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Michael E. Vieten

Christine Bernard

Das Mädchen aus einer anderen Welt

Vieten, Michael E.: Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt. Hamburg, acabus Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-741-1

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-740-4

Print: ISBN 978-3-86282-739-8

Lektorat: acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv: © Loneliness von Artem Furman/stock.adobe.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Vielen Dank an die Mitarbeiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums Trier für ihre zahlreichen Auskünfte.

Besonderen Dank an Birgit D. für ihre wertvolle Unterstützung und ihre Zuversicht.

Und über uns die Sterne

Sie kommen in der Nacht. Sie stehlen Menschen.

Wenn man einen von ihnen tötet, werden sie ihn rächen. Dann ist man allein und nirgendwo sicher.

Die Lampen an den Decken hüllten den Raum in ein schwaches grünes Licht und nahmen allem die Farbe. Ihr nackter Körper schimmerte hellgrau, die Liege auf der sie lag, erschien ihr fast schwarz, die Wände waren offenbar mit einer Mischung aus beidem gestrichen. Nur die Farbe an den Wänden im Schlafraum war beinahe weiß.

Motoren summten und dröhnten und rauschten im Hintergrund. Stimmengemurmel. Leise Musik.

Sie starrte in das grüne Licht. Durch den Schleier des Beruhigungsmittels hindurch spürte sie ihren Unterleib. Heute war sie dran. Sie alle wurden untersucht.

Es stand vor ihr, mit riesigen Augen ohne Pupillen. Kein Mund und keine Nase. Keine Haare auf dem Kopf. Die Haut des nackten Körpers schimmerte matt.

Sie blieb tapfer. Diese Untersuchungen mussten sein. Das hatten sie ihr erklärt. Sie durfte gehen, wenn sie alles klaglos ertrug. Das hatte man ihr versprochen. Nur, wann das sein würde, hatte man ihr nicht gesagt.

Die anderen Mädchen waren schon länger da als sie. Nur Miranda nicht. Eine Holländerin. Sie hatte stundenlang geweint, nachdem man sie gebracht hatte. Dann bekam sie das Beruhigungsmittel und wurde das erste Mal untersucht. Seither dämmerte sie zwischen Wachen und Schlafen, ohne Bewusstsein für Zeit und Raum.

Die Untersuchung war zu Ende. Starke Arme halfen ihr beim Aufstehen und beim Duschen. Sie durfte ihre Tunika wieder anziehen und wurde in den Schlafraum zurückgebracht.

Zwei Türen weiter lag der Maschinenraum. Dort war das allgegenwärtige Dröhnen, Summen und Rauschen am lautesten.

Es gab etwas zu essen und zu trinken. Müsli mit Milch, Früchte, Wasser und Saft. Manchmal auch Brot und Wurst oder Marmelade. Sie sorgten für einen. Nur warmes Essen, Salat und Gemüse gab es nie.

Sie musste auf die Toilette und übergab sich. Eine Reaktion auf das Beruhigungsmittel, hatten sie ihr erklärt.

Sie legte sich auf ihr Bett. Sie war so müde.

Die Holländerin wurde erneut zur Untersuchung geführt. Jetzt war die also dran.

Sie hatte geschlafen. Wie lange, wusste sie nicht. Hier drin ging jedes Zeitgefühl verloren. Sie kannte nicht einmal die Tageszeit. War es Morgen oder Abend, Sommer oder Winter? Wie lange war sie bereits hier?

Die Holländerin wurde zurückgebracht und begann sofort zu weinen. Sie stand auf, ging zu Mirandas Bett und tröstete sie.

„Wir müssen hier weg!“, jammerte Miranda. „Fliehen!“

Miranda brachte sie alle in Gefahr. Immer wieder wollte sie fliehen. Dabei war es das Beste, sich nicht zu wehren. Sie hatten versprochen, sie dann frei zu lassen. Einige durften bereits gehen, dafür kamen andere.

Aber wenn man sich auflehnte, konnte es passieren, dass man verletzt wurde. Miranda behauptete sogar, dass sie Mädchen aus der Gruppe getötet hätten. Aber das war ganz sicher Unsinn.

Diese Untersuchungen mussten sein. Das hatten sie immer wieder versichert.

Sie stammten aus einer anderen Welt. Fern und besser als unsere. Sie wollten die Menschen studieren und dann alle retten.

„Wovor denn?“, begann Miranda, hysterisch zu schreien. „Wovor denn retten?“

Sie hatte die Holländerin beruhigen wollen.

„Stell nicht so viele Fragen. Denk nicht so viel nach. Wehr dich nicht. Gib dich hin. Dann wird alles gut.“

Sie hatte ihr nicht geglaubt. Verrückt sei sie, hatte Miranda gesagt. Dabei würde sie selbst diejenige sein, die ihren Verstand verlor, wenn sie ständig an Flucht dachte.

„Man muss sich mit den Dingen im Leben arrangieren“, hatte ihre Mutter sie stets ermahnt. „Hadere nicht mit deinem Schicksal“, sagte sie oft. Dann war sie tot. Der Krebs hatte sie geholt.

Sie legte sich wieder auf ihr Bett und starrte an die Decke. Im Maschinenraum dröhnten die Motoren. Sie schloss ihre Augen und sah über sich die Sterne.

Sie befanden sich an Bord eines riesigen Raumschiffs auf einer langen Reise durch das All. Diese lärmenden Motoren, das waren die Triebwerke.

Sie sah den schwarzen Weltraum und die unzähligen glitzernden Lichter, auf die sie zuflogen. Fremde Sonnen und Monde, Planeten und Gestirne, Asteroiden und Galaxien, verhüllt in bunten Nebeln, wanderten an den Fenstern vorbei.

Aber in diesen Räumen gab es keine Fenster.

Unerwartet weinte sie. Sie wusste auch nicht, warum. Es überraschte sie immer wieder. Es passierte einfach manchmal. Früher hatte sie nie geweint.

Das läge an dem Beruhigungsmittel, hatten sie ihr gesagt.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Noch bevor sie verstand, was geschah, zog man sie auf die Beine. Dann liefen sie mit ihr über den Gang auf das glänzende Tor zu. Von dort kamen die neuen Menschen. Auch sie selbst kam einmal von dort. Aber wie lange das her war, wusste sie nicht mehr.

Das glänzende Tor fuhr auf. Dahinter befand sich eine matt schimmernde Kabine. Sie stiegen hinein. Weißes Licht. Das Tor schloss sich. Motoren summten. Ihre Beine gaben nach, zwei starke Arme stützten sie.

Das glänzende Tor schob sich wieder auf und dann war es plötzlich sehr warm, beinahe stickig. Und laut war es. Verkehrslärm. Sie waren endlich zurück auf der Erde.

„Miranda!“, wollte sie rufen. „Siehst du? Alles wird gut, wenn du nur brav tust, was man von dir verlangt.“

Aber wie dumm von ihr. Die Holländerin konnte sie ja nicht hören. Miranda musste noch bleiben, sie wurde ja noch weiter untersucht.

Sie fuhren mit dem Wagen. Es war Nacht. Trotzdem war draußen alles bunt. Die Lichter der Stadt, andere Fahrzeuge, die Kleidung der Menschen. Sie sahen glücklich aus. Dann führte die Fahrt sie über Land.

Schwarz war der Wald, kaum heller dahinter das Firmament über den Wipfeln der Bäume. Nur wenige Sterne waren zu sehen.

Sie legte ihren Kopf an die Fensterscheibe und schaute weiter in den Himmel. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ nach.

Sie dachte an Basti. Sie lächelte.

Das Auto rumpelte über eine Unebenheit. Etwas klapperte im Ablagefach der Tür. Dann entdeckte sie das Plastikding und griff danach.

Sie wusste nicht, welche Energie das war und woher sie kam. Aber sie verlieh ihr übermenschliche Kräfte und diese Urgewalt legte sie in einen einzigen Stoß.

Sie hatten rotes Blut, genauso wie Menschen.

Zeit

Sie würde sich verspäten. Daran war nichts mehr zu ändern. Auch wenn sie nun das Treppenhaus in der Kriminaldirektion hinauf stürmte und dabei wie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Zeit konnte man nicht aufholen oder gar mit ihr verhandeln. Sie verstrich, zog weiter und ließ einen zurück. Man musste selbst zusehen, dass man ihr folgte. Und das war gar nicht so einfach. Denn es machte einen Unterschied, ob man eine Nacht mit seinem Liebsten verbrachte oder in der Nacht zuvor einen Verdächtigen observiert hatte. Die Zeit verging wie im Fluge oder sie dehnte sich zur Unerträglichkeit aus.

Auf jeden Fall hatte Christine in den letzten 48 Stunden zu wenig geschlafen. Nur damit würde sie sich rechtfertigen können. Aber das war nicht ihre Art. Sie hatte mit Torben eine leidenschaftliche Nacht verbracht und prompt verpennt. So war es. Und ja, sie hätte sich stattdessen ausruhen sollen. Aber er musste sich am frühen Morgen auf eine zweiwöchige Orchesterreise nach Paris begeben und sie wollte ihm etwas Unvergessliches für diese Zeit mitgeben. Das war ihr gelungen und sie lächelte bei dem Gedanken daran. Dann zog sie die Glastür zu der Etage auf, auf der ihr Büro lag. Schwer atmend holte sie zum nächsten Schritt aus und wäre beinahe mit Kriminalkommissar Rolf Bender zusammengeprallt.

Erschrocken trat er zurück.

„Meine Güte“, stammelte er und balancierte einen Stapel Ermittlungsakten auf seinem Arm aus. „Was ist denn mit dir los?“

„Bin zu spät“, schnaufte Kommissarin Bernard und wich ihm aus.

„Stopp!“, rief er, durchsuchte den Stapel Akten, zog eine heraus und hielt sie ihr entgegen. „Die ist für euch.“

Sie schnappte danach und lief weiter.

Nachdem sie die Tür zu ihrem Büro aufgerissen hatte, lief sie auf eine junge Frau auf. Sie stand im Raum, als ob sie auf irgendetwas wartete. Kollege Kluge telefonierte.

Angenehm kühl wehte ihr die Morgenluft durch das geöffnete Fenster entgegen. Der Verkehrslärm der Stadt stieg zu ihr empor, während sie die Akte auf ihren Schreibtisch fallen ließ.

Schuldbewusst warf sie Torsten einen schnellen Blick zu. Doch der Hauptkommissar telefonierte konzentriert weiter.

Sie war ordentlich ins Schwitzen geraten. Für solch sportliche Einlagen war ein früher Vormittag Ende Juli eindeutig zu warm.

„Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“, sprach sie die junge Frau an.

Die streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.

„Ich bin Rita. Praktikantin.“

Die Hand fasste kräftig zu und war warm, ein wenig verschwitzt. So wie ihre eigene. Christine lockerte ihren Griff und stellte sich vor. Ein Leuchten huschte über Ritas Gesicht. Vielleicht war es aber auch nur eine Reflexion von einer der Windschutzscheiben der an- und abfahrenden Linienbusse unten auf dem Bahnhofsvorplatz.

Torsten Kluge hatte sein Gespräch beendet und ließ den Hörer zurück auf das Telefon fallen.

„Guten Morgen. Ihr habt euch ja schon miteinander bekannt gemacht. Das ist Frau Lange, sie wird die nächsten zwei Wochen mit dir mitlaufen.“

Christine nickte und griff nach der Akte. Sie wollte sie ihrem Kollegen auf den Tisch legen, doch der wehrte ab.

„Ist das die Akte Ahlers?“

Kommissarin Bernard las stumm vom Deckel ab.

„Ja.“

„Kannst du gleich behalten. Ist dein Fall. Lina Ahlers. Wurde vom Kriminaldauerdienst heute Nacht in Untersuchungshaft eingewiesen. Sie behauptet, einen Alien ermordet zu haben.“

Bei dem Wort „Alien“ ließ Torsten Kluge seinen Zeigefinger an der Schläfe kreisen.

„Wenn die Tatverdächtige verwirrt ist, sollten wir Karin hinzuziehen.“

„Sprich erst mal mit Lina Ahlers. Vielleicht hat sie sich inzwischen beruhigt.“

Der Hauptkommissar richtete seinen Blick auf die Praktikantin.

„Wird sicher interessant für Sie. Vernehmung einer Verdächtigen zum Tatvorwurf Mord. Vielleicht war es aber auch nur Körperverletzung mit Todesfolge. Oder spinnt die Dame und es handelt sich am Ende nur um die Vortäuschung einer Straftat? Legt los und bekommt es heraus.“

Offensichtlich bester Laune wartete Torsten Kluge grinsend darauf, dass seine Anweisungen ausgeführt wurden, bevor er sich wieder der eigenen Arbeit widmete.

Rita zog die Bürotür auf und ließ Christine an sich vorbeilaufen. Dann folgte sie ihr wie selbstverständlich an den Aufzugtüren vorbei in das Treppenhaus und lief mit ihr die Stufen hinab.

„Ist der immer so gut gelaunt?“

Kommissarin Bernard griente.

„Nicht immer, aber meistens.“

„Cooler Chef.“

„Torsten hat sein Kommissariat im Griff und das verleiht ihm seine Souveränität.“

„Wer ist Karin?“

„Karin Vollmer ist unsere Polizeipsychologin. Bei der Befragung von Festgenommenen, die nicht ganz beieinander sind, sollte sie dabei sein, um die Vernehmungsfähigkeit festzustellen.“

Sie verließen das Backsteingebäude der Kriminaldirektion Trier und überquerten den Parkplatz.

Der weiße Renault Mégane glänzte in der Sonne. Sie stiegen ein und ließen die Seitenfenster herunterfahren. Lässig legte Rita ihren Ellenbogen auf den Türrahmen und klappte die Sonnenblende herunter. Christine startete den Motor und parkte aus.

Der Wind spielte mit ihren langen Haaren, während sie den Wagen an eine rote Ampel heranrollen ließ und ihn anhielt. Sie griff nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie auf.

„Du möchtest also zur Kripo?“

„Ich weiß es noch nicht. Bundespolizei gefällt mir auch.“

Rita sah sie an, blinzelte gegen die Sonne und lächelte. Ihr Haar war kurz geschnitten und fast so dunkel wie das von Christine. Zartrosa Lippen, ein breiter Mund und lebhafte braune Augen.

Die Kommissarin erinnerte sich an ihre ersten Jahre bei der Polizei. Auch sie saß damals oft in dem Dienstwagen eines erfahrenen Kollegen und bemühte sich, selbstbewusst zu wirken und ihre Unsicherheit zu verbergen. Nun war sie bereits Kriminalkommissarin und diese junge Frau neben ihr auf dem Beifahrersitz blickte zu ihr auf. Was die Zeit so alles mit einem anstellte …

Rita hingegen wirkte schon jetzt selbstsicher und beinahe kess. Sicher war sie in ihrer Jugend lieber auf Bäume geklettert, anstatt mit Puppen zu spielen.

Die Ampel sprang auf Grün. Christine legte den Gang ein und fuhr los.

Rita schaute wieder nach vorne.

„Ich freue mich auf die Woche mit dir. Deine Kollegen sprechen sehr nett über dich.“

Nun lächelte Kommissarin Bernard.

„Aha. Wer denn so?“, fragte sie neugierig und grinste.

„Jörg Rottmann zum Beispiel. Ich hatte den Eindruck, er war enttäuscht, dass ich nicht seinem Team zugeteilt wurde.“

„Ach, der Jörg. Vielleicht hast du ihn beeindruckt. Möchtest du lieber wechseln?“

Rita lachte.

„Nein. Ich hab’s nicht so mit Männern.“

Kommissarin Bernard steuerte den Wagen auf die Autobahn und gab kräftig Gas.

Im Frauentrakt des Untersuchungsgefängnisses musste Christine ihre Dienstwaffe abgeben. Dann trug sie sich und Rita ins Pfortenbuch ein. Neben den Justizvollzugsanstalten in Koblenz und Rohrbach war die JVA Zweibrücken eine von drei Haftanstalten in Rheinland-Pfalz, die weibliche Häftlinge aufnahmen.

Summend und schnarrend sprang die Tür zu einer gläsernen Schleuse auf. Sie gingen hindurch und betraten den langen Flur des Gefängnistraktes, auf dem der Vernehmungsraum lag, in den in wenigen Minuten Lina Ahlers gebracht werden sollte.

Rita entdeckte einen Kaffeeautomaten und suchte in ihren Hosentaschen nach Kleingeld.

„Schwarz oder mit Milch und Zucker?“

„Schwarz.“

Sie drückte eine Taste. Der Automat arbeitete.

Sie reichte Christine den ersten Becher.

„Danke.“

Rita trank ihren Kaffee mit Zucker.

Gedämpft drangen die Geräusche aus den angrenzenden Zellenblöcken zu ihnen vor.

Lina

Justizvollzugsbeamte liefen mit quietschenden Sohlen über den Linoleumboden. Es roch nach Putzmitteln. Kommissarin Bernard nippte an ihrem Kaffee.

„Während der ersten Vernehmung stellst du bitte keine Fragen. Wir können später darüber reden. Ist das deine erste Vernehmung?“

Rita nickte.

„Ja. Bin ein wenig aufgeregt.“

„Mal sehen, was uns hier erwartet. Kann man nie vorhersehen. Langweilig war es jedenfalls bisher nie.“

Eine junge Frau in Anstaltskleidung wurde über den Flur geleitet. Blass, mager. Strähniges blondes Haar. Mit scheuem Blick musterte sie die beiden Frauen, die offenbar ihretwegen gekommen waren.

Lina wurde in den Vernehmungsraum geführt. Sie fürchtete sich, obwohl sie gar nicht genau wusste, was sie nun erwartete.

Sie durfte sich setzen. Die zwei Beamtinnen nahmen ihr gegenüber Platz. Beide erschienen ihr sympathisch. Die mit den langen Haaren mochte sie ein wenig lieber. Sie sprach freundlich mit angenehmer Stimme. Die andere sagte nichts.

Die Beamtin der JVA lächelte Lina aufmunternd zu, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Kommissarin Bernard beugte sich vor und schaltete das Mikrofon ein, das auf dem Tisch stand.

„Frau Ahlers …“

„Sie können mich Lina nennen.“

„Also gut, Lina. Sind Sie damit einverstanden, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird?“

Lina nickte.

„Sie müssen bitte ‚ja‘ oder ‚nein‘ sagen.“

„Ja.“

„Sind Sie damit einverstanden, dass Frau Lange zu Schulungszwecken während der Vernehmung anwesend ist?“

Lina warf Rita einen scheuen Blick zu.

„Ja.“

„Beginn der Vernehmung von Lina Ahlers. Es ist 9:34 Uhr. Die Vernehmung führt Kommissarin Christine Bernard. Außerdem anwesend: Praktikantin Rita Lange.“

Lina lächelte unsicher.

„Lina, ich bin Kommissarin Christin’ Bernar’, das ist meine Kollegin Frau Lange.“

„Sind Sie Französin?“, fragte Lina zaghaft.

„Nein. Ich bin in Luxemburg geboren und in Deutschland aufgewachsen.“

Lina nickte schüchtern.

„Ich muss Sie darüber belehren, dass Sie als Beschuldigte vernommen werden und Sie einen Anwalt hinzuziehen dürfen.“

Lina nickte unterwürfig, während die Kommissarin sie weiter belehrte. Linas Hände zitterten vor Aufregung. Nervös rieb sie ihre Handflächen aneinander, sie waren kalt und feucht.

Christine schlug die Ermittlungsakte auf und las die ersten Zeilen.

„Sie wurden heute Nacht von den Kollegen des Kriminaldauerdienstes verhaftet, weil Sie behaupten, jemanden getötet zu haben. Ist das richtig?“

Lina nickte stumm.

Kommissarin Bernard verzichtete auf eine erneute Belehrung, geschlossene Fragen mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten. Sie sah es Lina an, wie schwer es ihr fiel, überhaupt eine Antwort zu formulieren.

„Wen haben Sie getötet?“

„Einen von ihnen.“

„Einen? Einen Mann?“

Lina nickte unsicher. Christine stellte die folgenden Fragen offener, um Lina Antworten zu entlocken.

„Wen genau meinen Sie? Wie ist sein Name?“

„Sie haben keine Namen.“

„Woher kannten Sie Ihr Opfer?“

„Sie haben mich geholt.“

Christine warf einen kurzen Blick auf das Vernehmungsprotokoll.

„Hier steht, Sie seien einer Polizeistreife aufgefallen, weil Sie blutverschmiert, barfuß und für die Tageszeit zu leicht bekleidet eine Straße entlanggelaufen sind. Die Kollegen sind mit Ihnen zu dem Tatort gefahren, den Sie ihnen genannt haben, aber dort wurde keine Leiche gefunden.“

Lina beugte sich vor und flüsterte: „Sie haben sie mitgenommen.“

„Warum flüstern Sie?“

„Man kann sie nicht sehen, aber sie sind trotzdem da. Sie beobachten uns.“

Ängstlich blickte Lina auf. Christine und Rita folgten ihrem Blick. An der Decke war eine Videokamera montiert. Rot blinkte die Betriebsleuchte.

„Wen meinen Sie mit ‚sie‘?“

„Die Wesen.“

„Was sind das für Wesen?“

„Sie nehmen uns mit auf ihr Schiff und untersuchen uns. Danach bringen sie uns zurück. Sie kommen aus einer anderen Welt. Einer besseren Welt. Sie könnten uns alle vernichten. Sie sind freundlich und sie wollen uns dorthin mitnehmen. Aber erst müssen sie uns studieren, damit wir dort nicht sterben.“

„Haben die das gesagt?“

Lina nickte.

„Wieso sprechen die Deutsch, wenn sie doch aus einer anderen Welt kommen?“

„Die sind schlau, die haben das gelernt. Wenn die Raumschiffe bauen können, können die das eben.“

„Nun gut. Kommen wir zurück zu der Untersuchung. Wurden Sie auch ‚untersucht‘?“

Lina nickte wieder.

„Wer wurde noch untersucht?“

„Ich kenne die anderen nicht. Nur Miranda. Ich habe sie manchmal getröstet.“

„Warum musste Miranda getröstet werden?“

„Sie vertrug die Untersuchung nicht.“

„Wie heißt Miranda mit Nachnamen?“

„Das weiß ich nicht. Hätte ich sie danach fragen sollen?“

„Dann wüssten wir schneller, wer sie ist und wo sie wohnt.“

„Das tut mir leid“, entschuldigte sich Lina „Sie ist Holländerin“, lieferte sie nach, in der Hoffnung, dass dieses Detail die Kommissarin interessieren würde. „Hilft Ihnen das weiter?“

Christine ließ Linas Frage unbeantwortet, las einen kurzen Absatz und blickte wieder auf.

„Sie wurden heute Nacht erkennungsdienstlich behandelt und mit Ihrem Einverständnis ärztlich untersucht. Es wurde eine Blutprobe genommen. Sie trugen keine Unterwäsche und wurden offenbar gewaschen, bevor die Kollegen von der Streife Sie aufgegriffen haben. Wurden Sie vergewaltigt?“

Kommissarin Bernard brachte diese Frage nie leicht über ihre Lippen, auch diesmal nicht. Aber Karin Vollmer hatte ihr geraten, Geschädigte nicht ein zweites Mal zum Opfer zu machen. Die Polizeipsychologin empfahl, Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, mit ihrer Aussage die Hoheit über ihre Situation zurückzugeben, anstatt sie mit falsch verstandener Rücksicht und Bedauern weiter in der Opferrolle zu belassen. Schweigen und tatenlos verstrichene Zeit nutzte nur den Tätern.

Lina schüttelte heftig ihren Kopf.

„Sie untersuchen uns nur.“

Auf Linas Stirn bildeten sich Schweißperlen.

Christine nahm sich zurück.

„Okay, Lina. Reden wir über etwas anderes. Wie haben Sie dieses Wesen umgebracht?“

„Da war so ein Ding in der Tür.“

„Was für eine Tür?“

„Von dem Auto.“

„Ihr seid mit dem Auto gefahren? Wieso fliegen diese Wesen nicht?“

Christine hätte ihre letzte Frage am liebsten zurückgezogen. Aber nun war sie bereits ausgesprochen und Lina war der leicht spöttische Unterton sicher nicht entgangen. Doch sie reagierte nicht darauf.

„Dann könnte sie doch jeder bemerken“, antwortete sie, offenbar überzeugt davon, dass diese beiden Frauen ihren Argumenten schließlich folgen würden.

„Nun gut. Sie haben also im Auto gesessen. Vorne oder hinten?“

„Hinten.“

„Saß jemand neben Ihnen?“

Lina nickte.

„Das Opfer?“

Lina nickte erneut.

„Was haben Sie dann gemacht?“

„Ich hab’ das Ding genommen und damit zugestochen.“

„Was für ein Ding war das?“

„So eins, wo man Eis mit abmacht.“

„Ein Eiskratzer?“

Lina nickte wieder.

„Wieso haben Sie das gemacht? Sie sagten, Sie wurden nur untersucht.“

„Weil es weh tut.“

„Die Untersuchung?“

„Ja.“

„Was genau haben die mit Ihnen gemacht?“

„Ich weiß es nicht. Wir schlafen ja fast. Aber danach tut es weh.“

„Wo genau tut es weh?“

Lina reagierte nicht.

„Lina?“

„Im Bauch.“

„Im Bauch oder weiter unten?“

„Ich möchte etwas trinken“, lenkte Lina ab.

„Einen Moment noch. Wir sind sofort fertig. Was geschah, nachdem Sie zugestochen haben?“

„Das Auto hat gebremst. Ich habe die Tür aufgestoßen, bin ausgestiegen und weggerannt.“

„Okay, Lina. Was dann geschah, haben die Kollegen ja hier protokolliert. Eine Frage habe ich noch: Wie sehen sie aus, diese Wesen?“

Kommissarin Bernard erwartete auf ihre letzte Frage keine rationale Antwort. Doch sie wurde überrascht.

Lina hielt sich beide Hände vor das Gesicht. „Sie haben so große Augen, aber keinen Mund, keine Nase und keine Haare auf dem Kopf.“

Dann legte sie ihre Hände wieder auf die Tischplatte vor sich und schaute die Kommissarin an. Offenbar erwartete sie eine bestimmte Reaktion. Doch die blieb aus.

Christine wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und ließ Linas letzte Aussage unkommentiert.

„Ich werde meine Kollegin, Frau Doktor Vollmer, bitten, mit Ihnen zu sprechen. Sie ist Psychologin und kann gegebenenfalls für eine Verlegung in eine psychiatrische Einrichtung sorgen.“

Plötzlich schoss Linas Arm über den Tisch und noch bevor Christine reagieren konnte, umklammerten dürre, eisige Finger ihre Hand.

„Nein. Bitte nicht. Ich will hier bleiben. Hier bin ich sicherer. Hier können sie mich nicht mehr holen kommen.“

Kommissarin Bernard lächelte und erwiderte kurz Linas Händedruck.

„Würden Sie bitte meine Hand loslassen?“

„Entschuldigung“, flüsterte Lina unterwürfig, zog ihren Arm an sich heran und knetete mit der rechten Hand ihre linke. Christine klappte die Ermittlungsakte zu und erhob sich. Rita auch.

Sie verließen den Vernehmungsraum. Die Justizvollzugsbeamtin führte Lina zurück in ihre Zelle.

„Was war das denn?“, raunte Rita sichtlich berührt und schaute den beiden nach.

„Das war ein Opfer sexueller Gewalt mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Vermute ich mal.“

Sie wandten sich ab und liefen auf die Schleuse am anderen Ende des Flurs zu. Christine suchte Augenkontakt mit dem Beamten an der Pforte. Das Schloss der Schleusentür summte und schnarrte wieder. Sie bekam ihre Dienstwaffe zurück und quittierte den Empfang.

Hell lackierte Fahrzeuge sollen sich angeblich unter Sonneneinstrahlung weniger stark aufheizen als dunkle. Für den weißen Mégane galt das offenbar nicht. 48 Grad Celsius Innentemperatur zeigte das Bordthermometer an. Mit einem Tastendruck auf der Fernbedienung ließ Kommissarin Bernard alle Fensterscheiben herunterfahren und öffnete die Türen weit, bevor sie einstiegen. Dennoch drückte sich nach kurzer Zeit der Schweiß durch ihre Poren. Christines Haut im Gesicht und an den Armen glänzte seidig-matt. Sie warf einen schnellen Blick zu Rita. Ihr standen Schweißperlen auf der Stirn.

„Ja. Mir ist auch sehr warm“, alberte sie. Sie lachten beide.

Der Fahrtwind sorgte für Abkühlung. Christine schaltete die Klimaanlage ein und ließ die Fenster hochfahren. Dann ließ sie sich von ihrem Smartphone mit der Polizeipsychologin verbinden.

„Vollmer“, klang es fröhlich aus der Freisprechanlage.

„Hallo, Karin. Ich komme gerade von der Vernehmung von Lina Ahlers. Ich glaube, da brauchen wir deine Hilfe.“

„Habe ich mir schon gedacht. Torsten hat mich heute Morgen bereits informiert. Er wollte aber das Ergebnis deiner Befragung abwarten.“

„Da kam nicht viel bei raus. Lina Ahlers ist zwar volljährig, macht auf mich aber eher den Eindruck einer 14- bis 16-Jährigen. Außerdem wirkt sie verängstigt und verwirrt und leidet offenbar unter Realitätsverlust. Ob sie unter diesen Umständen vernehmungsfähig ist, musst du entscheiden.“

Rita hörte aufmerksam zu und wartete das Ende des Telefongesprächs ab.

„Wieso muss gegen Lina Ahlers überhaupt ermittelt werden? Sie ist Opfer und es gibt keine Leiche.“

„Weil sie behauptet, jemanden getötet zu haben. Das ist ein Offizialdelikt und dem muss die Staatsanwaltschaft nachgehen. Auch wenn niemand klagt und es keine Leiche oder Zeugen gibt. Außerdem ist Lina unverletzt, obwohl sie blutüberströmt aufgegriffen wurde. Von wem stammt also das viele Blut auf ihrer Kleidung? Ist jemand verletzt worden? Wurde er hilflos zurückgelassen und liegt jetzt irgendwo?“

„Dazu passt ihre Aussage mit dem Eiskratzer. Vielleicht hat sie damit die Halsschlagader ihres Peinigers getroffen. Oder sie hat jemand anderen getötet und will sich mit ihrer Alien-Geschichte herausreden. Vielleicht ist sie viel abgebrühter, als sie vorgibt.“

„Tja, vielleicht. Fahrlässige Tötung, Körperverletzung mit Todesfolge, Mord oder es steckt etwas ganz anderes dahinter. Wir sind dafür da, das aufzuklären. Willkommen bei der Kriminalpolizei.“

Rita nickte und grinste.

„Was glaubst du?“

„Männer morden, um zu besitzen und zu herrschen. Frauen morden, um sich zu befreien und nicht beherrscht zu werden. Wenn wir die Aliens Linas Belastungsstörung zuschreiben, passt ihre Aussage durchaus zu meiner Berufserfahrung.“

Christine ließ sich erneut verbinden.

„Prinz.“

„Guten Morgen, Frauke. Weißt du schon etwas über die ärztliche Untersuchung von Lina Ahlers heute Nacht im Krankenhaus?“

„Ja“, klang es gedehnt aus dem Lautsprecher. „Da kam was.“

Die Polizeiärztin reagierte nicht mehr.

„Frauke?“

„Ich suche. Ah, da ist es. Mmh, mmh, mmh“, brummte sie, während sie anscheinend den Bericht ihres Kollegen aus dem Krankenhaus las. „Also, Lina Ahlers wurde offenbar nicht vergewaltigt. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne.“

„Was heißt das?“

Frauke Prinz murmelte wieder unverständlich und konzentrierte sich vermutlich erneut auf die Zeilen, die sie las.

„Rötung an den Schleimhäuten, keine Fissuren, keine fremden Körpersekrete, aber Spuren von Gleitmittel. Rötung der Haut an Hand- und Fußgelenken, keine Abschürfungen.“

Wieder entstand eine Pause.

„Frauke?“

„Ja, ich bin noch da. Also, für mich sieht das nach Fesselspielchen oder Festhalten beim Geschlechtsverkehr aus. Möglicherweise einvernehmlich. Wahrscheinlich mit Kondom.“

„Was ist mit Drogen?“

„Kein Befund. Aber das heißt nichts. Benzodiazepine und Neuroleptika, also GHB, Liquid Ecstasy und das ganze Zeug, das als Partydroge beliebt ist, wird vom Körper schnell abgebaut und ist später nicht mehr nachweisbar.“

„Lina Ahlers behauptet, sie wäre lediglich untersucht worden und hätte dabei geschlafen.“

„Möglich. Je nach Dosierung tritt eine Sedierung ein. Das Opfer glaubt zu schlafen und kann sich später an gar nichts oder nur schemenhaft erinnern. Die korrekte Dosierung ist allerdings nicht trivial. Zu berücksichtigen sind Körpergewicht, Konstitution und konsumierter Alkohol. Sonst drohen Atemstillstand und letztendlich Tod. Medizinische Grundkenntnisse sollte der Verabreichende schon haben.“

„Also ein Arzt.“

„Nicht unbedingt. Apotheker, medizinisches Personal, Pharma-Studenten, Altenpfleger und so weiter kämen auch infrage.“

„Ich danke dir.“

„Gerne.“

Vor dem Gebäude der Kriminaldirektion trafen sie auf Luc Nilles. Er stand auf dem Parkplatz im Schatten einer Linde und rauchte. Interessiert musterte er Rita.

Christine stellte ihren Kollegen vor.

„Hauptkommissar Luc Nilles vom Kommissariat 4. Betrug.“

„Eine neue Kollegin?“

Rita antwortete für sich selbst.

„Noch nicht. Praktikum und dann mal sehen.“

„Freut mich. Wir können ja mal ein Glas Wein zusammen trinken. Vielleicht überzeuge ich dich ja.“

Rita zeigte an der Einladung wenig Interesse.

„Ja. Vielleicht.“

Luc nickte und zog an der Zigarette.

Christine und Rita verabschiedeten sich.

„Luc hast du offenbar ebenso beeindruckt wie Jörg.“

„Nicht mein Typ. Zu alt, zu grau, zu lässig.“

Kommissarin Bernard schmunzelte.

„Dann kann Jörg ja beruhigt sein. Die beiden können nämlich nicht so gut miteinander.“

„Die können beide beruhigt sein“, lachte Rita und lief voraus ins Treppenhaus.

Auf dem Flur begegnete ihnen Torsten Kluge.

„Bin gerade auf dem Weg in die Kantine. Wollt ihr auch etwas?“

Christine schaute Rita an. Die schüttelte ihren Kopf.

Der Hauptkommissar kehrte in sein Büro zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Sie folgten ihm.

„Das Ergebnis der DNA-Analyse des Blutes im Fall Ahlers steht fest. Das Opfer steht in einem verwandtschaftlichen Verhältnis ersten Grades zu Lina Ahlers.“

„Was? Also hat Lina Ahlers ihren Vater getötet?“

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand ist das sehr wahrscheinlich.“

Hauptkommissar Kluge überreichte seiner Kollegin den Laborbericht und sprach weiter.