Aus dem Amerikanischen von Robert Schekulin

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Open Carry

erschien 2019 im Verlag Kensington Publishing.

Copyright © 2019 by Marc Cameron

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, Hannover

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-820-9

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Für Annie

Prolog

Prince of Wales Island, Alaska

Ringsum überragte sie Windbruch, kreuz und quer, als hätte Gott hier ein gigantisches Mikado-Spiel einfach liegen gelassen.

Und hinter ihr drangen Raubtiergeräusche aus dem Dunkel.

Ein Scharren von Stiefeln im Staub, das plötzlich abbrach, dann näher kam. Millie stellte sich die Atemwolke um eine Nase vor, die schnuppernd kalte Luft einsog. Mit ihren Gummistiefeln bewegte sie sich nahezu lautlos über den Teppich vermodernder Fichtennadeln. Doch was nützte das? Ihr Angstschweiß verriet sie.

Ein Zweig schnappte irgendwo im Zwielicht. Scheuchte die junge Frau aus ihrem Versteck wie ein verschrecktes Waldhuhn.

Mehr fallend als gehend strampelte sie sich über schleimiges, glitschiges Moos und durch dornigen Igelkraftwurz vorwärts. Kämpfte sich immer weiter voran in einer Mischung aus verzweifeltem Krabbeln und hektischem Kriechen. Blut rann ihr über das zerkratzte Gesicht, aus Wunden wie von Klauen geschlagen, und tropfte vom Kinn auf ihr T-Shirt. Ihre Handflächen und Knie waren zerschrammt und aufgerissen. Einige Baumstämme lagen wie Laufstege über dem Unterholz, ließen sie schnell Boden gewinnen auf dem Rückweg zum Skiff, ihrem kleinen Boot. Doch die meisten zerfielen morsch und schwammig unter ihren Füßen, sodass sie bei jedem Schritt befürchten musste, sich an einem Ast aufzuspießen.

Millie Burkett war eine Tlingit, eine vom Volk der Gezeiten und der Wälder, und diese Baumriesen waren zeit ihres 16 Jahre währenden Lebens ihre Freunde gewesen. Ihr Knarzen und Schrappen hatte immer den Wald erfüllt, ihre gesprenkelten Schatten hatten ihr stets ein perfektes Versteck geboten. In ihren frühesten Erinnerungen spielte sie im Moos zu Füßen der großen Bäume, die wie eine gütige Großmutter über sie wachten. Doch nun ragten die Sitka-Fichten, die Hemlock-Tannen und die gelben Zedern drohend auf, wie aggressive Bösewichte aus einem Kinofilm. Es herrschte eine gespenstische Stille. Regenwolken schoben sich durchs dichte Blätterdach, verscheuchten das Licht und tauchten den Wald in ein unheimliches Zwielicht.

Atemlos, keuchend duckte sich Millie hinter eine riesige Fichte mit gut zwei Metern Durchmesser. Sie wischte sich ein Wirrwarr schwarzer Haare aus dem Gesicht, stemmte sich mit dem Rücken gegen die raue Rinde. Über ihr wild klopfendes Herz hinweg horchte sie angestrengt auf die Geräusche des Waldes, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Still wie in einer Kathedrale. Da knackte ein Zweig.

Mit doppelter Anstrengung wühlte sich Millie durch ein fieses, widerspenstiges Geflecht aus Blättern und gewundenen Zweigen, das sie glatt um ihre eigene Körpergröße überragte und sie wie mit Peitschenhieben traktierte, doch das nahm sie kaum wahr. Die Kamera an ihrem Hals schwang vor und zurück, der Riemen blieb immer wieder im Gestrüpp hängen und drohte sie zu erdrosseln. Zu ihrer Rechten flog plötzlich ein Waldhuhn auf, in einer Explosion wild schlagender Flügel. Abrupt wandte sie sich nach links und rannte direkt in einen armdicken, abgebrochenen Ast hinein, der sie mitten am Bauch erwischte und unsanft stoppte. Verdutzt setzte sie erneut zum Sprung an, aber der knorrige Ast schien mit seinen Zweigen nach ihr zu greifen, sich am losen Saum ihres Wollshirts festzukrallen, riss schließlich einen Streifen davon ab und ließ sie beinahe kopfüber stolpern.

Sie kannte diese Wälder. Ihr Volk betrachtete sie seit Jahrtausenden als Heimat. Das eherne Schweigen von Bär, das Schimpfen von Eichhörnchen, das wuschende Flappen des Flügelschlags von Rabe, all dies war ihr so vertraut wie das Rauschen des Regens oder der Meeresbrandung.

Heute jedoch war alles anders.

Wäre sie doch nicht alleine losgezogen. Tucker hatte sie gewarnt. Er zog zwar dauernd alleine los mit seiner Kamera, aber er war mindestens zehn Jahre älter als sie, eher mehr. Und er kannte die Gefahren genau. Millie unterdrückte ein Schluchzen. Hätte sie doch bloß auf ihn gehört.

Vor Angst und Erschöpfung wurde ihr schwindlig, doch sie hastete weiter durch die liegenden oder hoch aufragenden Bäume, über sie hinweg, unter ihnen hindurch und um sie herum, viele von ihnen zwei oder gar drei Meter dick. Noch herrschte genug Tageslicht, dass sie ihren Weg fand, aber die Düsternis verschluckte allmählich die Schatten.

Als die riesigen Fichten einem dichteren Unterholz wichen, schienen Millies Lungen zu bersten. Immerhin wurde es hier etwas heller; es nieselte leicht. Der Geruch von verrottendem Seetang, von Braunalgen bei Ebbe lag in der Luft und erfüllte sie rasch mit neuer Zuversicht. Im Weiterrennen erspähte sie das kleine Boot, keine 200 Meter weiter, unten am Ufer. Wenn sie jetzt nur noch das Skiff erreichte, könnte sie es schaffen.

Die junge Tlingit-Frau ließ ihren langen Beinen freien Lauf, eine steile Uferböschung hinab, und ihr wurde bewusst, dass sie wahrscheinlich gerade ihren eigenen Geländelaufrekord brach. Als sie sah, wie weit sich das Meer zurückgezogen hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Der Bug ihres Aluminium-Skiffs lag auf dem kiesigen Uferstreifen auf, doch wenigstens dümpelte das Heck noch im seichten Wasser, und dahinter begann gleich das tiefere Wasser des Ozeans. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, ihr kleiner Außenbordmotor möge es schaffen, sie von den Ufersteinen wegzuziehen.

Unter ihren Stiefeln zischten und zerplatzten die kleinen Luftkammern im Tangteppich, als sie an der Brandungslinie entlangstapfte. Zweimal stürzte sie, zwischen dem angeschwemmten Treibgut oben und den auslaufenden Wellen unten. Muschelscherben und Steinbrocken voller Krebse schlitzten ihr Hände und Knie weiter auf, doch sie ließ sich nicht beirren.

Rutschend kam sie auf dem glitschigen Ufergeröll zum Stehen, löste das Ankerseil vom Felsen, um den sie es gewickelt hatte, und kletterte über die Bordwand ihres kleinen Aluminiumbootes. Mit dem Rücken zum Ufer hockte sie sich auf einen umgestülpten 20-Liter-Eimer, der ihr als Sitz diente, und mühte sich ab, den unwilligen Außenborder zum Leben zu erwecken. Sie pumpte Benzin in die Leitung, öffnete den Choke, zog dann mit ihrem ganzen Gewicht an der Anlasserleine. Bei den ersten beiden Versuchen hustete der 30 PS starke Tohatsu-Motor nur, wie immer. Das Knirschen des Kiesstrandes hinter sich hörte sie erst, als es schon zu nahe herangekommen war.

Millie Burkett drehte sich um – und blickte in ein wohlbekanntes, lächelndes Gesicht.

In der Hand immer noch die Anlasserleine, huschte ihr Blick hoch zum dunklen Waldrand. »Was machst du denn hier?« Sie wollte keine Zeit damit verlieren, jetzt den Ernst ihrer Lage zu erklären, und wandte sich wieder der Maschine zu, riss erneut an der Leine. »Egal«, sagte sie. »Steig einfach ein, wir müssen …«

Etwas Schweres traf sie am Hinterkopf, warf sie von ihrem Sitzeimer. Sie taumelte, streckte beide Arme aus, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, griff in die Luft. Ein zweiter, noch kräftigerer Schlag zwang sie in die Knie. Hinter ihren Augen explodierte ein Lichterregen. Glühende Klingen wirbelten in ihrem Kopf umher, unaufhörlich, angetrieben von ihrem Herzschlag.

Sie fiel vornüber auf die kalten Planken, nahm vage das rissige Holz wahr und den Kupfergeschmack von Blut. Das Bild eines Gummistiefels nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase verflüchtigte sich, und ein heftiger Kopfschmerz riss sie ins schwarze Nichts.

Schlagartig erfasste sie mit schrecklicher Gewissheit, dass man sie in irgendeine Art von Sack gestopft hatte. Panisch ruckelte sie hin und her, bis sie merkte, dass sie nur Luft bekam, wenn sie ihr Gesicht ein Stück weit von dem rauen Stoff weghielt. Ihre Hände waren gefesselt, unten vor ihrem Bauch. Auch der Stoff war um ihre Hüfte festgezurrt. Das Schwappen von Wasser gegen einen Aluminiumrumpf verriet ihr, dass sie in einem Boot lag. Von dem Geschaukel wurde ihr übel, also zog sie die Knie hoch an die Brust, um den Bewegungen um sie herum nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Am liebsten hätte sie geschrien, brachte jedoch kaum mehr als ein jämmerliches Wimmern über die Lippen. Selbst das war zu anstrengend und zu schmerzhaft. Ihr Hinterkopf fühlte sich an wie mit der Axt gespalten. Sie erinnerte sich, da war noch jemand bei ihr am Boot gewesen, als sie niedergeschlagen wurde – jemand, den sie kannte –, doch wer, daran erinnerte sie sich nicht.

Plötzlich legte sich das Boot schwer auf eine Seite, jemand griff nach ihren Füßen, hievte sie aufs metallene Dollbord. Gut. Sie würden aussteigen. Eine körperlose Stimme murmelte etwas, das sie nicht verstand. Wieder schaukelte das Boot heftig, als man ihren ganzen Körper unsanft emporhob. Krampfhaft versuchte sie, sich an dieses Gesicht zu erinnern.

»Wo bringen Sie mich hin?« Ihr Vater hatte ihr schlimme Geschichten erzählt, was mit entführten Mädchen passiert. »Bitte …« Schluchzer drangen aus ihrer Brust. »Ich … ich weiß doch nichts. Bitte, lassen Sie mich einfach gehen.«

Mittlerweile auf dem Bootsrand kauernd, hörte Millie hinter sich ein Platschen. Eine Leine zischte über die Aluminiumkante des Dollbords. Todesangst überkam sie.

Ein Anker.

Im nächsten Augenblick straffte sich die Ankerleine, zerrte heftig an ihren Fußgelenken und zog sie mit einem Ruck von der Kante herab. Ein letztes, verzweifeltes Luftholen, bevor sie untertauchte, doch der Schock vom Sturz ins eiskalte Wasser trieb ihr die meiste Luft gleich wieder aus den Lungen. Der Druck auf ihre Ohren nahm unerbittlich zu, als der Anker sie in die Tiefe hinabzog.

Als der Anker im morastigen Meeresboden aufschlug, schrie Millie Burkett ihr letztes bisschen Atemluft hinaus. Nun erinnerte sie sich, und der Name ihres Mörders stieg in einem Schwall silbergrüner Luftbläschen an die Oberfläche empor.

VIAM INVENIAM AUT FACIAM

Ich werde einen Weg finden oder ihn mir selbst bahnen.

1

Supervisory Deputy US Marshal Arliss Cutter konnte lächeln – doch musste er sich meist dazu überwinden, und manchmal rächte es sich auch. Seine Grübchen zu zeigen, hatte ihn schon mehr als einmal kopfüber in eine unratsame und kurzlebige Ehe gestürzt. Die Grübchen hatte er von seiner Mutter geerbt, die restliche »fiese Visage« allerdings von seinem Großvater väterlicherseits, den alle nur »Grumpy« nannten, »Brummbär«. Die fiese Visage passte nun jedoch perfekt zu Cutters Beruf: andere Männer zu jagen.

Er stand gerade neben seinem Behördenwagen, einem Ford Escape, und war sich der Ironie durchaus bewusst, dass er als Menschenjäger ausgerechnet so einen Wagentyp fuhr. Um die Kühlerhaube des kompakten weißen SUV standen noch sieben weitere Kollegen seines zusammengewürfelten Polizeiteams; alle trugen die komplette Kampfausrüstung für einen solchen Verhaftungseinsatz. Die drei Officers der Stadtpolizei von Anchorage wirkten verdreckt, hatten sie doch die letzten sechs Stunden ihrer Zehnstundenschicht mit einem Notrufeinsatz nach dem anderen zugebracht. Bei einem zog sich ein Matschstreifen am Oberschenkel der dunkelblauen Uniformhose entlang, als wäre er damit beim Baseball aufs Schlagmal gerutscht. Nach Mitternacht konnte Anchorage ein raues Pflaster sein. Die beiden DEA-Agenten, ebenso wie die beiden Deputy US Marshals, die zur Alaska Fugitive Task Force abgestellt worden waren, wiesen das feuchte Haar und das frisch geschrubbte Rosa von Leuten auf, die gerade erst geduscht und ihre Wohnung verlassen hatten, um zu diesem Fünf-Uhr-Treffen zu stoßen. Bei einem der DEA-Männer klebte noch ein Papierfitzelchen am Hals, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Beide trugen einen sauber getrimmten Spitzbart, passend zueinander, der eine schon etwas grauer meliert als der andere.

Seine Armeezeit mitgezählt, besaß Cutter fast 20 Jahre Erfahrung im Aufspüren von Bösewichten, doch seine Führungsposition in der Fugitive Task Force war etwas Neues für ihn. Er war ein sehr aktiver Anführer, und so würde er auch seinen ersten Team-Einsatz in Alaska sehr aktiv angehen.

Die kühle Brise zupfte an seinem sandfarbenen Haar und wehte ihm eine Superman-Tolle in die Stirn. Tief sog er die Luft ein und mit ihr die Frühlingsdüfte nach Birkensaft und jungen Fichtentrieben. Seine vertraute Heimat Florida hatte er weit hinter sich gelassen.

Einen Vorteil hatte es, hier oben an der »letzten Grenze« flüchtige Verbrecher aufzuspüren, zumindest im Frühjahr und im Sommer. Die Nächte waren kurz und dazwischen war es viele Stunden lang hell, sodass die Banditen die meiste Zeit damit zubrachten, auf der Suche nach einem Versteck herumzuflitzen wie die Küchenschaben. Nach Cutters Erfahrung erwischte man Küchenschaben ziemlich schnell, wenn sie sich mal ans Licht wagten. In Florida hatte er genügend Schaben zerstampft, und in Alaska schien es auch so einige zu geben, die nur auf einen Stiefelabsatz warteten.

Die Küchenschabe des Tages, Frederick »Donut« Woodfield, hatte laut seiner Akte bei seinen bisherigen 17 Verhaftungen noch nie Widerstand geleistet. Und warum sollte es heute anders sein? Cutter checkte seine BUG, seine back-up gun, eine kleine Reserve-Glock in einem Rückenholster auf Höhe seiner rechten Niere. An der Hüfte hing sein Colt Python mit dem überm Abzug eingravierten Symbol des Florida Department of Law Enforcement.

Als Neuling in der hiesigen Gerichtsbarkeit, dem Judicial District of Alaska, waren Arliss Cutter auch die beiden ihm zugeteilten Deputys neu. Sie befanden sich quasi alle drei noch in der Phase des gegenseitigen Kennenlernens, oder wie Brummbär Cutter es damals zu nennen pflegte, des gegenseitigen Ärsche-Beschnupperns. Sie waren noch kein eingespieltes Team, würden erst allmählich ihre guten, ihre schlechten und diejenigen persönlichen Eigenschaften kennenlernen, die womöglich mal jemanden das Leben kosten könnten. Die Deputys mussten Cutter erst noch als Anführer erleben und er sie in einem Kampfeinsatz. Doch das würde nicht lange auf sich warten lassen. Das Aufspüren flüchtiger Gewaltverbrecher brachte so etwas unweigerlich mit sich.

Direkt rechts neben Cutter stand Deputy US Marshal Sean Blodgett. Ein Bulle von Mann, allerdings mit 30 Pfund zu viel auf den Hüften. Seine dicken Unterarme ruhten wie die Pranken eines Tyrannosaurus Rex auf den Reservemagazintaschen und dem Verbandskästchen, die vorne an seiner grünen metallverstärkten übergroßen Schutzweste angebracht waren, die er über sein enges marineblaues T-Shirt gezogen hatte. Ein dezentes grün-schwarzes Abzeichen mit Stern im Kreis prangte über der linken Brust des Deputys. An einem Nackengurt hing senkrecht eine kurzläufige Karabinerwaffe, ein Colt M4. Auf der Rückseite seiner Weste verkündeten Großbuchstaben: POLICE / US MARSHAL.

Deputy Lola Fontaine, 26 Jahre alt, hätte Cutters Opa wohl »ein properes Mädchen« genannt. Dank ihrer polynesischen Wurzeln gingen ihre Hüften und ihre Schultern etwas in die Breite, und sie trieb es mit ihrer Fitness bis zum Äußersten. So im Licht des frühen Morgens erinnerte sie Cutter an Werbefotos in Katalogen für Schutzausrüstungen. Ihre Weste trug dieselbe Aufschrift wie die von Deputy Blodgett, POLICE / US MARSHAL, doch ihr entschlossener Gesichtsausdruck und ihre wie gemeißelt wirkenden Arme schrien eher: KNALLHART. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem festen Knoten zurückgebunden, der sie mit ihren breiten Wangenknochen älter aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Nussbraune Augen erwiderten jeden längeren Blick mit einem provozierenden Gegenblick. Sie war etwa 1,68 groß, und ihr Gewicht musste Cutter nicht schätzen, denn sie hielt alle darüber auf dem Laufenden, indem sie kleine Zettel an ihren Computer klebte. Auf dem von gestern hatte sie notiert: »67 Kilo extraharter Stahl«. Sie nannte das ihr »Kampfgewicht«, und niemand von ihren Mitarbeitern in der Task Force ließ einen blöden Kommentar dazu ab. Im Besprechungsraum hatte Cutter so einige Kriegsgeschichten von ihr gehört, von Kämpfen, in die sie verwickelt gewesen war, und so wie sie durchs Leben marschierte, nahm er glatt alle für bare Münze.

Im Grunde stellte das Aufspüren von Menschen eine Wissenschaft für sich dar. Die Deputy US Marshals scherten sich wenig um das Was, das Warum oder das Wie eines Verbrechens. Doch mit der Präzision eines Laserstrahls konzentrierten sie sich auf das Wer und das Wo. Theoretisch wäre das nun Folgende, da Donut Woodfield lokalisiert worden war, ganz einfach: umzingeln und einkassieren. Praktisch jedoch überdauerte kaum ein theoretischer Plan den ersten leibhaftigen Kontakt mit dem Flüchtigen.

Cutter warf einen Blick zu den erfahrenen Agenten der United States Drug Enforcement Administration, Simms und Bradley. Beide trugen eine dünne blaue Uniformjacke, darunter eine schlichte olivfarbene Einsatzweste aus Baumwolle und beide außer ihrer Reservemunition und ihren Verbandskästchen noch weitere Außentaschen mit zwei Blendgranaten. Ein bisschen übertrieben für jemanden, der nicht gerade einem SWAT-Team angehört, aber gegen zusätzliches Zeug war schließlich schwer etwas einzuwenden, solange es einen nicht behinderte.

Die DEA-Agenten wirkten kompetent, obwohl Simms, der Jüngere der beiden, einen blöden Witz darüber gerissen hatte, dass Lola Fontaine sich wie der Name einer Stripperin anhörte. Cutter reagierte darauf wie jeder vernünftige Teamleiter. Er nahm den Mann ruhig beiseite und drohte ihm mit einem kräftigen Arschtritt, falls er von ihm noch mal so was über jemanden in seinem Team hören sollte. Das unterbrach die Besprechung zwar für einen Moment, doch das war’s wert. Nachdem sein teamführender Deputy, 1,90 groß und 120 Kilo schwer, ihm klargemacht hatte, dass er Wert auf anständiges Benehmen legte, verwandelte sich Agent Simms in einen Musterknaben. Auch Deputy Blodgett hatte sich über Lola Fontaines flotten Namen lustig gemacht, allerdings nur unter vier Augen und sozusagen im Vertrauen unter Marshal-Kollegen, doch Cutter brauchte ihm gegenüber nur kurz eine Augenbraue zu heben und der Fall war erledigt.

Wie üblich beim Spezialeinsatz, hatten beide DEA-Männer schwarze Sturmmasken auf dem Kopf, die sie sich im Ernstfall über ihre spitzbärtigen Gesichter ziehen würden, bevor sie die Tür eintraten. Die anderen fünf im Team – die drei uniformierten Polizisten des APD und die zwei Deputy Marshals – kamen Cutter dermaßen jung vor, dass er fast Mitleid verspürte, dass ihm andererseits beim Gedanken daran auch schier die 42 Jahre alten Knochen wehtaten. Er war mindestens zehn Jahre älter als alle anderen. Jung bedeutete aber nicht immer unerfahren, besonders bei Streifenpolizisten. Eine Stadtbevölkerung von 300.000 Einwohnern in Anchorage bescherte diesen APD-Beamten jede Nacht genug zwischenmenschliche Auseinandersetzungen und bodenlose Dummheiten, also auch mit Lichtgeschwindigkeit persönliche Reife und Erfahrung.

Aus reiner Gewohnheit berührte Cutter kurz das kleine Lederetui an seinem Gürtel, dann lehnte er sich über den Ford, um einen letzten gründlichen Blick auf den Grundriss zu werfen, der dort mit abwaschbarem Stift aufgezeichnet war – auf seiner automobilen Schautafel. Erst kurz vor halb sechs morgens, doch die anderen warfen schon klare Schatten auf die Motorhaube in ihrer Mitte.

Zufrieden, dass er den Lageplan des Apartmenthauses verinnerlicht hatte, wo ihr Einsatz stattfinden würde, stellte Cutter sich als Teamführer mit dem Gesicht gegen die Sonne, um sicherzugehen, dass alle anderen die Lageskizze problemlos studieren konnten, bevor es losging. Er hatte schon zu viele gute Männer wegen irgendeinem Pipifax-Fehler sterben sehen – so etwas würde unter seinem Kommando nicht passieren.

Der älteste APD-Beamte, Sergeant Evers, war vermutlich Anfang 30. Er blickte kurz zu dem traurigen Haufen Apartments zwischen den weißen Birken hinüber, hier in dieser ruhigen Nachbarschaft, etwas zurückgesetzt von der Spenard Road, und betrachtete dann wieder die Zeichnung auf der Kühlerhaube. »War da irgendjemand schon mal drin?«

»Ich«, sagte einer der APD-Polizisten und hob dabei die Hand in einem schwarzen Handschuh. »Im Wesentlichen vier Stockwerke voller Nutten, Sarge.« Er mochte ein bisschen so aussehen wie ein Schuljunge, sprach jedoch so überzeugend, als hätte er bereits zehn Jahre mehr auf dem Buckel als sein Vorgesetzter, und das beruhigte Cutter etwas.

»Der Vermieter wohnt in Kalifornien«, fügte Deputy Blodgett hinzu. »Der hat ein Vorstrafenregister so lang wie Ihr Arm, wegen Handel mit Heroin. Würde nicht drauf wetten, dass er sich überhaupt erinnert, dass ihm die verdammte Anlage gehört.«

Lola Fontaine schob den APD-Beamten über die Motorhaube einen taubenblauen Ordner mit dem Durchsuchungsbeschluss zu. Er war prall gefüllt mit Hintergrundinfos über Woodfield und Leute, mit denen er irgendwie in Verbindung stand. Sie hatte den Ordner auf der Seite mit dem Vorstrafenregister aufgeschlagen.

»Frederick James Woodfield«, sagte sie und tippte dabei mit dem knallrot lackierten Fingernagel ihres Zeigefingers auf das Foto. »Alias Donut.«

»Für einen Heroindealer sieht er ganz schön fit aus«, sagte Sergeant Evers. »Gar nicht wie jemand mit dem Spitznamen Donut.«

Fontaine hob die Schultern, wobei sie ein winziges bisschen zusammenzuckte. Sogar jetzt in der kühlen Luft schwitzte sie immer noch von ihrem vorherigen Vier-Uhr-morgens-Training, auf ihren Armen glitzerte der Schweiß in der Morgensonne. Die beiden jüngeren APD-Männer konnten ihre Augen nicht von ihr lassen. Das hätte Cutter ein Lächeln entlockt, wenn er denn ein Mann gewesen wäre, der gerne lächelt.

»Hui«, keuchte sie, »heute morgen war Schultertraining dran, und das merk ich jetzt.« Sie sah Blodgett in die Augen. »Im Fitnessraum bin ich fast nicht mehr in mein T-Shirt reingekommen. Verstehst du?«

Cutter räusperte sich, um sie im Zaum zu halten. »Donut?«

»Genau«, sagte sie und rollte die Schultern. »Keine Ahnung, wieso, aber so nennt ihn jeder. Er wird in Kalifornien, im Staat Washington und in Alaska gesucht, wegen Drogenhandel. Er ist schwarz, 1,95 Meter, 130 Kilo. Hat Verbindungen zur TMHG – die Too Many Hoes Gang –, eine der vielen Gangs, die mit den Crips in Los Angeles unter einer Decke stecken. Vielleicht haben die ihm den Spitznamen verpasst.«

Der APD-Beamte direkt neben Cutter löste seinen Blick lange genug von Fontaines Bizeps, um das Foto ihrer Zielperson in Augenschein zu nehmen, und pfiff dann leise. Officer Trent, ein junger Hüpfer, der aussah wie frisch aus der Polizeischule, tippte mit dem Finger auf Woodfields Geburtsdatum und schüttelte den Kopf. »28. Ist das nicht ganz schön alt für einen in einer Drogengang?«

»Stimmt«, sagte Cutter.

»Also, unser Mann ist im vierten Stock?«, wiederholte Sergeant Evers die bekannte Information. Cutter konnte es ihm nicht verdenken. Polizisten fürchteten eine Wohnungsverwechslung mehr als einen Kugelhagel.

Cutter blickte zu Deputy Fontaine, überließ ihr die Antwort. Die DEA-Leute hatten den Durchsuchungsbeschluss besorgt, hatten die Sache aber an den Marshals Service abgegeben. Cutter legte Wert darauf, dass jedem klar war, diese Aktion hier war Fontaines Show.

»Korrekt«, antwortete sie. »Apartment 405. Wenn wir oben am Treppenende angekommen sind, die dritte Tür auf der Südseite des Korridors.«

Sergeant Evers nickte. »Mir wär’s immer noch lieber, wir hätten ein SWAT-Team dabei. Der Typ braucht sich bloß zu verbarrikadieren.«

»Ihre Entscheidung«, erwiderte Cutter, trat einen halben Schritt zurück und legte die Arme über Kreuz. »Wenn es Ihr Gewissen beruhigt. Das hier ist Ihre Stadt.« Wie Cutter wusste, wollten diejenigen, die einen Flüchtigen nach einer langen Menschenjagd schlussendlich zur Strecke brachten, ihm auch selbst die Handschellen anlegen und stolz darauf sein. Dieses Bedürfnis war ihm selbst nicht völlig fremd, doch hätte auch nur das Geringste dafür gesprochen, dass es mit Donut Woodfield vielleicht Probleme geben könnte, dann wäre er als Erster dafür gewesen, die Spezialeinheit hinzuzuziehen.

Die Augen aller Männer richteten sich auf Lola Fontaine. Die beiden DEA-Agenten scharrten ein bisschen mit den Füßen; jeder schien den Atem anzuhalten in diesem entscheidenden Moment. Ihre nächsten Worte konnten den ganzen Einsatzplan über den Haufen werfen.

Fontaine wechselte einen kurzen Blick mit Blodgett, schüttelte dann voller Selbstvertrauen den Kopf und deutete auf das Vorstrafenregister. »Er hat sich noch nie der Verhaftung widersetzt. Ich glaube, wir kommen klar.« Sie grinste die APD-Beamten an. Dabei musste Cutter feststellen, dass selbst ihre Gesichtsmuskulatur deutlich ausgeprägt war. »Auf alle Fälle bin ich dankbar, dass ihr Jungs mit im Team seid. Wenn jemand in Uniform präsent ist, drehen die Nachbarn nicht so leicht durch.«

»Und was soll’s«, legte Deputy Blodgett noch eins drauf, »wir haben heute noch fünf weitere Dumpfnasen von dem Kaliber auf dem Stundenplan, die wir alle hopsnehmen sollen. Dafür haben die SWATler gar keine Zeit.« Blodgett stammte aus Nevada, redete jedoch wie ein eingefleischter New Yorker Straßenbulle.

Evers ließ ein tiefes Brummen vernehmen, als kaute er immer noch darauf herum. »Und er soll alleine sein?«

Fontaine hob unverbindlich die Schulter. »Soweit wir wissen«, sagte sie.

»Also gut.« Der Sergeant trat vom Auto zurück. »Wir sieben Superstars werden das schon hinkriegen. Haben Sie vor anzuklopfen, unser Kommen anzukündigen?« Er warf einen Blick nach unten zu dem Rammbock, der neben Blodgetts Fuß senkrecht auf dem Pflaster stand. 50 Pfund schwarzer Stahl. Das Ding sah aus wie ein Stück Eisenbahnschiene, mit einem flachen, angeschweißten Ende und zwei Greifringen an der Längsseite – und genau das war es auch.

Der ältere DEA-Agent hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Es kann gut sein, dass der Typ auf einem kleinen Haufen Heroin sitzt, sogenanntes Black Tar Heroin«, sagte Special Agent Bradley. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir gerne so schnell da reingehn, dass er nicht alles in den Müllschlucker schmeißen kann.«

»Dafür wird Daisy schon sorgen«, sagte Blodgett mit einem Lächeln und einem zärtlichen Blick zu seiner Ramme hin.

Der Sergeant musterte seine zwei Officers genau, von Kopf bis Fuß, so wie jeder gute Einsatzleiter sich vergewissert, dass seine Leute bereit sind. Zufrieden wandte er sich wieder Cutter zu. »Am andern Ende des Gebäudes gibt’s keine Feuerleiter. Wir können alle die Vordertür nehmen. Ihre Leute sind die mit der Brechstange, ja? Wenn meine Leute das Ding in die Hand nehmen sollen, rufe ich ein SWAT-Team dazu.«

Blodgett hievte die Stahlramme an seine Brust. »Außer mir rührt Daisy niemand an«, sagte er.

Special Agent Simms zog sich einen schwarzen Nylonrucksack über die Weste. Dieser enthielt einen Bolzenschneider und ein Brecheisen mit einem Haken am Ende, das einem Zimmermannshammer ähnelte – ein sogenanntes Halligan-Werkzeug. Das würde unschätzbare Dienste leisten, falls Donuts Tür nach außen aufging oder einfach zu dünn war für den effektiven Einsatz von Daisy.

»Also, los geht’s«, sagte Evers und wedelte mit der Hand in die Richtung von Donut Woodfields vier Stockwerken voller Nutten. »Wir sind direkt hinter Ihnen.«

Lola Fontaine führte die Kolonne aus sechs polizeilichen Dienstwagen von der Spenard Road zu Abstellplätzen im Schutz der Birken nördlich des Gebäudes, außer Sichtweite von Donuts Apartment. Ohne zu trödeln, verschloss das Team die Fahrzeugtüren und machte sich direkt auf den Weg zur Vordertür des Apartmenthauses. Sie versammelten sich davor in derselben Reihenfolge, in der sie die Tür stürmen würden: Fontaine vorneweg, Deputy Blodgett unmittelbar hinter ihr mit seiner Ramme, gefolgt von Cutter, den beiden DEA-Agenten und als Schlusslicht und Rückendeckung den Männern vom Anchorage Police Department.

Der überwältigende Gestank nach Müll und ungewaschenen Socken traf Cutter wie ein Schlag ins Gesicht. Deputy Blodgett sog die Luft tief durch die Nase ein, als würde er an seinem Lieblingsgericht schnuppern.

»Hmmm«, flüsterte er. »Lecker …«

Es gab einen Aufzug im Gebäude, doch das Team nahm die Treppe, bewegte sich zügig aufwärts. Nah genug beieinander, um sich berühren zu können, aber mit genügend gegenseitigem Abstand, um sich nicht anzurempeln.

Die gezogene Glock in den Flur gerichtet, zeigte Fontaine zur Bestätigung mit ihrer freien Hand auf die Nummer 405, als sie am richtigen Apartment angekommen waren. Cutter hatte ihr mal geraten, nicht immer zu direkt aufs Ziel loszuschießen. Nun griff sie, anstatt gleich durch die Tür zu brechen, vorsichtig nach dem Türknopf. Es war zwar kein Weltuntergang, wenn man eine unverschlossene Tür aufbrach, aber doch verdammt peinlich.

Abgeschlossen.

Fontaine seufzte leise. »Rammbock!« Sie trat beiseite, um Blodgett mit der schweren Ramme ausholen zu lassen. Sobald sie durch die Tür wären, würde sie innen wieder die Führung übernehmen, alle anderen im Gänsemarsch hinterdrein. Blodgett würde die Ramme fallen lassen, seine Pistole ziehen und als Letzter folgen.

Es war eine solide Metalltür mit, so wie es aussah, einem einfachen Riegelschloss, aber stabilerem, längerem Riegel. Auf Augenhöhe gab es einen Spion, also gab Cutter das Zeichen, Daumen hoch, zum Rammen. Blodgett holte gerade mit Daisy nach hinten aus, als Cutter eine Kamera weiter hinten in der oberen Ecke des Flurs entdeckte – einen Sekundenbruchteil zu spät.

Die massive Tür schwang auf, kurz bevor die Stahlramme sie berührte, sodass Blodgett das Gleichgewicht verlor und nach vorne stolperte. Ein muskulöser brauner Arm langte nach dem Deputy, riss ihn ins Innere und schlug die Tür wieder zu. Der Riegel schnappte hörbar ein, und Cutter und sein restliches Team standen wie die Ölgötzen im Flur – ohne ihre Ramme.

2

Arliss Cutter trat gegen die Tür und entlockte ihr lediglich ein entmutigend dumpfes Geräusch. Die Ramme und Blodgett waren drin, also waren Cutter und der Rest des Teams definitiv ausgesperrt.

»Scheiße, was war denn das?«, entfuhr es einem der DEA-Agenten. Ungläubig blickten sie in beide Richtungen den Flur entlang, mit gezückten Waffen, einsatzbereit – aber mit einem Mann weniger und keinem Gegner vor sich.

Von der anderen Seite drangen Geräusche heraus, als würden zwei Elefanten sich prügeln. Von der Decke rieselte Staub, als etwas Schweres gegen die Wand knallte.

Cutter sah empor und erkannte, dass die Decke im Korridor abgehängt war; mit einer schnellen Handbewegung winkte er Fontaine zu sich herüber. Den Raum direkt vor der Tür ließen sie frei, für den Fall, dass Donut auf die Idee käme, das Feuer zu eröffnen. Cutter steckte seinen Colt ins Holster und verschränkte die Finger so, dass er Fontaine einen Platz zum Draufstehen bot.

»Ich hebe Sie hoch«, sagte er. »Sie sagen mir, was Sie sehen.«

Unverzüglich packte sie ihn an den Schultern, trat auf seine Hände und schob die Schallschutzplatte beiseite, unter der Cutter sich hoch aufgerichtet hatte.

»Schlecht«, sagte sie, als sie wieder herunterblickte. »Durchgehende Wände bis zum nächsten Stock.«

Gedämpfte Schreie drangen durch die Wand. Dumpfes Poltern. Jemand wurde zu Tode geprügelt.

Sergeant Evers versuchte sich ebenfalls mit Stiefeltritten an der Tür. Kaum ein Kratzer an der Metalloberfläche. Dann traten die beiden APD-Männer gemeinsam dagegen. Jeder probierte es mal, ohne den geringsten Erfolg.

Der Sergeant ging ans Funkgerät und forderte Verstärkung an. Cutter war klar, dass zu wenige kommen würden, und zu spät. Die Sache würde vorüber sein, so oder so, bevor irgendjemand mit einer zweiten Ramme hier auftauchte.

In Woodfields Apartment herrschte offenbar Krieg. Glas zersplitterte, Möbel zerbrachen, während zwei Männer sich gegenseitig gnadenlos an die Gurgel gingen. Donut Woodfield war noch 15 Zentimeter größer und 30 Kilo schwerer als Blodgett. Selbst wenn der Ganove keine Waffe hatte, dachte sich Cutter, gab es mindestens eine Schusswaffe da drin: die von Blodgett. Der Deputy war vorlaut und ungestüm und, Gott sei Dank, gebaut wie ein kleiner Panzer. Cutter konnte nur hoffen, dass er auch ein guter Kämpfer war.

Cutter zog seine Pistole, schnippte mit den Fingern und sagte zu den DEA-Agenten: »Nehmen Sie das Halligan.«

Prompt setzte sich Simms in Bewegung, zog das metallene Brecheisen aus seiner Schultertasche wie ein Schwert. Er setzte es am Türrahmen direkt neben dem Schloss an, doch die Tür hielt stand.

»Verstärkt«, presste der DEA-Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er versuchte an mehreren Stellen entlang des Türrahmens, das Werkzeug dazwischenzurammen, suchte nach einem Schwachpunkt.

Cutters Herz klopfte, während er auf den Lärm auf der anderen Seite lauschte.

»Wir stecken echt in der Klemme«, flüsterte Fontaine, die plötzlich gar nicht mehr so muskulös wirkte. »Der bringt Sean um da drinnen.«

Verzweifelt schaute Cutter in beide Richtungen den Flur entlang, auf der Suche nach einer Feuerwehraxt oder irgendetwas anderem, das ihn durch diese Tür bringen könnte, um seinen Deputy zu retten. Sean Blodgett war nun schon eine ganze Minute lang auf sich allein gestellt – eine Ewigkeit, wenn man um sein Leben kämpfte. Cutter verdrängte die Gedanken daran, wie es da drin aussehen mochte, und konzentrierte sich auf die Suche nach einem Weg hinein.

Die Tür zu 407 öffnete sich einen Spaltbreit, ein dunkles Auge spähte heraus. Bevor die Tür wieder zugezogen wurde, schob Cutter seinen Fuß dazwischen und drückte sie ganz auf. Vor ihm stand eine knochige Brünette mit Einstichnarben an den Armen und einem dünnen T-Shirt und losen Sportshorts auf dem Leib – die leicht an- und auszuziehenden Standardklamotten einer Nutte, die im eigenen Schlafzimmer arbeitete.

»He!«, sagte sie und warf einen Blick hinter sich auf die Marihuana-Pflanzen, die an ihrer Balkontür wuchsen. »Sie können nicht einfach reinkommen ohne Durchsuchungsbeschluss.«

»Ihr Kraut interessiert mich nicht«, sagte Cutter. Er musste seinen Atem unter Kontrolle kriegen. Nachdenken. »Kennen Sie Ihren Nachbarn?«

Hier im Apartment der Nutte waren die Kampfgeräusche von drüben sogar noch lauter.

»Der bleibt für sich«, sagte die Frau. Sie kreuzte ihre Arme und präsentierte ihm kokett eine knochige Hüfte.

Simms streckte den Kopf zur Tür herein, die Kiefermuskeln vor Stress angespannt. »Das Halligan hat null Wirkung«, sagte er. »Damit komm ich nicht durch.«

Mehrmaliges unterdrücktes Ächzen durchdrang die Wand von Donuts Apartment her. Wer die Geräusche abgab, konnte Cutter nicht beurteilen, doch zumindest fielen keine Schüsse und die eindeutigen Rumsgeräusche ließen nicht nach. Bevor der DEA-Mann seinen Kopf wieder zurückzog, fiel Cutters Blick auf die beiden Blendgranaten an der Brust von dessen Weste. Seit sich die Apartmenttür hinter Sean Blodgett geschlossen hatte, lief in Cutters Kopf eine Uhr, und irgendetwas sagte ihm, dass er seinen Deputy noch retten konnte, wenn er innerhalb von drei Minuten durch diese Tür kam.

Er sah auf seine Armbanduhr. Zwei Minuten vergangen.

»Bringt mir das Halligan!«, rief er.

Simms glotzte ihn an. »Sie wollen es hier drin?«

»Bringen Sie’s her«, fuhr Cutter ihn an. »Schnell!«

Deputy Fontaine streckte nach Agent Simms ihren Kopf herein. Schweiß stand ihr auf der Stirn, von fortgesetzten Versuchen, irgendwie die Tür aufzubrechen.

Keuchend sah sie Cutter ins Gesicht, skeptisch. »Haben Sie ’n andern Weg rein gefunden?«

»Vielleicht.« Cutter nahm dem DEA-Agenten das stählerne Brecheisen ab. »Oder auch nicht.«

Mit der Spannbreite seiner Arme maß er einen Abstand von ungefähr 1,50 Meter von der Apartmenttür her ab und versenkte dann das Klauenende der Brechstange in der Rigipswand. Das Gebäude stand schon jahrzehntelang, und wer genau hinschaute, sah die leicht erhobenen Stellen, wo die Gipsplatten an das dahinter liegende Holzgerüst genagelt waren. In der Mitte dazwischen schlug Cutter nun in Brusthöhe zwei Löcher, etwa 15 Zentimeter auseinander.

»He!« Die Prostituierte versuchte einzuschreiten, doch Fontaine stieß sie mit der Hüfte beiseite. »Das ist mein Haus!«

Cutter ignorierte sie. Er riss den Klettverschluss seiner schusssicheren Weste auf, zog sich das ganze Ding über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Drehte sich zu dem DEA-Mann um und hielt ihm die offene Hand hin. »Geben Sie mir eine von den Blendgranaten. Sie nehmen die andere. Ziehen Sie den Stift raus und schmeißen Sie sie in die Wand, gleichzeitig mit mir.«

Simms nickte zum Zeichen, dass er verstand. »Könnte echt klappen«, sagte er und warf dann, gemeinsam mit Cutter, die Granate in den Hohlraum hinter der Rigipsplatte.

Zwei Sekunden später quoll eine Staubwolke mit einem dumpfen Wumpf aus den beiden Löchern.

Die kleinen Detonationen begrenzten sich zwar auf den Bereich am Fußende der hohlen Wand, doch sie besaßen genügend Wucht, die Rigipsplatten vom Holzgerüst zu lösen, sodass Cutter nun sein Brecheisen richtig ansetzen konnte. Hektisch riss er von unten nach oben die Platte auf seiner Seite weg und legte so die Rückseite von Woodfields Wandplatten frei. Die Dachlatten verliefen im Abstand von gut 60 Zentimetern, trotzdem musste sich Cutter seitwärts drehen, um durchzupassen.

Das schwere Eisen in der Hand, schob er sich zwischen die Latten und zog dabei den Bauch ein, um nicht an irgendeinem rostigen Nagel oder irgendwelchen Kabeln hängen zu bleiben. Mit der Schulter voran brach er durch die zweite Rigipsplatte und stolperte fast über die am Boden ineinander verschlungenen Kämpfer, Donut und Deputy Blodgett.

In dem Apartment war kein Stein auf dem anderen geblieben. Der Fußboden war mit Glassplittern und zerbrochenen Bilderrahmen übersät. Mitten im Wohnzimmer lag eine Pfanne mit etwas, das aussah wie eine halb aufgegessene Portion Lasagne, umgedreht auf dem Boden. Sean Blodgett lag auf dem Rücken, die Glock fehlte in seinem Holster, war aber nirgends zu sehen. Über ihm stand Woodfield, einen abgebrochenen Baseballschläger hoch erhoben; er deckte Blodgett mit Schlägen ein und versuchte ihm wohl gerade das Hirn aus dem Schädel zu prügeln. Die Beine angezogen, schützte Blodgett seinen Kopf mit den Unterarmen und rollte vor und zurück, um den Hieben auszuweichen. Woodfield tropfte bei jedem Ausatmen Blut aus der Nase, und sein Unterkiefer hing ihm schräg im Gesicht. Blodgetts linkes Auge war zugeschwollen; seine Ellbogen bluteten.

Cutter ließ einen Schrei los, als er sah, dass sein Deputy derjenige war, der Schläge einsteckte. Er rannte den verdutzten Donut Woodfield kurzerhand über den Haufen und verschaffte Blodgett so eine Verschnaufpause. Angezählt, aber längst nicht ausgezählt, rollte sich Donut ab und stellte sich der neuen Bedrohung entgegen. Cutter griff an, ohne Rücksicht auf den Baseballschläger, und schwang sein Brecheisen wie einen Poloschläger. Er versenkte das Klauenende in Donuts Schulter und schritt an ihm vorbei, Donut riss sich los, schüttelte sich, als wollte er die Wunde abschütteln, und holte wieder mit dem Baseballschläger aus. Mit einer mörderischen Wut ging Cutter ein drittes Mal auf ihn los, das Brecheisen verfehlte jedoch Donuts Kopf knapp und erwischte ihn bloß an der rechten Hand, als er diese zur Abwehr hochhielt. Der Kriminelle schrie vor Schmerz laut auf. Cutter nutzte die Eisenklaue wie einen Enterhaken und zog Donut damit zu sich heran, direkt in einen Kinnhaken seiner Linken hinein, den er Donuts bereits gebrochenem Kiefer verpasste.

Woodfield ließ den Schläger fallen und klappte brüllend auf dem Boden zusammen. Der Schwung seines eigenen Schlages ließ Cutter einen Schritt an ihm vorbeitreten.

Fontaine war unmittelbar nach Cutter durch die Gipswand gekommen und hockte bereits auf dem benommenen Flüchtigen, ehe Cutter sich wieder umgedreht hatte. Blodgett krabbelte auf allen vieren zu ihr, blinzelte mit seinem heilen Auge und half ihr, indem er einen von Woodfields Armen am Boden festhielt, damit sie ihm Handschellen anlegen konnte.

Mit geblähten Nüstern, das Eisen hoch erhoben, ragte Cutter über ihnen auf.

Fontaine hielt abwehrend ihre Hand empor. »Wir haben ihn!«

»Was?«, sagte Cutter, seine Augenlider flatterten, immer noch holte er mit dem schweren Brecheisen zum Schlag aus.

»Arliss!«, fuhr Fontaine ihn an. »Ich bin’s, Lola! Alles okay. Wir haben ihn gefesselt.«

Lola Fontaine starrte zu ihrem neuen Boss empor, der das Halligan-Eisen hoch über seinem Kopf hielt und Donut Woodfield anvisierte wie ein Stück Fleisch. Aus ihrem Haarknoten löste sich eine lange Locke, die sie sich gleich wieder aus dem Gesicht blies, um den Blickkontakt mit Cutter nicht zu verlieren. Irgendwann ließ er das Brecheisen los, es fiel scheppernd zu Boden, und er schüttelte heftig den Kopf, wie um ihn wieder freizubekommen. Dann ging er zur Tür und öffnete den Riegel, um das restliche Team in das verwüstete Apartment einzulassen.

Fontaine rollte den nun wehrlosen Donut auf die Seite und tastete ihn nach Waffen ab. Seine blutige Schulter ließ sie in Ruhe, doch er zuckte bei jeder ihrer Berührungen zusammen. Sean hatte ihm ganz schön zugesetzt, und offenbar hatte ihm Cutter mit dem Eisen einen oder zwei Knochen gebrochen.

»Hast du das gesehn?«, flüsterte sie, damit ihr Häftling es nicht hörte.

Blodgett kicherte, voller Euphorie, überlebt zu haben. »Ich seh ’n Scheiß«, sagte er und kniff die Augen zusammen, weil ihm Blut übers Gesicht lief.

»Ich hab gedacht, unser neuer Teamführer wär die Ruhe in Person«, sagte sie. »Aber wenn ich mich nicht irre, wollte er dem Typen gerade das krumme Ende des Brecheisens in die Fresse rammen.«

»Hab’s dir doch gesagt«, meinte Blodgett und flüsterte ebenfalls. »Unser neuer Mann hat so seine Probleme. Meine Freunde im Hauptquartier erzählen, er habe in Afghanistan ein paar üble Sachen gemacht.«

»Üble Sachen miterlebt oder üble Sachen angestellt?«

Blodgett rappelte sich auf alle viere hoch und kam dann, gestützt auf einen umgeschmissenen Stuhl, wieder auf die Füße.

»Soviel ich weiß, eine ganze Menge von beidem.«

3

Mit 29 war sie noch viel zu jung, um über ihren eigenen Tod nachzugrübeln, aber der Ausblick auf das kalte Meer, im Rücken die frostbedeckten Gräber, ließ sie unweigerlich daran denken.

Es war eine schöne Insel, unberührte Natur, grüne Berge und alte Urwälder und mehr Wasserfälle, als sie jemals irgendwo gesehen hatte. Dennoch konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass dieser Ort sie umbringen würde.

Sie hatte noch nie ein dermaßen filmreifes Panorama erblickt. Nun schipperten sogar noch ein paar Fischerboote vor ihrer Nase dahin, kämpften gegen den Wellengang einer kalten Morgenbrise an, um eine Ladung Seetang für die Heringsrogenverarbeitung an Land zu holen. Was das ungleiche Verhältnis Männer zu Frauen in Alaska betraf, war ihr gelegentlich der alte Spruch ›Die Auswahl ist reichlich, aber auch reichlich beschissen‹ in den Sinn gekommen, hatte ihr aber höchstens ein müdes Schmunzeln entlockt. Falls ein Mädchen auf Waschlappen stand, Hipster mit fein geöltem Bart und Knopf im Ohr, die einem den besten Karamellmacchiato der Welt hinzauberten, dann mochte es zutreffen. Doch Carmens Erfahrung nach waren die Fischer und Holzarbeiter auf dieser Insel mit die härtesten und unverwüstlichsten Männer auf dieser Welt – was ihr allerdings nur umso mehr Bauchschmerzen bereitete im Hinblick darauf, was sie ihnen antat.

Die Knie umschlungen und an die Brust gezogen, versenkte Carmen das Gesicht noch tiefer in ihrer Fleecejacke, knabberte am Kragen, wie so oft, wenn sie nervös oder nachdenklich war. Zu ihrer Linken, hinter der Wellenbrecherbrücke und dem Bootshafen, der geschützt in einer Bucht namens Shelter Cove lag, erstreckte sich am Hang das putzige Örtchen Craig. Sie hätte sich keinen besseren Namen dafür ausdenken können, wenn der Sender eine Namensänderung verlangt hätte.

Auf der Insel gab es Wölfe, sogar Bären, bullige schwarze Ungetüme, dreimal so groß wie sie. Im Supermarkt, einem JT Brown’s General Store, hatte ein Fischer sie damit beruhigen wollen, dass Wölfe ja nur kleine Menschen fraßen – ein schwacher Trost für sie, die kaum größer als 1,50 war. Derselbe wohlmeinende Fischer hatte weiter erklärt, über Grizzlys müsse sie sich hier keine Sorgen machen, es gebe hier nur die viel scheueren Schwarzbären. Dann hatte er jedoch hinzugefügt, dass die Schwarzbären zwar schüchtern seien, aber schon mal auf sie losgehen könnten, wenn sie auf die Idee kämen, sie sei was zum Fressen. Dieses Jahr hätten Schwarzbären schon zwei Menschen getötet. Aber nur keine Sorge, Mädel, dir wird schon nix passieren.

Ein Tlingit-Mädchen in der Warteschlange in dem Horrormarkt hatte dann von Legenden der Ureinwohner angefangen, von fürchterlichen Fröschen und von Gestaltwandlern, die Frauen entführten und sie zur Hochzeit mit langzahnigen Ottermenschen zwangen.

Seit Monaten schon fühlte sich Carmen fehl am Platz, von dem Moment an, als sie die Fähre hier zum ersten Mal verlassen hatte, um die Gegend nach Bildmotiven auszukundschaften. Sie war ein Stadtkind, im Ostteil von Los Angeles geboren und aufgewachsen. Zwei ihrer Cousins waren bei Schießereien mit gegnerischen Gangs ums Leben gekommen, eine Cousine schlug sich als Nutte an der Atlantic Avenue durch. Eigentlich sollte sie nichts mehr erschüttern, weder Wölfe noch Bären noch irgendwelche gruseligen Ottermänner. Und doch ging ihr das alles unter die Haut. Und das Schlimmste: Sie hatte sich das alles selbst zuzuschreiben.

Nach ihrem Abschluss an der Filmakademie der University of California in Los Angeles hatte sie sich sieben Jahre lang mit billigen Jobs in verschiedenen Reality-TV-Produktionen über Wasser gehalten. Währenddessen hatten sich ihre Notizbücher mit eigenen Ideen gefüllt. Nichts davon hatte gezündet. Doch dann hatte sie eine Sendung auf Nat Geo gesehen, über das Leben im hohen Norden. Eine Wahnsinnssendung, prall vollgepackt mit lauter interessanten Leuten, die in dieser gnadenlos harten Umwelt nicht nur überlebten, sondern sich hier ihr Leben aufbauten. Die Grundidee dahinter erschien ihr ebenso unfassbar wie dieses Land hier, und von da an besorgte sie sich jeden Film über Alaska, den sie in die Finger kriegen konnte.

Da Carmens Bruder Polizist im Los Angeles Police Department war, verbrachte sie zahlreiche Abende mit ihrer Schwägerin und sie unterhielten sich oft über die engen Freundschaften zwischen Ehepartnern von Polizeibeamten. Eines Abends, ihr Bruder hatte Dienst, ließen sie sich Pizza kommen und schauten gemeinsam eine jahrzehntealte Doku über die Fischerei im Südosten Alaskas. In Carmens Kopf begann der Keim einer Idee zu sprießen. Sie arbeitete die Nacht durch, schrieb ein ganzes Notizbuch voll mit dem Konzept für eine intelligente neuartige Sendung, die zugleich unterhalten und informieren würde. Und die Produktionsfirma, für die sie arbeitete, finanzierte ihr einen dreiwöchigen Trip nach Craig für Probeaufnahmen.

Voller Vorfreude und Erwartungen kehrte sie nach Los Angeles zurück. In zwei Wochen wollte sie loslegen.

Der Sender nahm den Ball auf, allerdings hatte man dort ganz andere Vorstellungen. Man las ihr Konzept, schaute sich ihren Probedreh an, überschüttete sie mit Komplimenten für ihre frischen Ideen – und änderte im Nachhinein alles. Ja, man ernannte sie zum Executive Producer, und ja, im typischen Network-Speak wurde ihr bestätigt, dass sie absolut das Sagen habe. Aber sie wusste Bescheid. Sie wusste, wie der Hase lief. Solange man nicht der Mann mit der Kohle war, hatte man bei absolut gar nichts das Sagen. Innerhalb eines einzigen dreistündigen Meetings mit verschiedenen Verantwortlichen des Senders schaffte man es, ihr Baby bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln.

Und nun waren sie und ihr Produktionsteam über dieses pittoreske Dörfchen mitten im Nirgendwo hergefallen, um ihre geschmacklose Monstrosität abzudrehen – was, so befürchtete sie, den Ort für immer verändern würde. Ja, wahrscheinlich gab es auf dieser Insel etwas, das sie umbringen würde. Tödlicher als jeder Wolf, Bär oder Ottermensch. Etwas, das nicht von hier stammte. Nein, was es auch war, sie hatte es selbst mit hergebracht.