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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuauflage 2020

Vorwort zur Neuauflage 2006

Vorwort der Herausgeberinnen

Audre Lorde Gefährtinnen, ich grüße euch

MAY AYIM/OPITZ: RASSISMUS, SEXISMUS UND VORKOLONIALES AFRIKABILD IN DEUTSCHLAND

Vorkoloniales Afrikabild, Kolonialismus, Faschismus

Die ersten Afrikaner/innen in Deutschland

Im Mittelalter: »Mohren« und weiße Christen

Von »Mohren« zu »Negern«

»Rasse« – die Konstruktion eines Begriffs

Sexismus und Rassismus

Die Deutschen in den Kolonien

»Kulturauftrag« und »Heidenmission«

Deutsche Frauen in den Kolonien

Kolonialisierung des Bewusstseins durch Mission und »Bildung«

Das koloniale Erbe

AFRIKANERINNEN UND AFRO-DEUTSCHE IN DER WEIMARER REPUBLIK UND IM NATIONALSOZIALISMUS

Kriegsniederlage und Rheinlandbesetzung

»Schwarze Vergewaltiger« und »Rheinlandbastarde«

Schutz der Familie und Zwangssterilisation

Anmerkungen und Bildnachweis

Anna G. und Frieda P. Unser Vater war Kameruner, unsere Mutter Ostpreußin, wir sind Mulattinnen

MAY AYIM/OPITZ: AFRO-DEUTSCHE NACH 1945 – DIE SOGENANNTEN BESATZUNGSKINDER

Die einen und die anderen Menschen

Wissenschaftliche Studien zur Situation in den 50er Jahren

Anmerkungen

Helga Emde

Als Besatzungskind im Nachkriegsdeutschland

Astrid Berger

Sind Sie nicht froh, dass Sie immer hier bleiben dürfen?

Miriam Goldschmidt

Spiegle das Unsichtbare, spiel das Vergessene

MAY AYIM/OPITZ: RASSISMUS HIER UND HEUTE

Alltäglicher Rassismus in Kinder- und Jugendbüchern

Afro-Deutsche zwischen Selbstbehauptung und Selbstverleugnung

Identifikation und Selbsteinschätzung

Die »Zwischenwelt« als Chance

Anmerkungen und Bildnachweis

Laura Baum, Katharina Oguntoye, May Opitz (Dagmar Schultz)

Drei afro-deutsche Frauen im GesprächDer erste Austausch für dieses Buch

Eleonore Wiedenroth

Was macht mich so anders in den Augen der anderen

Corinna N. Das alte Europa trifft sich woanders

Angelika Eisenbrandt Auf einmal wusste ich, was ich wollte

Julia Berger Ich mache dieselben Sachen wie die anderen

Abenaa Adamako Mutter: Afro-Deutsche,
Vater: Ghanaer

May Opitz Aufbruch

Katharina Oguntoye

Was ich dir schon immer sagen wollte

Katharina Birkenwald

Ich wollte nie schreiben, ich konnte nie anders

Anhang

Gloria Wekker Überlieferinnen:

Porträt der Gruppe Sister Outsider

Danksagung

Wir danken allen Frauen, die durch Gespräche und Texte dieses Buch ermöglicht haben. Nur durch ihren Einsatz, ihre Bereitschaft und Offenheit konnte Farbe bekennen so viele Teile unseres Lebens und unserer Geschichte offenlegen.

Unserer Lektorin Claudia Koppert ein besonderes Dankeschön. Sie hat in mühevoller Kleinarbeit einfühlsam unsere Texte redigiert und uns darüber hinaus wichtige Hinweise und Denkanstöße gegeben.

Wir danken den Autorinnen, dass sie uns Photos aus ihrem Privatbesitz zur Verfügung gestellt haben.

Vorwort zur Neuauflage 2020

„Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ wird erneut aufgelegt und erscheint im Frühjahr 2020. Nachdem es seit Längerem nicht mehr erhältlich war, ist das eine aufregende Sache.

34 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, wird „Farbe bekennen“ immer noch nachgefragt und gelesen. Es war das erste Buch seiner Art, welches die afro-deutsche Erfahrung aufzeigte und zur Inspiration für die Anfänge der afro-deutschen Bewegung wurde. Wir erkannten bald, dass „Farbe bekennen“ ein Handbuch sein würde, welches für die Community und Interessierte lange Zeit eine wichtige Referenz sein würde. May Ayim und ich haben viele Interviews gegeben und Lesungen gemacht, denn verkauft hat sich „Farbe bekennen“ zunächst nicht. Auch wenn die Verkaufszahlen nie hoch waren, war doch immer deutlich, wie wichtig dieses Buch für seine Leser*innen war und ist.

Wir konnten damals aber nicht vorhersehen, dass es kontinuierlich über drei Jahrzehnte eine solch hervorragende Bedeutung für die Entwicklungsprozesse der Community und vieler Einzelpersonen haben würde. Auch seine historische und gesellschaftspolitische Relevanz ist weiterhin super aktuell. Sowohl für Interessierte als auch für betroffene Personen, die sich über den Themenkomplex der Schwarzen deutschen Bevölkerung informieren möchten, ist „Farbe bekennen“ nach wie vor ein wichtiger Einstieg.

In den Jahrzehnten hat sich viel verändert, in Deutschland ist eine vielfältige Schwarze Bewegung entstanden (auch in der Schweiz und in Österreich), das zeigt sich unter anderem an der großen Vielfalt der Projekte, Initiativen und Vereine – in Berlin und vielen weiteren Städten. Tief berührt sind wir jedoch von den bewegenden Berichten junger oder älterer Afro-Deutscher, die „Farbe bekennen“ erst vor kurzem in die Hand bekommen und gelesen haben.

In der Zusammenstellung von historischen Hintergrundtexten zur afro-deutschen Erfahrung in der Zeit des nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, zur davorliegenden Kolonialzeit und der Nachkriegszeit, verbunden mit eindringlichen biografischen Berichten von Frauen aus unterschiedlichen Generationen, sowie einer Anzahl ganz großartiger Gedichten, bietet „Farbe bekennen“ einen einzigartigen Zugang zum Verständnis der Lebenswirklichkeiten von Schwarzen Menschen in Deutschland.

Das Buch „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ wird weiterhin gebraucht und erreicht Menschen, für die es einen großen Wert hat und die es für ihre persönliche Entwicklung nutzen. Das ist der Grund, warum wir „Farbe bekennen“ gemacht haben und das ist auch ausschlaggebend für diese Neuausgabe. Der Orlanda Verlag und die Autorin Katharina Oguntoye möchten, dass „Farbe bekennen“ nach langer Pause wieder erhältlich ist und der Community und einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

Wir möchten May Ayim, deren Recherche für die historischen Teile von „Farbe bekennen“ genutzt wurde, ehren, indem wir ein May-Ayim-Förderstipendium für Schwarze deutsche Autor*innen ins Leben rufen. Näheres dazu findet sich in Kürze auf der Website von Orlanda.

Katharina Oguntoye, Berlin Januar 2020

Vorwort zur Neuauflage 2006

WIE ALLES BEGANN

Der Anfang war die gemeinsame Initiative von Audre Lorde, einer großen Dichterin, Aktivistin und Kämpferin gegen Unterdrückung, und eines kleinen Verlages der Frauenbewegung, vertreten durch die Verlegerin Dagmar Schultz. Erstere forderte uns auf, unsere Existenz und Erlebnisse einander und der Welt bekannt zu machen, Letztere setzte dieses Projekt mit ihrem Know-how und Engagement um, indem sie den Entstehungsprozess von Farbe bekennen als Herausgeberin begleitete. Großzügig unterstützte sie uns, die jungen Mitherausgeberinnen, und während des intensiven, zwei Jahre andauernden Arbeitprozesses wurden wir zu einer gleichberechtigten Herausgeberinnengruppe, zu der außer May Ayim und mir auch die Lektorin Claudia Koppert gehörte.

Audre Lorde hat uns nicht nur zu dieser Arbeit ermutigt, sondern uns auch in den Jahren danach bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Jahre 1992 empathisch begleitet. Es ist ein glücklicher Umstand für uns, die Schwarze Community in Deutschland, dass ihr weltweites Engagement in der Frauenbewegung sie auch an diesen Ort führte. Einmal stieß sie mit der Anregung zu Farbe bekennen die Schwarze Bewegung in Deutschland mit an und auf der anderen Seite setzte sie den Diskurs über Rassismus in der weißen deutschen Frauenbewegung in Gang und brachte ihn voran. Ich bin dankbar für das Geschenk, welches sie uns mit ihrem Einsatz, ihrer politischen Intelligenz und Integrität gemacht hat. In den vergangenen Jahren sind nun zwei biographische Bücher (Die Anthologie Conversations with Audre Lorde, Hg. J. W. Hall und die Biographie Warrior Poet von Alexis De Veaux) erschienen, so dass Audre Lordes Stimme und ihr Wirken für kommende Generationen erhalten bleiben.

WIE ES WEITERGING

Zwanzig Jahre sind vergangen seit Farbe bekennen veröffentlicht wurde. Zwanzig Jahre, in denen sich vieles verändert und doch so vieles noch unverändert Bestand hat. Afrodeutsche/Schwarze Deutsche sind aus ihrer einst isolierten Situation herausgetreten, denn inzwischen leben immer mehr Menschen afrikanischer Herkunft aus den unterschiedlichsten Gründen in diesem Land und das erhöht unsere Sichtbarkeit.

Als wir 1984 mit dem Buchprojekt Farbe bekennen begannen, war unsere Situation als Schwarze Menschen in Deutschland noch von Vereinzelung geprägt. Wir waren in einem Land aufgewachsen, das sich nicht als Einwanderungsland sah und das die bereits vorhandene Multikulturalität seiner Bevölkerung leugnete. In Deutschland wurde heftig darüber gestritten, ob Antisemitismus und/oder Ausländerfeindlichkeit hier überhaupt existieren. Das Thema Rassismus wurde meist tabuisiert und war noch nicht im allgemeinen Diskurs angekommen. Das änderte sich erst nach und nach durch die Auseinandersetzungen Ende der 1980er Jahre.

Als May Ayim ihre Magisterarbeit zum Thema Rassismus in Deutschland schreiben wollte, stieß sie an ihrer Fakultät auf entschiedene Ablehnung. Im Verlauf des Buchprojektes hat sie das Thema ihrer Arbeit mit der historischen Aufarbeitung der Präsenz afrikanischer Menschen in Deutschland und dem Umgang der Institutionen mit dieser Minderheit verbunden. May Ayims Diplomarbeit bildete damit den historisch-soziologischen Hintergrund für die persönlichen Lebensberichte in Farbe bekennen. Die historischen Teile des Buches waren später einen wichtiger Ausgangspunkt für die Erforschung der Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland.

Bei den Recherchen für Farbe bekennen hatten wir das Glück, Doris Reiprich und Erika Ngambi zu begegnen. Diese beiden älteren afrodeutschen Frauen gaben uns mit ihren Berichten über ihre Kindheit während des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und ihrer Jugend im Nationalsozialismus Einblick in die Lebenswirklichkeit Schwarzer Menschen dieser Zeit. Mandenga Diek, der Vater der beiden Schwestern, war 1891 mit seinem Bruder aus Kamerun nach Deutschland eingewandert. Ebenso wie der Vater von Astrid Berger, Gottlieb Kala Kinger, der 1895 nach Deutschland kam.

Astrid Berger, eine ganze Generation jünger als Erika Ngambi und Doris Reiprich, hatte uns mit ihren beiden »Tanten« bekannt gemacht. Denn die Afrikaner/innen, die damals in Deutschland lebten, kannten einander und nannten sich untereinander »Landsleute«. Beide afrodeutsche Familien können heute bereits auf vier bzw. fünf Generationen in Deutschland zurückblicken. Erika Ngambis Enkelin Abenaa Adomako, heute selbst Mutter, ist auch eine der Autorinnen in Farbe bekennen und wirkte über viel Jahre aktiv in der ISD - Initiative Schwarze in Deutschland mit.

Auch die Farbe bekennen-Autorin Eleonore Wiedenroth ist in der ISD aktiv und hat zu rassistischen Bildern in der deutschen Kinderliteratur veröffentlicht. Sie war auch eine der Initiatorinnen des ersten afrodeutschen Gruppentreffens im Raum Wiesbaden/Frankfurt a. M., das 1985 stattfand und 1986 zur Gründung der Berliner ISD führte. Ich traf sie 2005 wieder, auf dem von ihr mitorganisierten Bundestreffen der ISD in München. Ihre nun schon fast erwachsene Tochter sagte in einem Rückblick zum 20. Bundestreffen, dass die ISD-Bundestreffen und die Altersgenossen, die sie dort traf, ihr Leben und ihre Entwicklung stark geprägt hätten. Sie hat an fast allen Treffen der letzten 17 Jahre teilgenommen und über die Jahre sind Freundschaften gewachsen. Ich war beeindruckt von der Kontinuität, die dieses Community-Forum bietet. Keineswegs eine Selbstverständlichkeit.

Die ersten zehn Jahre nach dem Erscheinen von Farbe bekennen waren geprägt vom Elan und der Energie der ersten Generation von Afrodeutschen, in der es eine große Gruppe von Menschen um die Zwanzig gab, die sich auf die Suche nach ihrer Identität und ihrem Platz in der Welt machten. Farbe bekennen wurde zum Auslöser, Katalysator und zur Inspiration für diese Generation. In kurzer Folge bildeten sich die Organisationsformen und Projekte, in denen die Schwarze Community in Deutschland einen Ausdruck fand und heranreifte: ISD (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland), seit 1985/86. Es bildeten sich Gruppen in fast allen großen Städten der Bundesrepublik. Diese organisierten sich unabhängig und nach ihren jeweiligen Bedürfnissen. Sie gaben sich aber alle den Namen ISD; ADEFRA (seit 1986 bundesweiter Verein afrodeutscher/Schwarzer Frauen mit Gruppen in München, Hamburg, Berlin); AFRO LOOK (Zeitschrift der ISD, 1987-1997); AFREKETE (Zeitschrift der ADEFRA-Frauen, 1988-1990); ein jährliches Bundestreffen (seit 1986); BHM - Black History Month (jeweils Februar in Berlin, 1988-1998).

Dies war eine intensive Zeit voller Aktivitäten, Begegnungen und Vernetzungsarbeit. Die Bedeutung dessen, worum wir uns bemühten, war mit Händen zu greifen. Wir fanden so viele Antworten, suchten nach Wegen, wie wir uns in Deutschland und in der Welt einbringen konnten. Es gab auch erste Kontakte mit Schwarzen Communitys in anderen Ländern. Wir waren voller Hoffnung, etwas bewegen zu können. Wir nahmen die zahlreichen Einladungen zu Lesungen und Diskussionsveranstaltungen an, auf denen wir Farbe bekennen vorstellten. May Ayim und ich gaben außerdem zahlreiche Interviews in Presse und Rundfunk.

In der ISD ging es uns bei der Öffentlichkeitsarbeit zunächst darum, über die Existenz von Schwarzen Menschen in Deutschland zu informieren und die Lebensumstände dieser Bevölkerungsgruppe publik zu machen. Gespräche mit Weißen begannen immer mit der Begriffsklärung. Wir erklärten, warum es die neuen Begriffe »afro-deutsch« und »Schwarze Deutsche« gibt und warum die alten Bezeichnungen als Fremdzuschreibungen und Herabsetzungen abzulehnen sind und aus unserer Sicht nicht mehr verwendet werden sollten. Es ist ein großer Erfolg, dass es uns gelungen ist, neue Bezeichnungen für Schwarze Menschen einzuführen und dass sie in der Breite angenommen wurden. Immerhin geschah dies sozusagen vom Graswurzel-Level aus, ohne dass wir über eine gut organisierte oder einflussreiche Lobby verfügt hätten.

WAS AUS UNS GEWORDEN IST

Die Farbe bekennen-Autorinnen Helga Emde und Miriam Goldschmidt gehörten auch zur Generation von Afrodeutschen, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen. Helga Emde verließ Deutschland nach mehrjährigem Engagement in der Rassismus-Aufklärungsarbeit und Mitwirkung an TV-Dokumentationen über Schwarze Deutsche und ging in die USA. Wie sie in einem offenen Brief schrieb, brauchte sie für ihre Selbstfindung als Schwarze Frau die Vielfalt und Stärke einer Schwarzen Gemeinschaft. Das ständige Infragestellen ihres Deutscheseins und die wiederholte Erfahrung von Ausgrenzung und Rassismus in Deutschland zermürbten sie langsam. Sie hat in der Karibik inzwischen einen Platz für sich gefunden.

Miriam Goldschmidt ist auch heute noch eine der bekanntesten Vertreterinnen des modernen deutschsprachigen Theaters und lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in der Schweiz wieder in Berlin. Ihre beiden Kinder sind erwachsen und ihr Sohn beginnt zurzeit eine Schauspielausbildung.

Die Dichterinnen in Farbe bekennen, die später weitere Werke veröffentlichten, sind May Ayim und Raja Lubinetzki. May Ayim hat mit mehreren Gedichtbänden u.a. blues in schwarz weiss viel Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommen. Sie war Mitbegründerin der ISD und über viele Jahre national und international in Sachen Afrodeutsche unterwegs. Mit ihrer lebendigen Ausdruckskunst und performance-artigen Vortragsform gab sie den Empfindungen vieler Schwarzer eine Stimme. Sie wurde in Deutschland zunehmend von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, als sie 1996 überraschend den Freitod wählte. Dass die junge und begabte Frau, die am Beginn einer viel versprechenden Karriere stand, sich nach kurzer schwerer Erkrankung das Leben nahm, war ein unerwarteter Schock. Und doch muss ihr Schicksal auch als Symbol für viele unbekannte Schwarze Deutsche gesehen werden, die dem Druck und den Anfeindungen einen frühen Tod entgegensetzen.

Seit den Anfängen der Schwarzen Bewegung in Deutschland gehören die schwere physische und psychische Erkrankung Einzelner und Erfahrungen von Verlust zur gemeinsam erlebten Realität. May Ayim bleibt unvergessen und ihr Tod schmerzt weiterhin tief. Noch heute kann ich ihn emotional nicht wirklich begreifen. Eine Zeile aus einem ihrer Gedichte muss uns Trost sein: »Hoffnung im Herz«. »Hoffnung im Herz« heisst auch der Dokumentarfilm von Maria Binder über die Lyrikerin, der Ausschnitte aus Interviews und Lesungen zeigt. Und im Oktober 2004 wurde der »erste schwarze deutsche Literaturpreis« in Erinnerung an die Dichterin ausgelobt, der May Ayim Award.

Die Gedichte von Raja Lubinetzki in Farbe bekennen verwiesen bereits auf ihr großes Talent. 2001 erschien auch endlich ihr erster Gedichtband: Der Tag ein Funke (Gerhard Wolf Janus press). Für die Zusammenstellung von Gedichten, die sie in zwanzig Jahren immer wieder überarbeitete, erhielt sie einen Begabtenpreis mit Stipendium. Zurzeit arbeitet Raja Lubinetzki an ihrem zweiten Band, der hoffentlich nicht wieder so lange auf sich warten lässt. Die Autorin ist auch als Malerin sehr produktiv und da ich mit ihr befreundet bin, bekomme ich ihre Arbeiten auch manchmal zu sehen. Leider ist sie nur selten auf Ausstellungen vertreten.

Vieles hat sich auch nach zwanzig Jahren noch kaum verändert. Meiner Ansicht nach war es sehr wichtig, dass wir uns erstmals zu Wort meldeten und unsere Bewegung sich zu formen begann, bevor die Welle rassistischer Übergriffe Anfang der 1990er über uns hereinbrach. So konnten wir von einer aktiven Position aus agieren und über uns selbst nachdenken, anstatt nur zu reagieren und uns unter dem Druck drohender Gewalt zusammenzuschließen. So haben wir unsere Identität positiv formuliert, uns als Teil der deutschen Gesellschaft definiert und unsere Rechte eingefordert. Was zunächst eher einfach klingt, stellte für die Mehrheitsgesellschaft und dominante, monokulturelle Denkstrukturen eine enorme Herausforderung dar.

In den ersten Jahren machte ich bei Lesungen immer wieder die Erfahrung, dass junge weiße Deutsche nicht verstehen konnten, warum wir uns als Afrodeutsche bezeichneten. Für sich selbst lehnten sie ihr Deutschsein ab. Lieber bezeichneten sie sich als Berlinerin, Frankfurter usw. Unsere Entgegnung war, dass ihnen ja auch niemand ihre deutsche Herkunft streitig mache und sie selbstverständlich alle Vorteile wahrnehmen könnten, die mit dem deutschen Pass verbunden seien - angefangen mit der Reisefreiheit bis hin zu Aufenthalts- und Arbeitsrecht. Und wir forderten, dass, wer die Vorzüge einer bestimmten nationalen Herkunft in Anspruch nimmt, sich auch mit der Geschichte auseinandersetzen und sich diesbezüglich seiner Verantwortung stellen muss.

Das Buch Farbe bekennen fand zunächst keinen reißenden Absatz, trotz des großen Medieninteresses, auf welches May Ayim und ich umfassend reagierten. Eine Leserin erzählte, dass sie das Buch in einem Geschäft in die Hand genommen habe, sich aber scheute, es zu kaufen, weil sie begriff, dass es etwas mit Rassismus zu tun hatte. Erst als die Häufung rassistischer Übergriffe die deutsche Öffentlichkeit schockierte, stieg der Verkauf von Farbe bekennen an. Wir konnten das aktuelle Interesse von Presse und Radio nutzen, um die Inhalte des Buches einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies wurde dadurch unterstützt, dass das Buch 1992 im Taschenbuch erschien (Fischer Taschenbuch Verlag). Durch die Arbeit mit den Medien und in Workshops erwarben wir in den folgenden zwei Jahren vielfältige Kompetenzen.

HEUTE UND MORGEN

Sensibilisierungsworkshops führe ich bis heute durch. Aber auch nach zwanzig Jahren ist es oft noch so, als begännen wir von Null. Auch heute noch sind WorkshopteilnehmerInnen oder Interviewpartner überrascht zu erfahren, dass es Schwarze Deutsche gibt. Es gibt auch noch viele Schwarze Menschen, die sehr vereinzelt aufwachsen und noch nie etwas von der ISD oder ADEFRA erfahren haben. Obwohl es so etwas wie einen »afrodeutschen Babyboom« gibt, ist das Bewusstsein der neuen Generation weißer Mütter über Schwarzsein oft kaum größer als das unserer Mütter. Die Schwarze Community hat mit ihren Aktivitäten jedoch tolle Selbsthilfearbeit geleistet und eine hervorragende Breitenwirkung erzielt. Nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein.

Die Professionalisierung unserer eigenen Organisationen und eine Anerkennung durch die Politik oder gesellschaftliche Institutionen, seien es Schulen oder Behörden, konnte bisher noch nicht erreicht werden. Unsere Projekte und Organisationen erhalten nur marginale finanzielle Unterstützung, ganz zu schweigen von einer staatlichen Förderung, wie sie vielen anderen Minderheiten in Deutschland zuteil wird. Der längst fällige Durchbruch in der Erforschung von Rassismen und deren Auswirkungen unter Einbeziehung internationaler Forschungsergebnisse hat in Deutschland bisher nicht stattgefunden. Nach zwanzig Jahren Anti-Rassismus-Arbeit gibt es inzwischen kritische Weißseinsforschung (Berlin) und begleitende Literatur zum Thema (Mythen, Masken und Subjekte, hg. von Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt) sowie ein dreijähriges interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Geschichte Schwarzer EuropäerInnen: BEST (Black European Studies, Mainz/Amherst). Was noch immer fehlt, sind Studien über die sozialen und psychosozialen Lebensbedingungen von Schwarzen Menschen in Deutschland. Und es gibt nur vereinzelte Selbsthilfeprojekte zur Unterstützung von Schwarzen Kindern und afrodeutschen Familien, zu denen u.a. der von mir mitinitiierte Verein JOLIBA (seit 1996 in Berlin) und das Gesundheitsprojekt für AfrikanerInnen (Frankfurt a.M.) gehören, die ohne jegliche staatliche Förderung auskommen müssen und daher ständig in ihrer Existenz bedroht sind.

In den Medien und im Sport sind Afrodeutsche seit einigen Jahren zwar stark vertreten, denken wir zum Beispiel an TV-ModeratorInnen und Journalisten wie Cherno Jobatai, Arabella Kiesbauer und Ademola Adebisi oder den Fußballer David Odonkor, der bei der WM 2006 Furore machte, aber die politische Anerkennung von Schwarzen Deutschen und eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit unserer Existenz stehen noch aus. Dies sind für die Zukunft die wichtigsten Ziele, von deren Verwirklichung wir noch weit entfernt zu sein scheinen.

Farbe bekennen ist das einzige Buch seiner Art im deutschsprachigen Raum. Ergänzend sind eine Reihe von afrodeutschen (Auto-)Biografien erschienen, die das Schicksal von Schwarzen Deutschen von der NS-Zeit bis heute dokumentieren. Dazu gehören u. a. die Geschichten von Hans J. Massaquoi und Fasia Jansen, von Ika Hügel-Marshall, Bärbel Kampmann, Abini Zöllner, Olumide Popoola, Detlef Soost und Thomas Usleber. Dazu kommen die Forschungsarbeiten u.a. von Yara-Colette Lemke Muniz de Faria, Fatima El-Tayeb, Paulette Reed-Anderson und mir selbst, die allesamt historische Aufarbeitungen darstellen.

Für ein besseres Verständnis, eine Analyse und die Bereitstellung praktischer Hilfsangebote für Schwarze Menschen in Deutschland brauchen wir meines Erachtens dringend Literatur über die Erfahrung afrodeutscher Männer, über die psychosoziale Entwicklung von Schwarzen Kindern in Deutschland oder die Rolle von Müttern und Vätern in afrodeutschen Familien.

Um die Zukunftsperspektiven Schwarzer Menschen in Deutschland zu verbessern, sind noch zahlreiche Hürden zu meistern. Farbe bekennen war ein Anfang und ist nach wie vor ein aktuelles Handbuch zum Verständnis afrodeutscher Lebensrealitäten sowie ein nützliches Werkzeug zur Vernetzung und Aufklärung.

Ich bin dankbar, dass ich an diesem Projekt mitwirken durfte und möchte allen Autorinnen sowie den Orlanda-Verlagsfrauen herzlich danken, die Farbe bekennen durch ihre Beiträge und Engagement ermöglicht haben. Dank und Anerkennung auch allen Lesern und Leserinnen, die Farbe bekennen in den vergangenen zwanzig Jahren genutzt haben, um Afrodeutsche kennenzulernen, unsere Erfahrungen in die Gesellschaft hineinzutragen und sich in der Schwarzen Community zu vernetzen. Ich glaube an die Kraft meiner Schwestern und Brüder in der Community und wünsche uns den Erfolg, den unsere ausdauernden Bemühungen verdient haben.

Katharina Oguntoye
Berlin, September 2006

Vorwort der Herausgeberinnen

Beinahe jede von uns afro-deutschen Frauen zwischen 20 und 30 Jahren war es gewohnt, sich allein mit ihrer Herkunft und ihrer Identität auseinanderzusetzen. Intensiven Kontakt zu anderen Afro-Deutschen hatte kaum eine zuvor gehabt. Wenn wir Freunde und Freundinnen mit unseren Gedanken und Problemen konfrontieren, müssen wir immer befürchten, jemanden zu verlieren oder für »zu empfindlich« gehalten zu werden. Uns als Afro-Deutsche zu begegnen und aufeinander einzulassen, war ein völlig anderes Erlebnis. Gemeinsam war uns fünfen unsere andere Sozialisation, ansonsten waren wir sehr verschieden: durch unser Leben in Berlin, der DDR und Westdeutschland, unsere Erfahrungen in Familie und Beruf, als lesbische oder heterosexuelle Frauen, und in unseren Bezügen zum afrikanischen bzw. afroamerikanischen Teil unserer Herkunft. Spontane Sympathie erleichterte es uns, über diese an sich sehr verschiedenen Lebenssituationen hinweg, uns auf einen gemeinsamen Prozess einzulassen: unsere subjektiven Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam weiterzudenken, andere Afro-Deutsche anzusprechen und in diesen Prozess einzubeziehen, uns auf die Suche nach unserer Geschichte zu begeben und schließlich – was mit diesem Buch geschieht – an die Öffentlichkeit zu gehen.

Es war alles sehr aufregend und setzte gleichzeitig so viel Energie und Mut frei, dass wir unsere vielfältigen Ängste und Widerstände überwanden. Letztlich war der Wunsch stärker, an anderen Afro-Deutschen nicht wie bisher mit einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel vorbeizugehen.

Mit diesem Buch wollen wir in Verbindung mit persönlichen Erfahrungen gesellschaftliche Zusammenhänge von Rassismus offenlegen. Bei den Recherchen lernten wir afro-deutsche Frauen kennen, die während des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt hatten. Einige waren sofort bereit, sich mit uns Jüngeren zu treffen und aus ihrem Leben zu erzählen. Es fällt heute schwer – zwei Jahre später – die Berührtheit und Aufregung zu beschreiben, die wir bei diesen Treffen empfanden: Plötzlich entdeckten wir, dass unsere Geschichte nicht erst nach 1945 begann. Vor unseren Augen stand unsere Vergangenheit, die eng verknüpft ist mit der kolonialen und nationalsozialistischen deutschen Geschichte.

Unser unbekannter Lebenshintergrund und unsere Nichtbeachtung als Afro-Deutsche sind ein Zeichen für die Verdrängung deutscher Geschichte und ihrer Folgen.

Unser Leben wird leichter sein, wenn wir nicht mehr immer von neuem unsere Existenz erklären müssen. Indem wir unsere Spuren in der Geschichte Afrikas und Deutschlands entziffern und mit unseren subjektiven Erfahrungen verbinden, werden wir uns unserer Identität sicherer und können sie nach außen offensiver vertreten. Vielleicht werden wir dann von der mit Unwissenheit und Vorurteilen durchdrungenen Öffentlichkeit nicht mehr einfach übersehen. Vielleicht verändert unser Sichtbarwerden auch die Ausgangsposition derjenigen, die heute Kinder sind und die dadurch weniger als wir in dem Gefühl von Einsamkeit, Draußenstehen und Ausnahmesein aufwachsen.

Mit Audre Lorde entwickelten wir den Begriff »afro-deutsch« in Anlehnung an afro-amerikanisch, als Ausdruck unserer kulturellen Herkunft. »Afro-deutsch« schien uns einleuchtend, da wir fünf eine deutsche Mutter und einen afrikanischen oder afro-amerikanischen Vater haben. Inzwischen lernten wir Afro-Deutsche kennen, deren Eltern beide aus Afrika stammen oder deren einer Elternteil afro-deutsch ist und der andere aus Afrika kommt. Dadurch wurde uns klar, dass unsere wesentliche Gemeinsamkeit kein biologisches, sondern ein soziales Kriterium ist: das Leben in einer weißen deutschen Gesellschaft.

Mit dem Begriff »afro-deutsch« kann und soll es nicht um Abgrenzung nach Herkunft oder Hautfarbe gehen, wissen wir doch allzu gut, was es heisst, unter Ausgrenzung zu leiden. Vielmehr wollen wir »afrodeutsch« den herkömmlichen Behelfsbezeichnungen wie »Mischling«, »Mulatte« oder »Farbige« entgegensetzen, als einen Versuch, uns selbst zu bestimmen, statt bestimmt zu werden.

Für mich als weiße deutsche Frau bedeutet die Arbeit an diesem Buch, in einen Teil deutscher Geschichte einzutauchen, den ich bisher nur auf einer sehr abstrakten Ebene kannte. Ich lernte Frauen der älteren Generation kennen, von deren Existenz ich nichts gewußt hatte, und wieder einmal wurde mir klar, wie viel uns von unserem »Erbe« vorenthalten wird. Als Kinder spielten wir mit einem alten Quartett, das Episoden aus der deutschen Kolonialzeit darstellte – ein Kapitel deutscher Geschichte, das jedoch in meiner Schulzeit nie behandelt wurde, schon gar nicht im Ausmaß seiner Brutalität. Ich kam mit Frauen meiner Generation zusammen und dachte an die afro-deutsche Mitschülerin und die Freundin, deren Großvater ein amerikanischer Indianer gewesen war, zurück. Doch ich fand nur wenige Anhaltspunkte in meinen Erinnerungen, die mir etwas darüber gesagt hätten, wie sie und wie wir weißen Schülerinnen ihr »Anderssein« erlebten. Die Gespräche mit den Frauen, die etwas für dieses Buch schreiben wollten, ließen mich die an Bewusstsein dürren 50er Jahre neu erleben.

In den 60er und frühen 70er Jahren, die ich in den USA verbrachte, machte ich mich mit der Geschichte von Afro-Amerikaner/innen vertraut. Meine Erfahrung, dass Rassismus in Deutschland nur selten benannt wird, selbst in der Frauenbewegung, veranlasste mich dazu, das Buch Macht und Sinnlichkeit mit Texten von Audre Lorde und Adrienne Rieh herauszugeben. Aber die direkte Konfrontation mit dem Rassismus, den Afro-Deutsche erlebt haben und erleben, ergab sich für mich erst durch die Arbeit an diesem Buch. Mit den jüngeren Frauen, die ich kennenlernte, und zu denen auch Katharina Oguntoye und May Opitz gehören, teile ich vieles in meinen politischen Vorstellungen, obwohl es viele Unterschiede in unseren Erfahrenswelten gibt. Rassenvorurteile, Stereotypen, Liberalismus und auch die oft rücksichtslose oder gedankenlose Vereinnahmung von »Minderheiten« seitens politischer Gruppen – all dies kannte ich aus den USA und auch von hier.

Im Austausch mit den Mitarbeiterinnen nahmen diese Begriffe, Einstellungen und Verhaltensweisen jedoch Konturen an, die mir das Spezifische an den deutschen Zuständen aufzeigten. Vieles, was ich von afro-amerikanischen Freundinnen und Schriftstellerinnen und durch meine politische Arbeit in den USA gelernt hatte, wurde jetzt in unserer Arbeitsgruppe in einer neuen Weise wirksam, so das Bedürfnis danach, die Unterschiede zu benennen und die Brücken zwischen unseren Welten zu finden und zu bauen. 1 1/2 Jahre intensiver Zusammenarbeit brachten mich den anderen Frauen sehr nahe. Die Gespräche und Diskussionen, die mit der Konzipierung des Buches, den Kontakten mit anderen afro-deutschen Frauen und der Textbearbeitung verbunden waren, beinhalteten einen ständigen Lernprozess. Ich bin durch diese Zusammenarbeit und die daraus entstandenen Freundschaften wieder ein Stück gewachsen, und meine Distanz zu Deutschland, die ich nach meinem Leben in den USA nie ganz abgelegt habe, hat sich um ein Stück verringert.

Die anfängliche Absicht, ein Buch mit Gesprächen, Texten und Gedichten der Gruppe jüngerer Frauen, die sich im Sommer 1984 zusammenfand, zu veröffentlichen, erweiterte sich bald zu der Vorstellung, so viele Generationen wie möglich zu Wort kommen zu lassen. Der Entschluss von May Opitz, Afro-Deutsche und ihre Geschichte zum Thema ihrer Diplomarbeit zu machen, ermöglichte es uns, den vielfältigen Texten einen Rahmen und den notwendigen historischen Hintergrund zu geben.

Ein Großteil unserer Teamarbeit bestand darin, die Autorinnen zum Schreiben zu ermutigen und ihre Texte mit ihnen zu besprechen. Manchen fiel es leichter, ihre Erfahrungen in Gesprächen offenzulegen, die wir dann in Erzählform umgearbeitet haben. (Auf Wunsch einiger Autorinnen wurden Pseudonyme verwendet.)

Sowohl als afro-deutsche Frauen wie als weiße Frauen empfanden wir die Zusammenarbeit in der Gruppe der Herausgeberinnen und mit der Lektorin als einen konstruktiven Prozess, der immer wieder zu einer Entdeckungsreise wurde.

Katharina Oguntoye, May Ayim/Opitz, Dagmar Schultz

Berlin, 1986

Audre Lorde

»Gefährtinnen, ich grüße euch«

1984 hielt ich in Berlin drei Monate lang einen Workshop über Dichtung und ein Seminar über schwarze amerikanische Dichterinnen ab. In dieser Zeit wollte ich bestimmte deutsche Frauen kennenlernen, von deren Existenz ich wusste, über die ich jedoch in New York nichts erfahren konnte: schwarze deutsche Frauen.

Wer waren diese Frauen der afrikanischen Minderheit, die Afro-Deutschen? Wo kreuzten sich die Wege von uns farbigen Frauen über die Abweichungen unserer Unterdrückung hinaus, wenn auch sicher nicht außerhalb dieser Abweichungen? Wo trennten sich unsere Wege? Wichtiger noch, was konnten wir von unseren verwandten Unterschieden lernen, das beiden nützte, den Afro-Deutschen und den Afro- Amerikanerinnen?

Afro-deutsch. Diesen Ausdruck hatte ich bisher nie gehört. Eine Frau antwortete mir auf meine Frage, mit welcher Vorstellung von sich sie aufgewachsen sei: »Die positivste Bezeichnung für uns war ›Kriegsbabys‹.« Aber die Existenz vieler schwarzer Deutscher hat nichts mit dem Krieg zu tun, sie reicht bis vor den 2. Weltkrieg zurück. Afrodeutsch, das bedeutet für mich die leuchtenden Gesichter der jungen schwarzen Frauen, mit denen ich angeregte Gespräche über ihre Väter, Heimat, Gemeinsamkeiten, Freuden und Enttäuschungen führte. Es bedeutet mein Glücksgefühl beim Anblick einer Schwarzen, die in meine Vorlesung kommt. Es bedeutet das allmähliche Schwinden ihrer stummen Zurückhaltung, als sie neue Ebenen ihres Selbstbewusstseins zu entdecken, als sie Fragen und Werte ihres Schwarzseins als greifbaren, nutzbaren Bestand ihrer Identität zu formulieren begann. Es bedeutet ihre afrikanische Freundin, die ein neues Selbstverständnis in bezug auf andere Frauen der Minderheit gewann. »Afro-deutsch war für mich bisher nie ein positiver Begriff«, sagte sie. Es bedeutet die schwarze deutsche Dichterin, die die deutsche Sprache nach ihrem Verständnis von »Black German« umgestaltet; ihre leuchtenden Augen an dem langen Tisch, an dem wir Frauen saßen und unser Bestes taten, um uns über die Sprach-, Orts- und Zeitbarrieren hinweg zu verständigen. Sie sprach mit mir und Gloria Joseph, einer anderen Afro-Amerikanerin, über ihr Erbe und die namenlose Qual der Andersartigkeit, aber auch über die wachsende Macht, die diese Andersartigkeit durch Nachforschung erringen kann. »Ich habe mein ganzes Leben unter Weißen verbracht«, sagte sie, »und in Afrika würde ich unter Schwarzen leben. Ich würde gern irgendwohin gehen, wo ich gemeinsam mit anderen alle Bereiche meines Seins erforschen kann.«

Das habe ich, so oder anders formuliert, von allen schwarzen deutschen Frauen gehört. »Wir wollen wir selbst sein, so wie wir uns definieren. Wir sind kein Fragment eurer Fantasie oder eurer Wünsche. Wir sind nicht das Salz in der Suppe eurer Sehnsucht.«

Alle Frauen, die in diesem Buch mit ihren persönlichen Erfahrungen zu Wort kommen, haben eine unsichtbar-blutige Kindheit hinter sich. Sie galten als befleckte oder unvollkommene Deutsche. Jede dieser afro-deutschen Frauen musste sich ihren Weg zur Selbstbestimmung und Erhebung suchen, indem sie das zweifache Bewusstsein ihres doppelten Erbes als Afrikanerin und als Deutsche genau erforschte. Und weil dieser Weg durch Rassen-, kulturelle und nationale Zugehörigkeit führt, ist er mit emotionalen Fragen wie Loyalität und Ablehnung, Patriotismus und Rassismus vermint. Der Weg durch Selbsterforschung zu Selbsterhebung heisst Komplexität und Courage einsetzen gegen eine Flut von Intoleranz und Hass auf die, die anders sind.

Diese Erhebung kann eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer nationalen Veränderung im Verein mit anderen, ehemals schweigenden Afro-Deutschen, männlichen wie weiblichen, alten wie jungen, darstellen. Eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer internationalen Veränderung im Verein mit anderen Afro-Europäern, Afro-Asiaten, Afro-Amerikanern, allen »Bindestrich-Menschen«, die ihre Identität bestimmt haben, ist kein schamhaftes Geheimnis mehr, sondern die Machterklärung einer wachsenden vereinigten Front, von der die Welt noch nichts gehört hat.

Trotz der in ihrer Kindheit erlittenen Grausamkeit und Isolation scheinen viele dieser Frauen freier von dem emotionalen Dilemma, in dem viele progressive weiße deutsche Feministinnen und Nicht-Feministinnen stecken. Wie kann man nach seinen Wurzeln greifen, wenn diese durch ein so tiefes, unvermeidliches Grauen wachsen, dass die erste Frucht, die sie tragen, oftmals ein schlecht kaschierter Selbstekel ist, der sich zuweilen als unerträgliche Arroganz verkleidet?

Dieses Buch ist auch als Aufforderung der hier schreibenden Frauen an alle Bürgerinnen und Bürger ihres Landes gedacht, sich einem neuen Aspekt des deutschen Bewusstseins zuzuwenden, über den die meisten weißen Deutschen noch nicht nachgedacht haben. Ihre Worte dokumentieren ihre Weigerung, die Verzweiflung lediglich mit Blindheit oder Stillschweigen abzuwehren. Solange wir unsere Unterdrückung nicht artikulieren, können wir sie nicht bekämpfen. Deshalb: Erhebt euch und schweigt nicht mehr!

Dieses Buch ist für mich aufregend, weil es Möglichkeiten aufzeigt. Es ist der erste gemeinsame Versuch afro-deutscher Frauen, ihre Lebensrealität mit weißen Deutschen und anderen zu teilen. Sie gehen voran, im Interesse einer gemeinsamen Zukunft.

Frauen der Minderheit, Kampfgefährtinnen, ich grüße Euch.

Audre Lorde 18. Februar 1986

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Porträt eines Äthiopiers, der als Angestellter in einem der großen Handelshäuser Augsburgs tätig war. Albrecht Dürer, 1508.

Rassismus, Sexismus und vorkoloniales Afrikabild in Deutschland

VORKOLONIALES AFRIKABILD, KOLONIALISMUS, FASCHISMUS

Die ersten Afrikaner/innen in Deutschland

Es gibt keine genauen Anhaltspunkte, wann die ersten Afrikaner/-innen nach Deutschland kamen und wann die ersten Afro-Deutschen geboren wurden. In der Literatur tritt das erste »Mischlingskind« bei Parzival in Erscheinung.1 Aus der Zeit ab dem 12. Jahrhundert sind einige Gemälde erhalten geblieben, auf denen in Deutschland lebende Afrikaner/innen abgebildet sind. Bis weit in das 19. Jahrhundert beschränkten sich die deutschen Kontakte zu Afrika auf finanzielle Handelsbeteiligungen. Besonders die großen Handelshäuser Fugger, Welser und Imhoff finanzierten einige der ersten Flotten, die seit dem Mittelalter unter portugiesischer und spanischer Flagge Handel betrieben.2 Über diese Handelsbeziehungen kamen zunächst vor allem Gold, Elfenbein, Gewürze und andere Rohstoffe nach Europa; später wurden zunehmend auch Menschen als »Mitbringsel« nach Europa verschifft, die erhandelt oder als Pfand für die Einhaltung von Vertragsbestimmungen verschleppt wurden. Nach Historiker J. Ki-Zerbo wurden die Menschen damals vor allem deshalb entführt, um zu beweisen, dass man wirklich in Afrika gewesen war und um die Neugier der Landsleute zu befriedigen, die schwarze Menschen zu Gesicht bekommen wollten.3

Ich konnte nirgends Zahlen finden, wie viele Schwarze zur Zeit des Mittelalters in Deutschland lebten. In der Hauptstadt Portugals waren Mitte des 16. Jahrhunderts ein Zehntel der Bevölkerung schwarze Sklaven, und wie in Frankreich und England gehörte es wohl auch in Deutschland – wenn auch weniger verbreitet – zum »guten Ton«, »in seiner Equipage, in seiner Karosse, in seinem Salon und in seinem Pferdestall solch eine exotische Figur zu haben«.4

Aus dem 18. Jahrhundert ist der für seine Zeit ungewöhnliche Lebensweg des A.W. Amo überliefert, der 1703 als ein Präsent an den Herzog Anton Ulrich von Wolfenbüttel nach Deutschland gelangte.5 Der Ghanaer war ein Geschenk der holländisch-westindischen Gesellschaft, einem der größten Sklavenhandelsunternehmen jener Zeit.6 Der Herzog und sein Sohn übernahmen die Patenschaft für Amo und sandten ihn zur Ausbildung auf die damals führende Universität Halle, wo bedeutende Aufklärer lehrten. Für die damalige Zeit war es äußerst ungewöhnlich, dass der Herzog und sein Sohn »den Jungen nicht in eine Dienerlivree steckten und als Prunkspielzeug verwandten«.7

Amo wurde einer der bedeutendsten Vertreter der Wolffschen Philosophie, und als Anhänger John Lockes und Descartes’ mechanistischer Philosophie vertrat er den Kampf gegen die alt-lutherischen und pietistischen Klerikalen. Seine erste wissenschaftliche Arbeit befasste sich mit dem »Recht der Mohren« in Europa und wurde 1729 unter dem lateinischen Titel »de jure mauro in Europa« veröffentlicht. Die Arbeit ging später aus ungeklärten Gründen verloren.

Später lehrte er als Dozent an den Universitäten in Halle, Wittenberg und Jena. M. Paeffgen erwähnt, dass Amo von Friedrich Wilhelm I. zum Staatsrat der preußischen Krone am Hof zu Berlin ernannt wurde.8

Zur gleichen Zeit gab es einen zweiten Afrikaner, der als »Mohr Peters des Großen« unter dem Namen Ibrahim Petrowitsch Hannibal in Rußland »Karriere« machte, sowie ein Jahrhundert später (1847/48) einen Königssohn, Aquasi Boachi, Prinz von Aschantiland, der als Pfand für ein Vertragsabkommen nach Deutschland gebracht wurde und als erster Afrikaner an der Bergbauakademie Freiberg studierte.9

Amo kehrte 1743 nach Ghana zurück, als sich die Rassenideologen immer stärker durchsetzten und er den Angriffen nicht mehr standhalten konnte. In Ghana, der damaligen »Goldküste«, geriet er jedoch bald wieder in die Hände von Sklavenhändlern. Er »war sicher einer der wenigen Afrikaner in Westafrika, die vom schweren Geschick der Sklaven wussten und persönlich betroffen waren. Deshalb veranlasste man ihn, das Fort San Sebastian10 zu beziehen, in dem er unter Kontrolle der Sklavenjäger war. Er ist bald darauf gestorben und liegt vor dem Fort begraben«.11

Im Mittelalter: »Mohren« und weiße Christen

Die sprachlichen Veränderungen im Gebrauch der Bezeichnungen »Mohr« und »Neger« spiegeln den Wandel der deutschen bzw. europäischen Beziehungen zu Afrika.

»Mohr« ist die älteste deutsche Bezeichnung für Menschen anderer Hautfarbe und diente im Hochmittelalter zur Unterscheidung der schwarzen und weißen Heiden. Mor, aus dem lateinischen Mauri, erhielt seine Prägung durch die Auseinandersetzung zwischen Christen und Moslems in Nordafrika. Physische Andersartigkeit und fremde Glaubensvorstellungen charakterisieren somit diesen Begriff.12

Poliakov et. al. machen darauf aufmerksam, dass auf mittelalterlichen Bildern einer der drei heiligen Könige als Schwarzer abgebildet ist und schließen daraus, dass Vorurteile gegen andere zu dieser Zeit noch nicht mit Hautfarbe verbunden waren.13 Als weiteren Beleg verweisen sie auf die Vorliebe der Menschen im Mittelalter für phantastische Erzählungen, die im Orient spielten.14 Es fällt mir schwer zu beurteilen, welche Bedeutung dem beigemessen werden muss, zumal etwa H. Pleticha die Darstellung von Schwarzen in diesen Erzählungen als Fabelwesen zwischen Mensch und Tier kritisiert:

»Sie rangieren auf der Stufe von exotischen Pflanzen und Tieren. Entscheidend dabei, dass ihnen der Hauch des Wilden, Unheimlichen anhaftet«.15

Eindeutige Hinweise für eine Abwertung der Menschen schwarzer Hautfarbe finden sich im Kirchenvokabular der damaligen Zeit, wo der Begriff Ägypter teilweise als Synonym für Teufel gebraucht wurde.16 Des weiteren lassen sich in der Literatur einige Quellen finden, wo Menschen mit eigentlich weißer Hautfarbe mit der Schwärze der Mohren belegt wurden, weil sie von den gewünschten Normvorstellungen abwichen. Ein Beispiel hierfür ist die Version der »Iweinlegende«, wie sie Hartmann von Aue um 1200 schrieb (»Was weit ir daz der tore tuo?«). Der »Tor« wird an seinem ganzen Leibe schwarz wie ein »Mor« und verbreitet Schrecken, wo immer er erscheint.17

In allen Hexenbeschreibungen wurde Schwarz zur Kennzeichnung des Bösen verwandt, aber auch in anderen Zusammenhängen wurde die Andersartigkeit des Weibes/der Frau aus männlicher Sicht oftmals »angeschwärzt«. So wird in Wirnt von Grafenbergs »Wigalois«18 der Held mit einem weiblichen Monster konfrontiert: Schwarz, hässlich und ohne gute Manieren, ein »ungehuire«.19 Das gleiche gilt für das folgende anonyme Gedicht aus der Mitte des 13. Jahrhunderts: »Die Sage von Wolfdietrich«

»Ain ungefuge fraw geporn von wilder art,

Ging uff für alle paume: kain grösser wip nie wart Da dacht in sinem synne der edel rytter gut:

»O werder Christ von himel, hab mich in diner hut!«

Zwu ungefuge bruste an irem üb si trug.

»Wem du nu wurst zu taile«, so sprach der rytter klug

»Der hat des tufels muter, das darff ich sprechen wol«.

Ir lip der waz geschaffen noch schwarczer dann ein kol,

Ir nas ging für daz kine, lanck, schwarcz so waz ir har.«20

Die wilde Frau, die aus den Wäldern (»für alle paume«) auf den edlen Ritter zugeht, bedroht diesen durch ihre unermessliche Größe, die durch ihre überdimensionalen (»ungefuge«) Brüste hervorgehoben wird. Der Ritter bittet in seiner Not Gott um Schutz, denn er glaubt an den Lippen, die noch schwärzer sind als Kohle, der Nase, die weit über das Kinn hängt, und den langen schwarzen Haaren die eindeutigen Merkmale der Mutter des Teufels (des »tufels muter«) zu erkennen.

In der christlichen Farbensymbolik verkörpert »schwarz« den Inbegriff des Unerwünschten, somit Hässlichen und Verwerflichen. Religiös motivierte Vorurteile konnten daher schnell dazu führen, im schwarzen Menschen, der/die den eigenen christlich-patriarchalischen Vorstellungen entgegentrat, den Prototyp des »Bösewichts« zu sehen, was sich in der Projektion von schwarzer Hautfarbe auf Weiße (s.o.) ja bereits andeutet. Bis zum 18. Jahrhundert waren Vorurteile gegen Schwarze weitgehend frei von Vorstellungen über die Existenz unterschiedlicher Rassen. Erst im Zeitalter der Aufklärung vollzog sich ein deutlicher Wandel, der mit der raschen Kolonialisierung der afrikanischen Länder südlich der Sahara einherging.

Von »Mohren« zu »Negern«

Im 18. Jahrhundert wurde »Neger« zu einem deutschen Begriff. In Ergänzung und Ablösung der Bezeichnung »Mohr« wurde er zur Beschreibung der Menschen südlich der Sahara verwandt und diente »darüber hinaus zur Bezeichnung der schwarzen Rasse schlechthin.«21 Während mit »Mohr« keine Unterscheidung in hellere und dunklere Afrikaner vorgenommen wurde, implizierte die neue Bezeichnung die ideologische Trennung Afrikas in einen weißen und einen schwarzen Erdteil22 mit der zunehmenden Kolonialisierung des Kontinentes. Fanon charakterisiert die Teilung wie folgt:

»Man teilt Afrika in einen weißen und einen schwarzen Teil. Die Ersatzbezeichnungen: Afrika südlich oder nördlich der Sahara, können diesen latenten Rassismus23