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Rudi Ballreich (Hrsg.)

Systemische Perspektiven

Die Pioniere der systemischen Beratung im Gespräch

Rudi Ballreich im Gespräch mit:

Klaus Antons

Dirk Baecker

Joachim Bauer

Luc Ciompi

Joseph Duss-von Werdt

Friedrich Glasl

Hildegard Goss-Mayr

Jürgen Kriz

Eckard König und Gerda Volmer

Matthias Lauterbach

Arist von Schlippe

Bernd Schmid

Gunther Schmidt

Friedemann Schulz von Thun

Fritz Simon

Helm Stierlin

Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer

Rudolf Wimmer

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print: ISBN 978-3-940112-85-9

ePub: ISBN 978-3-940112-87-3

1. Auflage 2020

© 2020 Concadora Verlag, Stuttgart

Satz, Typografie und Umschlaggestaltung: Sedat Sener, Dipl.-Designer, Stuttgart (D)

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Inhalt

Vorwort

Die psychosoziale Dynamik in Gruppenkonflikten als Ressource und Gefahr (Klaus Antons)

Warum ist das mit der Kultur so kompliziert? (Dirk Baecker)

Aggression und Gewalt – Erklärungen aus neurowissenschaftlicher Sicht (Joachim Bauer)

Liebe ist beständig! Affektlogik, das Gesetz der Energieminimierung und die Konfliktdynamik (Luc Ciompi)

Auch wenn die Hoffnung mich verlässt, bleibe ich ihr treu! (Joseph Duss-von Werdt)

Konfliktdynamik in Organisationen konstruktiv gestalten (Friedrich Glasl)

Welche inneren Kräfte braucht es zur Friedensarbeit? (Hildegard Goss-Mayr)

Personzentrierte Systemtheorie für Führungskräfte und BeraterInnen (Jürgen Kriz)

Systemisch – Was heißt das? Die Personale Systemtheorie in der Praxis (Eckard König und Gerda Volmer)

Aufstellungen: Die transverbale Sprache sprechen und verstehen lernen (Matthias Lauterbach)

Strukturaufstellungen und transverbale Konfliktarbeit (Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer)

Konflikte in Familienunternehmen: zwischen Bindungslogik und Entscheidungslogik (Arist von Schlippe)

Jenseits ausgetretener Pfade ist mein Weg im Gehen gewachsen (Bernd Schmid)

Schlummernde Kompetenzen aktivieren! Hypnosystemische Ansätze beim Umgang mit Konflikten (Gunther Schmidt)

Die Wahrheit beginnt zu zweit! (Friedemann Schulz von Thun)

Es geht immer um Entscheidung! Systemtheoretische Anregungen zum Verständnis von Konflikten (Fritz Simon)

Wie du mir, so ich dir! Beziehungsgerechtigkeit und die Balance zwischen Geben und Nehmen (Helm Stierlin)

Das Kreativitätspotenzial organisationaler Spannungsfelder nutzen (Rudolf Wimmer)

Erstveröffentlichung der Interviews

Literaturverzeichnis

Vorwort

Systemische Beratung ist „in“. Wer als Organisations- oder KonfliktberaterIn auf der Höhe der Zeit sein will, bezeichnet seine Tätigkeit als „systemisch“. Was aber ist systemisch? Und was ist systemische Beratung? Die 18 Gespräche in diesem Buch mit den führenden SchulengründerInnen und ForscherInnen der systemischen Organisations- und Konfliktberatung im deutschsprachigen Raum zeichnen ein vielfältiges Bild. Anknüpfend an biografische Motive zeigt jedes Gespräch systemische Beratung aus einer anderen Perspektive. Die LeserInnen haben dadurch die Möglichkeit, die prägenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Beraterszene mit ihren persönlichen Motiven, Erfahrungen, Theorien und Methoden kennenzulernen. Und sie können sich durch die Perspektivenvielfalt anregen lassen, das eigene implizite Denken und Handeln zu überprüfen und sich für spezielle Beratungssituationen Anregungen zu holen: Welche systemische Beratungsperspektive ist in diesem Fall hilfreich?

Wie sind die Interviews entstanden?

Als ich vor über 25 Jahren Ausbildungen in Gestalttherapie, Gruppendynamik, Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement besuchte, war bei jeder Ausbildung ein anderes Systemverständnis vorherrschend.

In der psychotherapeutischen Tätigkeit hat es sich gezeigt, dass die Arbeit mit der Psychodynamik auch ein differenziertes Verständnis von körperlich-emotionalen Prozessen sowie von systemischen Prozessen braucht, wie sie in Familien und Gruppen wirksam sind. Die Auseinandersetzung mit Bioenergetik und mit systemischer Familientherapie sowie Erfahrungen mit Systemaufstellungen und Psychodrama waren dafür hilfreich.

In gruppendynamischen Trainings, in der Teamentwicklung und in der Bearbeitung von Teamkonflikten wurde deutlich, dass der feldorientierte Ansatz Kurt Lewins Ergänzungen braucht durch ein Verstehen der organisationalen Systemdynamik, in die Teams eingebunden sind.

In der Begleitung von Change- und Organisationsberatungsprozessen stellten sich andere Fragen: Wie wirken die Menschen und ihre Interaktionen zusammen mit Strukturen, Arbeitsprozessen, Strategie und Finanzen? Und wie wirken offizielle und implizite Regeln und Grundannahmen auf das Verhalten der Menschen und auf die Gestaltung der Organisationsabläufe? Wie gestaltet eine Organisation das Verhältnis zu ihren Umwelten, zu Kunden und Lieferanten, zu ihrem Markt?

Bei der Bearbeitung von Organisationskonflikten rückt das Spannungsfeld Mensch und Organisation besonders in den Vordergrund. Denn in zwischenmenschlichen Konflikten und auch in Teamkonflikten spiegeln sich fast immer Unstimmigkeiten des organisationalen Systems, d.h. unstimmige Strukturen, Rollen, Regeln, Prozesse und Werte kommen in der Zusammenarbeit zwischen den Menschen als Konflikte zum Ausdruck.

Alle beschriebenen Zusammenhänge sind nicht durch monokausale Erklärungsmuster verstehbar, weil alle Faktoren aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen. Ein systemisches Verständnis ist unabdingbar. In den letzten Jahren habe ich mich deshalb mit den unterschiedlichen Schulen der systemischen Organisations- und Konfliktberatung beschäftigt. Besonders wichtig waren dabei die Interviews mit den GründerInnen der systemischen Beratungsansätze im deutschsprachigen Raum. Diese Interviews waren möglich, weil ich seit der Gründung im Redaktionsbeirat der Zeitschrift „KonfliktDynamik“ das Resort „Interviews“ betreue. In diesem Buch sind die Interviews zusammengefasst, die sich mit systemischer Organisations- und Konfliktberatung beschäftigen. Zwei Interviews habe ich in anderen Zusammenhängen veröffentlicht, hier aber eingefügt, weil sie wichtige Perspektiven der systemischen Beratung berühren. Die meisten Interviews fanden als Gespräche statt, die dann bearbeitet wurden, einige Interviews habe ich schriftlich durchgeführt.

Ein weiterer Kontext war für die Entstehung dieser Interviews wichtig: An der Universität Witten/Herdecke habe ich zwei Symposien initiiert, an denen die meisten GesprächspartnerInnen dieses Interview-Buches mitgewirkt haben. 2016 war das Thema „Die Praxis systemischer Konfliktbearbeitung in Organisationen“. 2017 ging es um “Das Spannungsfeld Mensch und Organisation“. In diesem Symposium spielten SchauspielerInnen einen Organisationskonflikt und die mitwirkenden BeraterInnen demonstrierten auf der Bühne ihren Beratungsansatz. Es war erstaunlich zu sehen, wie unterschiedlich die Konfliktbearbeitung angegangen wurde. Die Perspektivenvielfalt systemischer Beratung, die auch in den Interviews sichtbar wird, zeigte sich deutlich. Ich hoffe, ausgehend von dem Interview-Buch und den Filmaufnahmen der Symposien, Dialoge über die Grundannahmen der einzelnen Beratungsschulen sowie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede anregen zu können.

Bedanken möchte ich mich bei den GesprächspartnerInnen der Interviews. Der intensive Austausch bereitete mir eine große Freude. Bedanken möchte ich mich auch bei der Zeitschrift KonfliktDynamik (bis 2018 Klett-Cotta, ab 2019 Nomos Verlag) für die Erlaubnis, die Interviews in diesem Buch veröffentlichen zu können.

Rudi Ballreich

Die psychosoziale Dynamik in Gruppenkonflikten als Ressource und Gefahr

Rudi Ballreich im Gespräch mit Klaus Antons

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Klaus Antons (Dipl. Psych., Dr. phil. habil.) ist Trainer für Gruppendynamik DGGO und Supervisor DGSv. Nach dem Studium der Psychologie und Soziologie war er in Klinik und Forschung mit dem Schwerpunkt Suchtforschung tätig und leitete eine Bildungsinstitution im Bereich Familien- und Sozialtherapie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gruppendynamische Trainings und Fortbildungen, Konflikttrainings, Personal-, Organisations- und Teamentwicklung, Supervision und Coaching, sowie Ost-West-Dialog.

Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:

Einführung in die Praxis der Feldtheorie (gemeinsam mit Stützle-Hebel, M.). Heidelberg 2017.

Gruppenprozesse verstehen. Gruppendynamische Forschung und Praxis. (gemeinsam mit Amann, A., Clausen, G, König, O., Schattenhofer, K. Wiesbaden 2001.

Praxis der Gruppendynamik (gemeinsam mit Ehrensperger, H. und Milesi, R.) 10. vollständig überarbeitete Auflage. Göttingen 2019.

Klaus, warum ist eigentlich „Gruppendynamik“ das zentrale Thema deiner Arbeit?

Dazu ist wohl ein Ausflug in meine Biografie nötig. Ich bin einerseits Einzelkind, andererseits wurde ich als Ältester in einer ausgesprochenen Bindungsfamilie Sippenchef von fünf Cousinen und Cousins; so bin ich in die Rolle eines Anführers hineingewachsen. Diese Rolle setzte sich fort: Meine Mutter, eine sehr kluge Frau, schickte mich in der fünften Klasse in eine Jugendgruppe. Da war ich von der fünften bis zur achten Klasse Mitglied eines „Fähnleins“. Danach bekam ich selber eine Gruppe von Sextanern in die Hände gedrückt, habe vieles ausprobiert und siehe da: Es lief recht gut.

Das war ja eine gute Vorbereitung für deine lebenslange Leitung von unterschiedlichen Gruppen.

Ja, aber das Bewusstsein von Gruppenprozessen erwischte mich 1962 mit einer Art Donnerschlag im ersten Semester in Freiburg, wo ich bei Adolf Friedemann ein Seminar zur Psychologie der Gruppe belegte. Was ich da an einem Nachmittag pro Woche erlebte, war die Vorform eines ambulanten gruppendynamischen Trainings, in dem der sich frei entwickelnde Gruppenprozess im Mittelpunkt stand. Dort habe ich zum ersten Mal durch Selbsterfahrung gelernt: „Aha, so funktioniert das mit Gruppen!“

Wie war denn zu diesem Zeitpunkt der Stand der Gruppendynamik im deutschsprachigen Raum?

Kurt Lewin und seine Mitarbeiter haben die Form des gruppendynamischen Trainings in den USA von 1946 ab entwickelt. Im deutschsprachigen Raum hat Traugott Lindner in Österreich bereits 1957 ein erstes gruppendynamisches Training durchgeführt. In diesem Jahr ist übrigens auch die erste deutschsprachige Publikation von Peter Hofstätter erschienen. In Deutschland fing die Gruppendynamik-Bewegung jedoch erst 1963 mit dem Schliersee-Seminar von Tobias Brocher und Max Horkheimer an.

Und wie hast du in diese Bewegung hineingefunden?

Ich bin das ganze Studium über jedes Semester bei Friedemann gewesen, habe die Vordiplomarbeit bei Hans Bender über ein gruppendynamisches Thema gemacht und mein letztes Praktikum bei Helmut Enke in Umkirch bei Freiburg absolviert. Dort habe ich mit seiner späteren Frau Editha Ferchland eine Studie über Rangordnungsverhalten von Patienten in der psychosomatischen Klinik durchgeführt. Da hat es bei mir richtig gezündet; ich wollte damit weitermachen und habe Helmut Enke gefragt, ob er nicht eine Stelle für mich nach dem Diplom habe. Ich konnte dann fünf Jahre als Assistent bei ihm an der frisch gegründeten Universität Ulm arbeiten. Von ihm wurde ich auch 1968 zur Gründungssitzung der Sektion Gruppendynamik im Deutschen Arbeitskreis für Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie (DAGG) mitgenommen und wurde so Gründungsmitglied. Bei diesem Verein bin ich bis heute geblieben.

Welche Faktoren sind eigentlich wirksam, wenn Gruppen zu besonderen Leistungen fähig werden?

Zum Ersten möchte ich da Gruppen und Teams unterscheiden. Gruppen brauchen keine Hochleistungen zu erbringen, wenn sie nicht gleichzeitig Arbeitsteams sind, die ein Produkt als Ergebnis ihrer Arbeit vorweisen müssen. Weder Selbsterfahrungs- noch Lern- noch Selbsthilfegruppen müssen das. In dem Film über das Schweizer Segelteam der Alinghi, das unter der Leitung von Ernesto Berterelli zweimal hintereinander den America’s Cup gewann, sind die Prinzipien für besondere Gruppenleistungen sehr schön gezeigt und beschrieben: Die richtige Personalauswahl ist wichtig, wobei das Prinzip gilt, nicht der Einzelne, sondern das Team ist der Star! Absolute Selbstverantwortung der einzelnen Mitarbeiter und der produktive Wettbewerb im Team werden gefördert. Konflikte und Probleme sollen selber gelöst werden. Das authentische Vorbild des Chefs hat eine besondere Bedeutung. Auf natürliche Teambildung wird vertraut, wozu auch physische Nähe und genügend Möglichkeiten zum Austausch gehören. Auch das „Gebot des offenen Wortes“ und die Einladung zu Kritik, Reflexion und konstruktivem Feedback zählen dazu. Diese Ergebnisse der Untersuchung der Erfolgsgeheimnisse des Segelteams decken sich auch mit meinen Erfahrungen in der Arbeit mit Gruppen.

Welche Aspekte sind denn von besonderer Bedeutung, wenn in Konflikten die destruktive Dynamik von Gruppen in den Vordergrund rückt und die beteiligten Menschen in ihren Bann zieht?

Auf diese Frage möchte ich vor der gruppendynamischen zunächst eine anthropologische Antwort geben. Die Elemente einer Gruppe sind natürlich Menschen, und die destruktive Dynamik von Gruppen ist im Kern die destruktive Dynamik von Menschen. Dabei spielen die Strukturen des Ich oder Ego eine große Rolle. Denn diese seelische Instanz fühlt sich leicht bedroht, gekränkt, ausgeschlossen, nicht wahrgenommen oder übergangen. Und darauf reagiert sie mit archaischen Überlebensmustern. Das wichtigste davon ist, dass das Ego sich selbst als gut und alles Böse als von außen kommend erlebt. Dabei kommt der Abwehrmechanismus der Projektion zur Geltung. Dieser seelische Mechanismus wurde nicht erst von Freud entdeckt, sondern wird in den Lehrreden des Buddha ebenso beschrieben wie im Matthäus- und Lukasevangelium des Neuen Testaments: Du siehst den Splitter im Auge deines Nächsten, den Balken im eigenen Auge siehst du nicht. Ich halte ihn, neben anderen Abwehrmechanismen im Sinne Freuds, für den zentralen Notfallmechanismus, der in Gruppenkonflikten zum Zuge kommt.

Das ist jetzt der Blick auf die Psychodynamik des einzelnen Gruppenmitglieds. In Gruppen ist aber doch auch eine systemische Dynamik wirksam?

Ja natürlich! Ich habe dies detailliert in dem herausforderndsten Schreibauftrag bearbeitet, den ich je bekommen habe: etwas über die dunkle Seite von Gruppen zu schreiben für das Handbuch Alles über Gruppen1, herausgegeben von Cornelia Edding und Karl Schattenhofer. Verkürzt wiedergegeben gibt es destruktive Dynamiken in Gruppen, die dadurch zustande kommen, dass der Pol der Kohäsion, des Zusammenhaltes oder der Integration von Unterschiedlichem, in einer Gruppe zu stark oder gar verabsolutiert wird. Das führt dann zu Phänomenen wie Verschmelzung mit dem Kollektiv, Konformitätsdruck, Groupthink, Abschottung, Sektierertum mit Unterwerfung und Gehorsam. Wird hingegen der andere Pol der Differenzierung und damit die Impulse der einzelnen Gruppenmitglieder zu sehr betont, dann kommt es zu Erscheinungen wie Auseinanderfallen oder Zerstörung der Gruppe, Spaltungen und Außenseitertum.

Hat das auch mit den Phasen der Gruppenentwicklung zu tun, die ja im Idealfall auch von der Kampfphase zur Integration führen?

Ja, ich bin allerdings weggekommen von diesen eher statischen Phasen, denn Gruppen haben es ständig mit der Dynamik zu tun, dass die Einzelnen zur Geltung kommen wollen und dadurch Differenzierungsbestrebungen vorhanden sind. Und andererseits braucht die Gruppe den Zusammenhalt, das „Wir“ und die Kräfte der Integration. Es ist ein ständiges Ringen um Ausgleich dieser beiden Pole. Dadurch entwickeln sich Gruppen weiter.

Hat das Wort „Gruppendynamik“ wegen dieser Auseinandersetzungen meistens eine negative Bedeutung?

Ja, viele Menschen verstehen leider unter Gruppendynamik ausschließlich das, was abgeht, wenn es Zoff gibt oder, nach dem Muster Big Brother, eine Ausschlussdynamik läuft. In Organisationen wird z. B. meistens von Gruppendynamik gesprochen, wenn Spannungen zwischen den Gruppenmitgliedern die sachbezogene Arbeit stören. Mir ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass bei guter Zusammenarbeit in Gruppen auch Gruppendynamik wirksam ist, allerdings in einer konstruktiven Weise.

Was können die LeiterInnen und Mitglieder von Gruppen konkret tun, um gezielt am Aufbau einer konstruktiven Gruppendynamik zu arbeiten?

Sie sollten die Kräfte der Differenzierung und Integration ausbalancieren können. Das heißt sowohl mit Spannungen und Konflikten gut umgehen können als auch von vorneherein die Zusammenarbeit durch entsprechende Methoden und Verfahren gut zu gestalten. Das kann allerdings nicht durch Vorträge gelernt werden. Sich selbst erfahren in gruppendynamischen Prozessen ist in meinen Augen nach wie vor die beste und am nachhaltigsten wirkende Form des Lernens. Wichtig erscheint mir aber auch, der heute vorherrschenden Leistungsorientierung des „immer mehr und immer schneller“ etwas entgegenzustellen. Ich plädiere dafür, die Arbeit an der Gruppendynamik eher zur Entschleunigung und zum Abbau des irrwitzigen Turbokapitalismus sowie des menschenverachtenden Neoliberalismus einzusetzen und sie subversiv zu verwenden. Das würde die Gruppendynamik auch näher an ihre Wurzeln bringen, die in einem eindeutig politischen Kontext liegen.

Was ist deiner Ansicht nach für KonfliktberaterInnen besonders wichtig, wenn sie es mit Gruppenkonflikten zu tun haben?

In erster Linie: Angstfreiheit. Und die erreicht man nur, wenn man genügend Konfliktsituationen in Gruppen durchgestanden und dabei die Erfahrung gemacht hat:

Konflikte sind per se nicht destruktiv, sondern können die Grundlage für konstruktive Veränderungen sein. Konflikte fühlen sich nicht unbedingt angenehm an, wenn man drin steckt – aber sie gehören zum Leben, sie verändern sich, sie können helfen zur Klärung. Für BeraterInnen scheint mir weiterhin wichtig erfahren zu haben: Ich bin fähig, mich nicht verstricken zu lassen. Ich kann mit meinen eigenen Ängsten umgehen und sie treiben mich nicht dazu, parteiisch oder hilflos zu reagieren; ich kann vielmehr allparteilich und hilfreich bleiben. Das zu lernen geht nur mit einer ordentlichen Portion Selbsterfahrung in gruppendynamischen Trainings – das lässt sich nicht über Powerpoint-Präsentationen lernen.

Was ist eigentlich das Besondere der gruppendynamischen Trainingsform? Was erleben und wie lernen die TeilnehmerInnen da?

Sie erleben zunächst, dass es eine ungewohnte Form des Lernens ist: Die TrainerInnen, die möglichst im gemischtgeschlechtlichen Duo arbeiten, verweigern die gängige Rolle des Lehrers, der Dozentin und deklarieren sich als Begleitende des Prozesses, für den die Verantwortung bei den Teilnehmenden liegt. Das führt oft zu massiven Irritationen und zur Verunsicherung gewohnter sozialer Rollen. Indem sie lernen, sich in diesen Prozessen zu orientieren, trainieren die Teilnehmenden elementare Basisfähigkeiten der sozialen Kompetenz: Kooperations- und Teamfähigkeit, Abgleichung von Selbst- und Fremdbildern, Wahrnehmungsfähigkeit für zwischenmenschliche Prozesse, Mut und Aktionsfähigkeit in kritischen Situationen, Konflikttoleranz etc. Sie entwickeln die Schlüsselqualifikationen, die in vielen Berufen, vor allem von Führungskräften, verlangt werden.

Du hast ja auch in der Suchtforschung und als Familien- und Paartherapeut gearbeitet. Warum ist die gruppendynamische Trainingsform dein Schwerpunkt geblieben?

Weil ich trotz meines Wissens und meiner Erfahrung niemals voraussagen kann, wie und wohin sich eine Gruppe entwickelt. Es ist immer ein offener Prozess, den ich zwar beeinflussen kann, der aber rekursiv auch mich beeinflusst. Das macht die Trainingsarbeit nach wie vor spannend, es wird nie langweilig oder Routine.

Im Prinzip gilt Unvorhersagbarkeit auch für individuelle und familiäre Prozesse, aber die Auswirkungen haben dort nicht denselben „impact“. Die „gruppendynamische Brille“, die so etwas wie ein Paradigma ist, heißt ja: Arbeiten mit dem, was ist und was kommt. Das hilft mir auch als Supervisor, insbesondere in Teams, und vor allem als Dozent, wenn ich SupervisorInnen, ErwachsenenbildnerInnen und BeraterInnen ausbilde.

Welche Themen sollten deiner Ansicht nach für das Verstehen und Gestalten der Gruppendynamik in Konflikten genauer erforscht und ausgearbeitet werden?

Weit verbreitete Realität sind seit einem guten Jahrzehnt die virtuellen Teams – die spärliche bisherige Forschung zeigt, dass sie konflikt- und krisenfähiger sind, wenn ein Definitionsmerkmal der klassischen Gruppendefinition berücksichtigt wird: das „face to face“. Hier sehe ich ein wichtiges zukunftsweisendes Forschungsthema.

Du hast in letzter Zeit viel zu Kurt Lewin geforscht und dazu auch publiziert. Warum ist Kurt Lewin auch heute noch aktuell und für BeraterInnen wichtig?“

Wenn Du mich fragst, was Lewin für heutige BeraterInnen noch zu bieten hat, dann kann ich aus eigener Erfahrung als Berater und Trainer sagen: Ausgesprochen viel. Ich habe seit meiner intensiveren Beschäftigung mit Lewins Denken – zusammen mit Monika Stützle-Hebel – sowohl mein Repertoire erweitern als auch eine neue, viel dynamischere Sicht auf Gruppen- und Teamprozesse gewinnen können.

Dazu hilft an erster Stelle eine andere als die klassische, aber doch eher statische Definition von Gruppe. Diese geht aus von überschaubarer Größe, face-to-face, Dauer, Ziel etc. Lewins Sichtweise ist so: Man kann von einer Gruppe sprechen, wenn die Beziehungen untereinander wichtiger sind als die Beziehungen nach außen. Dieser Fokus ermöglicht, fließender hinzuschauen auf die Dynamik in einer Gruppe oder einem Team und besser die Veränderungen wahrzunehmen.

Und welche Rolle spielt dabei die Feldtheorie?

Eine große! Als Entdecker der Gruppendynamik lehrt er in bisher unübertroffener Weise dynamisch zu denken. Sein Denken in Kräftefeldern, in Relationen von Zug- und Schubkräften, von Gleichgewichten und Barrieren, von Widerstand, Regression und Lokomotion, kann das heute gängige systemische Denken deutlich bereichern – nicht ersetzen.

Den Begriff des Feldes hat er den damals die Weltsicht revolutionierenden Naturwissenschaften entlehnt; wir durften unser Buch nicht „Einführung in die Feldtheorie“ nennen, weil der Titel schon prominent besetzt war: durch niemand Geringeren als Werner Heisenberg. Wir mussten also umbenennen in „Einführung in die Praxis der Feldtheorie“ – was zu Lewin allerdings bestens passt. Zentral in der Feldtheorie ist ja der Lebensraum, ein Begriff, der sich heute durchgesetzt hat, ohne dass die meisten Menschen wissen, woher er stammt. In diesem Konzept wird Verhalten erstmals, soweit ich weiß, als eine Funktion von Person und Umwelt definiert: V=f(P,U). Lewin hat auch etwas kultiviert, was heute als visuelle Moderation oder graphic recording auf dem Markt ist: komplexe Zusammenhänge nicht in Worten, sondern in Grafiken verständlich zu machen. Das haben wir in unserer „Einführung“ mit Vergnügen weitergeführt und ausgeweitet.

Wie siehst Du das Verhältnis von Kurt Lewin zu den Ansätzen der systemischen Beratung?

Die Lebendigkeit, die in dieser Sichtweise auf soziales Verhalten steckt, beinhaltet auch – und da meine ich, können die Systemiker vielleicht am meisten lernen – dass ich als Berater, Leiter oder Trainer in die affektive Dynamik eingebunden bin, ein Teil von ihr bin und das am eigenen Leib spüren kann. Die bei nicht wenigen Systemikern übliche Vorstellung, dass man von außen ein Klientensystem steuert, wird dadurch zumindest einmal infrage gestellt, wenn nicht gar ausgehebelt.

Hast du dazu ein Beispiel?

Eine Fallvignette aus unserer „Einführung in die Praxis der Feldtheorie“, die ich hier sehr verkürzt wiedergebe, mag das Obige verdeutlichen:

Zu mir kommt ein reformierter Pfarrer in die Supervision, der sich in seiner Pfarrei höchst unwohl fühlt, von vielen Seiten bedrängt und irgendwie nicht mehr am richtigen Platze. Die biografische Arbeit macht deutlich, dass er hauptsächlich Pfarrer geworden ist, um den sozialen Aufwärts-Aspirationen seiner Mutter zu genügen, weniger aus eigener Motivation. Jetzt, da sich seine Mutter in die Demenz verabschiedet, kann er diese Spur erkennen. Als ich ihn auffordere, seinen Träumen nachzugehen, wird der sonst sehr unbewegliche Mann sehr lebendig und impulsiv, als er das väterliche Fuhrgeschäft ins Visier nimmt. Er hat alle LKW-Führerscheine gemacht und könnte sich vorstellen, Lastwagenfahrer in einer Kiesgrube zu werden. Ich ermutige ihn, diesem Traum nachzuspüren – und heute ist er glücklicher Lastwagenfahrer und möchte nicht mehr in das Pfarramt zurück.

Diese knappe Vignette macht deutlich, wie das – laut Lewin – Quasibedürfnis eines sozialen Aufstiegs der eigentlichen, eigenen Motivation weicht, als der mütterliche Druck nachlässt und die Identifikation mit dem Väterlichen möglich wird. Das, was bisher in der Irrealitätsschicht angesiedelt war, wechselt nun in die Realitätsschicht.

Ich hoffe, das macht neugierig darauf, unsere Auseinandersetzung mit den Konzepten von Kurt Lewin nachzuverfolgen.

Vielen Dank für das Gespräch!

1Edding, C., Schattenhofer, K.: Alles über Gruppen. Weinheim 2015.

Warum ist das mit der Kultur so kompliziert?

Rudi Ballreich im Gespräch mit Dirk Baecker

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Dirk Baecker (Prof. Dr.) hat Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris studiert. Promotion und Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 2015 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Seine Arbeitsgebiete sind die soziologische Theorie, insbesondere soziologische Systemtheorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Er arbeitet gerne mit dem Formkalkül von George Spencer-Brown und interessiert sich gegenwärtig besonders für eine soziologische Theorie der nächsten oder postdigitalen Gesellschaft.

Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:

Die Form des Unternehmens. Frankfurt am Main 1993

Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie. Berlin 2013

4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig 2018.

Kannst du bitte etwas über dich und deine bisherige Arbeit erzählen? Was hat dich am meisten geprägt? Woran hast du gearbeitet und geforscht? Und vor allem: Wie kommt es, dass Kultur und Kulturreflexion in deiner Arbeit so stark im Fokus stehen?

Das sind viele Fragen auf einmal. Tatsächlich kommen im Interesse an der Kultur viele meiner bisherigen Arbeitsschwerpunkte zusammen. Der Begriff der Kultur gilt ja nicht umsonst als einer jener Begriffe, die am schwersten zu bestimmen sind. Irgendwann begann mich das herauszufordern. Gute Freunde empfahlen mir Mitte der 1990er-Jahre nach meiner Habilitation, mich einmal mit diesem Begriff auseinanderzusetzen. Sie meinten, mit der Systemtheorie, mit der ich mich bislang beschäftigt hatte, hätte ich kaum eine Chance, einen Ruf auf einen Lehrstuhl zu erhalten. Wenn ich mich jedoch auf die Kulturwissenschaften zubewegen würde, sei das möglicherweise anders. Ich schrieb dann einen langen Lexikonartikel über die Geschichte des Kulturbegriffs für das Historische Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe und fand heraus, dass der Kulturbegriff einen meines Erachtens höchst präzisen Kern aufzuweisen hat. Ich will das jetzt nicht referieren, aber die Pointe war und ist, dass in der Kultur Balancen und Disbalancen zwischen Körper, Bewusstsein und Kommunikation verhandelt werden, die nirgendwo sonst ihren Ort haben. Nicht umsonst lautet die wichtigste Kulturfrage seit Jean-Jacques Rousseau, ob eine bestimmte Kultur die Menschen, die in ihr leben, eher glücklich oder unglücklich mache. Wie aber soll man diese Frage beantworten, wenn man nicht mindestens diese drei Referenzen auf Körper, Bewusstsein und Gesellschaft prominent in den Blick nimmt? Ich hatte also die Chance, einen blinden Fleck meiner bisherigen Arbeit zu korrigieren und gleichzeitig meiner größten Leidenschaft, der Arbeit an der Theorie, nachzugehen. Ich hatte mich ja bislang vornehmlich für die Soziologie des Konsums, der Märkte und der Unternehmensorganisation interessiert. Es war wichtig, diese Interessen durch die Kulturperspektive zu ergänzen.

Was heißt das genau, Kultur-Balance im Spannungsfeld von Körper, Bewusstsein und Kommunikation? Was ist Kultur?

Körper, Bewusstsein und Kommunikation sind nicht per se ausbalanciert. Schon die alten Griechen haben nur deswegen über ein kosmologisches Gleichgewicht von Psyche, Oikos, Polis und Kosmos nachgedacht, weil dieses Gleichgewicht dauernd gestört wird. Der Körper überfordert das Bewusstsein – und umgekehrt, wie Freud ergänzt hat. Das Bewusstsein überfordert die Kommunikation – und die Romantik reagiert mit einer eher das Sentiment als die Ratio ansprechenden Poesie. Man braucht also, vermutet die Systemtheorie, irgendeinen Mechanismus, der nicht unbedingt ein Gleichgewicht herstellt, aber die Ungleichgewichte thematisiert und erträglich macht. Dann bekommt der Körper seine Zeit, aber auch das Bewusstsein. Es bekommt die Ratio ihre Zeit, aber auch das Sentiment. Kultur heißt, nicht überall poetisch reden zu dürfen, aber zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten dann eben doch. Kultur heißt, sich in Situationen der Intimität andere körperliche Annäherungen leisten zu können als im geselligen Verkehr einer Öffentlichkeit. Bronislaw Malinowski war einer der ersten, der diese Mechanismen der Wiederherstellung einer Balance in seiner „wissenschaftlichen Theorie der Kultur“1 beschrieben hat. Kultur heißt bei ihm zum Beispiel, dass nicht überall und jederzeit und auch nicht in jeder Kultur Fragen der Verdauung ein Thema sind. Talcott Parsons hatte angenommen, Kultur normiere, welches Verhalten als richtig und welches als falsch gelte. Niklas Luhmann hat diese gleichsam von außen wirkende Normativität wieder aus der Kulturtheorie herausgenommen und formuliert, Kultur sei die versuchsweise Regelung der Frage, welche Themen wann opportun sind und wann nicht. Und das geht nur im sozialen System und durch das soziale System. Was ist Kultur? Kultur ist immer paradox und ambivalent – zumindest wenn man sie theoretisch in den Blick nimmt. In der Praxis merkt man das nicht unbedingt. In der Praxis ist die Kultur eine indirekte Thematisierung von Spannungen durch Angebote ihrer Vermeidung. Kultiviert ist, wer weiß, wie man Unpassendes überspielt. Das muss so elegant passieren und so selbstverständlich scheinen, dass man gar nicht merkt, dass man anders hätte reagieren können. Noch genauer: Es muss so geschehen, dass jede andere Reaktion sich durch den Eindruck des Unkultivierten von selbst verbietet.

Wie ist das mit der Kultur in Organisation? Was ist Organisationskultur? Und wie entwickeln sich spezifische Organisationskulturen?

Organisation, hat Niklas Luhmann einmal kurz und bündig gesagt, ist Kommunikation über Arbeit. Man versucht gemeinsam etwas zu Wege zu bringen, aber auch, andere bei der Stange zu halten. Organisation ist Kooperation und normative Unterfütterung der Organisation. Oft ist das nicht auseinanderzuhalten. Eine Organisationskultur ist immer beides, die Betonung bestimmter Werte und Konventionen der Kooperation, zugleich jedoch auch die Thematisierung dieser Werte. Und wie wir wissen, ruft eine Thematisierung Kontingenz auf den Plan. Wenn man hört, was erwartet wird, kann man es sich auch anders vorstellen. Eine Organisationskultur ist daher nahezu zwangsläufig ihre eigene Entwicklung, und zwar oszillierend zugunsten ihrer eigenen Verkrustung und zugunsten alternativer Formen ihrer selbst. In der Theorie ist das schnell gesagt; die empirische Sozialforschung hat jedoch leider immer noch Schwierigkeiten, so subtile, weil paradoxe Zusammenhänge auch aufzuzeigen.

Was heißt das genau? Wo und wie zeigen sich die kulturellen Werte in einer Organisation? Kannst du das bitte an ein paar Beispielen erläutern?

Ich hatte einmal die Gelegenheit, Formen des Risikomanagements in Banken zu erforschen. Das war Ende der 1980er-Jahre, als das Wort „Risiko“ vom durchschnittlichen Mitarbeiter einer Bank noch nicht benutzt wurde. Man handele mit Sicherheiten, wurde mir gesagt, nicht mit Risiken. Aber in jeder Bank, in der ich war, wurde mir die kulturelle Differenz zwischen einer Wertpapierabteilung und einer Kreditabteilung beschrieben. Die eine sei marktorientiert, die andere bürokratisch. Typisch war, dass man diesen kulturellen Unterschied nicht als Ergebnis der unterschiedlichen Geschäfte, sondern als Charaktereigenschaft der entsprechenden Abteilungen und ihres Personals verstand. Das verstehe ich unter kulturellen Werten einer Organisation. Aus der jeweiligen Arbeitspraxis entstehen Gewohnheiten, Konventionen, Selbstverständlichkeiten, die sich als Entscheidungsprämissen verfestigen, ohne dass man noch wüsste, woher sie kommen. Luhmann hat daher Organisationskultur als eine Menge unentscheidbarer Entscheidungsprämissen definiert, im Gegensatz zu Abteilungen, Programmen, Profilen und Strategien, die alle als entscheidbare, also änderbare, Entscheidungsprämissen gelten. Als kulturelle Werte fallen solche Selbstverständlichkeiten natürlich erst auf, wenn man jenseits der eigenen Abteilung mit der Erkenntnis konfrontiert wird, dass dort andere Selbstverständlichkeiten gelten und die eigenen Selbstverständlichkeiten alles andere als selbstverständlich sind. In diesem Moment werden sie zu „kulturellen Werten“. „Werte“ in dem Sinn, dass man auf ihnen insistiert, weil man irgendwie das Gefühl hat, sie zu brauchen. Und „kulturell“ sind sie, weil man nicht weiß, woher sie kommen, ohne deswegen auf sie verzichten zu können. Man sieht die Lösung, weiß jedoch nicht, welches Problem sie lösen. Also hält man sicherheitshalber an ihnen fest. Kulturelle Werte bringen ein bestimmtes Bewusstsein, bestimmte Praktiken der Kooperation und Koordination und bestimmte externe Anforderungen – inklusive der Ablehnung mancher dieser Anforderungen – vorübergehend auf einen Punkt. Im Fall der Banken haben sich manche Führungskräfte gewünscht, mehr innovative Marktbeobachtung in der Kreditabteilung und mehr Bürokratie in der Wertpapier- und Investmentabteilung realisieren zu können, und dies damals in radikaler Verkennung der jeweiligen Produktlogik. Der eine oder andere Zeitungsartikel, den man heute über organisationskulturelle Bemühungen von Klein- und Großbanken lesen kann, deutet darauf hin, dass man an dieser Stelle immer noch herumlaboriert.

In Changeprozessen wird immer wieder betont, wie wichtig die Veränderung des Mindsets, der Organisationskultur sei. Viele Veränderungsvorhaben scheitern daran, dass der notwendige Mindshift nicht gelingt. Was sind deine Ideen zur Kulturtransformation in Organisationen?

Ich habe im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Produktkalkül“ publiziert. Darin versuche ich zu zeigen, dass die Organisation von Organisationen mit einem Verständnis ihres Produkts steht und fällt. Das Produkt verknüpft die Organisation mit ihrer Umwelt; es kann materiell oder immateriell sein; meist ist es beides. Aber wenn die Organisation in ihrem Mindset keine Vorstellung davon hat, mit welchem Produkt sie nicht sich selbst, sondern ihre Kunden, ihre Abnehmer, ihre Gläubiger, ihre Klienten zufriedenstellen kann, dann hilft kein Nachdenken über Change oder die Transformation von Kultur. Mich hat immer gewundert, dass sowohl in der Betriebswirtschaftslehre als auch in der Organisationsentwicklung von Produktfragen abgesehen wird, so als könne man über Formen der Arbeit reden, ohne darüber etwas zu wissen, woran und für wen gearbeitet wird. Die Soziologie und nicht nur die Industriesoziologie weist darin immer noch ein wenig ihres marxistischen Erbes bzw. genauer: ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus auf, dass sie die materielle Praxis kennen will, bevor sie vom Überbau redet. Also gehe ich davon aus, dass eine Kultur und ihre Transformation damit stehen und fallen, wie eine Organisation ihr Produkt versteht und platziert.

Hast du noch andere Ideen zur Kulturtransformation in Organisationen?

Wir reden ja seit Tom Burns’ und George M. Stalkers Buch The Management of Innovation2 aus dem Jahr 1961 über die kulturelle Umstellung der Organisation von mechanischen auf organische Managementsysteme. Seither rollt eine Managementmode nach der anderen durch die Presselandschaft und propagiert den einen oder anderen Aspekt aus der großartigen langen Liste, die Burns und Stalker damals bereits formuliert haben, als jeweils neuesten Hit der Erkenntnis erfolgreicher Kulturgestaltung in Organisationen. Und man kann noch weiter zurückgehen und Herbert A. Simons Artikel über „The Proverbs of Administration“, die Sprichwörter der Verwaltung, aus dem Jahr 1946 nennen, der bereits die bis heute gültigen Paradoxien, also notwendigen Widersprüche jeden Organisationsdesigns auf den Punkt brachte. Aber was gegenwärtig unter dem Stichwort eines „agilen Managements“ diskutiert und erprobt wird, scheint mir die anstehenden Fragen tatsächlich noch einmal mit neuer Radikalität anzugehen. Zum ersten Mal wird nicht nur davon geschwärmt, wie eine humane und kreative Organisation aussähe, sondern es wird eine Organisationsidee entwickelt, die der strikt horizontalen Netzwerkorganisation angemessen ist. Und die Überraschung ist: Es geht nicht ohne Organisation! Die agile Organisation ist mindestens so sehr vertaktet und geregelt wie die überlieferte vertikale Organisation. Aber ihre Kultur fühlt sich offenbar so komplett anders an, dass ein Vertreter dieser Idee davon spricht, man benötige ein „lila“ Bewusstsein, um zu verstehen, was hier passiert, und um daran teilzunehmen. Es ist für mich verblüffend, wie punktgenau diese Ideen eine kulturelle Transformation treffen und mitbetreiben, die in der Tat mit vielen Selbstverständlichkeiten der versäulten Organisation bricht. Und ebenso verblüffend ist, mit welcher Emphase der doch nun wirklich selbstverständliche Punkt vertreten werden muss, dass Produkte etwas mit Kunden zu tun haben. Diese Emphase spricht Bände über eine Organisationskultur, in der das eine offenbar bahnbrechende Erkenntnis darstellt. Und natürlich schlägt das Pendel sofort in das Gegenteil aus. Nun tut man so, als arbeite man nur noch für den Kunden. Dabei wäre das der Ruin jeder Organisation. Sie kann nur insofern für den Kunden arbeiten, als sie selbst davon profitiert.

Welche Rolle spielen deiner Ansicht nach Führungskräfte in Kulturveränderungsprozessen?

Die tatsächliche Rolle oder die wünschenswerte? Die tatsächliche besteht ja meist darin, dass sich die Führung eine kulturelle Veränderung der Mitarbeiter wünscht. Diesen Wunsch zu haben, gilt den meisten Führungskräften bereits als Beweis dafür, dass man selbst die kulturelle Veränderung bereits hinter sich hat. Wünschenswert wäre, dass die Führung bei sich selbst anfängt, die Dinge vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber geht das, ohne sich selbst infrage zu stellen?

Das ist in der Tat ein wichtiges Thema, das natürlich weiterführt zu der Frage: Wie lernen Führungskräfte Kulturreflexion und Kulturtransformation?

Ja, das frage ich mich auch. Hilfreich ist sicherlich ein Besuch von Symposien. Nicht dass wir es besser wüssten. Aber Symposien sind gute Orte, um sich des Umstands zu vergewissern, dass andere ähnliche Probleme haben. Vielleicht hilft das dabei, nicht so lange darauf zu warten, dass andere gute Ideen haben, die man dann rasch kopieren kann, sondern stattdessen eigene Ideen zu entwickeln. Ich meine, das ist ja eine der wesentlichen Einsichten jeder Kulturtheorie. So vergleichbar die Fragestellungen sind, so einzigartig müssen die Antworten sein. Wir vertrauen oft allzu sehr auf das Allgemeine, dann auch noch vertreten durch die Wissenschaft, und sehen nicht, dass nur das Besondere uns weiterhilft, neudeutsch „Profil“ genannt.

Du bist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturreflexion an der Universität Witten/Herdecke. Einen Lehrstuhl zu diesem Thema gibt es meines Wissens sonst nicht in der Universitätslandschaft. Wie ist der Lehrstuhl entstanden und worum geht es da? Hat der Lehrstuhl auch damit zu tun, zukünftigen Führungskräften Fähigkeiten zu vermitteln, die Kultur in ihren Organisationen zu reflektieren und wenn nötig zu transformieren?

Ja, die Denomination des Lehrstuhls verdankt sich dem Umstand, dass ich meine Kollegen an der Universität Witten/Herdecke davon überzeugen konnte, dass der aktuelle kulturelle Wandel von einer modernen Buchdruckgesellschaft zu einer nächsten Computergesellschaft Konsequenzen für die Managementlehre hat, die man nur erforschen kann, wenn man diesen Kulturwandel selbst mit in den Blick nimmt. Immerhin war für die Moderne das Verständnis eines rationalen und optimierenden, das heißt die Dinge immer vernünftiger gestaltenden Managements zentral. In der nächsten Gesellschaft spielt die Rationalität nach allem Anschein nicht mehr diese kulturstiftende Rolle. Fragen der Komplexität werden wichtiger. Was heißt das für unsere Ideen vom Management? Die Wirtschaftswissenschaften haben dafür keinen rechten Blick. Es fällt ihnen zu Recht schwer, von Rationalitätsprämissen Abstand zu nehmen. Und die Psychologie überspringt die Ebene sozialer Systeme. Also ist das Thema des Lehrstuhls ein soziologisches Thema. Man muss sehr viel mehr von den Interdependenzen psychischer, sozialer und technischer Systeme verstehen, als das bisher der Fall ist, um Management als eine Praxis der Kultivierung strategischer Möglichkeiten einer Organisation oder eines Projekts beschreiben zu können. Und tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass die Öffnung des Blicks für die Komplexität der Interdependenz von psychischen, sozialen und technischen Systemen so etwas wie ein Minimum für die Übernahme von Führungsverantwortung darstellt. Wir denken gerade über ein Vorhaben mit höchst agilen Firmen des Maschinenbaus nach, die sich für genau diesen Punkt der Differenz von Systemdynamiken interessieren. Früher wurden Ingenieure unruhig, wenn man ihnen von Systemdynamiken berichtete, die keiner kausalen, ja noch nicht einmal einer linearen Gesetzlichkeit folgen, sondern etwas mit loser Kopplung, mit dem Ausnutzen von Gelegenheiten, mit der Produktivität von Störungen zu tun haben. Seit diese Art von „Nicht-Trivialität“ (Heinz von Foerster) auch für Maschinen denkbar wird, werden die Ingenieure neugierig. Bei der Führung kommt das vielleicht zuletzt an. Aber es kommt an. Wenn wir das mit unseren Studierenden besprechen, sind sie schon einmal nicht schlecht vorbereitet. Tatsächlich wird durch diesen Blick für heterogene Systemdynamiken auch die Systemtheorie wieder interessanter.

Und was lernen die StudentInnen konkret? Wie werden die Fähigkeiten zur Kulturreflexion und Kulturtransformation entwickelt?

Wir sind eine Universität und keine Berufsakademie. Wir trainieren die Studierenden nicht, sondern wir geben ihnen Gelegenheit zum Studium, das heißt zur Reflexion und zum Ausbau ihrer Fähigkeit im Umgang mit, wie man so schön sagt, komplexen Sachverhalten. Wir konfrontieren sie mit Texten, Bildern, Kompositionen und Situationen, die sie überfordern und die sie nicht nur inhaltlich herausfordern, sondern die sie dazu einladen, die Voreinstellungen ihres Denkens, Wahrnehmens, Redens und Urteilens kennenzulernen und zu überdenken. Der erste Schritt zur Befähigung zur Kulturreflexion und Kulturtransformation ist die Entdeckung der unthematisierten kulturellen Annahmen im eigenen Handeln und Denken. Erst dann entdeckt man diese Annahmen auch im Handeln und Denken anderer. Und da man an sich selbst die Erfahrung gemacht hat, dass die Überwindung von Voreinstellungen kein unbedingt lustvoller Prozess der Überschreitung unnötiger Grenzen ist, sondern ein veritabler Akt der Entwurzelung, geht man, so hoffen wir, entsprechend behutsam auch mit anderen um, denen man eine Reflexion ihrer Kultur wünscht.

Vielen Dank für das Gespräch!

1Malinowski, B.: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Frankfurt am Main 1975.

2Burn, T., Stalker, G.M.: The Management of Innovation. London 1966.

Aggression und Gewalt – Erklärungen aus neurowissenschaftlicher Sicht

Rudi Ballreich im Gespräch mit Joachim Bauer

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Joachim Bauer (Prof. Dr. med.) ist Arzt, Neurobiologe und Psychotherapeut und arbeitete als Oberarzt an der Abteilung Psychosomatische Medizin am Uniklinikum Freiburg. Nach seiner Emeritierung ist er weiterhin Gastprofessor an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) und praktizierender Arzt. Er war viele Jahre in der Grundlagenforschung tätig und wurde von der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie mit dem Organon-Forschungspreis ausgezeichnet. Er ist Autor vielbeachteter Sachbücher, in denen es um die Bedeutung der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie für unseren Alltag geht.

Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:

Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz.München 2019.

Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens. München 2015.

Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München 2011.

Sie haben sich in Ihrem neuen Buch „Schmerzgrenze“ mit dem Ursprung der alltäglichen und globalen Gewalt auseinandergesetzt. Warum beschäftigt Sie dieses Thema?

Schmerzgrenze