben konnte. St. Pölten war die erste Station. Das war im Jahr 1973. Von einer kleinen Eser war längst noch keine Rede.

Mama und Papa arbeiteten zuerst in einer Textilfabrik in St. Pölten und wohnten auch dort, wie viele andere Gastarbeiter. Geplant war: arbeiten, Geld verdienen und nach ein paar Jahren wieder zurück in die Türkei gehen. Rotationsprinzip hieß das offiziell. Im Grunde war nie geplant, dass sie in Österreich bleiben, aber so ist es gekommen.

Es war geplant, dass die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, die nach Österreich geholt wurden, rotieren sollten. Die Idee war es – so wurde es zumindest der österreichischen Bevölkerung verkauft – dass die Leute kommen, ihre Arbeit machen und dann wieder zurück in ihre Heimat gehen. Dann sollten die nächsten kommen, arbeiten und wieder gehen. Auch war geplant, dass die ins Land geholten Arbeitskräfte im Falle einer schlechteren Wirtschaftslage wieder zurückgeschickt werden können. Am Ende ist dieses Rotationsprinzip aber vor allem an Österreich selbst gescheitert. Die Unternehmen, die die Gastarbeiter einsetzten, wollten nicht ständig Leute anlernen und sie nach kurzer Zeit wieder austauschen. So kam es, dass Menschen wie meine Anne und mein Baba länger hiergeblieben sind als geplant, sie haben Kinder bekommen, eine Existenz aufgebaut und schließlich die Staatsbürgerschaft bekommen.

Als schlussendlich die gesamte Familie Akbaba (noch ohne mich und meinen Bruder) in Österreich war, musste freilich eine größere Wohnung her. Schnell stellte sich heraus, dass es wohl Wien werden würde. In der großen Stadt gab es einfach ein größeres Wohnungsangebot und viel mehr Jobs.

Meine Eltern fanden schließlich eine sogenannte Kategorie D-Wohnung im berühmten Kaisermühlen in Wien. Substandard freilich, mit WC und Wasserhahn auf dem Gang. – Für mich heute unvorstellbar, damals in Wien aber durchaus üblich. Nicht nur unter Ausländern, auch viele „Ur-Wienerinnen und -Wiener“ haben so gewohnt. Gut also, dass ich noch nicht auf der Welt war, obwohl ich das später als Kind schon auch noch selbst miterlebt habe. Aber eben nur als Kind. Als Erwachsene kann ich mir es heute nicht vorstellen, mir ein WC mit mehreren anderen Parteien zu teilen oder das Wasser zum Kochen am Gang holen zu müssen.

Aber damals war vieles noch anders: Das Wort Integration zum Beispiel gab es zwar schon, es war nur noch kein wirkliches Thema in Politik und Gesellschaft. Es wurde erst ein paar Jahre später neu erfunden, nachdem klar war, dass aus der geplanten Rotation nichts werden würde, dass die Leute in Österreich bleiben würden. Deutschkurse gab es praktisch nicht, nur ganz vereinzelt, und dann mehr oder weniger von privater Seite organisiert, im WUK (Werkstätten- und Kulturhaus) in Wien zum Beispiel, das bis heute existiert und eine Art Veranstaltungs- und Kulturzentrum ist. Damals gab es aus Mangel an Alternativen die Idee eines Deutschunterrichts von Türken für Türken, aber auch das hat nicht lange funktioniert, weil alle immer arbeiten mussten, meist im Schichtbetrieb, und es für die Arbeit, die die Gastarbeiter verrichteten, egal war, wie gut oder schlecht sie Deutsch konnten. Deutsch hätten sie ja vor allem im Privatleben gebraucht, beim Einkaufen, im Umgang mit den Nachbarn, bei Behördengängen und solchen Dingen.

Noch dazu hätten Menschen wie meine Mutter zuerst auch noch in der eigenen Muttersprache alphabetisiert werden müssen, bevor überhaupt nur ansatzweise ans Deutschlernen gedacht werden hätte können. Also alles viel zu aufwendig für den Staat, da wurde nicht einmal ein Funke an Energie darauf verschwendet. Hauptsache war, dass die Arbeit verrichtet wurde. Berührungspunkte mit den Gastarbeitern gab es so außerhalb der Fabriken kaum, wie auch, es konnte sich ja niemand verständigen, außer die Gastarbeiter untereinander, und selbst da nur die Türken mit den Türken, die Griechen mit den Griechen und die Jugoslawen mit anderen Jugoslawen. Nach der Arbeit ging jeder nach Hause. Wer wie und wo wohnte, interessierte niemanden. Sie waren alle nur da, um zu arbeiten.

Meine Eltern kommen aus Dersim, dem heutigen Tunceli, aus dem Osten der Türkei. Viele Dersimer verstehen sich zwar mehrheitlich als Kurden und werden auch als solche angesehen, sie haben aber eine eigene Sprache, die mit Kurdisch gar nichts zu tun hat: Zazaisch. Meine Mutter hätte also zuerst wie ein Volksschulkind Zazaisch richtig lernen müssen (Lesen, Schreiben, Grammatik), dann dasselbe auf Türkisch und dann auf Deutsch. Mein Vater hat ihr nach der Hochzeit zwar Türkisch beigebracht, richtig alphabetisiert wurde sie aber in keiner Sprache. Versucht hat sie es, das weiß ich.

Kaum Probleme mit den verschiedenen Sprachen hatten die Kinder, meine älteren Geschwister: Sie sind in Anatolien mit Türkisch aufgewachsen. Das Deutschlernen passierte bei ihnen nebenbei in der Schule, wenn auch zu Beginn mit einigen Hürden. Learning by Doing, Kinder lernen schnell. Mein Bruder Isi und ich sind später sowieso gleich zweisprachig aufgewachsen. Türkisch und Deutsch. Und mit der Zeit haben wir auch ein bisschen Zazaisch gelernt. In der Schule sind dann irgendwann Englisch und Französisch dazugekommen. Fünf Sprachen von klein auf: Nicht schlecht, finde ich!

Volles Haus

Dolu ev

Sobald klar war, dass wir alle fix und für immer in Österreich bleiben würden, dass wir also nicht „rotieren” würden, machten sich meine Eltern wieder auf Wohnungs- und Jobsuche. Und diesmal schlugen sie gleich beide Fliegen mit einer Klappe: Sie fanden einen Job als Hausbesorger mit der dazugehörigen Wohnung im 11. Wiener Gemeindebezirk, in Simmering. Und wie es der Zufall so wollte, war auch die Wohnung darüber noch frei, die sie gleich dazu mieteten. Jetzt hatten wir zwei Wohnungen: unten der Eltern-, Gäste-, Ess- und Spielbereich, oben die Kinderzimmer für alle sechs Kinder. Beides Substandard, eh klar. Nicht einmal in der Küche war fließendes Wasser. Das gab es nur am Gang. Nur oben im Kinderzimmer war ein Wasseranschluss für die Waschmaschine. Obwohl es – im Nachhinein gesehen – auch auf zwei Etagen immer noch recht eng war, hatten wir fast jedes Wochenende Full House. Immer waren Gäste da, Freunde der Eltern, Arbeitskollegen samt Familien, entfernte Verwandte, Bekannte inklusive deren Freunde und und und. Es war laut, eng und vor allem oft ziemlich stickig. Alles spielte sich damals im elterlichen Schlaf-/Wohn-/Esszimmer ab. Von dort stammen auch meine allerfrühesten Erinnerungen. Im Grunde habe ich in diesem Zimmer die ersten drei oder vier Jahre meines Lebens verbracht.

Ich war noch ein Baby, ein paar Monate alt, als meine Eltern wieder einmal Besuch von allen möglichen Leuten hatten, von entfernten Verwandten, die es auch nach Wien verschlagen hatte, Bekannten von entfernten Verwandten, Nachbarn, ehemaligen Arbeitskollegen. – Alle, die meine Eltern auch nur vom Hörensagen kannten, waren unsere Gäste. Für meine Eltern, vor allem für meine Mama, hieß das auch am Wochenende: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit. Sie musste kochen, auftischen, abräumen, abwaschen, Kaffee brühen, Tee machen und all das ohne Wasserhahn in der Küche. Baba war derweil mit den Gästen beschäftigt. Da wurde viel geredet, diskutiert, geschimpft, politisiert, gestritten und vor allen Dingen: geraucht. Meine ersten Erinnerungen an dieses Zimmer sind sehr vernebelt.

Es war oft so viel Rambazamba bei uns, dass den Gästen nicht einmal auffiel, dass ein weiteres Kind da war. Anne hat mir folgende Anekdote erzählt:

Baby Eser lag im Kinderbett, das allerdings etwas versteckt hinter der Türe stand. Es waren wieder Gäste im Haus, die sich stundenlang lautstark unterhielten und natürlich viel rauchten. Damals hat ja jeder geraucht. In unserem Fall nicht nur Zigaretten, sondern auch schweres Zeug: Tabakpfeifen und Zigarren. Niemand hatte mich damals in dem Nebel und Lärm hinter der Türe bemerkt. Erst als Baby Eser anfing zu schreien, verstummten plötzlich alle. Mit einem neuen Baby im Haus, einem Kind Nummer sechs, hatte niemand gerechnet. Auch war offenbar niemandem aufgefallen, dass meine Mama nicht mehr schwanger war, einige haben vielleicht nicht einmal gewusst, dass sie überhaupt ein Kind erwartet hatte. Jedenfalls schien das nicht wichtig gewesen zu sein. Tatsächlich war das Kinderkriegen damals kein großes Thema in unserer Welt. Meine Eltern hatten ja schon vier Söhne und eine Tochter, ein weiteres Kind ging da so nebenbei. Kinder waren erst wichtig, sobald sie auf der Welt waren. Oder, wie in meinem Fall, sobald sie hinter der Türe entdeckt wurden. Ab diesem Zeitpunkt war ich das Gesprächs- und Diskussionsthema Nummer eins an diesem Tag, wurde herumgereicht, geküsst und geknuddelt. Geraucht wurde trotzdem weiter, so wichtig war den Erwachsenen die Gesundheit der Kinder dann doch wieder nicht. Und wie da geraucht wurde. An diese konkrete Situation kann ich mich freilich nicht erinnern, aber auch aus einer späteren Zeit habe ich den unteren Teil unserer Wohnung wirklich nur hinter einer Nebelmauer in Erinnerung. – Ich bin heute übrigens Nichtraucherin.

Tante Helga

Helga Teyze

Mein Paradies als Kind war mein Kindergarten in der Hasenleitengasse in Simmering. Ich bestand sogar an den Wochenenden darauf, dorthin zu gehen. Was natürlich nie funktionierte, wohl weil Tante Helga, die beste Kindergartenpädagogin, die man sich vorstellen kann, auch einmal frei haben wollte. Mir war das damals egal. Ich habe meine Eltern jedes Wochenende regelrecht angefleht, mich in den Kindergarten zu Tante Helga zu bringen. – Sie war eine wichtige Bezugsperson für mich, seit ich ein Jahr alt war, und eine weitere wichtige Frau in meinem Leben. Meine Mama erzählt mir heute – offensichtlich habe ich sie damals mit meiner Kindergarten-Obsession wirklich genervt – dass ich das Wort Nein partout nicht akzeptieren wollte. Mir war es anscheinend völlig egal, ob es Wochenende oder Feiertag war – ich wollte zu Tante Helga!

Weil meine Eltern beide arbeiten mussten, haben sie mich (für türkische Verhältnisse und wohl auch die damalige Zeit) recht früh in den Kindergarten gesteckt und, ohne es zu wissen, damit den Grundstein für meine Zukunft gelegt: Ich bin nämlich so mit Deutsch mehr oder weniger als Muttersprache aufgewachsen. Zu Hause hätte das nie funktioniert: Wie sollen türkische beziehungsweise zazaische Muttersprachler einem Kind Deutsch auf Muttersprachen-Niveau beibringen? Mein Bruder Ismail und ich, die zwei einzigen Akbaba-Kinder, die in Österreich auf die Welt gekommen und gleich in den Kindergarten gesteckt worden sind, sind somit die einzigen Deutsch-Muttersprachler in der Familie. Andererseits sind wir auch die Einzigen, die bis ins Erwachsenenalter nicht wirklich gut Türkisch konnten. Ich habe Türkisch zum Beispiel erst so richtig von meinem späteren Ehemann gelernt. – So wiederholt sich die Geschichte. Erinnern Sie sich: Mein Vater hat meiner Mutter auch Türkisch beigebracht.

Camel