Rehragout-Rendezvous

Rita Falk

Rehragout-Rendezvous

Ein Provinzkrimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Rita Falk

Rita Falk wurde 1964 in Oberammergau geboren. Ihrer bayerischen Heimat ist sie bis heute treu geblieben. Mit ihren Provinzkrimis um den Dorfpolizisten Franz Eberhofer und ihren Romanen ›Hannes‹ und ›Funkenflieger‹ hat sie sich in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben - weit über die Grenzen Bayerns hinaus.

 

 

Von Rita Falk sind bei dtv außerdem erschienen:

 

Provinzkrimis

Der erste Fall: Winterkartoffelknödel

Der zweite Fall: Dampfnudelblues

Der dritte Fall: Schweinskopf al dente

Der vierte Fall: Grießnockerlaffäre

Der fünfte Fall: Sauerkrautkoma

Der sechste Fall: Zwetschgendatschikomplott

Der siebte Fall: Leberkäsjunkie

Der achte Fall: Weißwurstconnection

Der neunte Fall: Kaiserschmarrndrama

Der zehnte Fall: Guglhupfgeschwader

 

Romane

Hannes

Funkenflieger

 

Erzählungen

Eberhofer, zefix!

 

 

www.rita-falk.de

www.franz-eberhofer.de

Über das Buch

»Ich kenn den Steckenbiller Lenz jetzt seit siebenundvierzig Jahren«, keift mir die Mooshammer Liesl daher. »Seit siebenundvierzig Jahren verbringt der Lenz jedes Weihnachtsfest daheim. Und seit siebenundvierzig Jahren …«

 

»Ja, versteh schon«, muss ich sie hier unterbrechen. »Aber nochmals, Liesl: Der Steckenbiller Lenz, der ist erwachsen. Es gibt keine Vermisstenanzeige. Und ohne Vermisstenanzeige keine Ermittlungen.« Zefix! Daheim hockt der Leopold und jammert, weil seine Familie in Thailand festsitzt wegen so einem depperten Virus. Im Rathaus herrscht Zickenkrieg, seit der Bürgermeister sich die Hax 'n gebrochen hat, weil die Susi, die macht jetzt einen auf Möchtegern-Bürgermeisterin. Die Oma tritt in den Kochstreik, und der Steckenbiller Lenz bleibt ums Verrecken verschwunden. Als dann auf dem Steckenbiller-Acker ein Goldzahn auftaucht, heuert der hyperaktive Rudi den pensionierten Leichenspürhund Wilhelm an. Und vorbei ist's mit der Ruhe für den Franz. Denn der Goldzahn war nur der Anfang …

Impressum

Originalausgabe 2021

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign | Lisa Höfner

Umschlagmotive: Getty Images, iStock und shutterstock.com

 

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eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43753-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26273-6

ISBN (epub) 9783423437530

Kapitel 1

»Es wird schon bald dumpa, es wird schon bald Nacht«, singen wir. Alle.

Nicht, dass wir anderen da so scharf drauf wären. Das nicht. Aber die Susi will es so. Bei ihr daheim, da hätten sie auch immer gemeinsam gesungen am Heiligen Abend. Was ganz bestimmt ganz großartig gewesen ist, immer vorausgesetzt freilich, dass ihre Verwandtschaft auch so schön gesungen hat, wie es die Susi jetzt tut. Bei uns Eberhofers ist das aber leider anders. Weil da kann keiner singen. Nicht die Bohne. Und ich schon gleich gar nicht. Also so was wie AC/DC ›Highway to hell‹ oder ›TNT‹, das freilich schon. Grad so mit zwei oder drei Halben intus. Aber halt keine Weihnachtslieder. Noch nicht mal mit Alkohol. Ganz im Gegenteil. Was wir hier so von uns geben, das erinnert viel eher an einen Walgesang oder so was in der Art. An einen Walgesang von sterbenden Walen freilich.

 

Die Susi freut sich trotzdem. Die Oma freut sich auch, was aber weiter kein Wunder ist. Weil sie die schiefen Töne ja gar nicht erst hören kann, die nun aus unseren Kehlen kommen. Ja, offenbar hat es durchaus seine Vorteile, wenn einem die Lauscher rein altersbedingt den Dienst quittieren. Im Grunde aber glaub ich eh, dass sie sich gar nicht so wegen der ganzen Singerei freut, die Oma. Sondern viel eher wegen der aktuellen, kollektiven Gemütlichkeit und dem ganzen weihnachtlichen Brimborium. Und weil halt auch fast jeder da ist, der ihr so am Herzen liegt.

Ganz offensichtlich freut sich auch der Papa, der jedoch wohl weniger wegen der kollektiven Gemütlichkeit oder dem ganzen Singsang, sondern viel eher wegen dem Joint, den er zuvor noch gemütlich im Hof draußen durchgezogen hat. Also praktisch da, wo er auf das Christkind gewartet hat. Oder vielleicht eher so: Wie die anderen in der Küche auf das Christkind gewartet und Plätzchen gefuttert haben und der Papa, der Leopold und ich die zahllosen Geschenke von meinem Saustall aus rüber ins Wohnzimmer geschleppt und dort schließlich unter den Christbaum gelegt haben. Topsecret-Aktion sozusagen. Ja, da muss man neuerdings vorsichtig sein. Unsere Kinder, die sind nämlich schlau. Und schon beim vorigen Weihnachtsfest war eine große Diskussion darüber entbrannt, also über das Christkind praktisch. Weil meine Nichte, die Sushi, unserem kleinen Paulchen weismachen wollte, dass es gar kein Christkind gibt. Stattdessen würden Eltern, Großeltern und der Rest der Sippschaft in der Vorweihnachtszeit durch die Geschäfte hetzen und irgendwelche sinnlosen Geschenke kaufen, die zuvor arme Kinder in unterentwickelten Ländern und unter fürchterlichen Umständen für ein paar Cent pro Tag herstellen mussten. So hat sie das erzählt, die Sushi, und war dabei deutlich ausführlicher, als ich es nun bin. Hinterher war er dann todtraurig, der kleine Paul, und hat sich nicht im Geringsten über den elektrischen Bulldog mit Schaltgetriebe, Handbremse und Schneepflug gefreut. Zumindest am Anfang nicht. Erst am nächsten Tag, wie es dann zu schneien angefangen hat, da hat er dann stundenlang und mit feuerroten Backen unseren ganzen Hof gepflügt. So lange, bis nicht das kleinste Funzelchen vom Schnee mehr übrig war. Und auch kein Kies. Aber wurst. Vermutlich ist es auch gar nicht so schlimm, wenn die Kinder nicht mehr ans Christkind glauben, sondern wissen, woher die ganzen Sachen in Wirklichkeit kommen. Wenn ich da nur an den Leopold denk! Was ist der doch enttäuscht gewesen, wo er im Firmunterricht, also erst mit fuchzehn Jahren, überhaupt davon erfahren hat.

 

Apropos Leopold. Der ist so gar nicht entspannt heut. Nicht beim Singen zuvor und auch nicht jetzt beim Abendessen. Die Oma hat uns ein Ganserl gebraten mit Knödel und Blaukraut, so wie sie es jedes Jahr tut, und der Duft hat sich längst in alle Ritzen der Räume verteilt. Erwartungsgemäß schmeckt es einfach göttlich und dementsprechend hau ich auch rein. Und weil mir der Leopold praktisch direkt visavis hockt, fällt mir freilich auf, wie lustlos er in seinem Teller rumstochert. Vielleicht liegt’s ja daran, dass er seine Frau, die Panida, mitsamt den gemeinsamen zwei Kindern heute Vormittag zum Flughafen nach München hat bringen müssen. München–Bangkok, quasi. Weil halt auch seine Schwiegereltern ein Anrecht darauf haben, einmal im Jahr ihre Enkel zu sehen. Kann man doch auch irgendwie verstehen, oder etwa nicht? Dass es ausgerechnet an Weihnachten sein muss, das ist halt scheiße. Liegt aber daran, dass diese Reise wegen Schulpflicht nur in den Ferien möglich ist und die Panida die ganzen letzten Ferien dazu genutzt hat, ihr neues Haus einzurichten. Drum eben Weihnachten und drum eben wohl auch ein trauriger Leopold.

»Mensch, Leopold, die kommen doch wieder«, sag ich ein bisschen aufmunternd und schieb mir ein Stück Knödel in den Mund. Die Soße ist einfach der Wahnsinn.

»Du hast gut reden, Bruderherz«, antwortet er mürrisch. »Immerhin sind deine Susi und dein Paul ja hier.« Dabei betont er das »dein« jedes Mal so theatralisch, dass es mir fast den Knödel hochwürgt. Der Papa legt seine Hand auf den Arm vom Leopold. Jetzt würgt’s mich tatsächlich.

»Ich bin auch traurig, dass die Sushi nicht da ist«, murmelt nun der Paul in seinen Teller.

»Ja«, pflichtet die Susi jetzt bei und schnauft ganz tief durch. »Wir sind alle traurig, Spatzilein.«

»Was für ein schöner Abend«, sagt dann die Oma, klatscht in die Hände und strahlt begeistert in die Runde. »Jetzt machen wir gleich die Geschenke auf, gell, Paulchen?«

»Haben die Geschenke denn wieder die armen Kinder aus China machen müssen?«, fragt der Paul und spitzt seine Ohren.

»Nein«, sag ich und schenk mir ein Bier nach. »Auf keinen Fall die armen Kinder aus China. Indonesien oder Indien, oder so was vielleicht. Aber definitiv nicht die armen Kinder aus China.«

Die Susi verdreht die Augen.

»Du solltest dich darüber nicht lustig machen, Franz«, brummt der Leopold aus seiner Depression heraus. »Der Paul hat ein Recht auf die Wahrheit, selbst wenn sie vielleicht nicht so angenehm ist und auch nicht so gut zu Weihnachten passt. Doch ich denke, man kann gar nicht früh genug damit anfangen, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Auch, wie ich finde, über den Zerfall unseres Planeten. Denn schließlich und endlich ist es ihre Zukunft, die wir hier grad zerstören.«

»Alles klar, Greta«, brumm ich retour. »Allerdings ist es nicht meine Familie, die grad durch Tausende von Flugkilometern düst und unsere Umwelt verpestet, sondern die deine.«

 

Hinterher, wie wir dann die Geschenke auspacken, da ist die Stimmung aber schon wieder ziemlich entspannt, wofür möglicherweise auch das eine oder andere Verdauungsschnapserl verantwortlich sein mag. Und eigentlich muss ich sagen, dass ich heuer ziemlich gut abgesahnt hab. So rein geschenktechnisch. Beispielsweise hab ich selbst gestrickte Socken gekriegt von der Oma. Einen Gutschein für die Metzgerei meines Vertrauens von der Susi. Und, ganz astrein, ein Tragerl Augustiner vom Papa. Was eigentlich nur ein halbes ist, weil er die andere Hälfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selber säuft. Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Selbst wenn es nur ein halber ist.

 

Irgendwann schläft der Paul inmitten seiner sich hüfthoch stapelnden und pädagogisch völlig sinnlosen Weihnachtsgeschenke ein, und die Susi klaubt ihn vom Boden auf, um ihn ins Bett zu bringen. Ich glaube, sie torkelt ein wenig. Durch die Ruhe, die nun einkehrt, merk ich, wie mir die Regensburger Domspatzen mit ihren schmalzigen Weihnachtsliedern tierisch auf die Eier gehen. Diese Schallplatte, die haben wir, seit ich denken kann. Und wir hören sie jedes Weihnachtsfest wieder und wieder und wieder – und immer wieder aufs Neue. Einer dieser Knaben singt ein Solo und er singt es so hoch, dass es dir durch Mark und Bein geht und du dir nichts sehnlicher wünschst, als möge er doch endlich in den Stimmbruch kommen. Und ich frag mich im jährlichen Rhythmus, ob ich denn der Einzige bin, der diese Platte hasst. Wahrscheinlich hab ich sie schon damals gehasst, als ich selbst noch ein Kind war. Damals, wie der Leopold und ich ganz klein waren, noch echte Kerzen am Baum gebrannt haben und jeder von uns nur ein einziges Geschenk abgekriegt hat. Und der Leopold immer viel lieber das meinige wollte. Dann hat er einen Nervenzusammenbruch gekriegt, der kleine Trottel. Jedes und jedes Jahr wieder. Und ich hab mich gefreut. Also nicht so offensichtlich logischerweise, mehr so in mich rein.

 

In einem Jahr beispielsweise, ich weiß es wirklich noch wie heute, da haben wir beide nagelneue Rollschuhe bekommen. Mit Sicherheit waren wir damals ohnehin die Allerersten im ganzen Dorf, die überhaupt welche hatten. Aber wurst. Meine jedenfalls waren marsgrün mit neongelben Schuhbändern und somit unheimlich cool. Dem Leopold seine waren irgendwie hellblau, und vermutlich war schon allein die Farbe für einen weiteren seiner berühmten Weinkrämpfe verantwortlich. Plötzlich und wie aus heiterem Himmel heraus hat er mir dann einen davon mit so einer Wucht an den Schädel geworfen, dass das Blut gespritzt ist. Wir haben dann auch gleich ins Krankenhaus müssen, und dort bin ich mit sieben Stichen genäht worden. Geweint hab ich nicht, obwohl es echt tierisch wehgetan hat. Keine einzige Träne. Aber die ganze Zeit über hab ich den Leopold beobachtet, wie er mich beobachtet. Am Ende, da hat mir der Herr Doktor eine Urkunde in die Hand gedrückt. »Für den tapfersten Patienten auf der ganzen Welt« ist da draufgestanden. Der Leopold, der hat auch unbedingt eine haben wollen, hat aber freilich keine gekriegt. Wie auf Kommando sind ihm wieder die Tränen in die Augen geschossen. Die Oma hat gesagt, er soll sich zusammenreißen und sich ein Beispiel an dem armen Franz nehmen. Aber er hat weiter geheult und ich hab mich weiter gefreut. Natürlich nur innerlich. Wenn ich so nachdenk, dann hab ich mich wahrscheinlich bei unseren Weihnachtsgeschenken sowieso immer viel mehr über dem Leopold seine Enttäuschung gefreut als über mein eigentliches Geschenk. Und wer weiß, vielleicht waren es ja ausgerechnet diese Tränen, die mir die Regensburger Domspatzen über viele Jahre hinweg überhaupt irgendwie erträglich gemacht haben.

 

»Auf geht’s, Bub«, ruft plötzlich die Oma und reißt mich aus meinen Gedanken heraus. »Drei viertel zwölf ist es. Wir müssen zur Metten.«

Stimmt. Christmette. Da war doch was. Die Oma und ich. Same procedure as every year, sozusagen. Ich hock gemütlich im Lehnstuhl und schau auf den Christbaum. Das Bier und die Wärme da herinnen haben mich müde und schwer gemacht. Und die furchtbare Stelle mit dem singenden Kastraten ist inzwischen auch vorbei. Aber es hilft alles nix. Christmette ist Christmette und praktisch genauso unvermeidbar, wie es die Meisterschaft für die Bayern ist. Und so machen wir uns auf den Weg.

 

Es ist schon fast eins, wie mich irgendwer plötzlich am Ärmel schüttelt und somit aufweckt. Ich blinzele ein paar Mal ins kalte Kirchenschiff und merk, dass auch die Oma selig an meiner Schulter schlummert. Voll Inbrunst ist der Chor gerade dabei, unsere Gottesgemeinde mit ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ durchs Kirchenportal hindurch und ins Freie hinaus zu orgeln. Offensichtlich sind wir zwei Hübschen wohl wieder mal die Letzten, die noch in den Bänken verweilen. Ein raumhoher Christbaum vorne im Altarraum ist aktuell die einzige Lichtquelle hier, und irgendwie ist das echt schön. Weniger schön ist das Gesicht, in das ich dann blicke. Es ist das von der Mooshammer Liesl, die sich nun tief über mich beugt, und dabei dampft ihr Atem nebelig aus Mund und Nase. Gruselig, wenn man’s genau nimmt.

»Hallo, Herrschaften! Aufwachen, miteinander«, raunt sie. »Der Spuk ist vorbei.«

Ja, du musst es ja wissen, denk ich mir so und reib mir die Augen.

»Aufwachen, Oma«, sag ich gähnend, streck mich kurz durch und schau dann der Oma beim Aufwachen zu.

»Schön war’s wieder, gell«, entgegnet sie prompt und gähnt ebenfalls. Dann erheben wir uns mit müden und durchgefrorenen Gliedern und zünden für die Mama noch ein Kerzerl an, bevor wir Richtung Kirchenpforte gehen. Draußen stehen sie noch, die Niederkaltenkirchner, zumindest wohl die meisten davon. Stehen beieinander, wünschen sich frohe Festtage, einen guten Rutsch oder richten einfach nur einen der Mitbürger aus. Es ist eine ganz ungewöhnlich milde und diesige Nacht heute und nicht ein einziger Stern ist am Himmel zu sehen.

»Franz, hör zu. Der Steckenbiller Lenz, der ist ja nun immer noch weg«, sagt die Mooshammerin, während sie sich zu mir herdreht, und schaut mir sehr eindringlich ins Gesicht.

Nicht schon wieder! Liesl! Bitte! Mit dieser irrwitzigen Geschichte nervt sie mich jetzt echt schon seit Wochen.

»Nicht schon wieder, Liesl«, sag ich und will mich auch gleich auf den Rückzug machen, weil ich aus dem Augenwinkel heraus den Simmerl ausgemacht hab. Der steht da nämlich nur ein paar Schritte weiter im Kreise seiner Lieben, und die Stimmung dort drüben erscheint mir außerordentlich fröhlich zu sein, was zumindest eine verlockende Alternative zu meiner derzeitigen Gesprächsrunde wäre.

»Franz, bleib gefälligst da, wenn ich mit dir red«, faucht mir prompt die Liesl her und stellt sich mir direkt in den Weg. »Immerhin bist du ein Polizist und somit auch mein Freund und Helfer!«

Ja, das hat mir grade noch gefehlt.

»Also?«, frag ich trotzdem und schnauf einmal tief durch.

»Es ist Weihnachten, verstehst. Ich kenn den Steckenbiller Lenz jetzt seit siebenundvierzig Jahren. Und seit siebenundvierzig Jahren verbringt der Lenz jedes Weihnachtsfest daheim. Jedes. Das weiß ich so gut wie niemand sonst. Und seit sechsundvierzig Jahren, da krieg ich immer ein Reh vom Lenz. Und zwar jedes verdammte einzelne Jahr. Verstehst? Und zwar für mein Rehragout. Das ist nämlich mein traditionelles Weihnachtsgericht. Seit sechs …«

»Ja, versteh schon. Seit sechsundvierzig Jahren«, muss ich sie hier unterbrechen. »Aber nochmals, Liesl. Und du kannst es dir auch gerne aufschreiben, wenn du es dir nicht merken kannst. Der Steckenbiller Lenz, der ist erwachsen. Er verbringt seine Zeit gerne in Südafrika, wie wir ja alle wissen. Erst recht, seitdem er Witwer ist und sein Sohn den Hof führt. Und – pass auf, das ist wichtig – es gibt keine Vermisstenanzeige. Und wenn es keine Vermisstenanzeige gibt, ja, dann wird er halt auch nicht vermisst.«

»Ich vermisse ihn!«, bricht es nun aus ihr heraus, und schon haben wir das Geglotze auf unserer Seite. »Und jetzt möchte ich gefälligst eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Ja, wen tätst jetzt du vermissen, Liesl?«, können wir nun den Simmerl vernehmen, der plötzlich und wie aus dem Boden gewachsen neben uns steht und über sein ganzes breites Gesicht hinweg grinst. »Also wenn’s jemand aus deiner dubiosen WG ist, dann solltest dir mal Gedanken machen, ob’s vielleicht einfach eine Flucht war.«

»Metzgerdepp, blöder«, knurrt sie retour. »An meiner WG, da ist nix dubios, verstehst. Rein gar nix. Und außerdem fehlt da auch keiner. Depp!«

»Ja, sag einmal, geht’s noch«, mischt sich nun die Gisela ein. Ihres Zeichens Metzgergattin und rein augenscheinlich ein wenig betrunken. »Wie redest denn du mit meinem Alten, du Dorfratschn, du elendige!«

»Hey, hey, hey«, muss ich jetzt kurzerhand zwischen die Weiber treten, die grad im Begriff sind, aufeinander loszugehen. »Heut ist Weihnachten, Mädels. Friedlich, besinnlich und alle haben sich lieb. Und drum beruhigen wir uns jetzt wieder und machen uns schön auf den Heimweg, gell. Und zwar hurtig.« Eher mürrisch drehen sich die zwei Weiber nun ab, keifen jedoch noch relativ Unverständliches über ihre Schultern hinweg.

Und während ich selber einmal tief durchschnauf, versuch ich, irgendwo in der Menge die Oma ausfindig zu machen. Bei meiner Suche stoß ich auf eine Handvoll Jugendliche, ebenfalls leicht angesoffen, und jeder von ihnen hat so ein buntes Papphütchen auf dem Kopf.

»Habts ihr die Oma zufällig gesehen?«, ruf ich mal so in die Runde.

»Ja, ja, die steht schon ein ganzes Weilchen da hinten an der Mauer und redet mit dem Pfarrer«, ruft einer zurück und seine Zahnspange funkelt nur so im Licht der Straßenlaterne.

»Merci«, bedank ich mich artig. »Ihr wisst aber schon, dass heute nicht Silvester ist, gell? Oder gar Fasching?«, frag ich noch so beim Vorbeigehen.

»Nein, schon klar. Aber die Leonie, die hat doch heute Geburtstag. Ist achtzehn geworden«, klärt mich die Zahnspange kurzerhand auf.

»Achtzehn? Soso. Ja, dann hau rein, Leonie, und alles Gute!«

»Danke«, kann ich jetzt eine Mädchenstimme vernehmen. »Die guten Wünsche kann ich grad wirklich brauchen. Führerscheinprüfung komplett vermasselt, mein Freund oder Ex-Freund hat mich mit meiner allerbesten Freundin beschissen und die Geburtstagsgeschenke, die ich gekriegt hab, das sind gleichzeitig auch meine Weihnachtsgeschenke. Wie immer halt. Ich hab drei Geschwister und alle drei haben im Sommer Geburtstag. So ein beschissener Fuck!«

 

Ja, das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch nicht bei der katholischen Kirche. Da kann sich unser Pfarrer just in diesem Moment noch so arg wünschen, dass die Oma doch öfters in den Gottesdienst kommen möge. Und nicht nur an Ostern und Weihnachten oder wenn halt wieder eine Beerdigung ansteht. Da steht er so umeinand’ mit der Oma und redet auf sie ein, wie wenn er ihr den Beelzebub austreiben möchte.

»Mei, schauns, Pfarrer«, sag ich und hake deshalb vorsichtshalber schon mal die Oma unter. »Die Oma, die hat doch gar keine Zeit. Die muss sich ja schließlich um die ganze Familie kümmern. Also kochen und waschen und bügeln und backen und das Paulchen hüten. Also lauter echt mordswichtiges Zeug. Wann soll sie denn da bitte noch in die Kirch gehen?«

»Aber eure Oma, die sollte doch vielleicht auch mal was für sich selber tun, Franz. Einfach etwas, das sie entspannt. Was ihr Freude bereitet. Vielleicht an einer kleinen und selbstverständlich geführten Wallfahrt mit dem Bus teilnehmen. Oder meinetwegen an einem netten Tanz in den Nachmittag in Bad Griesbach. Oder wenigstens Kaffee und Kuchen im Pfarrheim.«

»Tanzen? Also nix für ungut, Hochwürden. Aber, nein. Wissens, die Oma mag nicht tanzen. Ganz bestimmt nicht. Und einen Kaffee, den kann sie sich auch ganz prima bei uns daheim kochen. Gell, Oma?«, sag ich noch so.

Ein bisschen enttäuscht ist er jetzt schon, der Herr Pfarrer. Trotzdem erteilt er uns noch seinen Segen. Doch vermutlich wären wir auch ohne den ganz prima bis nach Hause gekommen.

 

Erwartungsgemäß ist die Oma dann auch gleich müd und verabschiedet sich schon im Treppenhaus zur Nacht von mir. Drüben im Wohnzimmer treff ich dann auf den Rest unserer Sippe. Will heißen, auf den Papa, die Susi und den Leopold. Letzterer weint aufgrund familiärer Defizite, während seine zwei Zimmergenossen offenbar aufopferungsvoll versuchen, ihm Trost zu spenden. Ein Jammertal, wohin mein Auge streift, im wahrsten Sinne. Neben zahllosen verrotzten Tempos, einigen runtergebrannten Kerzenstummeln und ein paar Gläsern befinden sich vier leere Flaschen Rotwein auf dem Wohnzimmertisch und eine mit keinem Gin mehr darin. Und als wär dieses Elend nicht schon genug, laufen im Hintergrund auch noch die Beatles. Doch bevor mich auch nur einer von dieser Selbsthilfegruppe in seinem desolaten Zustand entdecken kann, zieh ich den Stecker vom Plattenspieler, dann die Wohnzimmertür wieder leise hinter mir zu und geh in meinen Saustall rüber. Gut, einen klitzekleinen Zwischenstopp mach ich schon noch in der Küche und öffne die Speis. Da stehen sie nämlich, die heiligen Plätzchendosen von der Oma. Ich schnapp mir die, wo die Spitzbuben drin sind. Also die mit dem Johannisbeergelee. Genauer, dem Johannisbeergelee, das die Oma selber gemacht hat. Noch genauer, mit den Johannisbeeren aus unserem Garten, die der Paul so gern naschen tät, aber nicht darf, weil’s sonst keine Spitzbuben geben würde an Weihnachten. Und das wär ja ein Jammer.

Mit den Plätzchen hau ich mich dann aufs Kanapee, schmeiß mir eine Wolldecke drüber und schau mir ›Kevin allein zu Haus‹ an. Eigentlich wollte ich das mit dem Paulchen gemeinsam anschauen. Aber irgendwann hat er Angst bekommen. Vor den zwei bösen Männern. Und auch den Kevin kann er irgendwie nicht richtig leiden. Außerdem findet er es nicht schön, wenn Eltern ihre Kinder zuhause vergessen. Noch dazu an Weihnachten. In diesem Punkt kommt er so gar nicht nach mir. Weil ich … ich könnte mich jedes Mal wieder aufs Neue wegschmeißen bei diesem Film. Und jetzt ist’s doch noch ein schöner Heiligabend.

Kapitel 2

Am nächsten Vormittag wandere ich zielstrebig durch den Hof hindurch in Richtung Küche. Es muss sich ganz schön abgekühlt haben über Nacht, und ich zurre den Gürtel von meinem Morgenmantel etwas enger. Vermutlich hat mich die Hoffnung auf einen schönen Frühstückstisch relativ zeitig aus den Federn geholt. Doch diese Hoffnung wird schlagartig zunichtegemacht, kaum, dass ich die Küche betrete. Von der Oma ist weit und breit nichts zu sehen, ebenso wenig wie von etwaigen morgendlichen Gaumenfreuden. Stattdessen stinkt das ganze Haus erbärmlich nach Alkohol, und wenn mich mein kriminalistisches Näschen nicht komplett im Stich lässt, dann stinkt es obendrein auch noch nach Hasch.

 

Ich begeb mich mal ins Wohnzimmer rüber, welches eindeutig in einem ganz ähnlichen Zustand ist, wie ich es von gestern her noch in Erinnerung hab. Zwei der nächtlichen drei Suffköpfe befinden sich noch immer am selben Platz, allerdings schlafen sie jetzt. Oder sind sie ohnmächtig? Das lässt sich auf den ersten Blick nicht glasklar erkennen. Jedenfalls lümmelt der Leopold dort in seinem Sessel, der Kopf ist schwer nach hinten gefallen, sein Mund offen, mit einem breiten Rotweinrand auf seiner Oberlippe, und er schnarcht sich die Seele aus dem Leib. Kein nüchterner Schläfer würde es jemals neben ihm aushalten. Dem Papa scheint das nichts auszumachen, Kunststück, war ja mindestens genauso besoffen. Jetzt liegt er nämlich auf dem Sofa, zusammengekauert wie ein Embryo und vor seiner Brust hält er ein Kissen mit beiden Armen fest umklammert.

Ich muss erst mal sämtliche Fenster aufreißen, irgendwie muss dieser Gestank ja aus den Räumen, und erwartungsgemäß ist es im Nullkommanix eiszapfenkalt.

»Bist du deppert, oder was?«, brummt der Papa schon, da hat er noch nicht mal die Augen geöffnet. »Mach gefälligst sofort wieder zu. Oder willst du, dass ich mir eine Lungenentzündung hole?«

»Was geräuchert ist, entzündet sich nicht. Ich muss lüften, es stinkt hier nach Hölle«, entgegne ich wenig beeindruckt.

»Das ist mir scheißegal. Mach sofort wieder zu. Mich friert’s, ’zefix«, knurrt er, setzt sich auf und reibt sich die Oberschenkel.

»Ja, den Säufer und den Hurenbock, den friert es auch im dicksten Rock«, murmel ich noch so und mach mich auf den Rückweg zur Küche.

 

Und grad wie ich dabei bin, das Kaffeewasser aufzusetzen, da erscheint plötzlich die Oma im Türstock. Allerdings schaut sie heut ganz anders aus, als sie es sonst immer tut. Zumindest um diese Uhrzeit. Sie ist nicht in ihrem geblümten Morgenmantel und den Filzpantoffeln und trägt auch keine Lockenwickler. Stattdessen ist sie vom Kopf bis zur Sohle ausgehfein.

»Ja, Oma! Was ist denn hier los?«, frag ich nach einem morgendlichen Gruß und deute auf ihr Outfit. »Steht was an? Wo geht’s denn hin?«

»Ich komm grad von der Kirche«, sagt sie, während sie ihren Mantel auszieht und auf einen Kleiderbügel hängt. Einige Male streicht sie ein bisschen nachdenklich über den dunklen Stoff, bevor sie ihn an die Garderobe hängt.

»Aha«, sag ich ein bisschen verwirrt, gieß den Kaffee auf und hol zwei Tassen aus dem Küchenbüfett. »Aber da bist doch gestern erst gewesen, oder? Nicht, dass uns das jetzt zu einer Art Hobby wird, Oma.«

Aber das, glaub ich, hört sie gar nicht. Sie kommt zurück, hat die Schuhe inzwischen gegen ihre Pantoffeln getauscht und lässt sich auf der Eckbank nieder. Ich schenk Kaffee in zwei Haferl und gesell mich dann dazu. Irgendwie macht sie einen ganz besonders zufriedenen Eindruck heute, die Oma. Greift nach ihrer Tasse, nimmt einen großen Schluck und schaut mich dann an.

»Ist irgendwas?«, frag ich, weil die Situation grad irgendwie sonderbar ist.

»Ja«, sagt sie fast feierlich und legt ihre Hand auf die meine. »Es ist was, Bub. Und weißt was? Ich mag nimmer.«

»Wie, du magst nimmer? Was magst denn nimmer?«, antworte ich ein bisschen verwirrt und fahr mir durch die Haare.

»Gar nix mag ich mehr. Nicht mehr kochen, zum Beispiel. Oder putzen. Den ganzen Schmarren halt. Ich mag nämlich jetzt nur noch faulenzen, verstehst?«

»Nein«, sag ich, weil ich’s wirklich nicht tu.

»Weißt, Bub«, sagt sie weiter, tätschelt ein paar Mal meinen Arm und schnauft ganz tief durch. »Ich geh jetzt auf die neunzig zu. Und da kann es fei schon sein, dass es von heute auf morgen einfach vorbei ist mit mir.«

»Also Oma, so ein Blöds…«

»Franz, bitte. Jetzt sei so gut und hör mir zu«, unterbricht sie mich prompt und äußerst resolut. »Schau, im Grunde meines Herzens wissen wir doch beide, dass ich uns allen eigentlich einen Gefallen damit tu, wenn ich mich jetzt allmählich einfach zurückzieh. Zum einen habt ihr dann alle miteinander die Gelegenheit, schon einmal zu üben, wie es dann später ohne mich ist. Zum anderen … Ja, zum anderen, da tut mir so ein bisschen Zeit zum Durchschnaufen schon auch noch selber ganz gut, bevor’s halt dann schließlich dem Ende zu geht.«

Dem Ende zu geht? Von was redet sie denn?

»Diesen Floh hat dir doch unser depperter Pfaff ins Ohr gesetzt«, ruf ich und steh auf. »Was … was soll das, Oma? Du weißt doch haargenau, dass ohne dich hier gar nix läuft. Wir sind doch alle miteinander aufgeschmissen ohne dich.«

»Ja, Bub, leider Gottes, das weiß ich. Und genau deshalb muss sich auch was ändern. Und zwar sofort. Wenn du so willst, Franz, dann ist es mein guter Vorsatz fürs nächste Jahr, dass ich einfach nix mehr tun will, und aus. Ich hab mich immer um jeden Einzelnen von euch gekümmert und bin immer für alle da gewesen. Mein ganzes Leben lang hab ich meine eigenen Wünsche und Träume immer hinten angestellt.«

»Aber du … du hast doch gar keine eigenen Wünsche und Träume«, sag ich nun fast ein bisschen verstört, weil mir ein Leben ohne die Oma nicht im Geringsten vorstellbar ist und ich es mir im Grunde auch gar nicht vorstellen möchte.

 

Jetzt geht die Tür auf und der Papa kommt rein. Er starrt auf den Küchentisch, während er sich am Sack kratzt, und irgendwie schaut er echt fürchterlich aus.

»Was gibt’s zum Essen?«, fragt er brummig und schenkt sich den restlichen Kaffee ein. Er stinkt wie ein Iltis.

»Nix«, sag ich, zuck mit den Schultern und setz mich wieder nieder. »Die Oma kocht nämlich nicht mehr.«

»Aha. Warum nicht?«, will er wissen und so erklär ich ihm halt kurz den aktuellen Sachverhalt.

»Hast du eine Meise, oder was? Ich hab einen Mordshunger. Also, was ist jetzt?«, fragt der Papa daraufhin die Oma. Die grinst nur frech und ihre Augen funkeln.

»Eigentlich wollte ich ja erst im Januar damit anfangen. Aber ich hab’s mir grad anders überlegt. Es sind zwanzig Kalbsschnitzel im Kühlschrank und die Kartoffeln sind da, wo sie immer sind. Das gibt’s heut zum Mittagessen. So, dann viel Spaß, meine Herrschaften«, sagt sie knapp, trinkt ihren Kaffee aus und will grad aus der Küche gehen, da packt sie der Papa am Arm.

»Oma, vergiss es!«, ruft er und versucht krampfhaft einen heiteren Tonfall in seine Stimme zu legen. »Spinn jetzt nicht rum. Mensch, es ist Weihnachten. Du kannst uns doch nicht ausgerechnet heut so auflaufen lassen.«

»Aber genau das ist es doch, weil immer irgendwas ist, Bub. Geburtstage, Taufen, Hochzeiten, Gartenfeste, Beerdigungen oder meinetwegen auch Weihnachten. Immer ist irgendwas und immer hat irgendwer Hunger oder dreckige Wäsche. Ich hab mir neulich mal ausgerechnet, dass ich in meinem Leben allein über fünftausend Kuchen und Torten gebacken hab. Das nur so zum Beispiel.«

»Ja, so ist das Leben, Oma. Jeder hat sein Aufgabengebiet, gell. Aber schau, jetzt kochst uns einfach erst mal was Feines, dann essen wir schön, du beruhigst dich wieder und dann reden wir drüber«, versucht er es noch mal.

»Ich bin ganz ruhig, und reden müssen wir da gar nimmer drüber. Außer du willst mir erklären, was genau dein Aufgabengebiet ist. Wennst mich vielleicht wieder loslassen tätst?«

»Nein, verdammt noch eins! Jetzt mach doch hier keinen Kasperl, Oma«, entgegnet der Papa und wird langsam wütend.

»Loslassen!«

»Nein!«

»Lass die Oma los. Sofort«, muss ich mich nun einmischen.

»Ja, du Klugscheißer! Weißt du zufällig, wie man zwanzig Schnitzel paniert und nebenbei einen Kartoffelsalat macht«, knurrt mir der Papa her und hält derweil die Oma noch immer am Ärmel.

»Ich schmier dir eine, wennst die Oma nicht gleich loslässt«, sag ich und prompt lässt er los. Die Oma zwinkert mir noch kurz über die Schulter, ehe sie dann in der Diele verschwindet. Wie von der Tarantel gestochen saust ihr der Papa hinterher. Auch von dort draußen kann man die beiden noch prima verstehen, selbst wenn seine Stimme längst nicht mehr so fordernd ist. Mehr flehend vielleicht. Helfen tut es ihm aber trotzdem nix. Weil Augenblicke später die Kleiderbügel an der Garderobe klirren, danach die Haustür ins Schloss fällt und die Oma durch unseren Hof hindurchsaust. Und zwar in einem Tempo, dass man fast meinen könnte, der Kies fliegt.

Und ich steh am Fenster und schau ihr hinterher, bis sie die Straße erreicht und ich sie nicht mehr sehen kann. Im Grund kann ich sie ja sogar irgendwie verstehen, die Oma. Dass sie jetzt auf ihre echt ältesten Tage schlicht und ergreifend die Nase voll hat von der schier endlosen Arbeit und einfach nix mehr machen mag. Für nix und niemanden von uns. Denn was, bitteschön, hat sie denn schon groß gehabt von ihrem Leben? Für sich selber ist da wohl nicht allzu viel dabei herausgesprungen. Sie hat ja immer nur geschaut, dass es uns anderen allen gut geht. Und hat dabei ihre eigenen Belange stets ganz hinten angestellt. Belange, von denen wir offenbar noch nicht einmal geahnt haben, dass es sie überhaupt gibt. Weil es für uns alle einfach selbstverständlich war, dass sie funktioniert, unsere Oma. So wie beispielsweise ein Kühlschrank funktioniert. Oder ein Plattenspieler meinetwegen. Immer vorausgesetzt, es schießt keiner drauf …

 

Ich weiß wirklich nicht, wie, aber gemeinsam schaffen wir es tatsächlich, ein ansatzweise genießbares Mittagessen auf den Tisch zu bekommen. Zwar schneidet sich der Papa beim Kartoffelschälen zweimal in den Finger und wir können beim besten Willen im ganzen Haus kein Pflaster finden. Aber der Leopold zeigt sich als äußerst geschickt im Panieren, und die Susi, so verkatert sie auch sein mag, schafft es sogar mehrmals, die Schnitzel aus der Pfanne zu holen, noch bevor sie kohlrabenschwarz und brettlhart sind. Gut, der Kartoffelsalat ist natürlich und erwartungsgemäß meilenweit entfernt von dem, womit wir ansonsten verwöhnt worden sind. Aber es hilft ja alles nix. Der Hunger treibt’s rein. Das anschließende Tischgespräch dreht sich – wie könnte es auch anders sein – um die eigensinnigen Zukunftspläne unserer Familienältesten. Und dabei fällt mir auf, dass je weniger Verständnis meine Mitesser dafür aufbringen, desto mehr tu ich es.

»Ich wüsste ja nur allzu gern, was in sie gefahren ist«, sagt die Susi, während sie hektisch dem Paulchen das Fleisch klein schneidet, obwohl er das längst selber könnte.

»Herrgott, was soll denn in sie gefahren sein?«, frag ich und schau die Susi über den Tisch hinweg an.

»Na ja, sie kann doch nicht einfach so mir nix, dir nix und von einer Sekunde auf die andere das Handtuch schmeißen und uns alle hier auflaufen lassen«, antwortet sie ein bisschen arg bockig.

»Ja, das seh ich genauso«, muss prompt der Papa beipflichten. »Und ohne jede Vorwarnung, unglaublich. Wenn du mich fragst, dann ist das der volle Egotrip, und ich würde zu gerne wissen, wer ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Von alleine ist sie da nämlich mit Sicherheit nicht draufgekommen.«

»Vermutlich ist das nur so eine Art von … was weiß ich … von Weihnachtsdepression oder ein Anflug von Altersstarrsinn. So was vielleicht«, muss nun auch noch der Leopold seinen fragwürdigen Senf dazu beitragen. »Aber das wird nicht lange dauern, jede Wette. Das würde sie doch selber gar nicht aushalten, die Oma. Ihr werdet schon sehen, in ein, zwei Tagen, da muss sie einfach wieder zurück an den Herd, und dann ist sie auch sicherlich wieder ganz die Alte.«

»Dein Wort in Gottes Lauschlappen«, sagt der Papa mürrisch, wischt sich über den Mund, legt sein Besteck ab und steht auf.

»Das mag schon sein, aber bis dahin müssen wir das Geschirr noch selber abwaschen«, sag ich und deute mit dem Kinn auf seinen Teller.

»Aber ich hab doch schon die ganzen Kartoffeln geschält«, brummt er retour.

»Ja, und ich hab die Zwiebeln geschnitten, bis ich geflennt hab, und außerdem noch zwanzig Schnitzel geklopft. Trotzdem befürchte ich, dass die Küche nicht von allein sauber wird. Also Frage: abwaschen, abtrocknen oder wegräumen?«

 

Eine Stunde später ist alles wieder blitzeblank und sauber, doch ehrlich gesagt sind wir alle vier ziemlich k.o. Kaum zu glauben, was so ein Mittagessen doch für eine arbeitsaufwendige Angelegenheit ist. Und wenn man vielleicht am Nachmittag noch einen feinen Kaffee haben möchte und ein paar Plätzchen dazu und später obendrein ein Abendbrot, dann ist das ja sozusagen fast schon so was wie ein Fulltimejob, und man kommt praktisch gar nicht mehr raus aus der Küche. Selbst wenn man wie wir hier zu viert zugange ist. Einige Vorteile allerdings hat die ganze Aktion dennoch gebracht. Weder der Papa noch die Susi noch der Leopold haben auch nur ein einziges Wort über ihren Kater verloren. Und Letzterer scheint sogar seinen ganzen Herzschmerz von wegen Familie und Pipapo völlig vergessen zu haben.

 

Erst gegen acht, grad wie ich das Paulchen ins Bett gebracht hab, da kommt dann endlich die Oma nach Hause. Sie hat ganz rote Backen und funkelnde Augen und erzählt, dass sie bei der Mooshammer Liesl war, und zwar den ganzen lieben langen Tag lang. Und so schön wär’s gewesen. Zuerst, da hätten sie stundenlang Karten gespielt, dann einen netten Film angeschaut und anschließend wären sie noch ein bisschen spazieren gegangen. Auch die anderen Mitbewohner von der Liesl sind alle da gewesen, erzählt sie mir weiter, während sie ihre Sachen ablegt. Nette Leut übrigens, und so lustig. Und am Ende, da haben sie nun alle miteinander schön zu Abend gegessen, und zwar so viel, dass sie vermutlich gleich platzt.

»Und, stell dir vor, Bub. Keinen einzigen Finger hab ich rühren müssen dort, kannst du das glauben? Weil halt einfach ein jeder ein bisschen mit hergelangt hat, und bis ich geschaut hab, war auch schon alles passiert. Ja, die haben mich regelrecht verwöhnt heut.«

Ich nicke. Und ich schau sie an. Irgendwie wirkt sie äußerst entspannt und zufrieden.

»Schön«, sag ich und muss grad dran denken, wie viele unzählige Male ich der Oma beim Abwasch geholfen hab.

»Apropos Liesl. Du, bei unserem Spaziergang heut, da ist was Komisches gewesen, Franz. Das hat die Liesl übrigens auch gesagt. Pass auf, der Steckenbiller Simon, also praktisch der Sohn vom Steckenbiller Lenz …«

»Ja?«, frag ich und verdreh innerlich schon mal die Augen. Die Liesl mit ihrer depperten Steckenbiller-Neurose.

»Stell dir vor, der ist heut mit dem Auto von seinem Vater unterwegs gewesen. Diesem dicken, fetten Mercedes, du weißt schon.«

»Was ja nicht verboten ist, vorausgesetzt, den Alten stört das nicht.«

»Aber genau das ist doch der Punkt, Franz. Jeder weiß es. Alle wissen es. Ja, das ganze Dorf weiß doch haargenau, dass niemand diesen sündteuren Karren fahren darf.«

Ich weiß es nicht.

»Aha«, sag ich deswegen.

»Eben. Der Lenz, der würd doch niemandem erlauben, mit diesem Auto zu fahren. Und am allerwenigsten seinem eigenen Sohn.«

»Jetzt komm einmal runter, Ms. Marple. Und lass dich von der Liesl nicht narrisch machen. Die hat doch eh nix anderes im Kopf als die Leut auszurichten. Viel wichtiger ist doch, dass du einen schönen Tag gehabt hast und dich ein bisschen ausruhen hast können. Stimmt’s?«

»Ja, stimmt.«

»Siehst.«

»Und … und wie war’s bei euch so? Seids zurechtgekommen«, fragt sie abschließend, und mir ist grad so, als könnt ich da einen Hauch von schlechtem Gewissen raushören.

»Ja, mei, der Kartoffelsalat war halt so la la und die Schnitzel vielleicht ein kleines bisserl härter als sonst und etwas trocken. Und ein Pflaster haben wir auch keins finden können«, antworte ich und muss grinsen.

»Pflaster sind dort, wo sie schon seit jeher sind. Nämlich im Medizinkastl im Bad. Das weiß ein jeder, der hier wohnt. Man muss halt auch mal ein bisschen nachdenken, gell. Nur wenn man halt sein Hirn ständig gleich an der Garderobe vorn ablegt, dann muss man sich auch nicht wundern, gell. Aber im Laufe der Zeit, da wird sich das sicherlich alles finden, wirst schon sehen«, lächelt sie und schlenzt mir die Wange. »So, und jetzt gute Nacht, Bub. Ich muss mich niederlegen, ich bin zum Umfallen müd.«

»Bei uns, da warst nie zum Umfallen müd«, sag ich noch so, wo sie schon die ersten Stufen emporschlurft.

»Bei euch, da war ich immer zum Umfallen müd. Bloß hat’s nie einer gemerkt«, kann ich sie grade noch hören, dann fällt ihre Tür ins Schloss.

So sitz ich noch ein ganzes Weilchen lang allein in der Küche und denk so über die Oma nach, wie plötzlich die Tür aufgeht und die Susi reinschaut. Sie steht dort im Türspalt und ist offensichtlich bereits in Schlafanzug und Bademantel geschlüpft.

»Kommst heim heut oder schläfst wieder im Saustall?«, fragt sie mit schiefem Kopf und macht dabei einen Schmollmund.

»Nein, ich komm gleich«, antworte ich, geh zum Kühlschrank und hol mir ein Bier. »Gib mir noch zehn Minuten.«

»Versprochen?«

»Versprochen!«

»Soll ich dann vielleicht was anderes anziehen als den alten Flanell hier?«, fragt sie und zupft neckisch an ihrem Pyjama.

»Alles ist besser als der alte Flanell, Susimaus«, grins ich, während ich die Flasche öffne.

»Dann musst du dich aber schicken, sonst wird’s mir kalt«, sagt sie noch und huscht in die Diele hinaus.

 

Kaum bin ich wieder allein, da läutet mein Telefon. Dran ist ein besorgter Mitbürger, der wohl gerade von seinem Abendspaziergang zurück nach Hause gekommen ist und nun steif und fest behauptet, es würde jemand in unserem Christbaum hocken. Also nicht in dem, der bei uns im Wohnzimmer drüben steht, logischerweise. Weil das hätte ich ja wohl selber gemerkt. Sondern in dem vor unserem Rathaus. Und ich soll da jetzt bitteschön hinfahren und nachsehen. Immerhin wär das ja meine Pflicht, so rein dienstlich gesehen. Und nein, sagt er weiter, das könne wohl nicht bis nach den Feiertagen warten.

Na bravo.

Also schnauf ich einmal tief durch, trink mein Bier auf ex, schnapp mir den Autoschlüssel und mach mich auf den Weg.

Freilich kann ich unseren Christbaum schon von aller Weite aus sehen. Er ist zwar nicht der größte im ganzen Landkreis, der steht nämlich wie jedes Jahr in Frontenhausen drüben. Und zwar allein aus dem einfachen Grund heraus, weil die einen größeren Marktplatz haben als wir in Niederkaltenkirchen. Dafür aber ist unserer der hellste weit und breit. Ja, das ist unserem Bürgermeister unheimlich wichtig. Wenn er schon nicht den größten hat, sagt er immer und immer wieder, dann will er zumindest den hellsten. Und den hat er. Jede Wette. Er ist so hell, dass wir quasi in der Weihnachtszeit alle Straßenlaternen im Umkreis von drei Kilometern ausgemacht haben. Die eine Hälfte unserer Mitbürger findet das prima, und die andere macht wochenlang ihre Rollos nicht mehr auf. Aber so ist das nun mal. Schließlich kann man es nicht allen recht machen, gell.

 

Wie ich kurz darauf eben vor genau diesem grellen Nadelholz stehe, da kann ich zunächst überhaupt nix erkennen. Nicht das Geringste. Ich halte mir die Hand vor die Augen und blinzele hinauf. Aber nix.

»Hallo-ho?«, ruf ich in die nadelige Höhe empor.

»Hallo-ho?«, kommt es prompt retour. Irgendwie unheimlich, wirklich. Als ob da tatsächlich jemand in den weihnachtlichen Ästen hockt.

»Wer ist da oben?«, will ich deswegen zunächst einmal wissen.

»Wer ist da unten?«, kommt es retour. Es scheint sich um einen Witzbold zu handeln.

»Hier unten ist der Eberhofer Franz. Also?«

»Franz!«, kann ich nun vernehmen, und ja, es klingt durchaus erleichtert. »Gut du bist kommen. Vielleicht du kannst helfen mich unten.«

»Buengo?«, frag ich wieder nach oben. Einfach, weil mir diese Möglichkeit schon aus rein grammatikalischen Aspekten heraus am plausibelsten erscheint.

»Ja, warum fragst?«