Rolf Nagel

Das Hundeauge

Eine deutsche Familiengeschichte

1892 – 1929 – 1945 – 1990 – 2019

Insel Verlag

Für Johanna Maria

Ein paar Worte vorweg

Vor meinem linken Auge. Ein großes rotes Hundeauge sieht mich an. Ein bisschen rotbraunes Fell mit langen schwarzen Borsten drum herum. Ganz nah, nur das Stück Fell und das Auge. Dann wird das rote Auge ganz dunkel, die Pupille wird tiefschwarz, und ich sacke weg. Unter mir nichts. Ein Abgrund.

Im Fallen wachte ich in meinem Wagen auf. Auf dem Nachhauseweg von einem Drehtag für die ARD-Serie Rote Rosen in Lüneburg war ich für einen Minutenschlaf auf einen Parkplatz neben der Autobahn gefahren.

Das war also das Ende, ab in die Hölle statt in den Himmel. Dabei hatte doch alles so gut angefangen, dachte ich in Erinnerung an das Foto, auf dem ich im Sonnenschein saugend an der Brust meiner Mutter liege. Oder war da was?

Ich begann, darüber nachzudenken, was da gewesen sein könnte, und daraus wurde diese Geschichte; von mir und meinem Bruder, meinem Vater und meiner Mutter, einer Geschichte aus Hamburg und dem Dorf Rissen bei Altona.

Sie beginnt im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und wird im einundzwanzigsten Jahrhundert irgendwann enden. Mitglieder unserer Familie waren an den Kriegen, die zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs führten, und am Ersten und Zweiten Weltkrieg direkt oder indirekt beteiligt.

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten meine Mutter und mein Vater die Novemberrevolution, die Ausrufung der Republik mit der Abdankung des Kaisers. Als meine Eltern heirateten und mein Bruder geboren wurde, fand, als Spätfolge des verlorenen Krieges, in der neuen Republik eine Inflation statt, die alle Ersparnisse meiner Großeltern vernichtete.

In meinem Geburtsjahr ruinierte eine internationale Bankenkrise die Wirtschaft des jungen Staates. In den letzten Zügen dieser zusammenbrechenden Republik wählten meine Eltern mit der Mehrheit der deutschen Bürger die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die die Republik zu einem Einparteienstaat, dem Dritten Reich machte, welches man heute als die Nazizeit bezeichnet. 1933 wählten in Hamburg die Mehrheit der wahlberechtigten Bürger Hitler. Mein Vater und mein Bruder wurden Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, wie fast acht Millionen andere auch.

Ich war noch zu jung, um Mitglied zu sein. Ich kam später mit zehn Jahren ins Deutsche Jungvolk. Meine Mutter und mein Vater, mein Bruder und ich waren deshalb keine Nazis. Wir waren Menschen wie du und ich. Aber durch die Wahl der Nationalsozialisten, die dann diesen Staat regierten, machten sich, bis auf eine Minderheit, die deutschen Bürger der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zahlreicher Kriegsverbrechen mitschuldig. Heute sind in der Zeitung und im Fernsehen immer die Nazis schuld, und nicht die Großeltern, die Großonkel und Großtanten. Wer waren denn dann die Nazis? Es hört sich so an, als ob eines Tages ein Ufo mit lauter Nazis aus dem All in Deutschland gelandet wäre, die dann dieses Deutschland in den Abgrund geführt haben. Es waren nicht die Nazis aus dem All. Wir waren es.

Ich erzähle von der Liebe meiner Eltern, ihrer Ehe, meinem Bruder und mir, den Erlebnissen und Erfahrungen vor achtzig, neunzig Jahren und wie unser Leben durch unsere politischen Entscheidungen entscheidend beeinflusst wurde. Da die Abgründe unseres Verhaltens in den Alltag eingebettet waren, den wir damals, vor knapp einem Jahrhundert lebten, muss ich auch ausführlicher Alltägliches beschreiben, weil sich unser Alltag für den heutigen Leser unvorstellbar verändert hat. Vielleicht könnte so meine Geschichte lehrreich für eine jüngere Generation sein, damit sie sich nicht wiederholt.

Um nicht missverstanden zu werden: Diese Geschichte über mich und meinen Vater, diese Familiengeschichte enthält keine Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Sie schildert, wie einfach ein persönliches Versagen, die Weigerung, sich Rechenschaft abzulegen über die Folgen seines Tuns, zu einer gesellschaftlichen Katastrophe führte. Für dieses Versagen gibt es keine Entschuldigungen. Die Hinnahme der Tötung »unwerten Lebens«, die Unterstützung eines »totalen Krieges«, der so viele Millionen Tote forderte, und die Duldung der systematischen Ermordung eines Volkes sind nicht zu entschuldigen.

Durch das Hundeauge, das mich in einen Abgrund fallen ließ, sind mir während der Jahre, die ich an dieser Geschichte von mir und meinem Vater geschrieben habe, meine Traumata bewusst geworden, mit denen ich bis heute leben muss.

Aber trotz aller Ängste und Abgründe persönlichen Versagens gibt es die Erinnerung an einen geliebten kleinen blonden Jungen, der sich durchs Leben spielt und erwachsen wird. Dass aus diesem Spiel ein Beruf wurde, war nicht geplant. Aber es hat mich wahrscheinlich gerettet und mir ein ungewöhnliches Leben beschert.

In meines Vaters Hand

Bevor ich anfing, dieses Buch zu schreiben, kreiste jahrelang in meinem Kopf eine Art Erinnerungstraum herum, in dem ich zu Beginn fünf Jahre alt war. Meine kleine Hand lag in meines Vaters Hand, während wir über eine Wiese gingen, die nach feuchter Erde, Gras und welken Blättern roch. Ein Geruch, an den sich vierzig Jahre später, als ich mit dem Rauchen aufgehört hatte, meine Nase wieder erinnerte.

Ich liebte diese Spaziergänge. Vati zeigte mir, von welchem Baum die Blätter abgefallen waren, die auf der Wiese lagen, und so lernte ich die Bäume an ihren Blättern und mit ihrem Namen kennen. Ich bewunderte seine Hand, die mein kleines Händchen hielt. Sie war kräftig. Die Fingernägel, die mit diesen seltsamen Riefen aus dem Nagelbett wuchsen, hatte er mit seinem scharfen Taschenmesser immer kurz geschnitten, und sie waren sauber. Mein Vater schliff das Taschenmesser mit etwas Spucke auf dem Abziehstein, sodass er damit ein Stück Papier, das er lose zwischen Daumen und Zeigefinger in der Luft hielt, durchschneiden konnte.

Es war aufregend, ihm dabei zuzusehen, wenn er einem Huhn, das er zwischen seinen Beinen festhielt, mit einem Schnitt den zurückgebogenen Hals durchschnitt, sodass das Blut in Stößen auf die Erde floss. Oder wie er einem Hasen, den er von der Jagd mitgebracht hatte, das Fell an den Hinterläufen löste und mit wenigen kurzen Schnitten über die Ohren zog. Er wusste, wie man es machte, und er konnte mir erklären, warum man es so machte. Wenn er das geschlachtete Huhn ausnahm, zeigte er mir das Herz, die Leber und den Magen und erklärte, warum man vorsichtig mit der Galle sein musste.

Als mein Vater später selbstständiger Architekt war, hatte er sein Büro in unserer kleinen Wohnung, und ich kniete auf einem Stuhl neben seinem Tisch und sah, den Kopf in den Händen, die Ellenbogen neben dem Zeichenbrett aufgestützt, zu, wie mein Vater Häuser entwarf. Er zeichnete den Grundriss, Ansichten und Schnitte mit einem spitzen Bleistift oder Tusche auf Transparentpapier, das er mit Heftzwecken auf das hölzerne Zeichenbrett, das Reißbrett, gespannt hatte. Es gab damals noch keine Computer. Ich fand toll, wie er mit Reißschiene, Winkeln und Bleistift flott hantierte. Von der Zeichnung auf dem Transparentpapier konnte man in der Lichtpausanstalt beliebig viele papierene Lichtpausen machen lassen.

Im Keller des Mietshauses in der Nordmarkstraße, in der wir wohnten, stand eine Hobelbank, und mein Vater hatte sich – nach unserem Umzug wieder alle Werkzeuge zugelegt, die man als Zimmerer und Tischler benötigte. Einmal hat er mir ein Gewehr aus Holz, einem Stück Gardinenstange, zwei Schrauben und einem kleinen Schubladengriff gemacht. Der Gewehrschaft wurde aus einem Kiefernbrett ausgeschnitten, mit dem Putzhobel wurden die Kanten abgerundet und mit Sandpapier geschliffen. Die Gardinenstange war mit zwei Rundkopfschrauben auf dem Schaft befestigt, wobei der Schlitz der hinteren Schraube mit der Dreikantfeile zu einer Kimme erweitert wurde, über die man mit dem vorderen Schraubenkopf als Korn zielen konnte, wie bei einem richtigen Gewehr. Der Schubladengriff wurde der Bügel über dem Abzug.

Die Geschicklichkeit, Zweckmäßigkeit und Leichtigkeit, mit der mein Vater sein Handwerkszeug vom Bleistift über die Tuschefeder, dem Aquarellpinsel, bis zu Säge und Hobel handhabte, waren für mich lustvoll und aufregend. Vati mochte es gern, wenn ich ihm bei der Arbeit zusah. Er genoss meine Neugierde. Er erklärte mir immer, was er da machte, und spürte vielleicht die Bewunderung seines kleinen Sohnes.

Später, als ich selbst für meine Wohnung Möbel anfertigte, war ich ganz glücklich, wenn ich merkte, wie viel meiner Geschicklichkeit ich von meinem Vater geerbt hatte.

Als ich klein war, nahm er mich manchmal mit auf den Bau. Er inspizierte eine Baustelle, für die er als Bauleiter verantwortlich war. So lernte ich Maurer und Zimmerleute, Klempner und Dachdecker, Elektriker, Fliesenleger und Maler am Bau bei ihrer Arbeit kennen. Und meinen Vater.

Mein Vater, Wilhelm Nagel, war bei meiner Geburt siebenunddreißig Jahre alt, ein Bauernsohn. Er hatte eine Zimmermannslehre gemacht, musste 1912 seinen Militärdienst ableisten, und als er damit fertig war, begann der Erste Weltkrieg. Er kam an die Front und wurde durch den Schuss eines belgischen Scharfschützen so schwer verwundet, dass er kein Zimmermann mehr sein konnte. Er bestand die Aufnahmeprüfung an der Hamburger Baugewerkschule und wurde Architekt.

1922 lernte er in einem Freundeskreis eine junge hübsche Buchhalterin kennen, heiratete sie und zeugte einen Sohn, meinen Bruder. Eine heute unvorstellbare Inflation und zeitweilige Arbeitslosigkeit zwangen zur Sparsamkeit. Ein zweites Kind sollte nicht sein. Im Februar 1929 schaffte es dennoch ein Spermium meines Vaters, sich an allen Hindernissen und Fallen vorbeizuschlängeln. Eine glückstrahlende Eizelle meiner Mutter sah es kommen und rief: »Komm rein, mein Junge!« Sein Kopf bohrte sich in dieses glückliche Ei, und ab da begann diese Geschichte.

Im November sollte ich zur Welt kommen, wie man so schön sagt. Ende November 1929 war es in Hamburg ungewöhnlich warm. Meine Mutter schwitzte. Aber ich wollte nicht raus. Nach alldem, was ich so hörte, steuerten wir nach den »Goldenen Zwanzigern« unsicheren Zeiten entgegen. Eine Weltwirtschaftskrise. Und die Weimarer Republik kämpfte immer noch mit den Folgen des 1918 verlorenen Krieges.

Die Freunde meiner Mutter allerdings fanden mich toll, und mein Vater war natürlich stolz über den Erfolg seiner Männlichkeit.

Tante Erna, wie wir die Schulfreundin meiner Mutter nannten, hatte sich schon Gedanken über meinen Namen gemacht. Damals gab's noch keinen Ultraschall, aber alle waren sich einig gewesen, dass ich männlichen Geschlechts sein würde.

Meine Eltern wollten mich Peter nennen, nach meinem Urururgroßvater Peter Nagel, der damals eine Bierbrauerei mit Ausschank in Teufelsbrück an der Elbe hatte.

Tante Erna meinte: »Peter geht nicht! Da sagen nachher die Jungs auf der Straße: ›Peter Pup mit 'n Steen in 'n Buk.‹«

Mein Bruder hieß Hugo Heinrich Wilhelm. »So 'n Name ist viel zu lang, da schreibt sich ja der Standesbeamte jedes Mal die Finger wund.«

»Rolf« wäre kurz und modern.

Als der Arzt drohte, mich mit der Zange rauszuholen, kam ich freiwillig. Der Standesbeamte schrieb »Rolf« in meine Geburtsurkunde. Ich wurde evangelisch getauft. Oma Cordts und Onkel Christoffer Stockhusen aus Tinsdahl waren meine Taufpaten. Der Busen meiner Mutter war groß und voll Milch. Weil ich später fleißig Mondamin-Brei aß, bekam meine Mutter als Prämie einen silbernen Mondamin-Löffel. Vati fotografierte mich. Im von der Mutter gestrickten Strampelanzug mit Mütze, dicken Backen und strahlend blauen Augen war ich ein Musterprodukt.

Vor meiner Geburt hatten meine Eltern und mein Bruder zusammen mit Oma Cordts in der Marienthalerstraße in Wandsbek gewohnt, wo mein Vater bei einem Architekten als Angestellter arbeitete. Es war Anfang 1929 ohnehin schon eng mit drei Personen bei der Oma, und die vierte Person, von der man annahm, dass es wieder ein Junge werden würde, war unterwegs.

Eine Wohnung zu finden, war allerdings nicht einfach. Die Mieten nicht billig. Da lag es nahe, sich einen Traum zu erfüllen.

Mein Vater hatte schon ein Jahr zuvor ein kleines Siedlungshaus entworfen. Jetzt wurde gebaut. Das Geld dafür wurde von Tante Erna und von der Bausparkasse als Hypothek geliehen. Alle Hypothekenverträge waren nicht auf die nach der Inflation eingeführte Reichs- oder Rentenmark bezogen, sondern zur Sicherheit auf den Wert einer Goldmark. So zogen meine Eltern und mein Bruder im September 1929 in das neue Zuhause, und ich wurde im November in das von meinem Vater frisch gebaute Nest gelegt.

In unserem schönen neuen Haus lag ich im Kinderzimmer in meinem vom Vater getischlerten Bettchen im Dachgeschoss unter dem Fenster, durch das die Sonne schien, wenn ich wach war, spielte ich mit der Holzkugel, die am unteren Ende der Gardinenschnur hing. Und juchzte, wenn meine Mutter ins Zimmer gestürzt kam, weil sie dachte, mir sei etwas passiert, weil es so lange so still gewesen war.

Meine Mutter und ich waren oft allein im Haus. Mein Vater machte sich schon früh um sechs auf zur Arbeit, die Baustellen kontrollieren, bevor er ins Büro ging. Mein Bruder war schon in der Schule.

Meine Mutter hat mir die Geschichte mit der Kugel an der Gardinenschnur oft erzählt, deshalb war ich immer der Meinung, ich hätte eine sehr glückliche Kindheit gehabt.

Natürlich kann ich mich an das, was von meiner Geburt bis zu meinem dritten, vierten Lebensjahr geschah, nicht erinnern. Ich muss es aber »erlebt« haben.

Die Psychoanalytikerin Melanie Klein sagt, dass die Erlebnisse der ersten Lebensjahre nicht bewusst erinnert werden können, aber in unbewussten Fantasien das Leben oder Verhalten eines Menschen lebenslang prägen. »Helfen kann solcherart Traumatisierten jedoch, sich mit ihren Gefühlen und Fantasien auseinanderzusetzen, sie zu prüfen und zu vergleichen, um sie besser einordnen zu können und Distanz zu ihnen zu gewinnen.«

Ich versuche es mal.

November bis Januar sind die Monate, in denen es schon sehr früh dunkel wird. Die Westerlandstraße wurde von ein paar Gaslaternen spärlich beleuchtet. Wrumm, wrumm, wrumm-wrumm-wrumm. Was war das? Unheimlich dieses Gewummere, und ich, allein in meinem Bettchen schlafend. Es waren die Trommeln der aus dem nahen Arbeiterviertel durch die enge Straße am Haus vorbeimarschierenden Kommunisten mit ihren roten Fahnen.

Mein Vater und meine Mutter standen unten im dunklen Esszimmer mit meinem Bruder hinter der Gardine. Vati war für Hitler und hasste die Kommunisten. Meine Eltern hatten Angst, die Kommunisten könnten uns die Fensterscheiben einschmeißen. In diesen Jahren prügelten und ermordeten sich Nationalsozialisten und Kommunisten gegenseitig auf offener Straße.

So schön der Busen meiner Mutter war und die Sonne ins Bettchen schien, es war auch Angst im Haus. Zehn Jahre später werde ich selber, wrumm, wrumm, wrumm-wrumm-wrumm, mit Fanfarentönen einer Fahne hinterhermarschieren; ebenfalls in Rot, aber in der Mitte mit einem runden weißen Fleck und einem schwarzen Hakenkreuz darin.

Als ich laufen konnte, spielte ich in der Sandkiste, ganz für mich allein, neben der Treppe zur Küche, in der Mutti arbeitete. Ich baute Berge und Flüsse und war stolz darauf, einen Tunnel durch einen kleinen Sandberg bohren zu können. Und ich liebte Wotan, unseren Schäferhund. Wenn er sich neben mich legte, um mich zu beschützen, legte ich meinen Arm um seinen Hals und schmuste mit ihm, wie wir Hamburger sagen. Manchmal schlief ich ein, meine Ärmchen immer noch um den Hals von Wotan geschlungen. Wotan liebte mich auch und rührte sich nicht von der Stelle.

Eines Tages war Wotan weg. Meine Mutter fand, dass das Geschmuse mit dem Hund gefährlich für meine Gesundheit wäre. Aber Mutti! Meine Mutter schmuste zwar auch mit mir ganz lieb, aber ich musste sie in dieser Beziehung mit anderen teilen. Der Wotan gehörte mir allein.

Irgendwie vergaß ich den Schmerz, dass sie mir Wotan weggenommen hatten, und machte trotzdem alle Kinderkrankheiten durch. Das Bedürfnis zu schmusen ist bis heute unstillbar geblieben.

Meine Mutter brachte mich immer zu Bett. Ich lernte beten. »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Amen.« Das war zwar gut gemeint. Ich fühlte mich auch sehr wohl dabei. Aber es stimmte natürlich nicht, dass Jesus da allein drin war. Erstens war meine Mutti, dann Wotan und Vati schon mal mit drin in meinem Herzen. Später wurde es dann unübersichtlicher.

Die Erinnerung an das Gute-Nacht-Gebet ist bis heute immer noch die Erinnerung an einen besonderen Augenblick, wenn mir meine Mutter nach dem Gebet einen »Tüscher« gab. »Gute Nacht, mein Schieter.« Tüscher ist hamburgisch und bedeutet Kuss, es stammt aus der Franzosenzeit von »toucher«, und Schieter ist Plattdeutsch und heißt Scheißer, ist aber im Gegensatz zum Hochdeutschen eine sehr liebevolle Bezeichnung für einen geliebten kleinen Jungen. Wenn meine Mutter mich kleinen Schieter zu Bett gebracht hatte, fühlte ich mich sicher und geborgen.

Es gibt ein Foto, das mein Vater mit seiner Plattenkamera gemacht hat, in unserem Haus in der Westerlandstraße. Mein Bruder kniet hinter dem von der Wand gerückten Diwan, ist neun. Ich bin drei, stehe neben ihm, habe einen hellen Strickanzug an mit Plüschbommeln am Kragen und meinen Arm um die Schultern meines Bruders gelegt. Das Gesicht meines Bruders ist zart, im ersten Augenblick denkt man, er sieht Vati an. Aber seine Augen sehen durch ihn durch, sie ähneln den Augen von Mutti, als sie ganz jung war. Ich bin wohlgenährt, niedlich, wie man in dem Alter zu sein hat, und sehe an der Kamera vorbei, Vati hat gesagt, ich soll dastehen. Meinem Bruder sieht man die Schläge unseres Vaters nicht an, in meinem Gesicht sind die Marschtrommeln in der Nacht und der verschwundene Hund gut versteckt. Rechts unten sind neben meiner Hand, die ich auf den Diwan gelegt habe, die Füße von Omas Teddy zu sehen.

Eine meiner frühesten Erinnerungen – ich war vielleicht gerade dreieinhalb Jahre alt – ist, dass ich einmal meinen Vater begleitete, der zu einer Wahl ging. Ein Lokal am Eingang des Vereinssportplatzes Friedrichshöh. Davor standen Plakate mit Hakenkreuzfahnen. Es muss die Reichstagswahl im März 1933 gewesen sein. Die NSDAP erhielt 38,3 Prozent, die DNVP, die Deutschnationale Volkspartei, die mit der NSDAP kooperierte 8,0 Prozent der Stimmen.

Im Mai 1933 trat mein Vati in die »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« ein. Und mein Bruder wurde Mitglied im Deutschen Jungvolk, der Jugendabteilung der Hitlerjugend. Warum wollte mein Vater 1933 Parteigenosse sein, warum wählte auch er Hitler?

Vielleicht sollte ich erst einmal etwas über ihn erzählen, auch wie ich seine Eltern und meine Onkel und Tanten erlebt habe, um besser verstehen zu können, warum er ein Parteigenosse wurde.