Über das Buch

In größter Verzweiflung wendet sich Carla Diaz, Borns frühere Kollegin bei der Sitte, an den Ex-Polizisten. Zwei junge Frauen, Mitglieder der sektenähnlichen Gemeinschaft Cernunnos, der auch Carlas Tochter Malin angehört, wurden ermordet aufgefunden, aufs Grausamste hingerichtet. Nun fürchtet Carla um Malins Leben, dringt aber nicht zu ihr durch. Auch Borns Mission scheitert – an Sektenführer Lampert und nicht zuletzt an Malin selbst. Da schaltet Born seinen alten Gegenspieler Andrej Wolkow ein, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Tatsächlich schickt der Russe einen jungen Killer, Artjom, der sich als vorgeblich entwurzelter Russlanddeutscher bei Cernunnos einschleicht. Doch Wolkow treibt ein doppeltes Spiel.

Von Linus Geschke sind bei dtv außerdem erschienen:
Tannenstein
Finsterthal

 

 

 

 

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.

Johann Wolfgang von Goethe: Erlkönig

BELGIEN
DER NORDÖSTLICHE TEIL DER ARDENNEN, AM RANDE DES NATIONALPARKS HOHES VENN

Das imposante Gebäude lag auf halber Höhe eines Bergvorsprungs, abgeschieden vom Rest der Welt. Bei trüben Lichtverhältnissen verschmolzen die schieferbedeckten Mauern mit der felsigen Tannenlandschaft, als wäre es ein natürlicher Teil der Umgebung. Als wollte es sich inmitten der Natur verstecken und als dürfte niemand finden, was nicht gefunden werden wollte, niemand sehen, was besser im Verborgenen blieb.

Einst als Wohnsitz einer wohlhabenden wallonischen Familie errichtet, diente das U-förmige und mit Erkern versehene Anwesen ab den 1950er-Jahren als luxuriöses Sanatorium für wohlhabende Menschen, die an einer Lungenkrankheit litten. Eine Geschäftsidee, die in den ersten dreißig Jahren auch aufging; damals, als die größte Zahl an Gästen aus dem nahe gelegenen Deutschland kam. Dann änderte sich das Abrechnungsverfahren der Krankenkassen, die Patientenzahlen sanken, und der Betreiber musste 1991 Insolvenz anmelden.

Ein aus Messing gefertigtes Schild mit dem Namen des Sanatoriums war alles, was aus dieser Zeit noch übrig geblieben war: Engelsgrund.

Die Bewohner der umliegenden Dörfer kannten das Anwesen, aber nur die wenigsten hatten das Innere des Gebäudes je mit eigenen Augen gesehen. Früher hatte es dafür kaum eine Gelegenheit gegeben, und heute schon gar nicht mehr. In Kilometern gemessen lag Engelsgrund nicht weit von den nächsten Ortschaften entfernt, und dennoch schien der Bau aus einer anderen Welt zu stammen. Aus einer, die lieber für sich blieb, unbemerkt von allen anderen, bis man irgendwann vergaß, dass es sie überhaupt gab.

Um nach Engelsgrund zu gelangen, musste man einer schmalen Straße folgen, die sich wie ein Gedärm den Berg hochschlängelte, und dann auf einen unscheinbaren Forstweg abbiegen, der an einem massiven Zaun endete, welcher das Grundstück weiträumig umschloss – errichtet von dem neuen Besitzer, der das Anwesen dreizehn Jahre nach der Insolvenz und zu einer Zeit gekauft hatte, als die Natur schon begann, sich die Mauern des ehemaligen Sanatoriums einzuverleiben.

Vor allem in den ersten Jahren hatte es unter den Dorfbewohnern viele Gerüchte über diesen geheimnisvollen Mann gegeben, aber nur wenige gesicherte Erkenntnisse. Sein Name war Maurice Lampert, und er war reich, das war klar. Nach dem Kauf hatte Lampert durch verschiedene Unternehmen umfangreiche Baumaßnahmen durchführen lassen, die sich über Jahre hinzogen, bevor er mit einer Gruppe Frauen und Männer, die er wie ein Fürst um sich geschart hatte, nach Engelsgrund gekommen war.

Bestes Futter für ausufernde Spekulationen. Ein Festmahl für Klatschmäuler.

In den darauffolgenden Jahren sah man die Mitglieder der Gemeinschaft ab und zu in den kleinen Lebensmittelgeschäften der Umgebung beim Einkauf oder auf ihren Arbeitsstellen außerhalb des Anwesens. Es waren freundliche Menschen, die Fremden gegenüber aber stets distanziert blieben. Sie beteiligten sich nicht am sozialen Leben, gingen nicht auf Dorffeste oder in die Kneipen und Lokale der Umgebung. Sie blieben lieber unter sich, und keiner wusste, wie viele es eigentlich waren.

Manche Einheimischen sprachen von dreißig Bewohnern, andere von siebzig. Die eine Hälfte hielt die Hinzugezogenen für eine Sekte und die andere glaubte, es seien lediglich Aussteiger, die sich auf dem Anwesen weitestgehend selbst versorgten. Alles, was man mit Sicherheit wusste, war, wie die Gruppe sich nannte.

Cernunnos.

Es war ein Name, der sonderbar klang und Neugierde weckte, und die Einheimischen brauchten nicht lange, um herauszufinden, woher er eigentlich stammte.

Cernunnos war der lateinische Name einer ursprünglich keltischen Gottheit, die manchmal auch als »der Gehörnte« bezeichnet wurde. Für die Kelten war Cernunnos der Gott der Natur, der Fruchtbarkeit und der Unterwelt, und er war der Herr der Tiere, ihr Schutzpatron. Als solcher wurde er nicht in Tempeln angebetet, sondern in der freien Natur, oftmals auf abgelegenen Waldlichtungen. Nicht wenige Religionsforscher sahen in ihm das Vorbild für die nordische Gottheit Freyr, die zur Zeit der Wikinger einen hohen Stellenwert genoss.

Auf den wenigen Abbildungen, die es von Cernunnos gab, wurde er zumeist als großer, bärtiger Mann dargestellt, der ein Hirschgeweih trug. Seine Aufgabe war es, die Natur zu schützen, ein Mittler zwischen Leben und Tod zu sein, und aus diesem Grund hatte er in den letzten Jahren vor allem unter esoterisch veranlagten Umweltschützern eine Renaissance erlebt.

Alles Quatsch und Dinge, über die die eher bodenständigen Einheimischen den Kopf schüttelten.

Die meisten Menschen hier, die nicht vom Tourismus lebten, waren einfache Arbeiter und Angestellte, oftmals auch Bauern. Gute und hart arbeitende Leute, die sich normalerweise nicht um das kümmerten, was andere machten. Dennoch tratschten sie gerne. Jeder hatte Spaß daran, ein Gerücht zu streuen, über dessen Wahrheitsgehalt man abends bei einem Bier in der Dorfkneipe trefflich streiten konnte.

Wahrscheinlich, so spekulierten sie, hatte in der Gruppe jeder mit jedem Sex, und der Anführer musste eine Art Guru sein, der die komplette Kontrolle besaß. Sicherlich trugen die Fremden auch seltsame Gewänder, wenn sie unter sich waren, tanzten Hand in Hand im Mondlicht oder frönten sonderbaren Ritualen, bei denen sie auch illegale Substanzen konsumierten. Ganz gewiss musste jedes Mitglied Lampert seinen kompletten Verdienst überlassen.

Die Einheimischen meinten all dies nicht böse. Ihre Vorstellungen von Sekten waren in erster Linie durch Bhagwan und Scientology geprägt; vielleicht noch von den medienträchtigen Geschehnissen rund um den Sektenführer Jim Jones, in dessen Siedlung Jonestown 1978 neunhundertneun Menschen ums Leben kamen.

Niemand nahm das, was er in bierlauniger Runde sagte, wirklich ernst. Es war lediglich ein unterhaltsamer Zeitvertreib, wenn man gemütlich bei einem Jupiter oder Stella Artois zusammensaß und die belgische Fußballliga wie jetzt gerade Winterpause hatte.

Nun gut, sie waren vielleicht ein wenig merkwürdig, die Mitglieder von Cernunnos, und die Abgeschiedenheit des Ortes gab ausreichend Raum für Spekulationen, aber bedrohlich? Nein, das sicher nicht. Dachten sie, während sie sich den Bierschaum von den Lippen wischten.

Ihre Einstellung änderte sich erst, als an einem kalten Wintermorgen eine nackte Frauenleiche gefunden wurde, die mit dicken Zimmermannsnägeln an einen Baum unweit des Grundstücks genagelt worden war. Ihr schmaler Körper war mit zahlreichen Schnitten übersät, die Brüste waren abgetrennt. Eine Haube aus Schnee hatte sich auf ihre dunklen Haaren gelegt, die im Licht der frühen Morgensonne wie eine Krone glänzte – so als wollte die Natur die Tote nach all den erlittenen Qualen auch noch verspotten.

Die örtliche Polizei war mit der Situation heillos überfordert, dennoch fand sie drei Dinge recht schnell heraus: Die Tote hieß Valerie Wegmann, war siebenundzwanzig Jahre alt, Mitglied bei Cernunnos und hatte in Engelsgrund gelebt.

Sie war die erste Leiche.

Der Anfang.

Mit ihr begann, was so bald nicht enden würde.

Über Linus Geschke

Linus Geschke, 1970 in Köln geboren, arbeitet als freier Journalist für SPIEGEL ONLINE, das Manager Magazin und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Für seine Reisereportagen hat er zahlreiche Journalistenpreise gewonnen. Mit Tannenstein gelang ihm auf Anhieb der Sprung auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. Engelsgrund ist der dritte Teil seiner Trilogie um den Ex-Polizisten Alexander Born.

BERLIN
VIER TAGE SPÄTER

In der Nacht hatte es in der Hauptstadt geschneit, aber dann waren die Streufahrzeuge gekommen, der morgendliche Berufsverkehr hatte eingesetzt, und kurz danach sahen die eben noch so sauber wirkenden Straßen wie ein vollgepisstes Katzenklo aus.

Sie rochen auch so ähnlich.

Trotzdem liebte Alexander Born diese Stadt. Sie war seine Stadt, der Beginn seiner Existenz und gleichzeitig auch sein Verhängnis. Er liebte jeden schmutzigen, schäbigen Quadratmeter und lehnte Modernisierungsmaßnahmen ab. Er liebte Berlin gerade wegen, nicht trotz seiner Fehler, und diese Liebe war auch das Einzige, was in seinem Leben von Bestand war.

Der Rest?

Ein ewiges Auf und Ab, welches immer häufiger in Trostlosigkeit mündete. So wie jetzt, als er am Wohnzimmerfenster seiner Eigentumswohnung in Charlottenburg stand und überlegte, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte.

Er wusste es nicht.

Wenn er nicht auf die Uhr schaute, wusste er nicht einmal, wie spät es gerade war, und es spielte auch keine Rolle. Die Stunden glichen sich immer mehr an; sie gingen so ereignislos ineinander über wie die verwaschenen Farben eines Batik-T-Shirts.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der das noch anders gewesen war. Eine Zeit, in der Born ein Polizist gewesen war, fast so etwas wie der Star der Truppe. Er hatte bei der Sitte gearbeitet, oft undercover, und war dann zur Mordkommission gewechselt. In beiden Dezernaten hatte er für viele spektakuläre Festnahmen gesorgt. Unzählige Schulterklopfer hatten ihm eine große Karriere prophezeit, und eine Berliner Zeitung hatte ihn einen Helden genannt, als er mit seinem Team siebzehn rumänische Zwangsprostituierte aus einem Zehlendorfer Hinterhaus befreit hatte.

Als der damalige Berliner Oberbürgermeister (also jener Mann, der der Polizei ansonsten nur in den Rücken fiel) ihm während eines Besuches des Polizeipräsidiums vor laufenden Kameras die Hand schütteln wollte, hätte er dem Typen am liebsten öffentlichkeitswirksam eins auf die Fresse gehauen.

Born hatte früh erkannt, dass er mit seinem Tun nur die Symptome bekämpfte, nie die Ursachen. Ihm war mit den Jahren immer klarer geworden, dass sich kein Krimineller – zumindest nicht die wirklich harten Jungs – durch die Androhung einer Haftstrafe von irgendwelchen Straftaten abhalten ließ, niemals.

Diese Sprache verstanden sie einfach nicht. Sie taten, was sie taten, weil sie waren, was sie waren.

Abschaum.

Damit solche Leute verstanden, musste man sie an den Eiern packen, ihnen wehtun und ihnen das nehmen, was sie begehrten. Also begann er, mit schöner Regelmäßigkeit jenen zu schaden, die er sowieso für den Bodensatz der Gesellschaft hielt. Er klaute Drogenhändlern das Koks, Raubtätern die Beute und Clanmitgliedern die Waffen, um das Ganze anschließend an Dimitri Saizew zu verkaufen, einen Restaurantbesitzer mit guten Kontakten zum organisierten Verbrechen. Born wurde kriminell, um Kriminellen zu schaden, und war sich des darin enthaltenen Widerspruchs durchaus bewusst.

Anschließend hatte er mit dem Geld das gemacht, was er für das Richtige hielt – meist war es leider das Falsche. Er half Menschen, von denen er glaubte, dass sie seine Hilfe brauchten, und wurde von diesen Menschen verraten. Sein Tun flog auf, eine Suspendierung und die Anklage folgten, dann drei Jahre Haft in der Justizvollzugsanstalt Tegel, wo in seinem Inneren ein dunkles Wesen geboren wurde, das ihm fortan nicht mehr von der Seite wich. Als er vor zwei Jahren wieder freikam, gab es keine Chance mehr, in den Polizeidienst zurückzukehren.

Wieder das Richtige zu tun.

Man hatte ihn vom Schiff der Guten gestoßen. Danach hatte er hilflos im Ozean getrieben und erkannt, dass die Guten nicht mehr zurückkommen würden. Als dann plötzlich eine Piratenflagge am Horizont auftauchte, hatte er sich entscheiden müssen: an Bord gehen oder absaufen.

Er hatte seine Wahl getroffen, und dennoch vermisste er das Schiff der Guten jeden Tag. Vor allem das damit verbundene Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen und nicht gezwungen zu sein, ein Leben in unterschiedlichen Grautönen zu führen, wo ein Tag dem anderen glich, die Freunde immer weniger wurden und die Zukunft noch trostloser erschien als jene des Schnees, der sich vor seinen Augen langsam in Matsch verwandelte.

Borns Dilemma war: Er war ein Mann, der genau wusste, was er wollte, aber erkannt hatte, dass er es nicht mehr bekommen würde. Für ihn gab es kein Schwarz oder Weiß mehr, nur die Schattierungen dazwischen, was es so unglaublich schwer machte, jeden Tag das Richtige zu tun.

Also tat Born gar nichts mehr. Dank der Wohnung, die er von seinen Eltern geerbt hatte, und einiger Aktienpakete hatte er zumindest keine finanziellen Sorgen, und ab und zu gab es sogar in diesem Leben Momente des Glücks. Aber selbst die schönsten Momente waren letztendlich nur Momente, und naturgemäß dauerten sie nicht ewig.

Dann kam die Tristesse wieder.

Die dumpfe Orientierungslosigkeit und das Gefühl, versagt zu haben.

Mitten in diese Überlegungen hinein klingelte es. Born ignorierte das erste Läuten und das zweite; wahrscheinlich nur der Briefträger. Erst beim dritten stand er auf und drückte den Türöffner. Hörte das Summen an der Haustür und schnelle, klackernde Schritte.

Schuhe mit Absätzen, dachte er.

Eine Frau.

Wenn Born gemeint hatte, ihm gehe es dreckig, war das augenscheinlich nichts gegen Carla Diaz, die kurz darauf vor seiner Wohnungstür stand. Das Gesicht der sonst so attraktiven Halbspanierin war von kleinen Fältchen durchzogen, die bei ihrer letzten Begegnung noch nicht da gewesen waren. Die Haut sah blass und teigig aus, und dunkle Ringe breiteten sich unter ihren Augen aus. Die Gesichtszüge waren versteinert, die Lippen zusammengekniffen.

Ein Anblick, der ihm Sorgen machte.

Gemeinsam mit Carla hatte er früher bei der Sitte gearbeitet, und sie war eine der wenigen Freunde, die ihm aus dieser Zeit noch geblieben waren. Ohne sie hätte er Finsterthal nicht überlebt, so einiges andere wohl auch nicht. Carla war einer der stärksten Menschen, die er kannte, stets furchtlos und loyal, und er fragte sich, was ihr die Energie geraubt hatte, die sie sonst immer ausstrahlte.

»Kaffee?«, fragte er nur.

Sie nickte und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo sie sich kraftlos aufs Sofa fallen ließ. Carla war nicht nur müde; sie wirkte auch nervös, beunruhigt und verstört. Schlug die Beine übereinander, überlegte es sich anders, stellte sie wieder nebeneinander.

»Was ist passiert?«, fragte Born, als er kurz darauf mit zwei dampfenden Tassen zurückkam. »Stress auf der Arbeit, oder ist …«

»Es war übel, Born«, sagte sie tonlos. Nur diese vier Worte, und das machte ihm Angst.

Aus ihrer gemeinsamen Arbeit wusste er, dass Carla eine harte Polizistin war, tough und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. In ihrer Laufbahn war sie schon mit etlichen Grausamkeiten konfrontiert gewesen. Sie hatte wehrlose Rentner gesehen, deren Kopf mit einem Baseballschläger zertrümmert worden war, oder tote Babys, die wie Abfall weggeworfen in Mülltonnen lagen. Sie wusste, wie missbrauchte Frauen aussahen, brutal zusammengeschlagene Männer oder elendig krepierte Junkies, denen noch die Spritze im Arm steckte, während ihnen das Erbrochene aus dem Mundwinkel lief.

Nie war sie deshalb zusammengebrochen, niemals. Auch nicht, als Born in Finsterthal einen Menschen getötet hatte. Carla hatte alles weggesteckt, immer, doch jetzt benahm sie sich, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

»Was ist passiert?«, fragte er noch einmal.

Sie beugte sich vor, bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Es ist vier Tage her, und es war grauenhaft«, sagte sie. »Eine der schlimmsten Sachen, die ich je gesehen habe, und du weißt, ich habe einiges gesehen. Ziemlich grausame Dinge, aber das hier war anders. Es geht …« Sie brach ab, schüttelte den Kopf, und er hakte nicht nach. Ließ ihr die Zeit, die sie brauchte.

»Da war eine junge Frau Mitte zwanzig«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. »Sie war nackt. Irgendwer hat sie mitten im Wald an einen Baum genagelt, hat ihr sechs lange Nägel durch Arme und Beine getrieben. Durch das Fleisch. Bevor sie gestorben ist, haben der oder die Täter ihr noch die Brüste abgetrennt und den Körper mit Messerschnitten verunstaltet.« Ein tiefer Atemzug. »Üble Typen, Born. Das waren richtig üble Typen. Psychopathen von der schlimmsten Sorte.«

Er kramte in seinem Gedächtnis, fand aber nichts. »Und das Ganze ist vier Tage her?«

Sie nickte.

»Warum habe ich dann noch nichts in der Zeitung gelesen?«

»Es ist nicht hier passiert. Nicht in Berlin. Es war kurz hinter der belgischen Grenze. Am Rande der Ardennen.«

Er sah sie verwundert an. »Was hast du mit einem Mord in Belgien zu tun?«

»Die Tote heißt Valerie Wegmann, und sie war Mitglied in einer Sekte, die sich Cernunnos nennt. Irgendwelche Umweltaktivisten, die von einem Leben im Einklang mit der Natur träumen.«

»Carla, noch einmal: Was hast du damit zu tun?«

»Malin ist …«, erwiderte sie, bevor ihr die Stimme versagte.

»Was ist mit deiner Tochter?«

Carla griff sich an den Mund und quetschte die Unterlippe zusammen. »Malin ist dort ebenfalls Mitglied«, sagte sie dann. »Bei Cernunnos, meine ich. Was, wenn es irgendein Irrer auf die Sektenmitglieder abgesehen hat? Was, wenn sie das nächste Opfer ist?«

Born sagte nichts. Er hatte noch nie gut damit umgehen können, wenn andere Menschen ihm von ihren Sorgen erzählten. Nicht, weil es ihm an Mitgefühl mangelte, sondern weil er in solchen Momenten stets das Gefühl hatte, nicht die richtigen Worte zu finden.

Dann räusperte er sich, um das Gefühl der Beklemmung abzuschütteln. »Woher weißt du überhaupt, dass Malin in dieser Sekte ist? Ich dachte, ihr habt seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr.«

»Sie ist mein Baby, Born, und das bleibt sie auch. Trotz allem. Ich liebe sie. Und ist es nicht das Wesen der Liebe, niemals den Menschen aufzugeben, dem man sein Herz geschenkt hat? Immer nach diesem Menschen zu sehen und auf ihn aufzupassen, so schwierig es auch sein mag?«

»Wahrscheinlich«, sagte er. »Zumindest sollte es so sein.«

»Ich habe auf sie aufgepasst, wenn auch nur aus der Ferne. Nachdem Malin kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag ausgezogen ist, haben wir anfangs noch regelmäßig telefoniert und uns ab und zu in einem Café getroffen. Natürlich habe ich sie jedes Mal gefragt, was sie gerade macht oder wo sie jetzt wohnt, aber Malin … Sie hat mir gegenüber dichtgemacht. Wollte nichts erzählen. Sie meinte nur, dass es ihr gutgehe und ich mir keine Sorgen machen müsse. Sie hat auch gut ausgesehen und glücklich gewirkt, also dachte ich, ihre Verschlossenheit wäre nur eine Phase, das ginge vorbei. Aber es wurde immer schlimmer. Zuerst hat sie die Treffen abgesagt und dann auch nicht mehr auf meine Anrufe reagiert. Ich war so verzweifelt, dass ich angefangen habe, sie zu suchen – kurz nachdem wir in Finsterthal waren.«

»Und dann?«

»Bin ich auf eine ihrer früheren Freundinnen gestoßen, mit der Malin wohl noch eine Zeit lang Kontakt hatte. Von ihr habe ich erfahren, dass Malin sich einer Sekte angeschlossen hat und dass sie jetzt in Belgien auf einem Anwesen lebt, das sich Engelsgrund nennt.« Carla zog scharf die Luft ein. »Meine Tochter ist in einer gottverdammten Sekte, Born! Kannst du dir das vorstellen?«

Weil er wieder nicht wusste, was er sagen sollte, trank er einen Schluck Kaffee, um die Stille zu überbrücken. Mittlerweile war das Gebräu bitter geworden, es schmeckte ekelig.

»Ich bin noch am selben Tag in die Ardennen gefahren, um sie da rauszuholen. Das ist jetzt ein halbes Jahr her«, fuhr Carla fort. »Als ich dort ankam, hatte ich eigentlich mit Gegenwehr gerechnet. Du weißt schon, irgendwas in der Art, dass diese Sektenleute mich nicht zu Malin oder auf das Gelände lassen. Aber so war es nicht. Ich habe geklingelt, sie haben geöffnet, und dann konnte ich mit Malin sprechen, einfach so. Sie hat sich ein paar Minuten lang angehört, was ich zu sagen hatte, und meinte dann, dass sie dort glücklich sei und dass dies genau das Leben sei, das sie führen will.«

»Hast du ihr geglaubt?«

Carla zuckte die Schultern. »Ich kann es nicht genau sagen. Sie war mir … ich weiß auch nicht … vollkommen fremd, irgendwie nicht greifbar und gleichzeitig so beseelt, als wäre sie im Besitz einer Wahrheit, die mir verborgen ist. Hätte sie mir wie sonst immer Vorwürfe gemacht, mich angeschrien und eine schlechte Mutter genannt, okay, damit hätte ich umgehen können, aber mit so was? Keine Chance.«

»Und dann?«

»Was schon? Ich habe natürlich versucht, ihr klarzumachen, dass das Ende solcher Gruppierungen nie so friedlich verläuft wie der Anfang. Dass sie hier nur ihre Zukunft wegschmeißt, um einer Ideologie zu folgen, in der das Individuum nichts zählt, nur der Wille des Meisters – oder wie auch immer sie diesen Typen an der Spitze nennen, der sich so aufspielt, als hätte er als Einziger den Sinn des Lebens verstanden.«

»Und Malin?«

»Sie hat sämtliche Argumente weggelächelt und behauptet, dass sie und die anderen Bekloppten dort diejenigen seien, die irgendwann die Welt retten, indem sie die Menschheit ›zurück zu einem natürlichen Leben‹ führen. Sie wollte tatsächlich, dass ich selbst mit diesem Maurice Lampert spreche, weil es auch für mich nicht zu spät sei, ›die Wahrheit zu erkennen‹.«

»Und, hast du?«

Carla schüttelte den Kopf. »Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nachdem Malin und ich eine Zeit lang gestritten haben, kam eines der anderen Sektenmitglieder angerauscht und hat mich aufgefordert, das Gelände zu verlassen. Ich wollte aber nicht gehen. Der Typ hat mich am Arm gepackt, ein wenig unsanft vielleicht, und dann … na ja, dann bin ich wohl ausgerastet und habe ihm eine verpasst.«

»Du hast was

Sie sah ihn mit Augen an, die schwarz wie Kohlen waren. »Er hat mich festgehalten, und ich habe mit dem Ellbogen nach hinten geschlagen. Dummerweise genau da hin, wo sein Gesicht war. Das Ende vom Spiel war dann, dass ich Hausverbot bekommen habe und Malin sogar versucht hat, ein Kontaktverbot gegen mich zu erwirken. Das hat nicht geklappt, aber gegen das Hausverbot kann ich nichts machen. Ich habe ja nichts in der Hand. Gegen die Sekte wird von Amts wegen nicht ermittelt, und Malin ist volljährig. Rechtlich betrachtet, kann sie tun und lassen, was sie will.«

»Und wie passt jetzt die Tote dazu, diese …?«

»Valerie Wegmann?«

Born nickte.

»Als ich nach meinem Besuch wieder zurück in Berlin war, habe ich als Erstes einen Google Alert eingerichtet, der mich seitdem mit allen Neuigkeiten versorgt, die rund um die Sekte in den Medien auftauchen. Darüber habe ich dann vor drei Tagen von dem Mord erfahren. Natürlich bin ich noch am selben Tag erneut nach Engelsgrund gefahren, um mit Malin zu sprechen. Aber sie haben mich nicht mehr auf das Gelände gelassen und gesagt, dass Malin nicht mit mir reden will. Ich habe rumgeschrien und gewütet, aber es half nichts. Irgendwann habe ich aufgegeben und bin nach Berlin zurückgekehrt, um in Ruhe nachzudenken. Zwei Tage lang, und das Ergebnis meiner Überlegungen hat mich dann zu dir geführt.«

Born schwieg.

Sie sah ihn an.

Er schwieg weiter.

»Sag was«, forderte sie ihn auf.

Er seufzte. »Was genau erwartest du jetzt von mir?«

»Gar nichts. Ich möchte dich nur um etwas bitten.«

»Das ist das Gleiche, nur höflicher ausgedrückt.«

Zum ersten Mal lächelte Carla. »Fahr nach Belgien, Born. Hol Malin da raus und sorg dafür, dass sie nicht länger in Gefahr ist. Wenn einer das kann, dann du. Sie hat dich früher immer gemocht, weißt du noch?«

Natürlich wusste er das; mit seinem Gedächtnis war schließlich alles in Ordnung. Außerdem wusste er, dass er nicht nach Belgien fahren wollte, um sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen, es aber trotzdem tun würde. Ihm blieb gar keine Wahl.

Es gab viele Arten von Schuldscheinen, und nicht alle hatten mit Geld zu tun. Manche vergaß man, andere verdrängte man, aber irgendwann kam die Zeit, in der man sie begleichen musste.

»In Ordnung«, sagte er. »Ich schaue, was ich tun kann.«

»Ernsthaft?«

»Natürlich.«

»Wann fahren wir?«

»Von wir war nie die Rede.«

Carla kniff die Augenbrauen zusammen, und eine Zornesfalte grub sich in ihre Stirn. »Muss ich dich daran erinnern, was für ein gutes Team wir sind? An unsere Zeit bei der Sitte? An Finsterthal? Komm schon, Born – zusammen sind wir einfach effektiver.«

Er wusste, dass sie recht hatte.

Sie hatte meistens recht.

»Du bleibst hier«, sagte er dennoch. »Malin ist deine Tochter, und wenn es um die eigene Familie geht, kann man nicht mehr klar denken. In Belgien wärst du mir nur ein Klotz am Bein. Ich kann Malin da nicht rausholen, wenn ich gleichzeitig ständig Angst haben muss, dass du wieder überreagierst.«

»Fick dich, Born!«, explodierte sie. »Du klingst wie eine Ratgebertante in irgendeinem billigen Frauenmagazin, aber ich …«

Er sah sie durchdringend an, und das brachte sie zum Schweigen. »Ich fahre alleine, oder ich fahre gar nicht«, sagte er mit Nachdruck. »Und wenn du mir helfen willst, sie da rauszuholen, musst du mir jetzt alles erzählen, was du sonst noch weißt. Über den Mord, über die Sekte und vor allem natürlich über diesen Maurice Lampert.«

BERLIN

Carla drehte langsam durch. Born war schon den zweiten Tag fort, ohne sich gemeldet zu haben. Sie hatte unzählige Male versucht, ihn anzurufen, und ihm Nachrichten im Halbstundentakt geschickt. Aber er antwortete nicht, hatte das Handy entweder ausgeschaltet oder befand sich in einem Gebiet, in dem er keinen Empfang hatte.

Warum machte er das? Konnte er sich nicht denken, dass sie die ganze Zeit nur auf ihr Telefon starrte, als könnte sie es alleine durch die Kraft der Gedanken zum Klingeln bringen? Dass sie immer und immer wieder das Display einschaltete, weil sie der Gedanke irre machte, das kleine Blinken übersehen zu haben, mit dem sich üblicherweise eine neue WhatsApp-Nachricht ankündigte? Schon wieder wollte sie zum Smartphone greifen, überlegte es sich aber anders. Ihr Verstand sagte ihr, dass es keinen Sinn hatte, es wieder und wieder zu versuchen. Wenn Born einen Fortschritt erzielte oder Neuigkeiten hatte, würde er sich schon melden, bis dahin wollte er seine Ruhe haben und empfand jede Störung nur als unnötige Ablenkung. So war er schon früher gewesen, als sie bei der Sitte zusammengearbeitet hatten, und hatte damit sämtliche Vorgesetzten in den Wahnsinn getrieben.

Ihm war das egal gewesen – wenn er ein Ziel verfolgte, blendete er den Rest der Welt einfach aus und empfand alles, was ihn von seiner Aufgabe ablenken konnte, als Ballast. Vor allem Dinge, die seiner Meinung nach so unnütz waren wie ein Mobiltelefon.

Keine Frage, er war ein Dinosaurier.

Aber einer von der wehrhaften Sorte.

Ein gottverdammter T-Rex.

Um in der Zwischenzeit nicht gänzlich untätig zu sein, fuhr Carla den Rechner hoch und versuchte, im Internet weitere Informationen über Maurice Lampert zu finden. Sie wusste bereits, dass er ein zweiundvierzigjähriger Belgier war, aus Zolder stammte und sein Geld früher mit einem Softwareunternehmen verdient hatte, das komplizierte Lösungen für noch kompliziertere Probleme anbot. Die meisten Begriffe waren ihr fremd, aber sie verstand zumindest, dass es bei dem Unternehmen in erster Linie um den Schutz sensibler Firmendaten gegangen war. Um Firewalls und Sicherungen gegen aggressive Bots beispielsweise, die ganze Netzwerke lahmlegen konnten.

Ziemlich technologieorientiert für jemanden, der jetzt die Technik verdammte und mit seiner Sekte zurück zur Natur wollte.

Anschließend klickte sie sich durch alte Presseberichte, in denen stand, dass er die Firma, die er gemeinsam mit einem Partner betrieben hatte, vor zwölf Jahren für dreiundzwanzig Millionen Euro verkauft hatte. Acht Jahre danach hatte er Cernunnos gegründet, jene Gruppierung, auf deren Führung er sich nun konzentrierte.

Seit der Zeit des Firmenverkaufs gab es auch keine Fotos und Interviews mehr mit ihm. Lampert schien sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen zu haben, und dieser Umstand gefiel Carla nicht.

Ganz und gar nicht.

Wenn seine Idee von einem Leben im Einklang mit der Natur wirklich so harmlos war, gab es nicht den geringsten Grund, sich so abzuschotten. Dann müsste Lampert doch eher versuchen, seine Idee einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, um weitere Menschen von ihr zu überzeugen. Das tat er aber nicht. Stattdessen hatte er sich hinter die gut geschützten Mauern eines ehemaligen Sanatoriums zurückgezogen, wo er mit seinen Anhängern … keine Ahnung, Gott weiß was tat.

Mit Malin.

Noch so ein Gedanke, den Carla gar nicht erst zu Ende denken wollte.

Obwohl sie mit ihrer Tochter in den letzten Jahren kaum noch Kontakt gehabt hatte, liebte sie sie abgöttisch. Immer, wenn sie die Augen schloss, tauchte Malins Gesicht in ihren Gedanken auf, und jedes Mal erinnerte sie sich an etwas anderes.

An den sanften Windhauch, der ihr durch die Haare fuhr, während sie als Kind mit anderen Kindern über den Spielplatz tobte.

An den Umriss ihres schmalen Körpers, der sich grell gegen die geballten Wolkenmassen am Horizont abzeichnete, als sie an einem verregneten Novembermorgen zur Schule ging.

An den Eyeliner, den Malin mit dreizehn in einem Drogeriemarkt geklaut hatte, weil Carla ihr noch keinen kaufen wollte, und dabei sofort erwischt worden war.

Tausend unterschiedliche Sachen, die meisten davon belanglos; mal ein schnippisches Wort, mal ein unbeschwertes Lachen, oft auch nur ihr schlafendes Gesicht, ganz friedlich.

So verdammt lange her.

Carla wusste, dass sie viel falsch gemacht hatte, und ja, an manchen Tagen war es unglaublich schwer gewesen, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Noch schwerer war es, wenn einem das eigene Kind diesen Umstand ständig zum Vorwurf machte. Auch sie hätte die Verantwortung gerne mit einem Partner geteilt, aber das hatte sich leider nicht ergeben. Deshalb war Carla gezwungen gewesen, alles in einer Person zu sein: der gute und der böse Bulle, Erzieherin und Ernährerin, Freundin und Feindin, und ständig hatte eine dunkle Wolke voller Schuldgefühle über ihr geschwebt.

Sie hatte Schuldgefühle gehabt, weil sie ihre Tochter vernachlässigte, wenn sie arbeiten ging. Weil sie sich nie wirklich Mühe gegeben hatte, einen neuen Vater zu finden. Weil sie … einfach wegen allem.

Und jetzt?

War Malin auf der Flucht vor irgendwas, wahrscheinlich vor sich selbst. Diese Flucht hatte sie mitten in die Einöde geführt, wo sie nun einem Mann folgte, von dem Carla nichts wusste, der aber ganz gewiss nichts Gutes im Schilde führte. Das Schlimmste aber war, dass Carla jetzt tatenlos hier rumsitzen musste, die Hände in den Taschen vergraben, abwartend und mit verzweifelten Gedanken im Kopf.

Das war nicht gut.

Ganz und gar nicht gut.

Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der es gewohnt war zu handeln, sobald Probleme sich abzeichneten. Niemand, der den Kopf in den Sand steckte und darauf vertraute, dass andere Menschen das Problem schon lösten. Einfach dasitzen und abwarten lag ihr nicht, doch was sollte sie stattdessen tun?

Die einzige Alternative wäre, gemeinsam mit Born wie eine durchgedrehte Jeanne d’Arc die Mauern von Engelsgrund zu stürmen, um ihre Tochter zu retten, womit sie wahrscheinlich alles nur noch schlimmer machte.

Und so saß sie da und …

… wartete.

Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde.

Wenn man so verzweifelt auf etwas wartete, wurde die Zeit zur Qual. Die Zeiger der Uhr bewegten sich zäh wie Kaugummi, ein einziger Tag glich einer ganzen Ewigkeit, und seit der Nachricht über Valeries Ermordung war Carla in den finstersten Bereichen dieser Ewigkeit angekommen. Sie konnte nur hoffen, dass Born sich endlich meldete, bevor sie vollends den Verstand verlor.

Fuck.

ARDENNEN

In der Nacht hatte Born unruhig geschlafen. Sein Hotelzimmer war zwar halbwegs komfortabel eingerichtet, über die Jahre jedoch abgewohnt und renovierungsbedürftig geworden, was auch für das durchgelegene Bett galt, in dem sein Körper eine ausgeprägte Kuhle hinterlassen hatte.

Born ging ins Bad und machte sich frisch. Dann zog er die Vorhänge zur Seite und blickte aus dem Fenster. Sah, dass der Morgen sich auf jener schmalen Grenze bewegte, die die Nacht vom Tage trennte; ein diffuses Zwielicht, das nicht gerade zur Steigerung seiner Laune beitrug.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach sieben. Bis zu dem Treffen mit Malin dauerte es noch zehn Stunden, und die musste er irgendwie hinter sich bringen, wobei die Möglichkeiten hier in Malmedy eher begrenzt waren.

Er konnte in ein Museum gehen oder sich irgendeine Dokumentation über die Kriegsgeschehnisse der Ardennenoffensive angucken. Er konnte spazieren gehen und sich anschließend in dem kleinen Massagestudio, an dem er gestern vorbeigekommen war, durchkneten lassen. Den ganzen Tag auf dem Bett liegen und fernsehen.

Er konnte mit der Zeit aber auch etwas Sinnvolleres anfangen und dem Tierheim, in dem Valerie gearbeitet hatte, einen Besuch abstatten, um ein paar Fragen zu stellen.

Nur so, dachte er.

Aus Langeweile.

Um die Zeit totzuschlagen.

Er hatte das Gelände kaum betreten, als schon eine Mitarbeiterin des Tierheims auf ihn zukam. Born schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie trug einen dicken Wollpulli und eine beigefarbene Latzhose, ihre Frisur bestand aus kunstvollen Dreadlocks.

»Sie suchen einen Hund, nicht wahr?« Ihr Lächeln war offen und ehrlich. »Einen großen, mit dem man prima durch die Wälder streifen kann, stimmt’s? Wir haben hier ganz sicher genau den richtigen für Sie.«

»Ich suche keinen Hund. Ich suche …«

»Doch, das tun Sie!«

Born musste lachen. »Und wie kommen Sie darauf?«

Sie verschränkte die Arme und betrachtete ihn von oben bis unten. »Klare Sache: Sie sind nicht so der Katzentyp. Nein, das sind Sie sicher nicht. Was Sie wollen, ist ein Hund. Kein kleiner, der würde nicht zu Ihnen passen. Ich würde auf einen Rottweiler oder einen Rhodesian Ridgeback tippen, vielleicht auch auf einen Schäferhund oder Malinois. Und – habe ich recht?«

»Ganz generell betrachtet? Haben Sie«, grinste er, um dann wieder ernst zu werden. »Aber ich bin leider nicht wegen eines Tieres hier, sondern wegen Valerie Wegmann. Mein Name ist Alexander Born, und ich suche jemanden, der sie gekannt hat. Jemand, der mir ein paar Fragen beantworten kann.«

Dreadlock machte große Augen. »Uh – deutsche Polizei?«

»So ungefähr«, wich er aus. »Ich nehme an, die belgischen Kollegen haben Sie schon befragt?«

Sie nickte.

»Dann ist es simpel. Erzählen Sie mir einfach, was Sie ihnen gesagt haben.«

»Okay, ich … Dann kommen Sie einfach mit.«

Born folgte ihr in ein kleines Gebäude, nicht viel größer als ein Gartenhäuschen, das dem Tierheim wohl als Büro diente. Gegenüber der Eingangstür stand ein abgenutzter Schreibtisch aus Holz, darauf ein Laptop. Außerdem gab es drei einfache Stühle und einen offenen Aktenschrank, der mit Ordnern vollgestopft war. Man sah der Einrichtung an, dass die Organisation mit einem kleinen Budget auskommen musste, aber Born schätzte, dass es anderen Tierheimen ähnlich erging.

»Ich bin übrigens Ella, Ella Wouters«, sagte Dreadlock, nachdem sie sich gesetzt hatten, »und wahrscheinlich habe ich Valerie besser gekannt als jeder andere hier, obwohl das nicht viel zu sagen hat.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube, niemand hat sie wirklich gekannt. Sie war immer recht verschlossen, wenn es um Privates ging, aber davon abgesehen, war Valerie ein wirklich lieber Mensch. Sie war gut zu den Tieren und freundlich zu den Kunden, darauf kommt es hier an. Ich verstehe das nicht, ich … Was für ein Monster hat ihr das nur angetan?«

Er könnte ihr erklären, welche Menschen für solche Taten meist verantwortlich waren, aber die Antwort würde zu lange dauern. Außerdem wollte er nicht dafür verantwortlich sein, wenn Ella in den nächsten Nächten Albträume bekam. »Was wussten Sie von der Sekte, der Valerie angehört hat? Hat sie mit Ihnen über Cernunnos gesprochen?«

»Nur selten. Sie hat die Gruppe zwar nie als Sekte bezeichnet, aber genau darauf lief es wohl hinaus. Wenn ich sie mal gefragt habe, wie ihr Leben in Engelsgrund denn aussehen würde, hat sie nur ausweichend geantwortet. Man hat gemerkt, dass sie mit anderen nicht gerne darüber spricht.« Ella legte eine kurze Pause ein. »Glauben Sie, dass diese Leute sie umgebracht haben?«

»Gibt es denn einen Grund für die Annahme? Hat Valerie Angst gehabt?«

»Sie meinen, vor der Sekte? Weil sie so ungern darüber sprach?«

Er nickte.

»Nein, das nicht. Ich denke, es war ihr vor uns nur irgendwie peinlich.« Sie lächelte verlegen. »Wissen Sie, als Valerie hier angefangen hat, hat sie uns noch überreden wollen, sie mal in Engelsgrund zu besuchen und uns anzuhören, was der Oberheini da zu sagen hat. Aber nachdem nur blöde Sprüche kamen, hat sie es recht schnell aufgegeben.«

Er sah sie fragend an.

Sie kniff die Lippen zusammen, die Erinnerung daran war ihr sichtlich unangenehm. »Die meisten Leute, die hier mitmachen, haben einen eher alternativen Lebensstil«, sagte sie. »Wer in einem Tierheim arbeitet, tut das ja nicht, weil der Verdienst so toll ist, sondern weil er darin auch eine Art Berufung sieht. Aber Valerie … na ja, das mit Cernunnos ging halt noch eine Spur weiter.«

»Was genau soll das heißen?«

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber es ist wohl die eine Sache, an etwas zu glauben, das man für richtig hält, und eine andere, sich deshalb einer Gemeinschaft anzuschließen, die sektenähnliche Züge hat.«

Er nickte.

»Wir haben sie deshalb manchmal ein wenig auf den Arm genommen. Nicht bösartig, eher … na ja, wie Kollegen das eben so machen. Ich glaube, dass es Valerie deshalb einfach vermieden hat, mit uns über Cernunnos zu sprechen. Jetzt wünschte ich, wir hätten das nicht gemacht und wären stattdessen mehr auf sie zugegangen.« Tränen traten in Ellas Augen. »Wenn wir ihr damals nur mehr zugehört hätten … besser auf sie eingegangen wären … dann wäre sie vielleicht noch …«

»Nein, wäre sie nicht! Was Valerie zugestoßen ist, hatte ganz sicher nichts mit Ihnen zu tun. Auch nicht mit ihrer Arbeit im Tierheim.« Borns Stimme wurde sanfter. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Ella. Ich denke nicht, dass Sie hätten verhindern können, was geschehen ist.«

Sie nickte und lächelte, aber die Selbstvorwürfe würden bleiben. Das taten sie immer. Wenn etwas Schlimmes passiert war, wenn die Dinge gewaltig aus dem Ruder liefen, fragte man sich im Nachhinein automatisch, was man hätte anders machen können, um das zu verhindern. Jeder Mensch tat das, und die Antwort war fast immer: nichts. Jede Handlung im Leben war die Folge von etwas, und die Anfänge kannten das Ende nicht.

Born wechselte das Thema. »Hat Valerie eigentlich einen Freund gehabt? Oder gab es einen Ex-Freund, der ihr Stress gemacht hat? Vielleicht sogar in Engelsgrund?«

Wieder ein Kopfschütteln. »Valerie stand nicht auf Männer. Sie war lesbisch.«

»Das wissen Sie sicher?«

Ella nickte und grinste verlegen. »Letztes Jahr, auf der Weihnachtsfeier … Wir hatten zu viel getrunken, und als die Feier vorbei war, wollte ich noch ein wenig aufräumen und den größten Dreck beseitigen, bevor nach Neujahr die ersten Kunden kommen. Valerie hat angeboten, mir dabei zu helfen, und da … na ja, da ist es halt passiert.«

»Sie hatten …?«

»Ja, wir hatten, obwohl ich sonst eher auf Männer stehe. Ich habe mit Valerie anschließend darüber gesprochen, und da sagte sie mir, dass sie an Männern kein sexuelles Interesse habe, noch nie.«

Born lehnte sich zurück und atmete durch. Er hatte bei dem Mord sowieso nie an eine Beziehungstat geglaubt. Niemals. Jetzt, nach Ellas Aussage, konnte er diese Möglichkeit erst recht ausschließen.

Eine Frau tötete nicht auf die Weise, auf die Valerie ermordet worden war. Fast nie. Das war eine Erkenntnis, die nicht auf irgendwelchen Vorurteilen beruhte, sondern das Ergebnis unzähliger Kriminalstatistiken.

Was ihn wieder auf Cernunnos brachte. Die Sekte. Born war sich sicher, dass hier das Motiv zu finden war, zu vieles sprach dafür. Die Art, wie Valerie gestorben war, und auch der Ort, an dem man ihre Leiche gefunden hatte. Obwohl Carla ihm Cernunnos als eine zwar seltsame, aber im Grunde genommen harmlose Gemeinschaft geschildert hatte, musste mehr dahinterstecken.

Nur was?

Er hatte keine Ahnung, hatte bislang aber auch nicht tief genug gegraben.

Das würde er nachholen.

Später, wenn er Malin traf.

»Hat Valerie mal erzählt, was die Mitglieder den ganzen Tag über tun?«, fragte er. »Wie sie leben oder wie die Gemeinschaft organisiert ist?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, wohnen in Engelsgrund gut fünfzig Männer und Frauen, die sich immer zu zweit ein Zimmer teilen«, sagte Ella. »Vom Alter her ist die Gruppe wohl bunt gemischt. Ein paar von ihnen arbeiten auf dem Gelände, die anderen – wie Valerie – außerhalb. Sie pflanzen ihr eigenes Gemüse an, ernähren sich vegetarisch und versuchen, so wenig Emissionen wie möglich zu erzeugen. Angeblich ist dort alles auf Nachhaltigkeit ausgelegt und auf eine Abkehr von dem Leben, wie es in der westlichen Welt üblich ist.«

Er sah sie fragend an.

»Na ja, sie sagte, dass selbst Technik, die ursprünglich sinnvoll war, mittlerweile nicht mehr dem Menschen dient, sondern der Mensch der Technik. Unser ganzes Dasein sei nur noch auf Konsum ausgerichtet, und irgendwie hatte sie damit ja auch recht. Andauernd neue Klamotten, alle zwei Jahre ein neues Smartphone … So ganz kann ich mich davon auch nicht freisprechen.«

»Valerie hat also von einer besseren Welt geträumt?«

Sie lächelte. »Tun Sie das nicht?«

»Doch, aber ich habe gelernt, dass wir mit der Welt, die wir haben, wohl leben müssen.«

Wieder ein Lächeln »Das klingt ganz schön pragmatisch.«

»Nennen wir es realistisch.« Born räusperte sich. »Wenn diese Gruppe so gegen Technik ist, wie ist Valerie dann jeden Morgen nach Malmedy und abends zurück nach Engelsgrund gekommen? Zu Fuß oder mit dem Fahrrad dürfte das kaum möglich gewesen sein, gerade jetzt im Winter.«

»Sie hatte ein kleines Elektroauto, einen Renault Zoe. Es gibt da wohl einen Fuhrpark mit ein paar Fahrzeugen, die die Mitglieder nutzen können, wenn sie außerhalb des Anwesens arbeiten oder Besorgungen machen müssen.«

»Elektroautos sind auch Technik, und der dafür notwendige Strom muss auch irgendwie produziert werden.«

»Ich weiß. Jeder will zurück zur Natur, aber keiner zu Fuß.«

»Was war denn mit ihrem Gehalt?«, wechselte er dann das Thema. »Ging ihr Lohn auf ein privates Konto oder auf das von Cernunnos?«

»Direkt auf das der Gruppierung. Das war übrigens auch einer der Gründe, weshalb wir manchmal dumme Sprüche gemacht haben. So von wegen: Du musst wohl alles deinem Guru geben, damit der sich den nächsten Rolls-Royce kaufen kann.«

Bhagwan, dachte Born und freute sich insgeheim, dass er mit seinen Vorurteilen Sekten betreffend nicht allein war. Seiner Meinung nach ging es den Anführern selten um eine bestimmte Ideologie, sondern immer nur um Macht und Geld. Dominanz. Das Gefühl, auf Erden wie Gott zu sein.

Er überlegte gerade, was er Ella noch fragen konnte, als hinter ihnen die Tür aufging. Ein schmalschultriger Typ, der trotz seines recht jugendlichen Alters ausgeprägte Geheimratsecken hatte, steckte den Kopf herein und sagte: »Hey, Ella, da sind Leute wegen Felix da. Sie sagen, sie hätten gestern schon mit dir gesprochen.«

»Ich komme gleich«, erwiderte sie. Dann war der Kerl auch schon verschwunden.

»Lassen Sie sich nicht von der Arbeit abhalten«, sagte Born. »Ich denke, wir sind sowieso fertig.«

Ella zögerte kurz, dann sagte sie: »Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen?«

»Natürlich.«

»Ich habe mitbekommen, was … was diese Schweine Valerie angetan haben. Dass man sie an einen Baum geschlagen und ihr die Brüste abgetrennt hat. Sie haben mir vorhin keine Antwort gegeben, also frage ich noch mal: Was für ein Mensch macht so etwas?«

»Ein böser«, erwiderte Born. »Ein richtig böser! Und wenn Sie einen Rat wollen: Halten Sie sich von Cernunnos fern. Ich glaube zwar nicht, dass der Täter von dort kommt, aber ich denke, dass er es auf die Gruppierung abgesehen hat. Sofern sie sich von Engelsgrund fernhalten, sollten Sie sicher sein.« Dann griff er zu Stift und Block, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, und notierte seine Nummer. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an. Egal, wie unbedeutend es erscheinen mag. Ich werde noch bis morgen in der Gegend sein.«

Sie nickte, dann bedankte er sich und stand auf.

Als er das Büro verließ, umfing ihn sofort das lautstarke Bellen von Hunden. Das hektische Kläffen kleinerer Exemplare, das düstere Husten großer.

Bettelten sie um Aufmerksamkeit, oder wollten sie ihn von dem, was sie mittlerweile als ihr Zuhause empfanden, vertreiben? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er Malin aus Engelsgrund herausholen musste. Unbedingt.

Auch beim zweiten Mal hatte er auf Ellas Frage nur ausweichend geantwortet. Die richtige Antwort hätte gelautet: ein Mensch, dem gefiel, was er da tat. Dem es Spaß machte, andere Menschen zu quälen. Der damit Panik und Angst verbreiten wollte.

Jemand, der nicht damit aufhören würde, bis ihn einer stoppte.

ARDENNEN