Über das Buch

»Sängerin? Das ist doch kein Beruf!« In dem hessischen Dorf der kargen Nachkriegsjahre hat man wenig Verständnis für die hochfliegenden Pläne der jungen Paula Winter. Aber ihr Lebenshunger ist groß. Sie will so viel mehr als dieses kleine, bescheidene bäuerliche Leben, das ihre Mutter Charlotte führt. Die Musik der Beatles eröffnet Paula eine neue Welt, und sie will nur noch eines: singen. Hals über Kopf stürzt sie sich in das pralle bunte Leben der Roaring Seventies in England – und mitten hinein in die große Liebe. Als Paula selbst Mutter einer Tochter wird, schwört sie sich, alles anders zu machen.
Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag will Paulas Tochter Maya endlich wissen, wer ihr Vater ist. Dabei lernt sie ihre Mutter von einer ganz neuen Seite kennen. Maya beginnt zu verstehen, warum die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern oft … nicht einfach, aber immer … ganz besonders ist.

Von Astrid Ruppert sind bei dtv außerdem erschienen:
Leuchtende Tage
Ein Ort, der sich Zuhause nennt
Obendrüber, da schneit es

Die Spotify-Playlist zu ›Wilde Jahre‹ ist unter
www.dtv.de/wilde-jahre-playlist zu finden.

 

 

 

 

was nur einmal ist und auch nicht umzuändern,
siehe: das bist du.

Peter Rühmkorf


1977

Dicke Tropfen klatschen gegen die Fenster. Das Geräusch beginnt allmählich an ihren Nerven zu zerren. Ist es Gischt oder ist es Regen? Mittlerweile kann sie es schon nicht mehr unterscheiden. Seit Tagen peitscht der Sturm gegen die dünnen Scheiben, die sie von der Außenwelt trennen, seit Tagen hört sie den Kies über den Strand rollen, wenn die aufgebrachten Wellen die Steine an Land schleudern und sie grollend wieder zurück ins Meer ziehen. Die ganze Welt da draußen versinkt im Wasser. Manchmal denkt sie, dass sie sich gar nicht mehr an Land befindet, gar nicht in einem festen Haus direkt am Strand, sondern dass sie auf hoher See auf einem Schiff ist, das haltlos von den Wellen hin und her geworfen wird. Und auf diesem Schiff gibt es nur sie und diesen neuen Menschen, dieses kleine Mädchen, das neben ihr auf dem Sofa liegt und schläft, ungerührt von dem Sturm, der da draußen wütet. Sie muss sie immerzu anschauen. Alles an ihr ist so unglaublich perfekt. Die Wimpern, die feinen Ohrmuscheln, der zarte Mund, die Nase und dieser Duft, mit dem sie auf die Welt gekommen ist. Dieser süße, erdige Duft. Dass man mit einem gebrochenen Herzen so verliebt sein kann. So verliebt und so voller Zweifel. Vielleicht ist Verliebtsein auch das falsche Wort. Verliebt, das klingt jugendlich und beschwingt. Dieses Verliebtsein hier ist gewaltig. Als ob eine uralte Kraft sie ergriffen und mitgerissen hat. Sie konnte gar nichts dagegen tun. Der englische Begriff für verliebt ist eigentlich viel passender: Sie ist in love. In Liebe. Sie und dieser kleine Mensch in ihrem Arm, sie sind in Liebe.

»Ich habe eine Tochter«, sagt sie laut, aber niemand hört es. Es ist so schade, dass es niemand hört.

Jetzt ist sie Mutter, und alles ist anders, als sie es sich vorgestellt hat. Sie betrachtet das kleine Gesicht und kann es kaum glauben, dass das Kind, das sie in ihren Armen hält, das gleiche Wesen ist, das die letzten Monate in ihr gewachsen ist, dessen Strampeln sie gefühlt hat. Ihr Baby öffnet die dunklen Augen, und interessiert mustern sie sich gegenseitig.

»Hallo, Maya«, flüstert Paula, und die Kleine verzieht einen Mundwinkel. Maya lächelt. Eine große warme Welle flutet durch Paula hindurch, unwillkürlich lächelt sie zurück und ist: in Liebe.

Sie wird eine gute Mutter werden. Weil sie das will. Auch wenn sie keine Ahnung hat, was das ist, eine gute Mutter. Und wie man eine werden kann. Vielleicht gibt es ja ein Buch, in dem man etwas darüber lesen kann? Sie nimmt sich vor, im Buchladen danach zu fragen. Woher soll man wissen, wie man alles richtig macht, wenn es einem keiner zeigt? Im Krankenhaus hat man ihr beigebracht, wie man das Köpfchen hält, wenn man das Baby hochnimmt, wie man wickelt, wie man stillt, wie man das Baby sein Bäuerchen machen lässt. Vielleicht kann man dann ja auch lernen, wie man den ganzen Rest richtig macht? Wenn man es überhaupt lernen kann. Vielleicht braucht man dafür aber auch Talent? Denn wenn man es lernen könnte, warum hat ihre eigene Mutter es dann nicht gelernt?

Wie es ihrer Mutter wohl damals ging, als sie sie zur Welt gebracht hatte? Sie selbst war einmal ein kleines Baby, das im Arm der Mutter lag, so wie Maya jetzt in ihrem Arm liegt. Sie würde ihrer Mutter gerne sagen, dass sie eine Tochter hat. Mutter, ich habe eine Tochter. Und in diesem Moment steigen ihr Tränen in die Augen. Dabei hat sie ihre Mutter doch noch nie vermisst. Noch nie. Warum auch? Mama …, sagt eine kleine Stimme in ihr, und sie versucht, die Kinderstimme in sich zum Schweigen zu bringen. Denn sie weiß genau, dass es diese Mama, nach der sie sich gerade sehnt, gar nicht gibt. Die Liebe ihrer Mutter hat sich immer darin gezeigt, dass sie sie mit allem versorgte, was nötig war. Essen, warme Pullover, ein Pflaster, wenn sie sich verletzt hatte. Auf den Rest musste man verzichten können. Mit ihrem Wunsch nach Mitgefühl oder Trost war sie oft alleine gelassen worden. Kein Wunder, dass sie kein Heimweh kennt. Und trotzdem ist da dieses Ziehen in ihr, und sie hat kein anderes Wort dafür als das: Heimweh.

Draußen tobt noch immer der Sturm. Die Fenster sind trübe vom Salz des Meeres. Ob man sie zwischendurch putzen muss, damit das Salz das Glas nicht angreift? Sie weiß nicht, ob das Glas immer dünner wird, so wie auch ihre eigene Schutzschicht immer dünner wird, in diesem nicht enden wollenden Sturm. Eigentlich ist es ganz in Ordnung, dass das Wetter draußen und das Wetter in ihr sich so ähneln. Sie hat das Gefühl, dass die Natur zu ihr hält.

Zusammen mit Harry wäre das jetzt alles leichter. Aber Harry ist fort. Wahrscheinlich ist er sehr verwirrt, alles ist ihm zu viel, und er braucht einfach Zeit. Sie muss Geduld haben und ihm diese Zeit geben. Dabei ist Geduld wirklich nicht ihre Stärke. Noch nie gewesen. Aber irgendwann wird er doch erkennen, um was es eigentlich geht, er wird aufwachen, wie Dornröschen aus dem Zauberschlaf, und wieder zu ihr kommen. Sie muss lächeln, als sie sich vorstellt, dass er in Rosen schlummert. Er wird wiederkommen. Weil sie daran glaubt. Weil sie auf ihn wartet. Weil etwas anderes überhaupt nicht möglich ist.

Sie hat ihre kleine Tochter Maya genannt. Maya ist in Nepal das Wort für Liebe. Sie kennt das Wort in vielen Sprachen, die sie alle nicht spricht. Aber was Liebe heißt, das weiß sie. Sie lauscht nach draußen. War da eben ein Geräusch vor der Tür? Sie versucht, zwischen dem trommelnden Regen und dem heulenden Wind zu hören, ob da nicht doch Schritte waren. So überzeugt ist sie, dass Harry jetzt vor der Tür stehen muss, dass sie sogar aufsteht, und die Tür öffnet, um nachzuschauen. Es zieht gewaltig. Aber niemand ist da. Leer und kalt gähnt das Treppenhaus.

In ihrem Arm liegt ihre kleine warme Tochter, deren Ärmchen unentwegt rudern, wenn sie wach ist. Sie schlägt das dunkelrote Wolltuch enger um sie herum, damit sie es warm hat, und stellt sich mit ihr ans Fenster. Ganz dicht, so dass sie den Wind spürt, der überall durch die Ritzen pfeift, und flüstert ihr zu, dass sie keine Angst vor dem Sturm haben muss. Weil er vorübergehen wird. Und dass es im Auge des Sturms ruhig sein wird. Ganz ruhig. Und wenn es ruhig wird, dann weiß man, dass die Hälfte schon vorbei ist und dass man die andere Hälfte dann auch noch schafft. Irgendwann wird der Sturm aufhören, und dieses Schiff wird seinen Hafen ansteuern und dann wird sie ankommen. Dann wird sie endlich da sein. Sie hat keine Ahnung, wo das sein wird und wann. Aber sie weiß genau, dass sie irgendwann einmal ankommen will, und deshalb fasst sie jetzt einen Entschluss. Sie beschließt, nicht mehr zu jammern und nicht mehr zu warten. Sie beschließt, sich wieder auf den Weg zu machen. Das hat sie immer gemacht, wenn es nicht mehr weiterging. Das macht sie auch jetzt. Ab jetzt wird alles besser, sagt sie der kleinen Maya. Und ich werde eine gute Mutter sein, weil wir einfach alles anders machen. Und irgendetwas davon wird schon richtig sein.

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