Freundschaft auf den ersten Blick

Ein Freund, ein guter Freund …

… das ist das Beste, was es gibt auf der Welt! Dem können die Freunde in Kästners Kinderbüchern – Emil und seine kleine Bande von Detektiven, Pünktchen und Anton (samt Herrn Bremser), Johnny Trotz, Sebastian, Martin, Matz und Uli von Simmern – nur zustimmen. Justus und der Nichtraucher sicher auch. Gerade in diesen seit Generationen und immer wieder neu geliebten Büchern – den Emil-Bänden, Pünktchen und Anton, Das fliegende Klassenzimmer – lässt sich erfahren, was Freundschaft ist: füreinander einstehen, den anderen nicht allein lassen, ihn gelten lassen, ihm aufmerksam zuhören und miteinander reden. Und in jüngerem Alter: miteinander spielen, so wie es der »ungefähr Achtjährige« kleine Junge Erich Kästner und seine Freunde getan haben.

Bei den Erwachsenen in Kästners Unterhaltungsromanen sieht es nicht viel anders aus. Georg und Karl – zwei altvertraute Freunde, die durch Salzburg schlendern und deren freundschaftliche Beziehung so selbstverständlich ist, dass sie das gar nicht thematisieren müssen und dass Karl Georgs seltsame Manöver gelassen hinnehmen kann (Bummel durch Salzburg). Rudi Struve und Joachim Seiler: Dass Struve, noch erbost über die ihm widerfahrene Unbill und unter Zeitdruck wegen seiner Komposition, dennoch ohne langes Nachfragen auf Seilers dringende Bitte hin die Verfolgung eines Wagens und einer ihm völlig unbekannten Person aufnimmt, ist ein Vertrauensbeweis, wie er nur unter langjährigen Freunden möglich ist (Der zwiefache Struve). Aber es gibt eben auch das ganz andere: die »Freundschaft auf den ersten Blick«, wie zwischen Schulze/Tobler und Hagedorn in Missverständnisse und Männerfreundschaft. Gleich bei der ersten Begegnung funkt es zwischen den beiden. Es ist die spontane Freundschaft zweier Außenseiter, die beide nicht in das elegante Grandhotel passen oder zu passen scheinen. Schulze weiß, dass er realiter der Millionär Tobler, Hagedorn, dass er ein stellungsloser Werbefachmann ist. Von der gesellschaftlichen Kluft zwischen Schulze und ihm ahnt er nicht das geringste. Er reagiert mit spontaner Sympathie auf den ihm gänzlich unbekannten ärmlichen Schulze, spürt wohl dessen natürliche Autorität, macht sich aber weiter keine Gedanken darüber. Tobler in seiner Maskerade als Schulze erlebt, dass Hagedorn völlig offen und unvoreingenommen auf ihn zugeht, ihn als Menschen wahrnimmt und von gleich zu gleich behandelt (im Unterschied zum Hotelpersonal). Er findet in ihm, was ihm bislang gefehlt hat: einen Freund, der ihm auch nach dem Ende der Maskerade als »eingebildeter Armer« wichtig ist, ja, lebenswichtig. »Was ich erleben wollte, hat wenig zu bedeuten, wenn ich’s mit dem vergleiche, was ich erlebt habe. Ich habe einen Freund gefunden. Endlich einen Freund, mein Junge! Komm, gib dem ollen Tobler die Hand!«, heißt es am Ende. Und Hagedorn schlägt ein.

Bei Toblers Worten fühlt man sich an die Szene auf dem Mond im Münchhausen-Film erinnert, wo der treue Kuchenreutter in sich zusammensinkt und stirbt und Münchhausen fast hilflos sagt: »Ich brauchte doch wenigstens einen Freund!«

Einen Freund, ja – und was, wenn er auf einmal nicht mehr da ist, wenn er tot ist? Vor dieser Situation steht Fabian. Er ist unter Schock, er hadert, er vergegenwärtigt sich noch einmal seinen Freund Labude. Nirgends sonst in Kästners Roman Der Gang vor die Hunde (Fabian) wird die Tiefe und Intensität dieser Freundschaft so intensiv spürbar wie in diesen Momenten einsamer Trauer (Labude).

Und was, wenn ein guter Freund einen im Stich lässt, wie Kästner es in Freunde in der Not schildert? Es geht um Erich Ohser, den er bis zum Beginn der Nazizeit für seinen besten Freund gehalten hatte. Dass Ohser ihn mied und schlagartig nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, hat Kästner tief verletzt. Aber, wie er Jahre später in Als ich ein kleiner Junge war schreibt: »Freunde wählt man aus freien Stücken, und wenn man spürt, dass man sich ineinander geirrt hat, kann man sich trennen. Solch ein Schnitt tut weh, denn dafür gibt es keine Narkose. Doch die Operation ist möglich, und die Heilung der Wunde im Herzen auch.« Auch Kästners Wunde im Herzen verheilte, und dem verdanken wir die schönen Würdigungen des einstigen Freundes Erich Ohser aus Plauen (1957) und, hier abgedruckt, Mit Erich Ohser in Paris (1969).

Geradezu das Gegenstück zu Ohser ist der »Fluchthelfer« Eberhard Schmidt. Kästner und er kannten sich von den Dreharbeiten zu Der kleine Grenzverkehr und Münchhausen. Als Schmidt ihm die Möglichkeit bot, dem bedrohten Berlin zu entkommen, kam das für Kästner ganz unverhofft – und für Schmidt war es mit einem beträchtlichen persönlichen Risiko verbunden. Aber er besaß wohl einige Chuzpe, sonst hätte er kaum vorgetäuscht, einen Film mit dem Titel Das verlorene Gesicht zu drehen, und das auch noch ohne Filmmaterial.

Grundsätzlich haben die Erfahrungen im Dritten Reich, vor allem so verletzende wie die mit Erich Ohser, Erich Kästner in seinen späteren Lebensjahren eher »ungesellig« werden lassen, wie er es nannte. Selbstkontrolle hatte er als Sohn einer depressiven Mutter schon früh einüben müssen, und wohl darum konnte er sich anderen Menschen nur schwer wirklich öffnen. Dabei war er als Autor und später in offiziellen Funktionen wie etwa als PEN-Präsident ein hervorragender Netzwerker mit unendlich vielen ebenso nützlichen wie freundschaftlich-kollegialen Kontakten in und außerhalb der literarischen Szene. Bei alledem blieb er jedoch distanziert, ein Beobachter oder, um es in seinen eigenen Worten zu sagen, ein Zuschauer.

Einige Menschen gab es aber doch, mit denen er wirklich befreundet war, selbst wenn er sich mit vielen von ihnen, heutzutage fast unvorstellbar, bis ans Lebensende gesiezt hat.

Was natürlich nicht gilt für seinen Freund aus Gymnasialzeiten, Werner Buhre, dessen Lebensstationen Dresden, Berlin, München identisch mit denen Kästners waren. Während des Dritten Reichs schrieb Buhre, ein wahrhaft loyaler Freund, zusammen mit Kästner, der Schreibverbot hatte, unter dem Pseudonym Robert Neuner das Lustspiel Das lebenslängliche Kind. Als sie später in München beruflich kaum noch miteinander zu tun hatten, blieb Kästner bemüht, den Kontakt nicht einschlafen zu lassen.

Mit dem Dramatiker Carl Zuckmayer duzte Kästner sich zwar auch, aber erst seit einem Wiedersehen im Nachkriegszürich 1947. Vierzehn Jahre lang hatten sie einander nicht gesehen, und statt der Reibereien und Rivalitäten ihrer frühen Jahre, an die Kästner in seinem Glückwunschbrief erinnert, war nun die gemeinsame Ablehnung des Dritten Reichs bestimmend für ihr Verhältnis und ließ sie zu einer freundschaftlichen Beziehung finden.

Auch Walter Trier und Kästner kannten sich aus dem Vorkriegsberlin. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, als Edith Jacobsohn die beiden 1929 für Emil und die Detektive miteinander verkuppelte. Trier hat viele Bücher Kästners illustriert, auch noch im Exil, aber wie viele mehr hätten es vielleicht sein können, wäre Kästner nicht mit Schreibverbot belegt gewesen und hätte Trier nicht emigrieren müssen. Nicht auszudenken! Man darf aber den verpassten Chancen, die die kongeniale Partnerschaft der beiden geboten hätte, vielleicht doch ein wenig nachtrauern.

In seinen Münchner Jahren gewann Kästner einen neuen Freund – den Schriftsteller und bildenden Künstler Ernst Penzoldt. Wie so viele andere auch erlag er dem Zauber, der von diesem Mann ausging, dieser »poetischen Figur«. Es gibt wenige Texte Kästners, aus denen so liebevolle Zuneigung, so viel offene Herzlichkeit spricht, wie aus seiner Gratulation zu Penzoldts 60. Geburtstag. In seinem Nachruf, nur drei Jahre später, beklagte Kästner einen der »schwersten, schmerzlichsten Verluste […] für die deutsche, ja die zeitgenössische Literatur überhaupt«.

Einen Freund aus Berliner Tagen aber gab es, seinen »besten«, der Kästner blieb, ihn sogar überlebte: Hermann Kesten. Ihre erste Begegnung, beschrieben in Die alte Freundschaft und die kleinen Erinnerungen, war wie ein Wiedererkennen – eine Freundschaft auf den ersten Blick. Eine beide Autoren beglückende Erfahrung, und umso wunderbarer, als diese Freundschaft auch alle Trennungen und Widrigkeiten durch Exil und Krieg überdauerte. Was Hermann Kesten an Kästner zu dessen 70. Geburtstag schrieb – »ich denke, es war ein Glück für mich, dass ich Sie zu Beginn meiner Berliner Jahre getroffen habe und dass wir einander erkannt haben, in der ersten Stunde, und Freunde wurden« –, hätte auch von Erich Kästner stammen können.

Kästner war kein »Genie der Freundschaft«, aber er wusste, was er an seinen wenigen wirklichen Freunden hatte. So, wie er es an Hermann und Toni Kesten schrieb: »Ich könnte das meiste in meinem Leben missen. Eure Freundschaft nicht!« Er brauchte, um nochmals Münchhausen zu zitieren, »wenigstens einen Freund«. Einen guten Freund, wie er ihn auch jedem Kind wünschte. Damit es erfahren könne, wie glücklich es macht, glücklich zu machen.

 

Sommer 2020   Sylvia List

Die alte Freundschaft und die kleinen Erinnerungen

Für Kesten zum 60. Geburtstage

Lieber Hermann,

 

wie kommt Freundschaft zustande? Da lernen einander, bei der Witwe Siegfried Jacobsohns, ein Glas in der Hand, zwei junge Schriftsteller sich kennen, lächeln einander zu und fragen sich im Stillen und verwundert: »Wieso denn erst heute?« Schon das Sichkennenlernen ist eine Wiederbegegnung. Doch woran mag es liegen? An den Gemeinschaften ihres Wesens? An den Zügen, darin sie sich unterscheiden? An der »richtigen« ungleichen Mischung von Gleichem und Ungleichem? Das schmeckt nach angewandter Mathematik. Es riecht nach Kolloidchemie. Lassen wir’s, trotz unser beider Spott über die falschen Magier und windigen Geheimnistuer, dabei bewenden, dass der Ursprung der Freundschaft zu den schönen Geheimnissen zählte.

Wodurch Freundschaft, nach ihrer Geburt, weiterlebt, ist kein Geheimnis. Sie nährt sich von gemeinsamen Erlebnissen. Sie bleibt gesund und wächst durch gemeinsame Erinnerungen, deren Vorrat, wie beim Topf im Märchen, trotz allen Zuspruchs unaufzehrbar bleibt.

Lieber Hermann, die Weltgeschichte war uns beim Einheimsen solch gemeinsamer Erinnerungen viele Jahre finster und fatal im Wege. Gleichwohl ist es um den Märchentopf nicht schlecht bestellt, und wir werden uns, damit er nicht überläuft, bald einen größeren zulegen müssen.

Am liebsten hab ich, als Topfgucker, die kleinen Erinnerungen. Sie gleichen alten Momentaufnahmen, sechs mal neun, kurz belichtet, ein wenig unscharf und etwas verwackelt, wie man sie in Schubladen wiederfindet, hervorkramt und nachdenklich betrachtet. Da schmelzen die Jahre und Jahrzehnte wie Schnee in der Sonne. Da wird das Längstvergangene mit einem Zauberschlage Gegenwart, und alles Spätere wird Zukunft, freilich eine andere Zukunft als die von damals, wird zur Zukunft, die wir kennen! Das Nacheinander gruppiert sich zum Nebeneinander. Das Damals wird zum Jetzt, und das Danach ist unverhüllt. Ein seltsames Spiel. Der Fluss, worin alles fließt, hält behext inne …

… und wir stehen beide, Hand in Hand wie Hänsel und Gretel, in einem Redaktionszimmer des Berliner Tageblatts vor Fritz Engel, den wir, in parodierter Weh- und Demut, inständig darum bitten, seinem Rezensenten X. und dem Doktor Engel selber mitzuteilen, dass wir, obzwar jung und trotz ähnlich klingender Familiennamen, schon jetzt eigenwillig genug seien, Ihre Novellen unter dem Namen Kesten und meine Gedichte unterm Namen Kästner herauszubringen. Verwechslungen und daran anknüpfende Werturteile müssten in der künftigen Literaturgeschichtsschreibung merkliche Verwirrung stiften, und das könne doch eine Zeitung von Format unmöglich wollen …

… oder ich besuche Sie, während eines Umzugs, in der neuen Wohnung, wo die Toni und Ihre Mama und Ihre Schwester mit den Möbelräumern Schränke, Betten und Tische rücken und schieben. Ich frage Sie, der als Feldherr zuschaut, nach dem strategischen Sinne der Schlacht. »War die frühere Wohnung denn nicht bequemer? Warum muss es denn, so fern vom neuen Westen, die Urbanstraße sein?« »Wegen meines nächsten Romans«, antworten Sie. »Ich brauche die Gegend, weil er hier spielen wird. Ich brauche die Hasenheide, Neukölln und ganz besonders das Kaufhaus am Hermannplatz!« »Dafür genügte doch ein möbliertes Zimmer!« »Nein, ich brauche ja auch meine Familie!«

… oder wir haben Joseph Roth bei Mampe an der Uhlandstraße aufgestöbert. Hier trinkt und schreibt er seit Stunden. Seine Augen sind von Kognak gerötet. Doch die letzte kalligraphische Miniaturseite des Manuskripts sieht genauso gestochen aus wie die erste. Er unterbricht die Arbeit und streicht sich, während wir plaudern, den Schnurrbart. Als noch Kiepenheuer, Landshoff und Landauer kommen, wird der Tisch zu klein, und wir gehen ins Hotel am Zoo. Dort bestellt sich Roth, zu meiner Verblüffung, eine Flasche Angostura! Er trinkt sie, indem wir reden, bis zum letzten Tropfen leer und wirkt, nach wie vor, nüchtern wie ein Temperenzler. Nur die Augen wölben sich vor, und ihr Weiß wird immer röter. Es sind die Augen der unheilbaren Trinker. Später einmal wird er die »Legende vom heiligen Trinker« schreiben und kurz darauf den vorgezeichneten, den gleichen Tod sterben …

… oder wir sitzen eines Sonntagvormittags in einer Parkettloge des Theaters am Schiffbauerdamm. Anlässlich einer Uraufführung. Man spielt ein Stück mit dem Titel »Wohnungsnot oder die heilige Familie«, und der Autor heißt Hermann Kesten. Es wird schlimm und immer schlimmer. Denn Maria Fein, die prachtvolle Heroine, hat ihren Text vergessen, behandelt ihr Lampenfieber, nach jedem Auftritt, in der Garderobe mit Alkohol, offenbar nicht »äußerlich«, und so bahnt sich die Katastrophe der Aufführung lange vor der Katastrophe im Drama an. Umso rascher, als einer der Zuschauer von Szene zu Szene lustiger wird und immer mehr lacht. Mir stehen die Haare zu Berge. Denn der Mann, der lacht, ist mein Nachbar, und dieser Nachbar sind Sie! Als dann gar im Parkett jemand aufspringt, Ihnen droht und empört zuruft: »Haben Sie wenigstens Respekt vor dem Autor!« – da ist es mit Ihnen völlig aus. Wir verlassen fluchtartig das Theater, um den Autor nicht länger zu kränken. Wir sind ja schließlich Kollegen von ihm …

… oder wir treffen einander, ernst und eilig, vorm Café Léon am Lehniner Platz. Zwei Tage nach dem Reichstagsbrand. Ich bin überstürzt aus der Schweiz zurückgekommen. Sie zeigen mir die Fahrkarten nach Paris. »Heute Abend fahren wir!« Und ich sage: »Müssen wir denn nicht bleiben? Wir können doch nicht alle auf und davon!« Diese kleine Erinnerung hat mich oft bis in die Träume verfolgt. Wenn Sie womöglich geblieben wären …

Die kleinen Erinnerungen. Die große Pause. Und nach dem Kriege von neuem: kleine Erinnerungen. An Monteverdis »Dido und Aeneas« im Teatro Olimpico, als Dido die Arie im Munde stecken blieb, weil eine Katze aus Palladios Kulissen zur Rampe kam und mit dem Dirigenten anbändeln wollte …

An die Omnibusreise von Paris nach Nizza, mit der obskuren Übernachtung in Lyon … An den Nachmittag mit Sperber und Breitbach im »Dôme« … An das Glatteis auf der Princess Street in Edinburgh … An die kühle Fahrt auf dem Mauleselkarren durch die lilafarbenen Rhododendrenwälder in Irland … An den Nachmittag in Rom, und Lotte wollte doch unbedingt zuerst zur Spanischen Treppe … An Hamburg, an Freiburg, an Frankfurt, und immer wieder an München … wo wir meinen Sechzigsten gefeiert haben und nun den Ihrigen feiern werden … Auf Ihr Wohl, lieber Hermann! Auf neue Erinnerungen! Und auf die alte Freundschaft!

Mit Erich Ohser in Paris

Vorwort für eine Mappe, 1963

In dieser Mappe hat es mir ein Blatt besonders angetan. Ein Blatt, worauf es vielerlei zu sehen gibt: ein Liebespaar aus dem Quartier Latin, eine Steinvase aus dem 18. Jahrhundert, eine Gouvernante, zwei gesattelte Esel, drei leere Klappstühle, die Wedel einer Fächerpalme, ein paar Vögel auf dem Kiesweg, ein Segelschiffchen im Wasserbecken, einen Jungen am Beckenrand und ein Mädchen, das eine Zeitung schützend über sich hält, weil die Sonne brennt. Man spürt, wie heiß es ist. Man sieht, wie träge sie sind, alle miteinander, die Menschen, die Luft, die Esel und sogar die drei Klappstühle. Sie begönnen zu schwitzen, wenn man sich draufsetzte.

Meine Vorliebe, mein Faible für dieses Blatt hat nichts mit Urteil und Kunstgeschmack zu tun, sondern einzig damit, dass ich, als die Zeichnung entstand, danebensaß. Erich Ohser zeichnete, und Erich Kästner schaute zu. Es war im Jardin du Luxembourg. Im Sommer 1928. Vor nunmehr vierunddreißig Jahren.

Sommer 1928 … Ein Jahr zuvor hatte es uns beide aus Leipzig nach Berlin verschlagen. Damit waren wir, ohne es zu wollen oder auch nur zu ahnen, in die schönste Zeit unseres Lebens hineingestolpert. Und nun trieben wir uns also, mit wenig Geld und großen Augen, für ein paar Wochen in Paris herum. Was kostete die Welt? Sie schien nicht billig zu sein. Aber wir wollten sie ja gar nicht kaufen, sondern nur betrachten! Das allerdings besorgten wir gründlich.

Wir wohnten in einem billigen, kleinen Hotel am Bahnhof St-Lazare, in der Rue d’Edinbourgh. Hier waren die harten Salami- und Cervelatwürste deponiert, die wir aus Berlin mitgeschleppt hatten und über die wir während der knappen Marschpausen hungrig herfielen. Wir lebten wie die Wanderburschen, und wir waren ja auch welche! Von morgens bis in die Nacht trabten wir kreuz und quer durch die wundervolle Stadt, über die Boulevards zum Bois, von der Place du Tertre zum Café du Dôme und zur Coupole, von der Madeleine zur Place de la Bastille, von den Markthallen zu den Bouquinisten, und kein Winkel konnte sich vor uns verstecken.

Wir fanden ja nicht nur die Sehenswürdigkeiten sehenswürdig, nicht nur die Isle und den Louvre, nicht nur Trianon und Fontainebleau! Es war keine Kavaliersreise, und Paris war nicht nur ein aus Museen bestehendes Museum! Ein pittoresker Schornstein, eine hinfällige Gaslaterne, ein Harfenspieler und ein Rummelplatz waren uns nicht weniger recht.

Unsere Neugier war ein Verlangen wie Hunger und Durst und kaum zu stillen. Sie wurde nicht müde. Schon gar nicht zur Schlafenszeit, wenn der Nachthimmel über Paris rot wurde. Nein, wir gingen nicht mit den Hühnern zu Bett. (Auch nicht mit den französischen, die man »poules« nennt.) Wir hielten auch nachts die Augen offen.

Wir saßen im »Moulin de la Galette« und schauten der kleinbürgerlichen Großstadtjugend zu, wie sie zur Blasmusik Walzer und Twostep tanzte, oft genug die Mauerblümchen miteinander und auch die jungen Burschen paarweise. Wir hockten im weltberühmten »Lido« an der Bar, zählten heimlich unser Geld und freuten uns über das freche und snobistische Durcheinander, hier der Swimmingpool mit Badenixen und Gummitieren, dort die Maharadschas und Fracks und Pariser Modellkleider beim nächtlichen Champagnerfrühstück.

Ein andermal gerieten wir, in irgendeiner dunklen Seitenstraße, unversehens in ein Lokal mit splitterfasernackter Damenbedienung. Es handelte sich um etwa zwei Dutzend ziemlich hübscher Mädchen in allen Haut- und Haarfarben […], und alle bemühten sich aufs Ungezwungenste um ihre Gäste. Es war eine weibliche Völkerschau auf vollen Touren. Wir kamen uns vor wie in einer Hafenkneipe von Hongkong oder Port Said, und in unserer Runde fehlte eigentlich nur noch ein dritter Sachse, der Vollmatrose Ringelnatz, mit einem Glase Wein und einem hanebüchenen Kuddeldaddeldu-Gesicht.

Die gleiche Nacht hatte ein weiteres »sündhaftes« Abenteuer in petto. Auf dem Rückmarsch ins Hotel überredete uns, an der Place de la Concorde, ein radebrechender Levantiner, eine Fotoserie zu erwerben. Er tat sehr verrucht und geheimnisvoll. Und er hatte wohl auch recht damit. Denn das Sammelwerk hieß »Les vingtquatre positions«! Das Geschäft kam zustande. Der Mann verschwand im Dunkeln. Ohser trat unter einen Kandelaber, um, bei dessen Schimmer, so schnell wie möglich unvermutete Bildungslücken zu beseitigen, betrachtete die Fotos und brach in schallendes Gelächter aus. Der Levantiner hatte uns vierundzwanzig Posen und Phasen eines Ringkampfes zweier dicker Männer vom Rummelplatz angedreht!

Das war, wie gesagt, im Jahre 1928. Seitdem ist, weiß der Himmel, viel geschehen. Aber Erich Ohsers jungenhaftes Lachen, das klingt mir noch heute im Ohr. Und nicht nur jenes Lachen unterm Kandelaber in Paris …

Max und sein Frack

 

So sehr es meiner natürlichen Bescheidenheit zuwider ist, muss ich mit einer protzigen Behauptung beginnen, nämlich: Einer meiner Freunde, namens Max, hatte einen Frack. Nun ist zwar statistisch einwandfrei erwiesen, dass der Student nicht einmal ein Mittagessen nötig hat. Aber gar einen Frack? Soll er dies elegante Kleidungsstück dadurch beleidigen, dass er es anlegt? – Nein, ein Frack, den man hat, ist entbehrlicher als ein deutsches Beefsteak, das man nicht hat. Und so ging dieser Frack meinem Freunde Max so lange im Kopfe herum, bis er eine Idee hatte. Der Weg von dieser Idee zu ihrer Verwirklichung führte über, oder besser in das Leihhaus. Fracklos, wie Max nun dastand, kehrte er der feinen Welt den Rücken und, mit 3000 Mark begütert, wandte er sich dem bürgerlichen Mittagstisch zu. Das Geld reichte von Anfang November bis Mitte Januar, tatsächlich.

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