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Sonja Reichel

364 Tage

Roman

Reichel, Sonja : 364 Tage. Hamburg, acabus Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-750-3

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-749-7

Print: ISBN 978-3-86282-748-0

Lektorat: Ann-Kathrin Szodruch, Sarah Zechel, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Cover: Sonja Reichel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Was aber, wenn das Wir ein Weniger ist,

eine Subtraktion unserer beiden Ichs?

Ich werde dich nicht suchen, obwohl du es mir aufzwingen willst. »Such mich!«, schreien mir deine Handlungen der letzten Wochen entgegen. Versteckt hast du dich wie ein kleiner Junge, der gefunden werden will. Aber ich werde dich nicht suchen, weil ich dich nicht finden kann. Und auch jetzt halte ich dich nicht zurück, als du in die Nacht verschwindest. Dort, an der Kreuzung, über uns der dunkle Himmel, der sich wölbt wie die riesige teilnahmslose Haut der Stadt. Hinter uns liegt ein Abend mit Freunden, vor uns der Beginn eines Wochenendes, das wir nicht mehr miteinander verbringen werden. Ich glaube, wir ahnen beide nicht, dass wir nie wieder Zeit miteinander verbringen werden.

Du läufst los, als ich dir sage: »Ich brauche diese Nacht für mich.«

Wieder hole ich mir eine Nacht zurück. Wie zu oft in letzter Zeit. Meine Nächte. Dabei war dein Plan: Diese Nacht ist die erste von vielen.

Doch du raubst mir Kraft. Weil es dieses Du nicht gibt, das ich hoffte, in dir zu entdecken, wenn ich dich ansah. Immer war da diese Schutzschicht auf deinen Augen, als wären sie beschlagen, als wären sie hinter Eis. Wie hätte ich einen Eiskratzer einsetzen können, ohne dein Sehen zu beschädigen? Dich zu zerstören in dem Moment, in dem ich den unverstellten Blick gehabt hätte auf dein Inneres, für das du dich geohrfeigt hast, wenn es hervorbrach, dich quälte, dich zerriss. Alles hast du daran gesetzt, dass niemand jemals dahinter blicken würde, dich eingeschlossen. Zu früh hattest du verlernt, wie man sich öffnet – den Menschen, der Welt. Du warst eng geworden. Manchmal übertrug sich diese Atemnot auf mich. Wenn sich dein Inneres wie ein Fels auf meinen Oberkörper legte.

Du hast nicht verstanden, wenn ich dir sagte: »Wo bist du? Dein Blick ist immer nach innen gerichtet.«

Gerade bei mir hast du es nicht verstanden.

Du sagtest: »Ich war noch nie so offen wie für dich.«

Ich glaubte dir. Und trotzdem ahnte ich, dass etwas nicht reichen würde.

— 1 —

Sofie wusste es von Anfang an. Dass etwas nicht reichen würde. Doch nach zu langer Zeit allein war sie empfänglicher für jemanden, der immerhin eine gute Skizze ihres Traumes war. Eine Skizze, der die letzte Dimension fehlte, weil sie nicht lebendig genug war.

Dazu die Meinungen und Erwartungen der anderen, die sie in sich trug, von denen auch sie sich nicht freimachen konnte. Die Freunde, die fanden, dass sie sich mal wieder einlassen sollte. Die Kollegen, die jeden Satz begannen mit »Mein Freund«. Die Artikel über Beziehungen, die sich wie Mahnungen in sie gefräst hatten. Die These, dass eine Beziehung eine Entscheidung und mit nahezu jedem möglich sei. Man nur mit sich im Reinen sein müsse. Der latente Vorwurf an die Beziehungslosen: Ihr habt einen Mangel, weil ihr mangelhaft seid. Ihr seid die Defekten der Gesellschaft. Sofies Gegenstimme: Liebe kann und darf nicht beliebig sein. Nur der ganz besondere Mensch vermag sie auszulösen. Ich lasse nicht den Nächstbesten an mich heran, eben weil ich gut alleine sein kann. Vor allem aber: Was hat Liebe mit Vernunft zu tun? Wie kann sie eine rationale Entscheidung sein? Wenn ich über Beziehung spreche, spreche ich von Liebe, beides ist gleichbedeutend für mich. Vielleicht sprecht ihr einfach eine andere Sprache. Vielleicht geht es in euren Beziehungen nicht um Liebe.

Doch der Zweifel blieb. An Tagen, die eine Schräglage hatten. An denen sie das Alleinsein so satt hatte, dass sie sich die Liebe vornahm wie einen Willensakt. Sich vornahm, den nächsten halbwegs passablen Mann einfach zu küssen. Eine kleinere Liebe in ihrem Leben zuzulassen. Sich wegzubewegen von dem Denkmal, das sie Lars gesetzt hatte. Das erhaben über allem stand. Ihren persönlichen Beziehungsabdruck dominierte. Umgeben war von ein paar verwischten Spuren, flüchtigen Fährten nichtiger Begegnungen. Berührungen von Fremden. Berührungen von Männern, die alles taten, um sie zu überzeugen. Die sie nicht begriffen. Die sie wegschickte. Weil sie nichts in sich trugen, an dem sie sich festhalten konnte. Zu viele trugen das Nichts in sich. Das Vorhersehbare, das Abgegriffene, das Standardisierte. Als wollten sie einer DIN-Norm entsprechen.

Jetzt stand Sofie in einem Sommer, der nur dem Kalender nach einer war. Frühsommer, der seinen Regen über der Stadt ausschüttete. Sie hatte es gerade noch trocken zum Treffpunkt unter den S-Bahn-Bögen geschafft und wartete auf eine Freundin, mit der sie zum Kaffee verabredet war. Sie sah zu, wie die Rinnsteine überliefen und das Wasser Blasen warf. In der Stadt schien das Meer mit seinen Gezeiten angekommen, obwohl es hier nur einen Fluss gab und lediglich den Traum von einem Meer und allem, was damit verbunden war – endlose Blicke auf einen Horizont, unverstellte Gedanken, eine immerwährende Brise, die alles freundlicher werden ließ und auch auf die Menschen abfärbte. Menschen merkte man an, wenn sie ein Meer hatten.

Sofie hörte ihr Handy vibrieren und bekam die Nachricht, dass es dauern würde mit dem Kaffee, da mehrere Bahnen ausgefallen waren und ihre Freundin stattdessen auf Busse ausweichen musste.

An den Fahrradständer gelehnt sah sie sich die anderen Wartenden an, die wie sie abgestellt waren in dieser Zwischenzeit. Die meisten begannen zur Überbrückung zumindest über ihr Handy einen Dialog zur Außenwelt, es wurde getippt und die Hände in Bewegung gehalten. In der heutigen Zeit gab es ein Warten vielleicht nicht mehr, weil irgendein Kontakt immer gepflegt sein wollte.

Sie hingegen stand, die Hände regungslos. Anders hätte sie ihn wahrscheinlich auch nicht bemerkt. Ihn und seinen Blick in ihre Richtung. Eine große, schlanke Gestalt in einem dunklen Mantel und einer engen, leicht zerschlissenen Jeans. Sie reagierte auf diesen Blick, indem sie länger als gewöhnlich zurücksah. Er flackerte unter ihrer Gegenoffensive, knickte aber nicht ein. Diese Blickbahnen wiederholten sie. Es ging eine Weile hin und her, ein Ausspähen, ein Erspähen, niedergeschlagene Augenlider, kurz zumindest, um sich zu schützen, denn schutzlos in dieser Stadt, das war doch lebensmüde. Aber vielleicht war auch ihm nach einem Gegenüber, einer Gelegenheit, einer Geschichte. Vielleicht war es auch die kurze Durchlässigkeit auf beiden Seiten und die Möglichkeit des Erkennens, vielleicht auch die gelöste Situation bedingt durch das Wetter, das verrücktspielte. Es gab unzählige Gründe, warum jetzt und nicht vorher oder später, er jedenfalls löste sich aus der Reihe der anderen und kam direkt auf sie zu. Ob sie auch ein mittelbares Opfer der ausgefallenen S-Bahn geworden sei? Ihre Antwort ein Nicken, ein Ja, dass sie heute zu den Opfern gehörte.

Auch aus der Nähe war er interessant, es waren Vorsprünge und Widerstände in ihm zu spüren, aber gleichzeitig haftete ihm etwas Kauziges an, etwas Schräges, etwas, das vielleicht zu viel war an Kante im Charakter, die sie brauchte, um bei jemandem zu bleiben. Er schien darum zu wissen, dass sich Leute an ihm stießen, denn bevor er ihr seinen Namen verriet, meinte er, dass jetzt noch Zeit sei, davonzulaufen. Sie sah ihn an: »Dafür ist es zu spät«, und ahnte nicht, dass es in dem Moment um ihn geschehen war. Um ihn, Arvid, dessen Name Krieger bedeutete, hoch oben im Norden. Da sie vermutete, dass jeder einen Kommentar, eine Anmerkung, einen Hinweis zu diesem Namen hatte, sagte sie nur: »Ich bin Sofie.« Und er antwortete: »Eine Sofie kenne ich noch nicht.« Und es schwang mit: An dir haftet etwas, das einzigartig ist für mich. Und später erfuhr sie von ihm, dass sie schon vor dem ersten Blick da war in ihm, als Ahnung.

Das zweite Treffen war nichts Zufälliges, sondern willentlich in die Wege geleitet, denn bereits kurz nach ihrem Abschied nach zu wenig Zeit miteinander, dort unter den S-Bahn-Bögen, hatte er ihr eine Nachricht geschickt. Entgegen seiner sonstigen Schüchternheit und Zögerlichkeit war es ihm geglückt, nach ihrer Nummer zu fragen.

»Gleicher Ausgangspunkt mit ungewissem Ausgang?«, las sie. Und so standen sie sich zwei Tage später wieder gegenüber, die Hände in den Taschen ihrer Sommermäntel, voller Hoffnung und verlegen gleichzeitig. Hielt der andere, was der erste Blick auf ihn versprach? Wie viel Wahrheit konnte man binnen Sekunden ausmachen?

Arvid würde sagen: Sekunden reichen für kein Urteil. Kein Urteil vor zwei Jahren.

Sofie würde sagen: Es reicht der Hauch eines Augenblicks, um den anderen intuitiv zu erfassen. Vielleicht ist er wahrer als jeder zweite, dritte, vierte Blick, da noch ohne Geschichte und deswegen objektiv.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, fragte er, denn sie waren losgelaufen, und sie schlug das Café unten am Fluss vor: »Das mit dem breiten Steg, kennst du das?« Und er war einverstanden, weil er es dort mochte und den Ort trotzdem fast vergessen hatte. Sie gingen nebeneinander her, beide mit langen, schnellen Schritten, die nur bedingt mit der Aufgeregtheit zu tun hatten. Sofie fragte lächelnd, ob er immer so renne und, als er bejahte, stellte sie fest: »Das trifft sich gut, ich auch.«

Grafikdesigner war er und wie sie Mitte dreißig. Dass sie etwas mit Sprachen machte, vermutete er bald, und tatsächlich war sie Übersetzerin für Englisch und Italienisch. Deswegen nun doch ihre Frage nach seinem nordischen Vornamen, ob seine Eltern ein Faible für Skandinavien hätten oder er nordische Wurzeln habe. Letzteres, der Vater Norweger, der viele Jahre in Deutschland verbracht hatte, bis es zum Bruch kam mit seiner Frau, und er auch dem Land und dem achtjährigen Arvid den Rücken gekehrt hatte.

Die Aussicht darauf, dass er ihr Sätze auf Norwegisch schenken konnte, erfüllte sie mit Vorfreude. Ein Mensch, der schöne fremde Silben erzeugen konnte. Der die Wunderwaffe Fremdsprache in sich trug. (Dieser wünschenswerte Waffenbesitz sollte sich später als unwahr herausstellen. Arvids Eltern hatten es für besser befunden, den Sohn nicht mit zwei Sprachen zu verwirren. Sie hatten ihn vorsätzlich um ein Aufwachsen in Zweisprachigkeit gebracht.)

Trotzdem hätte Sofie eher einen südeuropäischen Einschlag bei ihm vermutet, wegen seiner dunklen Haare, die wie ein strenger Rahmen um sein Gesicht lagen: Portugal, denn er wirkte introvertiert und etwas melancholisch. Sie konnte ihn sich vorstellen, wie er stundenlang in einem Café saß und sich Notizen machte, versunken in seiner Welt, ein Einzelgänger, über den die alten Frauen im Viertel sagten: »Ein höflicher junger Mann. Nett, aber distanziert. Man müsste ihm beibringen, mehr aus sich herauszugehen.«

Hätten sie ihn jetzt zusammen mit Sofie gesehen, hätten sie von Licht gesprochen, Licht, das diese hellhaarige, große Frau in sein Leben bringen würde. Sofie wusste um diese Wirkung. Diesen Ersteindruck, der immer mit Helligkeit und Offenheit zu tun hatte. Es war ihre Art, ihr Inneres zu schützen. Extrovertiert zu sein, um der eigenen Schüchternheit beizukommen. Fragen zu stellen, bevor sie selbst gefragt wurde. Das Gespräch in die Richtung zu lenken, die ihrer jeweiligen Stimmung entsprach. Das Nachdenkliche und Verschlossene an ihr erkannten nur wenige Menschen.

Als Sofie und Arvid das Café erreichten, verriet ein Zuviel an Bewegung, dass unten am Steg ein Tisch frei wurde. Sie nickten den Aufbrechenden kurz zu, in eine Wolke aus Tabak und Parfum hinein, dann rückten sie die schweren Holzstühle in die richtige Position und schoben das benutzte Geschirr beiseite. Der Fluss lag als breites, dunkelgrünes Band vor ihnen. Eine Weide hatte ihre biegsamen Äste darin ausgebreitet. Wie Fäden trieben sie auf der Strömung des Wassers.

Hinter der seitlich angrenzenden Hecke entdeckten sie einige Kaninchen, die plötzlich in alle Richtungen davonstoben. Wahrscheinlich war ihnen ein Spaziergänger zu nahe gekommen, doch Arvid sah sich als Grund für die Fliehenden. Bevor Sofie nachhaken konnte, erzählte er, dass er drei Kaninchen auf dem Gewissen hätte. In einem Ton, der gleichermaßen nach einem Sich-Brüsten und einem Geständnis klang. Als kleiner Junge seien sie ihm aus der Hand gerutscht und so unglücklich gefallen, dass sie gestorben seien.

»Alle drei? Das glaubst du doch selber nicht.«

»Vielleicht habe ich nachgeholfen«, kam von Arvid. Es war, als wollte er sie testen.

Ich habe schon als Kind Leben zerstört. Bist du sicher, dass ich es bin, den du willst?

Jetzt sah Sofie ihn nur skeptisch an und hielt ihm die Karte hin.

»Ich durfte danach nie wieder ein Haustier haben«, fuhr er fort. »Meine Eltern sprachen von Opfertieren. Dass ich Haustiere in Opfertiere verwandle. Wasser zu Wein. Nur umgekehrt.«

Das Bild der zerbrochenen Kaninchenkörper war noch in ihr, als Arvid sich der abgenutzten Karte zuwandte. Er blätterte hin und her, legte seine Finger als Lesezeichen hinein und brauchte lange für seine Bestellung. Es war, als hinge alles davon ab, sich für den richtigen Kuchen zu entscheiden und bloß keinen Fehler zu machen. Er korrigierte, hakte mehrfach beim Kellner nach. Und schien mit seiner Wahl schon wieder unzufrieden, als die Teller gebracht wurden und er das Stück sah, das sie sich ausgesucht hatte. Als bekämen immer nur die anderen das Richtige, während er selbst zu kurz kam. Es irritierte sie, eine leichte Störung, ein Kratzer im Geschehen, doch sie war damit beschäftigt, sein Gesicht in sich aufzunehmen: Die große, gerade Nase. Die ausdrucksstarken Augenbrauen. Die markanten Wangenknochen. Vor allem aber seine Augen, die so dunkel waren, dass man die Iris kaum von der Pupille unterscheiden konnte. Wie runde Kohlestücke.

Leih mir deine Pupillen zum Zeichnen. Und wenn ich fertig bin, setze ich sie dir wieder ein. Damit du sehen kannst, was du alles anstellst mit deinen Augen.

Ein plötzlicher Wolkenbruch flutete ihre Gedanken. Lachend retteten sie sich mit dem Kuchen in der Hand unter einen großen Schirm, der nicht lange Schutz bot – denn die Regenmassen peitschten auf den eben noch so ruhigen Fluss, gruben sich wie Geschosse unter seine glatte Oberfläche, dass sie meinten, das Wasser steigen zu sehen. Als sie über die rutschigen Holzstege ins Innere flüchteten, fand Arvid: »Wie ein Aderlass des Himmels«, und Sofie: »Wie in den Tropen«, und da sagte er, dass er noch nie in den Tropen gewesen sei oder im warmen Süden. Als Kind vielleicht, aber später, später nicht, und während sie kurz nach seinem Ärmel griff, um sich abzustützen, eine Berührung zu erschleichen, konnte er sich nicht daran erinnern, je eine Palme gesehen zu haben.

Sofie wollte wissen, was ihn davon abhielte, in die Nähe der Sonne zu gelangen, einer Sonne, die Palmen zum Wachsen brachte, und es kam heraus, dass er Deutschland seit zehn Jahren nicht verlassen hatte. Und sie fragte sich, wie irgendjemand das aushielt, zehn Jahre Alltag ohne Verschnaufpause, ein ständiges Verharren in allzu Vertrautem. Sie kam zu dem Schluss, dass er ein reiches Innenleben haben musste, weil er sonst verrückt geworden wäre in diesem begrenzten Radius.

Verrückt schien er nicht zu sein, nur etwas aus der Zeit gefallen. Selten sah er sie direkt an, obwohl sie bemerkte, dass er fasziniert war von ihr. Vielleicht war er im Innern auf der Suche nach dem nächsten richtigen Satz, dem passenden Wort, und hatte deswegen keinen Sinn für das Außen, wenn er sprach. Vielleicht hatte das auch mit seinem Tempo zu tun, das, wie er sagte, fast immer zu schnell oder zu langsam war, jedenfalls selten auf den Punkt. Sie störte es nicht, zumindest nicht an jenem Abend. Denn wer gab das Tempo vor, wer hatte das Recht, darüber zu befinden, was angemessen getaktet war, von Tempovorgaben in der Musik mal abgesehen? Und auch dort gab es ein lento, ein lentissimo. Sie verdrängte in diesem Moment, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten zu Dissonanzen führten. Sie blendete aus. Wollte geblendet sein.

Mir ist nach dir, verdirb es nicht.

Unterdessen war der Regen ausgedünnt und ließ nur noch vereinzelt Tropfen an den großen Glasfenstern zurück. Vor ihnen auf dem Tisch stapelten sich Teller und Tassen und Gläser, denn in dieser Stadt bedeutete Service vor allem Unaufdringlichkeit, die Gäste machen lassen, sie sich selbst überlassen. Ab und zu kassierte jemand ab, da Schichtwechsel, und jetzt bekamen sie mit der Rechnung auch den bestellten Wein dazu, denn die Kaffeezeit war vorbei an diesem Abend, der bereits satt an Stunden war.

Ihre Unterhaltung wurde löchriger, aber es waren angenehme Löcher, die den Blick freigaben auf ein Mehr dahinter, auf eine Möglichkeit. Arvid zog seinen Stuhl dichter an sie heran, und sie begannen, auf einem Kassenbon herumzukritzeln, bis die Wörter fast vom Rand fielen. Er sammelte offenbar Wörter, und das erste, was er sich aus Sofies Sätzen griff, war Anfeindungen. Ausgerechnet. Sofie bestand darauf, weitere zu ergänzen, da er sonst seinen Freunden erzählen müsse, er habe eine Frau getroffen, und alles, was von diesem ersten Treffen blieb, sei der Begriff Anfeindungen auf einem kleinen Stück Papier. Ein zweifelhaftes Geschenk.

»Heißt das, wir werden uns wiedersehen?«, wollte Arvid daraufhin wissen.

»Ja«, sagte Sofie, »bisher spricht eigentlich nichts dagegen.«

Und sie mussten lächeln über das »bisher«, denn es zeigte, dass sie beide ihre Geschichte mit sich herumtrugen, mit Hoffnungen und Enttäuschungen, die dazu führten, dass sie dem ersten Anschein nicht zu trauen wagten.

Er wollte noch einiges herausfinden über ihr Verhältnis zu Wörtern an diesem Abend, wie sie kafkaesk definieren würde zum Beispiel. Sie strich mit den Fingern über den Rand des Weinglases, als wäre dort die Erklärung zu finden, und begann: »Wenn man das Gefühl hat, etwas greifen zu können, etwas scheinbar begriffen zu haben, und es sich genau in diesem Moment entzieht, nicht mehr zu fassen ist.« Sie hielt inne: »Aber bedeutet es nicht vor allem Absurdität und Ausgeliefertsein?«

Arvid mochte ihre Definition und wollte sie erneut hören, mehrfach, damit er sich daran erinnern würde. Auch bat er darum, den vollgeschriebenen Kassenbon behalten zu dürfen, mit ihrer Schrift neben seiner – dieses erste Dokument, das davon zeugte, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten, dass sie gemeinsam Buchstaben nebeneinander und übereinander setzten, sie, die bis vor einer Woche noch nicht einmal von der Existenz des anderen gewusst hatten. Er faltete den Bon sorgfältig zusammen, als sie langsam zusammenpackten, um aufzubrechen, beide wacklig auf den Beinen nach dem stundenlangen Sitzen, überwältigt von den ganzen Eindrücken.

Als sie auf die Straße traten, bemerkten sie den Himmel, der in einem bedrohlichen Schwarz über ihnen hing, als würde er jeden Moment aufplatzen. Arvid wollte sie dazu überreden, zusammen mit ihm die Tram zu nehmen, doch sie schüttelte den Kopf und lief los, um ihr Fahrrad zu holen. Während sie mit dem Schloss hantierte, konnte sie ihn aus einiger Entfernung beobachten, und ihr gefiel, was sie sah. Vor allem sein Gesichtsausdruck, als er näher kam. Es war eine Sanftheit darin, mit der sie lange nicht bedacht worden war.

Bald standen sie sich an der hell erleuchteten Haltestelle gegenüber und wagten zunächst keine Berührung. Als könnte etwas kaputtgehen. Diese feinen Kristalle, die sich gebildet hatten zwischen ihnen heute Abend. Die noch nicht trugen.

Dann aber umarmten sie sich zum Abschied, als wollten sie den Abdruck des anderen mitnehmen. Das gelbe Licht zeichnete das Strahlen in ihren Gesichtern gegen den Nachthimmel ab. Von Angesicht zu Angesicht. Haut zum Greifen nah. Haut, die dennoch unangetastet blieb.

Sie bemerkten die Leute nicht, die an ihnen vorbeigingen, denn es gab nur noch sie beide. Sie, die einen letzten Blick warfen auf sich, damit sie ein Daumenkino im Kopf hätten, das sie abspielen könnten, später, wenn sie alleine wären.

Als Arvid schon in die Tram gestiegen war, sah er ihr aus dem letzten Wagen nach und ließ sie erst aus den Augen, als sie ebenfalls losfuhr und aus seinem Sichtfeld verschwand.

Sie war glücklich, als sie sich gegen den einsetzenden Wind stemmte, der so gut zu ihrer Stimmung passte, denn Arvid hatte sie alles andere als kalt gelassen, hatte an Schichten in ihr gerührt, die über die Jahre verkrustet waren. Dicker Schorf. Der die Wunde bestmöglich schützt. Der aber gleichzeitig das Verheilen der Wunde anzeigt.

Indischer Luftraum, drei Monate nach der Trennung

Viele Monate später sitze ich im Flieger und frage mich, ob du ab und zu daran denken wirst, dass ich auf dem Weg nach Südostasien bin. Wir waren noch ein Paar, als ich diese Reise gebucht habe, zusammen mit Mathias, meinem Freund aus Grundschulzeiten. Du hast mich gelassen, weil du selbst nicht mitkommen konntest. Dein Zögern war kaum wahrnehmbar. Ein kurzes Stocken in deinem Willen zu vertrauen. Ich beruhigte dich, dass du dir keine Sorgen machen bräuchtest, Mathias wie ein Bruder für mich sei.

Du stelltest dazu fest: »Selbst wenn ich es dir verbieten würde, würdest du es tun«, und hattest mich dabei im Arm.

Wir mussten lachen, und ich sagte: »Wahrscheinlich schon.«

Noch etwas sagtest du. Dass du sofort eine Nachricht bekommen möchtest, wenn ich etwas mit ihm anfange. Wenn der Bruder zum Geliebten wird. Du nicht zuhause auf mich warten wirst, um nach meiner Rückkehr zu hören: »Ich habe dich betrogen.«

Tatsächlich werde ich dir keine Nachricht schicken, weil wir uns schon ein paar Monate nichts mehr schreiben, nichts mehr voneinander wissen. Und damals dachte ich, dass uns unsere Sätze entlarven, unsere Wunden offenlegen. Ich spürte einen nicht verarbeiteten Betrug in dir. Eine unerhörte Demütigung. Ich schwor mir, dich nie zu betrügen. Bei allem, was ich dir noch antun würde – denn wer sich einlässt, tut an, tut sich den anderen an – betrügen würde ich dich nicht.

Und vielleicht hat es dir mehr ausgemacht, als du zugeben wolltest, dass ich mit einem anderen Mann verreisen würde. Denn immer, wenn ich die Reise erwähnte, war es, als hörtest du zum ersten Mal davon. Meiner Vorfreude auf Myanmar. Diesem Land, dessen Namen du dir nicht merken konntest. Oder wolltest. Immer wieder fragtest du: »Myanmar?« Als wärst du aus einem Traum erwacht. Es machte mich ungehalten, weil du dir vieles nicht merken konntest, die kleinsten Dinge vergaßt. Wo ich den Kaffee aufbewahrte, zum Beispiel. Immer, wenn du bei mir übernachtet hattest, standest du suchend in der Küche. Wo denn nun. Ich hielt es am Anfang für ein Spiel, doch es war wie ein Riss in deinem Hirn. Ein Riss, mit dem ich schwer zurechtkam. Zuletzt nicht mehr.

»What would you like to drink?«, die Stewardess holt mich aus meinen Gedanken.

»An orange juice and some water, please.«

Neben mir schlürft Mathias bereits seine Cola mit Eis und grinst mich an. Er ist verkabelt mit seinem Film, die Bilder flimmern über den winzigen Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes.

Wann hast du zuletzt in einem Flugzeug etwas zu trinken bekommen? Wahrscheinlich wärst du jetzt schon steif vom vielen Sitzen und würdest dich beschweren. Vielleicht würde meine Vorfreude aber auch auf dich überschwappen, und an mich gelehnt würdest du aus dem Fenster sehen, auch, wenn dort gerade nichts war außer Nacht und dem Blinken am äußersten Ende der Tragfläche.

»Ich möchte nichts verpassen«, würdest du sagen, »ich möchte den Sonnenaufgang über den Wolken nicht verpassen.«

Das nächste Mal war Sofie mit Arvid zum Essen verabredet. Er hatte bei einem Japaner reserviert, den sie noch nicht kannte. Sofie war pünktlich und schon fast am Treffpunkt, als er anrief, wo sie bliebe. Er war besorgt, dass ihre Plätze verfallen könnten, da sie noch eine Weile laufen müssten.

»Beeil dich!«, trug er ihr auf.

Sie verstand seine Aufregung nicht: »Wir werden rechtzeitig da sein. Zur Not gehen wir woanders hin.« Die Stadt war schließlich voll von Restaurants – als gäben sie sich die Klinke in die Hand.

Nein, Arvid beharrte, sie solle schnell machen jetzt, und sie mochte diese Starrheit nicht. Trotzdem freute sie sich auf ihn. Doch als sie ihn an der Ecke stehen sah, verlangsamte sie ihre Schritte, als könnte sie die Zeit anhalten, mehr noch, zurückdrehen, damit sich ihr ein anderes Bild böte, eins, an dem sie sich nicht sattsehen konnte, eins, das sie sich gerne großformatig ins Zimmer gehängt hätte.

Stattdessen der blitzartige Gedanke: »Es wird nicht gehen.«

Ein Kopfschuss in die Hoffnung – Sofie knickte fast weg unter ihrer Ernüchterung. Denn Arvid wirkte gehetzt und unsicher, dazu übermäßig gestylt, jeglicher Zauber, den sie die letzten Male empfunden hatte, war verflogen. Enttäuscht begrüßte sie ihn, doch er schien es nicht zu bemerken. Er war froh, dass sie da war und sie noch eine Chance auf ihre Plätze hatten. Wie ein Roboter schritt er im Geiste die Zeitfenster ab, die sich vor ihnen auftaten. Wie schnell sie gehen müssten, um. Die grobe Schätzung, dass sie es schaffen könnten, wenn. War er wirklich so unflexibel? Ihre Enttäuschung wich fast der Aggressivität, als er ohne Punkt und Komma begann, sich über seine Schuhe aufzuregen, die quietschten, wie er fand; dass das ein Unding sei und ein Reklamationsgrund, und am besten solle er gleich Schadenersatz verlangen.

Und sie fragte sich, wo das große Ganze geblieben war und ob jemandem, der sich mit solchen Kleinigkeiten aufhielt, die Tiefe fehlte. Aber vielleicht war sie vorschnell in ihrem Urteil. Was sie hoffte. Inständig hoffte. Denn sie wollte doch. Wollte so unbedingt wieder mitgerissen werden von jemandem.

Vielleicht hat er nur einen schlechten Moment, beruhigte sie sich. Warte ab.

Beim Japaner war ihr Tisch wie erwartet noch frei. Arvid ließ Sofie den Platz auf der Bank aus Teakholz, und so hatte sie einen guten Blick in den lang gestreckten, hellgrau gestrichenen Raum. Kugellampen aus Milchglas hingen in regelmäßigen Abständen von der Decke und warfen ein warmes, diffuses Licht. Die Möbel waren schlicht, Tische und Stühle aus Holz quaderförmig zusammengezimmert. Wie ein Grundkurs in Geometrie. Von der Sushitheke hinten im Raum drang ab und zu ein Klappern herüber, die Schritte der Bedienung blieben als angenehmer Hall auf dem Boden liegen. Am Nachbartisch saß ein Pärchen, zwischen dem das Gespräch floss wie auf einem unsichtbaren Band. Dazu im Kontrast stand die Fremdheit, die sie Arvid gegenüber spürte, der damit begonnen hatte, permanent die Karte zu kommentieren und ihr kaum Gelegenheit ließ, selbst darin zu lesen. Sie fand trotz seiner Geräuschkulisse die Dinge, die sie wollte, und als beide bestellt hatten, schien er entspannter. Als wäre das schwierige Tagwerk hiermit getan. Sollten sich doch die Köche damit herumschlagen. Es lag jetzt in anderer, fremder Hand.

Arvid erzählte, dass er dabei war, ein Portfolio mit seinen aktuellen Grafikprojekten zusammenzustellen, da das Budget in seiner jetzigen Agentur weiter gekürzt, im schlimmsten Fall gestrichen und es ihn als Freelancer als ersten treffen würde. Weswegen er sich nach etwas anderem umsehen müsse. Ohnehin könne der dortige Job nur eine Zwischenlösung sein. Er wolle mit großen Namen arbeiten und sich nicht in einer kleinen Klitsche mit Aufträgen von Kunden verdingen, die nicht auf seiner Wellenlänge lagen.

Es war schwierig, ihm zu folgen, weil er Überleitungen wegließ und mit Sofie sprach, als kenne sie die Agenturinterna und seine Kollegen persönlich. Gib mir Relativsätze, dachte sie, doch sie hakte geduldig nach und entknäuelte so das Wirrwarr, das er vor ihr auf den Tisch warf.

Bald waren sie abgelenkt durch die Maki und Inside-Out-Rolls, die wie Muster auf den dunklen Holzbrettchen angeordnet waren. Sie tunkten sie in Sojasoße mit viel Wasabi, und die Schärfe des Meerrettichs trieb ihnen Tränen in die Augen. Sie probierte bei ihm, er probierte bei ihr, und die Beschäftigung mit dem Essen und dem unterschiedlichen Geschmack nach scharfem Thunfisch, nach Avocado und Mango brachte auch alles andere in Fluss.

Ob sie wisse, dass sie ständig wechselnde Gesichter habe, fragte er. Dabei verrenkte er sich, um sie von allen Seiten anzusehen. Sie musste lachen und wedelte mit den Stäbchen in seine Richtung, als wollte sie ihn verscheuchen. »Schon wieder anders!«, kommentierte er, und dass es wohl daran liege, dass er sie auf ganz besondere Weise wahrnehme. Ein Gesicht wie eine Katze hätte sie: Mit diesen großen, blaugrauen Augen und den feinen, gleichzeitig kantigen Gesichtszügen. Als könnte man sich daran schneiden, wenn sie es darauf anlegte.

Später, als sie weiterzogen in eine Bar, legte sich die Luft wie ein kalter Umschlag um sie. Sofie fröstelte in ihrer dünnen Strickjacke, die ihrer Fehleinschätzung des Frühsommers geschuldet war. Sobald die Sonne verschwand, verwandelte sich der Juni in eine schlechte Kopie des Herbstes – trotz der Bäume, die dastanden in dichtem Grün, und der Nacht, hinter der man das Licht auch jetzt noch erahnen konnte. Sofie hüpfte auf dem Gehsteig auf und ab, um sich warm zu halten.

»Lass uns schnell gehen«, bat sie Arvid, »noch schneller als sonst.«

Wie zwei Schatten huschten sie durch die nächtlichen Straßen. Ihr Atem ging keuchend, weil sie rannten und redeten. Über Geschwister. Arvid hatte mit dem Fragen begonnen. Er, das Einzelkind.

»Ein großer Bruder passt zu dir«, fand er, als sie ihm von Marc erzählte. Dass er auch gerne Geschwister hätte, als Verstärkung. Um die Überfürsorge der Mutter abzufedern, den gegenseitigen Besitzanspruch.

»Geschwister können auch schwächen, du kennst meine jüngere Schwester Marie nicht«, lachte Sofie.

Es überraschte ihn nicht, dass sie ein Sandwichkind war. Dass er diese Flexibilität gleich an ihr bemerkt habe. Und ob er ihrem Bruder ähnlich sei, nachdem er herausgehört hatte, dass ihre Stimme voller Wärme war, wenn sie von Marc sprach.

»Das bleibt bis auf Weiteres mein Geheimnis«, lächelte sie.

Arvid war damit zufrieden: Dass er auch gar nicht wisse, ob er sich Ähnlichkeit wünschen solle.

Nach ein paar Blocks hatten sie die Bar erreicht. Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen eine Wand aus Stickigkeit und Rauch entgegen, als gäbe es etwas zu verteidigen. Es war, als beträten sie eine andere Klimazone. Sie bahnten sich einen Weg an den dicht gedrängten Leuten vorbei an die Theke, um ihre Drinks zu bestellen. Während sie warteten und der Barkeeper gekonnt mit den Flaschen hantierte, sah Sofie den Goldfischen zu, die in einem Aquarium vor dem Fenster ihr Dasein fristeten. Sie zogen ihre kleinen Körper in ermüdenden Bahnen durch das ausgeleuchtete, enge Bassin. Eine verkümmerte Wasserpflanze erhob sich wie in stummem Protest. Der Bass brachte die Theke unter Sofies Hand zum Vibrieren.

Sie begann, über die Mortalitätsrate von Kneipenfischen nachzudenken. Ob sie früher stürben als Wohnzimmerfische. Dass Katzen und Hunde eine geringere Lebenserwartung hätten, wenn sie ständigem Rauch ausgesetzt seien. Die tägliche Dosis Teer für den frühen Tod. Sie berührte fast Arvids Ohr, als sie sprach.

»Ich würde in diesem Aquarium vor allem sterben, weil mich alle anstarren«, kam von ihm. (Wenn Blicke töten.)

»Manche Leute würden erst richtig aufblühen, wenn sie so eine Bühne hätten.«

Sofie spürte Arvids Oberarm an ihrem. Wie ein körperliches Zwischen-den-Zeilen, als er bemerkte: »Ich bewege mich lieber im Hintergrund. Für dich wäre das vielleicht was.«

»Der Mittelpunkt?«

»Der Hintergrund ist jedenfalls nichts für dich.«

»Vielleicht nicht. Zumindest nicht dauerhaft.«

»Du gehörst in den Vordergrund, alles andere wäre Verschwendung.«

Sie überhörte das Kompliment und fragte: »Wollen wir es draußen versuchen? Vielleicht hat sich ja ein plötzliches Azorenhoch über die Stadt gelegt.«

»Unwahrscheinlich, aber unbedingt. Hier drin bleibe ich nicht. Hier braucht man ja eine Sauerstoffmaske.«

Die beiläufig hingestellten Tische auf dem Kopfsteinpflaster, durch das sich an manchen Stellen die Baumwurzeln gebohrt hatten, waren wie ein kleines Stück Wildheit in dieser zubetonierten Stadt. Sofie schlug vor, von zuhause ihren Mantel zu holen, es sei nicht weit. Doch davon wollte Arvid nichts wissen, er wollte an diesem Abend nicht auf sie verzichten. Stattdessen bot er an, seine Jacke mit ihr zu teilen, um der Kälte etwas entgegenzusetzen.

Wieder hatte hier das Wetter die Finger im Spiel. Hatte der sintflutartige Regen bei ihrer ersten Begegnung für die nötige Gelöstheit gesorgt, brachte sie das Frösteln jetzt dazu, zusammenzurücken und seine Jacke wie eine Decke über sich auszubreiten. Sofie spürte die Wärme, die sein Körper abstrahlte, diese Wärme, die sie anlockte, die er wie einen Köder ausgeworfen hatte. Auch sie hatte ihren Köder ausgelegt, und sie bissen gegenseitig an und verringerten den Abstand zwischen sich. Sie legten die Unterarme nebeneinander und spürten die Haut des anderen. So war es nur eine logische Konsequenz, dass sich ihre Hände fanden und ihr Atem den neuen fremden Mund immer dichter umkreiste.

Der erste Landeanflug auf ein Gesicht. Anspannung und Euphorie. Ihre Lippen hinterließen Markierungen auf den Wangen des anderen, zeichneten das Gesicht des anderen nach, bis sie den gemeinsamen Atem aufnahmen und die Münder sich fanden und gut miteinander konnten. So gut, dass sie alles andere vergaßen, sich wiederbelebten nach Monaten der Abstinenz und nicht aufhören konnten, die Münder ineinander fallenzulassen – weil eine Leere zu füllen war, weil diese Berührungen, einmal begonnen, nicht aufzuhalten waren. Der Geschmack des anderen einer Droge gleichkam, die beim ersten Schuss abhängig machte.

Manchmal hielten sie inne und sahen sich an, jetzt trunken im Blick, und auch die Umgebung reagierte auf sie. Zwei Spaziergänger blieben stehen, sprachen von Glück und dem Wunsch, selbst verliebt zu sein. Am Himmel hing das Licht einiger Straßenlaternen wie ein geborgter Mond. Und Arvid flüsterte ihr ins Ohr, dass er geglaubt habe, ein skandinavischer Name sei für sie passender als für ihn, weil sie eine gewisse Kühle und Unnahbarkeit besitze. Wie sein Vater. Freundlich, aber undurchdringlich wie Stein. Dass sie stattdessen anschmiegsam sei, anziehend.

Er hatte die vordergründige Offenheit von ihr durchschaut und ihr eigentliches Wesen erkannt. Das Verschlossene. Es freute sie, doch sie behielt es für sich.

Das Rascheln der Blätter im aufkommenden Wind kündigte den nächsten Regenguss dieses nassen Sommers an. Das helle Rechteck der Bar mit seinen Farben aus Gelb und Orange wirkte zwar einladend, doch sie wollten nicht in diese dichte Schicht aus Rauch und Geräusch eintreten, da ihnen nach Stille und Zweisamkeit war. Die ersten zaghaften Tropfen wurden sekündlich stärker.

»Mein Auto steht ein paar Querstraßen entfernt«, schlug Sofie vor.

»Das schaffen wir nicht mehr!«, und Arvid zog sie auf, ob sie ihn auf dem Rücksitz vernaschen wolle. Sofie zeigte unterdessen auf einen Hauseingang, der auch bei seitlichem Regen Schutz bot, und nahm Arvid, bereits laufend, bei der Hand.

Wieder fanden sich ihre Münder, und sie pressten ihre Körper durch die Kleidung aneinander; der Regen ein Rauschen in der Nacht, der sämtliche Stimmen geschluckt hatte und verhinderte, dass überhaupt jemand unterwegs war. Es war, als hätten sie die Nacht für sich allein, und nur vereinzelt vorbeifahrende Autos gaben dem Rauschen eine zusätzliche Klangtiefe.

»Du hast ja die Augen auf beim Küssen«, stellte Arvid begeistert fest. Er erzählte, dass manche Frauen irritiert gewesen seien ob seiner offenen Augen. Ob er denn nie loslassen und sich fallenlassen könne.

»Vielleicht möchtest du sehen, wenn du fällst«, war ihre Erklärung, und wie zur Bekräftigung umschloss er mit seinen warmen Fingern ihre Hand, als suchte er Halt.

Am nächsten Tag rief er an, um ihr zu sagen, dass heute die halbe Stadt zu jenem Hauseingang pilgere, in der Hoffnung, dasselbe zu erleben wie sie gestern. Sofie stand in der frühen Nachmittagssonne auf der Straße und freute sich über diesen Satz. Wann denn wieder, wollte er wissen.

Und weil sie nicht mehr das Tempo hatte wie damals und immer etwas innehalten, alles auf sich wirken lassen wollte, nicht zu schnell, zu viel, zu alles, schlug sie ihm übermorgen vor, übermorgen nach der Arbeit, und angeblich sei dann auch Sommer.

Arvid mochte den Vorschlag. Sie verbrachten den Sonntag zwar ohne einander, doch das war gelogen, weil Sofie fast die ganze Zeit an ihn dachte und sich sicher war, dass es ihm genauso ging.

Indischer Luftraum, drei Monate nach der Trennung

Wenn du wüsstest, wie viel ich auch jetzt an dich denke. Vielleicht liegt es an der Zeitlosigkeit von Langstreckenflügen, die dieses Vakuum hervorrufen. Als ich das letzte Mal verreist war, dachte ich zwar auch an dich, aber es war wie ein Blinzeln. Ich wusste, dass du zuhause unablässig an mich dachtest, und diese Intensität reichte für uns beide. Ich wusste, dass du keine ruhige Minute hattest, während ich im Flieger saß. Fliegen war etwas Unheimliches für dich.

Wären wir noch zusammen, hätte ich dir vor dieser Reise verschwiegen, dass die Autofahrten in Asien gefährlicher sind als das Fliegen mit jeder noch so klapprigen Maschine.

Sofort nach meiner Landung hättest du die Nachricht gebraucht: »Gelandet. Boden unter den Füßen. Ich bin noch. Warte auf mich. Ich denke an dich. Im Schlaf wirst du mir erscheinen und dich zu mir legen.«

Und am anderen Ende der Welt hätte ich dein Aufatmen gespürt, wenn in Sekundenschnelle die Antwort da gewesen wäre: »Egal, wo du landest, bin ich schon da und rolle dir den roten Teppich aus.«

Und tatsächlich fühlt es sich so an, als lägen deine Gedanken überall in den Ländern verteilt, die du noch nie betreten hast. Ich erschrecke, weil ich jetzt viel zärtlicher an dich denken kann als damals, als wir noch zusammen waren. Hätte ich es gebraucht, dass du dich entziehst?

Du warst immer da, auch wenn du nicht da warst.

Hast du mir die Sehnsucht nach dir geraubt, weil du mir nie Anlass dazu gabst, mich zu sehnen?