3Jonathan Lear

Radikale Hoffnung

Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung

Aus dem Amerikanischen von Jens Pier

Suhrkamp

7Vorwort zur deutschen Ausgabe[1] 

In den späten 1980er Jahren besuchte ich im geisteswissenschaftlichen Gebäude der Yale University während der Mittagspause einen Vortrag. Der Historiker William Cronon redete über die Frage, was bei der Geschichtsschreibung über die nordwestliche Prärie der Vereinigten Staaten zu beachten ist. Beiläufig zitierte er dabei eine Äußerung, die Häuptling Plenty Coups vom Stamm der Crow einst über den Umzug seines Volkes in ein Reservat gemacht hatte: »Danach ist nichts mehr geschehen.« Als ich diese Worte hörte, fühlte ich einen Schlag in meiner Magengrube. Zum Ende des Vortrags verließ ich den Raum mit einem Übelkeitsgefühl – doch nachdem es mir wieder besser ging, vergaß ich den Vorfall. Es verging mehr als ein Jahrzehnt; ich war in der Zwischenzeit nach Chicago gezogen. Eines Tages machte ich einen Spaziergang am Lake Michigan und ließ meinen Gedanken freien Lauf, als Plenty Coups' Äußerung mir plötzlich wie aus dem Nichts in den Sinn kam. Ich war überrascht: Zuvor war mir nicht klar gewesen, dass seine Worte mich so ergriffen und in mir Halt gefunden hatten. (Ein Freund vom Stamm der Crow sagte mir später, ich solle nicht davon ausgehen, dass die Worte »in mir« waren.) Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, doch ich wusste nicht, was. Mein erster Weg führte zurück zum 8Campus und in die dortige Buchhandlung, wo ich auf eine Ausgabe von Frank Lindermans Biographie Plenty Coups. Chief of the Crows stieß. Damit begann für mich eine jahrelange Vertiefung in alles, was ich über die Crow (oder Apsáalooke), die Völker der Great Plains und die Geschichte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas finden konnte. Ich begann, Reisen zum Reservat der Crow in Montana zu unternehmen. Dabei wollte ich mich niemandem aufdrängen, doch es war mir ein Anliegen, das Gespräch zu suchen und vor allem jedem Menschen zuzuhören, der gewillt war, mit mir zu reden. Eine Bekannte gewährte mir schließlich einen Sommer lang die Benutzung ihrer Hütte ungefähr 20 Kilometer nördlich des Reservats in den Wolf Mountains. Sie weigerte sich, Geld dafür entgegenzunehmen. Die Straße, die hoch zur Hütte führte, war größtenteils unbefestigt – und meine Frau, mein damals sechs Monate alter Sohn und ich zogen hinauf, um dort zu leben. Die Hütte befand sich auf einem Hügel neben einer Ebene, die zum Aufführen des Sonnentanzes genutzt wurde. Es war ein guter Ort, um Traubenkirschen zu pflücken; häufig kamen Leute vorbei und hielten für ein kurzes Gespräch an. Wir unternahmen Ausflüge in das Land der Crow. Mein Sohn Sam saß auf einem Pferd der Crow, bevor er laufen konnte.

Ich bin kein Historiker und kein Anthropologe, und ich hegte keinerlei Interesse daran, »die Crow zu studieren«. Doch es war mein Eindruck, dass Plenty Coups sein Wort an jeden gerichtet hatte, der bereit war, ihm sein Ohr zu schenken, und durch eine Verkettung von Umständen war ich nun vor die Wahl gestellt: Entweder musste ich etwas erwidern, oder ich musste mich entschließen, nichts zu sagen. Dieser Entscheidung konnte ich nicht entgehen. Je mehr ich darüber nachdachte, umso erstaunlicher schien es mir, dass Plenty Coups – nach allem, was er und sein 9Volk hatten durchmachen müssen – überhaupt willens war, zu sprechen. Warum weigerte er sich nicht, jemals wieder etwas mit uns zu tun zu haben? Der Anfang des vorliegenden Buches (im englischsprachigen Original erstmals erschienen im Jahr 2006) lautet:

 

Kurz bevor er starb, trat Plenty Coups, der letzte Oberhäuptling des Volks der Crow, über den ›Kampf der Kulturen‹ hinweg an einen weißen Mann heran, um ihm seine Geschichte zu erzählen.[2] 

 

Andere können uns von Plenty Coups' Persönlichkeit berichten. Als Philosoph interessiert mich eine hintergründige Verpflichtung, die sich in Plenty Coups' Bereitschaft offenbart, ein Gespräch zu beginnen. Natürlich können wir den Ausdruck »radikale Hoffnung« auf verschiedene, alltägliche Weisen verstehen: So kann er etwa auf jemanden Anwendung finden, der sich für eine Situation einen Ausgang erhofft, der uns radikal erscheint; oder auf jemanden, der es vermag, sich seine Hoffnung in einer entbehrungsreichen Lage zu erhalten. Diese Formen der Hoffnung sind ihrerseits von unschätzbarer Wichtigkeit. In diesem Buch möchte ich jedoch einen außergewöhnlichen Gebrauch von jenem Ausdruck machen: Ich meine mit radikaler Hoffnung ein Hoffen, das auch im Angesicht einer ontologischen Verletzlichkeit weiterbesteht. Als Plenty Coups mit Linderman sprach, war die traditionelle Lebensweise der Crow/Apsáalooke einige Zeit zuvor der Zerstörung zum Opfer gefallen. Mit ihr waren auch die Begriffe zerstört worden, mit denen sich die Stammesmitglieder bislang ihr Leben verständlich gemacht hatten. So war etwa 10die Tugend des Mutes in ihrer praktischen Bedeutung, wie diese traditionell durch die Crow verstanden worden war, nicht mehr anwendbar. Es war den Stämmen durch die US-Regierung verboten, untereinander Krieg zu führen; ebenso war es untersagt, auf traditionelle Weise zu jagen; und die Leute wurden dazu gezwungen, unter völlig neuen Verhältnissen in einem »Reservat« zu leben. Man konnte auf die Vergangenheit zurückblicken und (theoretisch) verstehen, wie Mut zuvor gelebt worden war, und man konnte Nostalgie für diese vergangenen Zeiten empfinden. Womöglich konnte man gar den Wunsch nach einer Zeit hegen, in der die traditionelle Lebensweise wiedererrichtet würde. In praktischer Hinsicht konnte man sich jedoch keine Vorstellung mehr davon machen, wonach man in seinem Handeln streben sollte – oder wie sich dieses Ziel verwirklichen ließ. Man konnte keinen Gedanken hinsichtlich der Frage fassen, was nun zu tun war. Nach der traditionellen Auffassung davon, was es bedeutet, ein Crow zu sein, oder was es bedeutet, als Crow zu gedeihen, konnten die Crow ihr Leben nun nicht mehr ausrichten. Kulturelle Zerstörung besteht unter anderem in genau dieser Vernichtung einer verständlichen Lebensweise. Ich glaube, dass all das die Hintergrundbedingungen waren, unter denen Plenty Coups sprach, und meine Vermutung ist, dass sie uns dabei helfen, seine Behauptung »Danach ist nichts mehr geschehen« zu verstehen. Radikale Hoffnung in dem außergewöhnlichen Sinne, den ich ausweisen möchte, besteht in der Hoffnung darauf, dass etwas Gutes hervortreten wird, selbst wenn man gegenwärtig noch nicht über die Begriffe verfügt, mittels derer man sich dieses Gute verständlich machen kann. Da wir in einem Zeitalter leben, in dem sich unser Gefühl für unsere eigene Verletzlichkeit verstärkt, und da uns diese Verletzlichkeit als menschlich kennzeichnet, sind die Anliegen dieses Buches 11von allgemeinem philosophischem und ethischem Interesse.

Kurz nach der Erstveröffentlichung von Radikale Hoffnung wurde ich eingeladen, am Little Big Horn College bei der Crow Agency einen Vortrag zu halten. Ich hatte keine Ahnung, wie das Gespräch verlaufen würde. Was dachte sich ein »weißer Mann« auch dabei, über die Crow zu schreiben? Ich verfüge über keine »Expertise«, und das Buch gehört keiner gängigen Buchgattung an. Es ist keine Untersuchung von Tatsachen, sondern ein Versuch in philosophischer Vorstellungskraft. Es ist ein Gedankenexperiment darüber, was Plenty Coups gemeint haben könnte, sofern er Zeuge davon wurde, wie die Ereignisse zu Ende gehen. Ich wollte die Vorstellung ernst nehmen, dass womöglich dereinst nichts mehr geschieht. Und ich wollte Plenty Coups in ein offenes Gespräch mit Denkern versetzen, die mich in meinem Denken gestützt haben: Aristoteles und Platon, Kierkegaard und Heidegger, Freud. Wohin würde dieses Gespräch führen? Ich nahm an, dass das Buch seine Makel haben würde, ich diese aber erst im Laufe der Zeit würde begreifen können, sofern ich mich weiter am Gespräch beteiligte. So reiste ich also wieder ins Reservat – dieses Mal, um einen Vortrag zu halten.

Der Saal war voller Menschen, und unter ihnen waren nicht nur Studierende und Lehrende, sondern Stammesälteste, Würdenträger und eine große Anzahl erwachsener Mitglieder der Gemeinschaft. Etwa eine halbe Minute, nachdem ich meinen Vortrag begonnen hatte, hob ein Stammesältester in der ersten Reihe die Hand. Er fragte: »Wer sind Ihre Leute?« Niemand hatte mir zuvor diese Frage gestellt, und ich hatte mich auch noch nie selbst unter diesem Aspekt betrachtet. (Erst später erfuhr ich, dass ich mehr hätte tun müssen, um mich richtig vorzustellen, und dass der Sprecher den Zuhörenden dabei mitteilt, wer seine Leute 12sind.) Ich sagte das, was mir als Erstes in den Sinn kam: »Ich vermute, eine Antwort auf Ihre Frage ist, dass ich Jude bin.« Mich durchfuhr erstmals der Gedanke, dass die Flucht meiner Familie vor Pogromen in der Ukraine und anderen Teilen Osteuropas in der Mitte der 1880er Jahre genau in jene Zeit fiel, als die Apsáalooke in ihr Reservat einzogen. Eine weitere Hand schnellte nach oben. »Wie kommt es, dass ihr Juden nie untereinander streitet, während wir Crow ständig miteinander im Streit liegen?« Mein eigener Eindruck war natürlich ein ganz anderer. Wie ich nun erfuhr, sind einige indigene Völker fasziniert davon, dass das jüdische Volk tausende Jahre nach der Zerstörung seiner traditionellen Lebensweise und nach eintausend Jahren der Unterdrückung in Europa immer noch fortbesteht und neue traditionelle Lebensweisen entwickelt hat. Wie kommt es, dass dieser Stamm nicht zerstört wurde? Das Gespräch setzte sich von hier aus fort und wir gelangten an jenem Tag niemals bis zu Radikale Hoffnung. Die Menschen, die an jenem Nachmittag und Abend meine Freunde wurden, sind bis heute meine Freunde. Sie haben mich anderen vorgestellt, mit denen ich Freundschaft geschlossen habe. Inzwischen bin ich viele weitere Male im Gebiet der Crow gewesen, und meine Freunde unter den Crow haben mich gelehrt, dass ihr Land für sie heilig und ein verheißenes Land ist. Sie haben mich gelehrt, das Land auf andere Weise zu sehen und zu riechen und auf ihm anders zu gehen und zu schlafen.

Meine Freunde sind außerdem nach Chicago gekommen, und während ich diesen Text verfasse, verändern sie eine der großen kulturellen Einrichtungen der Stadt. Das Field Museum of Natural History ist eines der führenden naturgeschichtlichen Museen der Welt. Es beherbergt eine beeindruckende Sammlung an Artefakten indigener Völker, und seine Auswahl an Schilden und Medizinbündeln 13der Crow/Apsáalooke sucht ihresgleichen. Nach einer Reihe jüngerer Entwicklungen findet nun von 2020 bis 2021 mit Apsáalooke Women and Warriors erstmals in der Geschichte des Museums eine Ausstellung statt, deren Kuratorin Nina Sanders eine indigene Amerikanerin, eine Apsáalooke Woman, ein Mitglied der Crow Nation ist. Es ist auch das erste Mal in der Geschichte des Field Museum, dass der Schwerpunkt einer Ausstellung nicht auf der überwältigenden Sammlung historischer Artefakte liegt. Vielmehr werden jene Artefakte in einen größeren Zusammenhang gegenwärtiger Künstler und Autoren aus den Reihen der Crow/Apsáalooke gestellt: Maler, Bildhauer, Perlensticker, Rap-Künstler, Filmemacher, Anthropologen, Geowissenschaftler und Politiker. Die Ausstellung stammt von den Apsáalooke – sie sprechen für sich selbst –, und sie ist auf ihre Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, während sie zugleich ihre Vergangenheit achtet und ehrt. Viele Wege haben zu dieser Ausstellung geführt und zu ihr beigetragen, doch einer von ihnen verläuft durch Radikale Hoffnung.

In diesem Buch spreche ich von der Möglichkeit einer neuen Generation an Dichtern aus der Mitte der Crow, die

 

[…] die Vergangenheit der Crow aufgreift und nicht nur für nostalgische Zwecke oder behelfsmäßige Nachahmungshandlungen nutzt, sondern sie geistig in neuen, lebendigen Lebens- und Seinsweisen für die Crow verortet. Mit »Dichter« meine ich hier im weitesten Sinne jemanden, der neuen Raum für Bedeutung zu schaffen vermag. Die Möglichkeit eines solchen Dichters ist genau die Möglichkeit der Erschaffung eines neuen Feldes an Möglichkeiten.[3] 

14Als ich diese Worte niederschrieb, wusste ich natürlich nicht, wovon ich redete. Wie sollte ich auch? Ich bedurfte zunächst einer zeitgenössischen Generation an Dichtern der Apsáalooke, die ihre Kunst mit mir teilten. Ohne ihre Dichtung, ohne alles, was ich von ihnen lernen sollte, konnte ich allenfalls in eine Richtung gestikulieren. Den Künstlern und Autoren, die ich treffen durfte, seit ich Radikale Hoffnung verfasst habe, möchte ich meinen Dank aussprechen, Aho!

Das Field Museum hat wie alle kulturellen Einrichtungen dieser Art eine problembeladene Vergangenheit. Seit seiner Errichtung hat es sich auf Ausstellungsstücke in Form von Beigaben gestützt, die von indigenen Völkern wie auch von Mitgliedern der dominanten Kulturen stammten. Diese Stücke wurden jedoch auf ungerechte und ausbeuterische Weise beschafft. Überdies fußte die gesamte Struktur auf voreingenommenen und irrigen Meinungen über die Beziehungen zwischen Völkern. Um ein schmerzhaftes Beispiel zu nennen: Das ursprüngliche Ziel dabei, diese Artefakte zu sammeln, lag darin, sie der Naturgeschichte zuzuordnen. Sie sollten als Dinge verstanden werden, die nicht bloß aus der Vergangenheit stammten, sondern bald auch der Vergangenheit angehören würden. Das Interesse an der »Aufbewahrung« dieser Geschichte ging einher mit der Annahme einer schwindenden Zukunft. Und die vorherrschende Meinung war, dass sich so etwas wie eine »natürliche« Einheit herstellen ließ, wenn man diese Artefakte in der gleichen Einrichtung unterbrachte, die auch Sammlungen von aufgespießten Schmetterlingen und Insekten beherbergte, von Schlangen, Leguanen und Fledermäusen, um gar nicht erst zu sprechen von ausgestopften Gorillas, Wölfen, Tigern und Büffeln ‌… Diese kulturelle Perspektive steht glücklicherweise nicht mehr offen. Doch wie könnte man stattdessen vorgehen?

15Hier sind wir nun! Deutsche Leser dieses Vorwortes, Besucher naturgeschichtlicher Museen, indigene Völker, die entsetzliche Ungerechtigkeiten überlebt haben, Mitglieder der dominanten Kulturen der Welt und all jene, die außen vor gelassen werden: Hier sind wir nun alle, und wir finden uns wieder mit der Schwierigkeit einer problembeladenen Geschichte. Niemand von uns hat diese Schwierigkeit für sich gewählt, denn niemand von uns war seinerzeit an ihrer Entstehung beteiligt. Doch genau hierin zeigt sich unser bedingtes Dasein: Wir sind Geschöpfe, deren Gegenwart und Zukunft von verschiedenen Vergangenheiten überschattet, genährt oder verfolgt werden – Vergangenheiten, derer wir womöglich nicht gewahr sind und die dennoch stets ein Anliegen für uns bilden.

Zu den Artefakten, mit denen wir in Chicago leben, gehört auch das Field Museum selbst. Es ist nicht bloß eine Einrichtung, die verschiedene Ausstellungen unter ihrem Dach beheimatet: In diesen Ausstellungen, ebenso wie in den Sammlungen und der Forschung unter seiner Schirmherrschaft, stellt das Museum auch sich selbst aus. Meine Freunde unter den Crow sehen es als ihre Verantwortung an, nicht einfach eine Ausstellung neuer Art zuwege zu bringen, sondern die Einrichtung selbst zu verändern. Das Museum ist seinerseits ein Artefakt der dominanten Kultur, das umgeformt und neuen Verwendungsweisen zugeführt werden muss. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass die grundlegende Vorstellung eines naturgeschichtlichen Museums mit auf dem Spiel steht. Hierin liegt eine ethische und gesellschaftliche Herausforderung – und zudem ein philosophisches Problem. Was meinen wir von nun an mit Aufbewahrung? Wir erhalten einen Begriff von der traditionellen Bedeutung dieses Ausdrucks, indem wir einen Blick auf die sorgfältigen Verfahren werfen, die das Field Museum im Laufe des zurückliegenden Jahrhun16derts entwickelt hat. Dank dieser Sorgfalt gibt es all jene historischen Artefakte noch heute und wir können sie betrachten und würdigen. Was aber, wenn es die Überzeugung der Völker ist, von denen die Artefakte stammen, dass diese auch Verwendung finden müssen – durch die richtigen Leute und unter den richtigen Rahmenbedingungen? In dieser Frage schränkt es uns zu sehr ein, wenn wir die Herausforderung als ein Gegeneinander von Werten ansehen – den Werten derer, die der Aufbewahrung den Vorrang geben, und derer, die die Verwendung bevorzugen. Wenn wir die Schwierigkeit so deuten, setzen wir voraus, bereits die Begriffe und Annahmen zu kennen, die der Auseinandersetzung als Eckpunkte dienen sollten, und dass die einzige Frage lautet, wie wir nun unsere Vorlieben gewichten. Wir setzen voraus, dass der Begriff der Aufbewahrung seinerseits feststeht, und zwar so, wie dominante Kulturen ihn über die letzten ein oder zwei Jahrhunderte hinweg aufgefasst haben. Doch was wäre, wenn wir einen anderen Weg einschlagen – einen Weg, in dessen Rahmen Aufbewahrung auch angemessene Pflege einschließt und angemessene Pflege die richtige Verwendung erfordert? Um einen solchen Weg gangbar zu machen, müssten Teile des Field Museum in geweihten Grund und Boden umgewandelt werden oder zumindest in Räume, die sich für Zeremonien eignen: Sie müssten zu Orten werden, an denen indigene Völker Rituale durchführen können, in deren Zusammenhang jene Gegenstände (und Geister) wieder ein Zuhause fänden – oder, sofern dies nicht vollends möglich sein sollte, immerhin einen Rastplatz. Verlangen die Schilde nach einem Festzug? Müssen die Medizinbündel ausgewickelt und in die tröstliche Umgebung einer heiligen Zeremonie eingebunden werden? Bedarf es der Wiedervereinigung zwischen indigenen Völkern und ihren geweihten Gegenständen – einer Wiedervereinigung, 17über die nicht die einstigen Gepflogenheiten im Umgang mit »Museumssammlungen«, sondern die betroffenen Menschen selbst bestimmen?

Meine Freunde unter den Crow/Apsáalooke sagen, dass sie im Gegensatz zu den Dinosauriern und ausgestopften Adlern im Museum etwas erwidern. Einige der Gespräche sind für alle Beteiligten schwierig. Ich weiß weder, wo diese Unterhaltungen hinführen werden, noch habe ich eine feste Vorstellung davon, welchen Verlauf sie nehmen sollten. Dass aber das Gespräch weitergeht, erscheint mir wie eine wunderbare Fügung und von unermesslicher Bedeutung für die Zukunft unserer Zivilisationen. Auch glaube ich, dass sich eine direkte Linie von Plenty Coups' Willen, seine Geschichte zu erzählen, zu einigen heutigen Debatten ziehen lässt – jenen spannungsbeladenen und doch bereichernden Gesprächen darüber, wie indigene und dominante Kulturen zusammenleben sollen. Den deutschen Lesern dieses Buches möchte ich insbesondere sagen: Es gibt ein Danach nach dem »Danach ‌…«.

Chicago, März 2020

Jonathan Lear

18
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Plenty Coups (Richard Throssel Collection, American Heritage Center, The University of Wyoming, Acc. 2394).