Wegen Todesfalls geöffnet

Wegen Todesfalls geöffnet

Denkwürdige Geschichten aus der Pathologie

Hans Bankl

Seifert Verlag

Herausgegeben von Christa Bankl

Gewidmet in memoriam Univ.-Prof. Dr. Lothar Kucsko, dem Lehrer und Mentor meines Mannes am pathologischen Insti- tut der Universität Wien

Inhalt

Vorwort

1. Wozu braucht man die Pathologie überhaupt?

2. Die Obduktion ist das medizinische Gewissen

3. Der nackte Mensch

4. Altes und Neues von der Schilddrüse

5. Der Tod und die Künstler

6. Ein Domestik, der zu viel wusste

7. Die Sache mit dem Altern

8. Anzeigepflichtige Krankheiten aus der Sicht des Pathologen

9. Schuberts Krankheit hatte mit seinem Tod nichts zu tun

10. Kein Respekt vor Friedenskundgebungen

11. Ersatzteile für den menschlichen Körper

12. Alles – nur keine Geschlechtskrankheit

13. Mikroben und Blutmagie

14. Das Problem mit den Todesursachenstatistiken

15. Der Umgang mit Leichen

16. Freitag, der 13.

17. Lebensgeschichten: Mythen und Hintergründe

18. Der Mensch kommt auf den Hund

19. Sein allerletztes Wort galt der Schwiegertochter

20. Iffland und seine Ringe

21. Das Geheimnis körperlicher Schönheit

22. Wissenswertes zum Nah-Tod

23. Die 55 letzten Tage des Voltaire

24. Der Eid des Hippokrates – ein Gelübde ärztlicher Selbsterziehung

25. Was noch zu sagen ist

Quellen

Anmerkungen

Vorwort

von Christa Bankl

Anfangs möchte ich klarstellen, ich bin weder eine Schriftstellerin, noch verstehe ich das Geringste von Medizin. Ich bin das Produkt eines äußerst klugen Mannes und Lebensgefährten vieler Jahre. Ich bin eine ganz einfache Frau, mit leider, scheint mir manchmal, zu viel Herz und Gefühl. Trotzdem möchte ich über den Tod meines Mannes berichten, da er sich doch über so viele Jahre über die Todesursachen von so vielen Menschen Gedanken gemacht, Recherchen betrieben und veröffentlicht hat.

Wie stirbt ein Pathologe?

Was muss seelisch in meinem Mann vorgegangen sein bei der ersten Diagnose? Er wusste mit Sicherheit sofort den Verlauf und das Ende der Krankheit. Ich bekam mit Bleistift gezeichnet auf ein Blatt Papier eine Lunge mit nebulosen Zeichen (Krebszellen): „Das frisst mich jetzt auf!“

Da mein Mann bis zu einer vorangegangenen Erkältung stets gesund und kräftig war, war das zwar ein momentaner Schock, aber der Gedanke an das „Wunder Medizin“ war selbstverständlich! Der eigene Tod war kein Thema.

Nach einer Röntgenuntersuchung und Bronchoskopie war die Diagnose „Plattenepithelkarzinom“ an der Narbe der Lunge von einer in der Kindheit befallenen Tuberkulose.

Es kam noch eine Spezialuntersuchung in Linz dazu. Diagnose: Metastasen im Unterkiefer. Damit war selbst mir der Ernst der Lage klar. Das geschah alles innerhalb einer Woche. Die Behandlung war vorgezeichnet: Chemotherapie.

Nun muss ich etwas berichten, was mir seit drei Jahren auf der Seele liegt. Vom ersten Tag der Krankheit bis zum Tode waren es fünf Wochen, und in dieser Zeit wurde mein Mann von Herrn Primarius Dr. Dam betreut, begleitet, wie es nur ein allerbester Freund imstande ist, und das alles in unserem Haus. Tagtäglich am Morgen und am Abend war Visite. In kritischen Momenten, und das waren nicht wenige, hastete Herr Primarius Dam herbei, um die entsprechende Behandlung durchzuführen.

Einen Tag und eine Nacht verbrachte mein Mann im Krankenhaus, dann mussten wir das Versprechen ablegen, ihm die Möglichkeit zu geben, daheim in Ruhe sterben zu können. Keine Krankenschwester, keine Besuche.

Heute weiß ich: Es war der einzig richtige Weg, einem bewusst Sterbenden diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Vielleicht fällt in vertrauter Umgebung der Abschied vom Leben leichter.

Sein Wille war, zu Hause zu sterben, in Ruhe, in seiner Umgebung, mit den Hunden in seinem Arbeitszimmer. Er war der tapferste, geduldigste und liebevollste Patient. Nur, was dachte er wirklich, den Tod vor Augen?

Die nächste Schreckensdiagnose waren Hirnmetastasen. Seine Methode war, uns jeden Tag einen medizinischen Witz oder eine Anekdote aus seinem Leben zu erzählen, als Beweis für sein funktionierendes Gehirn. Wiederholt seine Worte „Noch ist es nicht so weit!“ – meine Gefühle dabei sind noch heute unbeschreiblich.

Das Arbeitszimmer wurde in ein Krankenzimmer umfunktioniert, um Platz für zwei fahrbare Sauerstoffgeräte zu schaffen. Die Atemnot wurde immer dramatischer, Tag und Nacht konnte mein Mann nur sitzend verbringen. Kein Satz ist zutreffender: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich fürchte mich vor dem Sterben.“

Freitag, der 10. Dezember 2004

Wie jeden Morgen Besuch von Primarius Dam und Absprache über die Behandlung, die außerdem mit einem Wiener Onkologen abgestimmt war. Es war die bestmögliche Behandlung, die es gab – und das daheim. Gegen Mittag kam Primarius Dam noch einmal vorbei, da die Atemnot dramatischer wurde. Der Zustand meines Mannes besserte sich rasch wieder, und er erholte sich bis zum Nachmittag. Das Essen war immer ein Problem: Er hatte keinen Appetit, dementsprechend verlor er auch rapide an Gewicht. Mir wurde bewusst, ein geliebter Mensch entgleitet mir, ich kann nichts tun für ihn, er entschwindet in eine andere Welt.

Diese Hilf- und Machtlosigkeit gegenüber einem so unentrinnbaren Schicksal, ich konnte es nicht glauben, ich war nicht mehr ich selbst.

Plötzlich wollte mein Mann unbedingt zu seinem Schreibtisch; da sein Körper so geschwächt war, war dies eine fast unmögliche Anstrengung. Am Schreibtisch dann vermisste er etwas Persönliches, für ihn eine Tragödie! Nie in meinem Leben habe ich ihn so betroffen und verzweifelt gesehen. Mein ganzes Leben werden mich die letzten Stunden meines Mannes und seine Enttäuschung verfolgen.

Am Abend kam Primarius Dam, und mein Mann erholte sich emotional wieder. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde eine Punktion vorgenommen, die ihm Erleichterung brachte. Plötzlich wurde er gesprächig. Er erzählte aus unserem Leben, unserer Begegnung, meiner nicht einfachen Kindheit, und dann machte er mir die schönste Liebeserklärung, die ich je von ihm bekommen hatte.

Weiß ein Sterbender, wie nah sein Ende ist?

Primarius Dam blieb diesmal länger als gewöhnlich, da mein Mann noch viele Dinge aus der Vergangenheit erzählte. Beim Abschied sagte er mir, dass es meinem Mann nicht gut gehe, sein Zustand sei bedenklich. Um Mitternacht verließ ich meinen Mann, sitzend im Bett, und ging nebenan in das Schlafzimmer. Die Türen blieben offen, mein Mann hatte eine Glocke, um jederzeit zu klingeln.

Das Sonderbare war, es mussten in der Nacht immer die Lampen hell leuchten und der Fernsehapparat eingeschaltet sein. Mich quält immer noch die Frage: War es die Angst vor der ewigen Finsternis?

Nach ein Uhr spürte ich die Schnauze unseres Hundes Angelo, er lief aufgeregt aus dem Zimmer. Ich fand meinen Mann, im eiskalten Schweiß, aber noch am Sauerstoff angeschlossen, die Glocke lag am Fußboden. So gut es ging, brachte ich ihn wieder in die sitzende Lage, seine letzten Worte waren: „Niemand mehr.“

Um ein Uhr dreißig war Primarius Dam schon wieder hier, er untersuchte meinen Mann. Jede Hilfe wäre nun vergebens gewesen. Ich wollte meinen Mann auch nicht sterbend ins Krankenhaus bringen lassen. Es war so sein Wille. Ganz ruhig atmete er, wir blieben bei ihm sitzen, ich hielt seine Hand, die immer kälter wurde.

Am Morgen fuhr Primarius Dam nach Hause, mit dem Trost, dass mein Mann ganz ruhig einschlafen würde. Um neun Uhr vierzig ließ ich seine Hand los und ging aus dem Zimmer. Nach fünf Minuten kam ich wieder, da war sein Leben schon zu Ende. Es war der 11. Dezember 2004. Heute denke ich mir, vielleicht war seine freimaurerische Überzeugung beim ruhigen Hinübergleiten vom Leben in den Tod hilfreich.

Primarius Dr. Dam kam wieder, und noch ein andere Arzt. Alles lief wie ein Alptraum ab. Ich war erstarrt, ich kann mich nicht erinnern, geweint zu haben. Erst danach kam die Trauer mit aller Wucht und hält an bis heute, nach drei Jahren. Ich kann nichts vergessen. Und so wird es auch bleiben.