Über das Buch

Nach dem Ersten Weltkrieg bricht das Zeitalter der Utopien an. 1920 zieht es den jungen Hermann Oberth von Siebenbürgen nach Göttingen, um Physik zu studieren – die spannendste Wissenschaft der Zeit. Hermann will den Menschheitstraum von der Mondrakete verwirklichen. Als der Durchbruch nah ist, weisen seine Professoren ihn ab. Seine lebenslustige Frau Tilla versucht, ihnen einen gemeinsamen Alltag als Familie zu ermöglichen, als doch jemand an Hermanns Forschung glaubt: Wernher von Braun, Mitglied der SS. Statt der Mondrakete soll Hermann die V2 mitentwickeln, eine »Vergeltungswaffe« für die Nazis. Seine Kinder Ilse und Julius verliert er an den Krieg. Und so stellt sich ihm und auch Tilla mit voller Wucht die Frage nach der eigenen Verantwortung vor der Geschichte.

Eindringlich und klar erzählt Daniel Mellem in seinem ersten Roman von einem ganz und gar unwahrscheinlichen Leben, das doch wahr ist. Von menschlichen Sehnsüchten und Verfehlungen, von deutscher Geschichte und der Ethik der Wissenschaft.

Über Daniel Mellem

Daniel Mellem, geboren 1987, lebt in Hamburg. Sein Studium der Physik schloss er mit einer Promotion ab, bevor er sich am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig der Arbeit an seinem ersten Roman widmete. Für ›Die Erfindung des Countdowns‹ wurde er bereits mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur und dem Hamburger Literaturförderpreis ausgezeichnet.

ZEHN

Der Schäßburger Sommer des Jahres 1899 war heiß wie immer. In den Häusern staute sich die Hitze, auf den Uferwiesen der Kokel verbrannte das Gras, und wenn man vom Siechhofberg durch die flimmernde Luft hinunter auf die kleine siebenbürgische Stadt schaute, dann wirkte die mittelalterliche Burg mit Stundturm, Klosterkirche und Bergschule wie eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Zeit.

Auf dem Siechhofberg, zwischen Eichenbäumen, streckte Hermann seinen Arm in die Ferne. Ein Hirschkäfer lief seine Hand entlang und erklomm langsam seinen Zeigefinger. Hermann betrachtete den fetten, rotbraunen Rumpf, die langen, schwarzen Beine und das Geweih, das beinahe so lang war wie der Körper selbst. Er hielt den Finger in die Höhe. Dieses plumpe Tier konnte unmöglich fliegen, und doch öffnete der Käfer jetzt seine Flügel. Hermann sah ihm nachdenklich nach, wie er langsam in das Tal hinabglitt.

»Lass uns baden gehen«, riss sein kleiner Bruder Adolf ihn aus seinen Gedanken. Hermann wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute hinunter zur Kokel, die in der Mittagssonne glitzerte. Warum nicht? »Wer zuerst unten ist«, sagte er und ging gleich in die Hocke. Adolf machte es ihm etwas ungelenk nach.

»Eins …«, sagte Hermann. Sie schauten einander herausfordernd an, Adolf stand vor Aufregung der Mund offen.

»Zwei …« Hermann ging noch ein Stück tiefer in die Hocke, um sich maximal in den Sprint hineindrücken zu können.

»Drei!« Damit rannte er los. Sofort war er vorneweg, ließ seinen kleinen Bruder hinter sich, er rannte über den feuchten Waldboden, zwischen den Bäumen hindurch hinüber zum Lehmpfad, der den Berg hinunterführte. Der Pfad war von der Sonne aufgeheizt worden und brannte unter den Füßen, und so lief Hermann schneller und schneller hinunter in Richtung Uferwiesen, er stolperte, verlor fast den Halt, dann fing er sich und war erleichtert, als der Boden endlich wieder flacher wurde. Unten angekommen grub er seine Zehen in den kühlen Flussschlamm und schaute zurück zu seinem Bruder. Noch lief Adolf auf wackligen Beinen, dann fiel er hin und rutschte bäuchlings die Böschung zum Fluss hinunter. Heulend hielt er sich die blutenden Knie. Sofort war Hermann bei ihm und half ihm aufzustehen. »Das wird schon wieder.« Er zog seinen Bruder in die Kokel und wusch die Schrammen aus. Adolf wimmerte, dann zeigte er auf etwas hinter ihnen.

Ein paar Meter entfernt lag halb im Wasser ein großer Büffel, der in der Sonne döste. Das schwarze Fell glänzte, der nasse Schwanz schlug nach ein paar Schnaken aus. Hermann betrachtete ihn, überlegte. Dann bückte er sich, nahm etwas Uferschlamm und warf nach dem Tier. Er verfehlte es knapp, das Wasser spritzte. Der Büffel hob den Kopf. Unter dem Fell zuckten die Muskeln, dann stemmten vier dünne Beine den Körper langsam in die Höhe. Hermann klatschte ein paarmal in die Hände, bis der Büffel ihn endlich ansah. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, ging er näher heran, bis er den Atem des Tieres im Gesicht spüren konnte. Er beugte sich noch ein Stück vor, um in die dunklen Augen des Büffels zu schauen, zwei Murmeln, die geheimnisvoll in der Sonne glitzerten. »Hermann, komm!«, rief Adolf hinter ihm. Hermann schüttelte den Kopf. Vorsichtig griff er mit Zeigefinger und Daumen nach einer der beiden Murmeln. Der Büffel brüllte, taumelte zurück. Dann senkte er auf einmal die Hörner.

Durch die Rundbogenfenster fiel Licht herein, an den Wänden schimmerten weiße Kacheln. Die Helligkeit des Krankenzimmers blendete Hermann, er kniff die Augen zusammen. Der Brustkorb schmerzte so sehr, dass er kaum atmen konnte. Langsam kam die Erinnerung zurück. Er sah die zu Halbmonden gebogenen Hörner des Büffels vor sich, dann den riesigen Kopf, der zustieß. Er schämte sich. Er hatte sich in Gefahr gebracht und, was noch viel schlimmer war, er hatte seinen kleinen Bruder in Gefahr gebracht. Hoffentlich war Adolf nichts passiert. Er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Mühsam drehte er sich auf die andere Seite. Er atmete auf. Auf dem Bett neben der Tür saß sein Bruder und ließ die Beine baumeln. »Du glaubst nicht, wie wütend Vater war.«

Es war eine Strafe, dass ausgerechnet der Vater Direktor des Spitals war. In den folgenden Tagen traute Hermann sich in seinem Krankenbett kaum zu atmen. Nicht nur, weil die gebrochene Rippe so wehtat, wichtig war vor allem, so leise wie möglich zu sein und bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tür zum Krankenzimmer stand den ganzen Tag offen, er konnte sehen, wie der Vater, Vollbart und kurz geschorene Haare, die Treppen hinauf- und wieder hinuntereilte und die Flure entlanghetzte. Hermann war jedes Mal erleichtert, wenn der Vater nicht bei ihm im Türrahmen stehen blieb und ihn mit schmalen Augen anblitzte, bevor er weiterhastete. Hermann war sich sicher, das Einzige, was den Vater davon abhielt, von morgens bis abends mit bösem Blick bei ihm im Zimmer zu stehen, war sein ewiges Pflichtgefühl. Von nichts redete der Vater häufiger als von seiner Pflicht. Achtzehn Stunden am Tag arbeitete er, selbst nachts stand er auf und ging vom Wohnhaus, wo sie mit einer anderen Arztfamilie lebten, nebenan ins Spital, um nach seinen Patienten zu sehen. Alle in Schäßburg bewunderten den Vater. Es hieß, er mache keinen Unterschied, ob einer arm sei oder reich, und könne jemand die Behandlung nicht bezahlen, dann übernehme er die Kosten selbst. Aus ganz Siebenbürgen kamen Patienten nach Schäßburg, sogar aus Budapest und Wien, um sich mit der neuartigen Strahlenmaschine, die der Vater angeschafft hatte, untersuchen zu lassen. Einmal hatte er einen ungarischen Bauern von seiner Taubheit befreit und der hatte ihn daraufhin einen Gott genannt. Der Vater hatte abgewunken. Es sei doch nur eine einfache Spülung gewesen.

So wohlmeinend der Vater mit seinen Patienten war, so hart war er gegen sich selbst. Vor einigen Monaten hatte er an einem Tag unter heftigen Bauchschmerzen gelitten. Gleich mehrmals war er aus dem Spital zu ihnen ins Haus gekommen und war lange auf der Toilette verschwunden. In der Nacht hatte Hermann ein seltsames Gestöhne aus dem elterlichen Schlafzimmer gehört und hatte sich in den Flur geschlichen. Durch den Türspalt konnte er sehen, wie der Vater seinen nackten Bauch abtastete und die Mutter bat, ihm seine Arzttasche zu bringen. Besorgt sah sie ihn an. Er solle sich doch lieber im Spital behandeln lassen, wozu sonst stecke er ihr ganzes Erspartes dort hinein? Doch der Vater schüttelte den Kopf und wie immer, wenn er auf etwas bestand, gab die Mutter nach. Sie holte die Tasche, der Vater zog sich eine Spritze auf und setzte sie sich in die Seite. Dann befahl er der Mutter, sich mit der Öllampe neben das Bett zu setzen und einen Spiegel in der Beuge zwischen Oberschenkel und Leiste zu platzieren. Sie tat wie geheißen, doch wandte ihr blasses Gesicht ab und starrte zu Boden. Plötzlich stach sich der Vater mit einem Skalpell mitten in den Bauch. Hermann musste einen Schrei unterdrücken, als er sah, wie fürchterlich es blutete. Der Vater wies die Mutter an, das Blut wegzuwischen und die Wunde so weit aufzuziehen, dass er ganz hineinsehen konnte. Hermann merkte, dass auf einmal sein kleiner Bruder neben ihm stand. Adolf wollte auch in das Zimmer der Eltern hineinschauen, aber Hermann drängte ihn zurück und hielt ihm die Hand vor die Augen. Der Vater steckte sich ächzend eine Schere in die offene Wunde, öffnete und schloss sie wieder. Dann holte er mit einer Hand etwas aus der Wunde heraus, das wie eine blutige Wurst aussah. Er warf sie neben das Bett und ließ sich von der Mutter Nadel und Bindfaden reichen. Hermann wurde übel, aber er konnte den Blick einfach nicht abwenden. Erst nachdem der Vater sich den Bauch wieder zugenäht hatte, hatte Hermann seinen Bruder an der Hand genommen und war mit ihm zurück ins Bett geschlichen.

Jetzt lag Hermann im Krankenzimmer und er war sich sicher, ohne den Verband um seinen Brustkorb hätte es längst eine Tracht Prügel gegeben. Am ersten Abend im Spital hatte der Vater ihn angebrüllt. »Was erlaubst du dir, einen Büffel zu reizen! Wie kannst du es wagen, mir mit solchen Dummheiten die Zeit zu stehlen!«

Sogar die Mutter hatte den Kopf geschüttelt. Dabei hatte sie Hermann sonst immer zur Seite gestanden. Im vergangenen Winter zum Beispiel, als er heimlich zum Bahnhof gelaufen war. Dort war er, während der Lokomotivführer auf dem Bahnsteig stand und seine Pfeife rauchte, in das Führerhaus der Wusch gestiegen. Die kleine Schmalspurbahn verband seit zwei Jahren Schäßburg mit Agnetheln und Hermann liebte es, wenn sie am Marktplatz vorbeifuhr und die Dampfglocke pfiff. Im Führerhaus hatte er vor den vielen Skalen der Manometer gestanden und vor den zahllosen Schläuchen, Drehverschlüssen und Hebeln, und hatte sich gefragt, was sie wohl bedeuteten und was sich mit ihnen anstellen ließ. Er hatte angefangen, daran herumzuspielen und plötzlich hatte es gezischt und es hatte gefaucht, der Zugführer war herbeigestürmt, hatte ihn herausgezerrt und ihm eine ordentliche Ohrfeige verpasst. Auch der Vater hatte später sehr geschimpft, nur die Mutter war nicht böse gewesen. Still, aus ihrem weichen, melancholischen Gesicht hatte sie ihn angesehen und ihm über den Kopf gestrichen, als er ihr von dem aufregenden Führerstand erzählte.

Doch bei dem Vorfall mit dem Büffel hatte auch sie verständnislos geschaut. »Was ist nur in dich gefahren?« Hermann hatte geschwiegen. Er wusste es nicht.

Einen Monat nachdem er wieder genesen war, weckte ihn die Mutter kurz nach Sonnenaufgang. Zusammen mit Adolf verließen sie das Arzthaus. Der Morgen war düster. Im Garten hämmerte der ungarische Spitaldiener schweigend auf einem Stück Holz herum, auf der Straße schoben sich Ochsenkarren und Pferdewagen langsam durch den Nebel aus Schäßburg hinaus. Hermann lief mit seiner Mutter und seinem Bruder durch die kleine Stadt, sie stiegen die schmalen Stufen zur Burg hinauf, kamen an der Klosterkirche vorbei, am Marktplatz, schließlich am Stundturm. Der große Kasten neben dem Ziffernblatt, aus dem zur vollen Stunde an jedem Wochentag ein anderes Männchen mit wilder Fratze heraussprang, machte Hermann immer noch Angst. Schnell lief er weiter, als der zornige Soldat seinen Speer präsentierte.

Die meisten anderen Jungen hatten sich schon vor Lehrer Both aufgestellt. Sie standen dort mit geschwellter Brust, viele waren größer als er und fast alle waren sie laut. Manche schubsten, um ganz vorne zu stehen, einer zog einem anderen so fest an den Haaren, dass der anfing zu weinen. Die Mutter ließ Hermanns Hand los und gab ihm einen Klaps. Dann stellte sie sich zu den anderen Müttern und nahm Adolf auf den Arm. Das hatte sie lange nicht getan. Der Sommer war vorüber.

Warum ging in der Elementarschule alles so langsam zu? Die sonst so lauten Jungen verrenkten unter den Pulten ihre Finger, wenn es bloß darum ging, zwei Zahlen zusammenzuzählen. Und wenn das Ergebnis größer war als zehn, dann musste man befürchten, dass sie sich die Finger verknoteten. Hermann verstand nicht, warum Lehrer Both Rücksicht auf diese Jungen nahm. Erst fragte Both den langen Erwin, der ganz hinten saß, wie viel zwei plus zwei ergebe. Erwin spreizte Zeigefinger und Mittelfinger an beiden Händen und antwortete »Vier«. Dann stellte der Lehrer dem Jungen daneben genau die gleiche Frage noch einmal. So wanderte er durch die Reihen nach vorne, bis er schließlich bei Hermann ankam. »Vier, das musst du doch jetzt eigentlich wissen«, antwortete er. Lehrer Both machte große Augen, griff zum Zeigestock und ließ ihn auf Hermanns Hand niedersausen. Die Finger liefen blau an und taten den Rest des Tages so weh, dass er sie kaum bewegen konnte. Aber immerhin brauchte er sie nicht zum Rechnen.

Hermann war froh, wenn die Schule vorüber war und er seine Nachmittage im großen Garten des Arzthauses verbringen konnte. Kein Lehrer, der ihm befahl, etwas zu lernen, das er längst wusste. Er schlug mit Feuersteinen Funken, baute aus Pappe eine Sonnenuhr, fing mit einem alten Fischernetz am duftenden Flieder Schwalbenschwänze und Admirale. Bei ihm war immer nur sein kleiner Bruder, der staunte, was er so trieb.

Beim Abendbrot erzählte Adolf von ihren Abenteuern und tat dabei so, als seien Hermanns Ideen seine eigenen gewesen. Hermann schimpfte darüber und versuchte, die Dinge richtigzustellen, sie so zu erzählen, wie sie sich eigentlich zugetragen hatten. Doch aus seinem Mund klang alles seltsam schal, weniger aufregend als bei Adolf, und dann wurde er rot, warf die Hände in die Luft und schrie, versuchte mit Lautstärke auszugleichen, was mit Worten nicht gelang. Die Mutter hielt ihn fest. »Ruhig, Hermann. Wir wissen doch, wie es war.«

Nach dem Essen nahm sie ihn mit auf den Dachboden. Hier bewahrte sie in einer Eichentruhe die Gedichte von Großvater Friedrich auf. Zusammen saßen sie neben der offenen Truhe und die Mutter erzählte vom Großvater. Friedrich Krasser war ein Arzt und berühmter Dichter gewesen, der den Klerus abgelehnt und an die Lehren Darwins geglaubt hatte. Seine Freunde hatten ihn den Reformator genannt und in seiner Studienzeit in Wien hatte er Arbeiterfamilien behandelt, die an Typhus litten und in Kellerlöchern hausten. Danach war er sein Leben lang für die Rechte der Ausgebeuteten eingetreten.

Die Mutter las das Gedicht Tabula Rasa vor, mit dem der Großvater im Jahr 1869 für großen Aufruhr im Kaiserreich gesorgt hatte. Hermann fand das Gedicht recht öde, es schien darin nur ums Schlafen zu gehen. Es hieß, jeden Tag gehe im Osten die Sonne auf, doch die Strahlen würden nicht über die Karpaten hinwegreichen und so bleibe es im Abendland dunkel und die Menschen lägen dort weiterhin im Schlummer. Der Ärger über das Gedicht war groß gewesen und Hermann war überzeugt, die Leute waren empört, dass es so langweilig war. Gegen den Großvater wurde ein Prozess eröffnet. Der schrieb daraufhin den Aufsatz Die moderne Inquisition. Das erzürnte die Mächtigen nur noch mehr und schon bald darauf wurde er in Graz verurteilt. Für zwei Jahre sollte er ins Gefängnis. Aber die Menschen in Siebenbürgen waren dem Großvater dankbar für seinen Einsatz für die erste Arbeiterkrankenkasse in Hermannstadt und so schrieben Freunde aus hohen Kreisen Suppliken an den Kaiser Franz Joseph und es dauerte nicht lange und der Kaiser erließ Amnestie. Und der Großvater, der eigentlich nichts übrighatte für die Stände und den Adel, nannte Hermanns Mutter bei ihrer Geburt, ganz wie der Kaiser seine Tochter, Valerie.

»Du bist auch ein Krasser«, sagte die Mutter lächelnd und Hermann konnte dabei Stolz in ihrem Gesicht erkennen.

Fortan fiel es ihm etwas leichter, Adolf bei Tisch über seine Abenteuer reden zu lassen.

Im Herbst aber geschah etwas Seltsames. Adolf klaute auf einmal nicht mehr seine Abenteuer, sondern die von Walli, dem Sohn des Spitaldieners. Auch die Nachbarskinder bewunderten ihn, denn Walli schaffte es, den Ball vom Apfelbaum bis zu den Geläufen der Pferde zu werfen, er hatte den langen Erwin im Armdrücken besiegt und neulich war es ihm sogar gelungen, eine Ratte zu fangen. Hermann verstand die Aufregung nicht. Walli hatte die Falle nicht selbst gebaut und noch dazu klemmte das Tier tot unter dem Metallbügel und war bloß noch Futter für die Katzen.

Bald schon leuchteten im Apfelbaum die Früchte rot und die Väter der Nachbarskinder kündigten an, sie am Wochenende zu ernten. Das Warten war kaum auszuhalten und so standen die Kinder zusammen unter dem Baum und sahen sehnsüchtig hinauf. Adolf rief nach der Mutter, die gerade Wäsche von der Leine nahm. Die schüttelte den Kopf und meinte, ein paar Tage müssten sie sich noch gedulden.

Walli wollte sich nicht gedulden. Er nahm Anlauf und probierte, mit einem Sprung einen Ast zu greifen. Er kam nicht heran, versuchte es erneut, verfehlte den Ast auch diesmal. Er neigte den Kopf, trat an den Baum heran, umarmte den Stamm und legte beide Füße auf die Rinde. Langsam schob er sich in dieser Haltung den Stamm hinauf. Obwohl kühler Wind von der Kokel heraufwehte, schwitzte Walli, Hermann konnte sehen, wie sehr er sich anstrengte. Schließlich aber griff Walli den Ast, den er mit seinen Sprüngen verfehlt hatte, und zog sich daran in die Baumkrone. Er pflückte ein paar Äpfel und ließ sie auf den Boden fallen. Die anderen Kinder jubelten und selbst die Mutter applaudierte. Adolf nahm einen Apfel und biss herzhaft hinein.

Hermann ging zum Baum und wollte es Walli nachmachen. Er rutschte mit den Sohlen auf der Rinde herum und fragte sich, wie Walli das nur geschafft hatte. Endlich hing er am Baum, Arme und Beine um den Stamm geschlungen. Er hörte die anderen hinter sich kichern. Seine Beine zitterten. Er versuchte, sich am Stamm hochzuziehen, doch verlor den Halt und fiel auf den Hintern. Mit rotem Kopf stand er auf, wütend und beschämt, die anderen lachten ihn aus, Wallis kleiner Bruder Gyula hielt sich den Bauch. Hermann wurde schwarz vor Augen. Er sprang auf Gyula zu und verpasste ihm mit der harten Spitze seines Lederschuhs einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. Gyula fing an zu weinen und Hermann rannte davon, so schnell er konnte. Niemand sollte sehen, dass auch er weinte.

Am Abend lag er lange wach. Als der Vater nach Hause kam, war es draußen längst dunkel geworden. Die Dielen quietschten, als der Vater den Flur entlangkam und in das Schlafzimmer nebenan ging. Hermann lauschte an der Wand, ob die Eltern sich unterhielten. Er hörte nur ein unverständliches Murmeln der Mutter. Plötzlich wurde die Tür zum Kinderzimmer so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand schlug. Der Vater stürmte herein, hinter ihm die Mutter, eine Öllampe in der Hand, sodass der Vater einen weiten Schatten in den Raum warf. Adolf schreckte aus dem Schlaf und fing an zu weinen. Der Vater riss Hermann aus dem Bett und drohte mit dem Gürtel, aber die Mutter flehte und so blieb es bei der Hand. Schon nach dem vierten Schlag ließ der Vater wieder von Hermann ab. »Wie kannst du Menschen bloß so grundlos wehtun«, sagte er leise. »Das tut man nur, wenn man ihnen helfen will.«

Ewigkeiten noch lag Hermann wach und spürte seinen schmerzenden Hintern, als die Tür sich plötzlich wieder öffnete. Sofort setzte er sich auf. Der Vater schaute herein. »Komm mal mit.« Hermann klopfte das Herz, doch er schlüpfte in seine Pantoffeln und schlich am schlafenden Adolf vorbei aus dem Zimmer.

Der Flur war kühl und in silbriges Licht getaucht. Durch das offene Fenster schien der Vollmond herein. Davor war auf einem Stativ ein Fernrohr aufgebaut. Der Vater führte Hermann heran. »Mein Teleskop«, sagte er. »Manchmal, wenn ich im Spital sehr viel Ärger habe, schaue ich mir abends den Himmel an.« Er richtete das Teleskop aus und forderte Hermann auf hindurchzusehen. Hermann drückte sein Auge gegen das Okular. Kurz erschrak er. Der Mond war plötzlich so riesig, dass er das gesamte Blickfeld ausfüllte. Helle und dunkle Landschaften erstreckten sich über die Oberfläche, Meere und Gebirge, gleißend helle Hochebenen und weite Schatten, dazu überall Krater. Eine fremde Welt. Hermann versuchte, das Teleskop zu schwenken, doch er zog zu heftig am Rohr und der Mond verschwand. Übrig blieb tiefe Schwärze. Der Vater half, das Teleskop wieder auszurichten. Hermann sah auf die geheimnisvollen Landschaften. Wenn schon ein Fernrohr so viel Neues zeigen konnte – was mochte man alles finden, wenn man selbst dort war? Er starrte hinauf, traute sich nicht mehr, das Teleskop zu bewegen, er wollte das Bild nicht wieder verlieren. Schließlich zog der Vater ihn zurück. »Es ist genug für heute.«

Hermann schaute aus dem Fenster in den Nachthimmel, wo der Mond nun wieder nur als leuchtende Scheibe erschien. »Kann man da hinfahren?«, fragte er.

»Wenn man will, dann kann man alles«, sagte der Vater. »Aber für einen Arzt gibt es dort oben nichts zu tun.«

Beim Schilf unten im Garten lag schon seit Ewigkeiten ein altes Ruderboot. Es war an einem morschen Holzpflock vertäut, und selbst der alte Schmied, der sonst immer Bescheid wusste, hatte keine Ahnung, wem das Boot gehörte. An einigen Stellen waren Planken herausgebrochen und man konnte das Gerippe sehen. Hermann zog sich gern in das Boot zurück, es war wunderbar ruhig hier, man hörte die anderen Kinder im Garten kaum. Ein paarmal war er in Gedanken versunken aufgeschreckt, wenn Adolf plötzlich aufgetaucht war, doch er hatte seinen Bruder immer wieder fortgeschickt und inzwischen hatte er den Ort ganz für sich.

An diesem Nachmittag pendelte er mit dem Oberkörper hin und her, er wollte das Boot zum Schaukeln bringen. Währenddessen kaute er auf dem stumpfen Ende seines Bleistifts herum. Da trat jemand ans Ufer und er sah auf. Die Mutter stand dort und lächelte. »Ach, hier bist du also.« Sie bückte sich, zog die Schuhe aus und kam durchs flache Wasser zum Boot gewatet. »Was malst du denn Schönes?« Sie zeigte auf die Zettel in seinem Schoß. Er gab sie ihr und sie durchblätterte sie vorsichtig. »Was ist das? Die Klosterkirche?« Hermann schüttelte heftig den Kopf. Er versuchte, ihr die Blitzfabrik zu erklären. Gestern Abend, als es heftig gewittert hatte und er nicht durch das Teleskop schauen konnte, war ihm die Idee dazu gekommen. Gewaltig und grell waren die Blitze durch die Dunkelheit gezuckt, es brauchte etwas, das ihre Kraft einsammeln konnte.

Die Mutter nickte, aber er merkte, sie verstand ihn nicht richtig. Enttäuscht nahm er die Zeichnungen wieder an sich. Sie strich ihm übers Haar, dann stand sie auf und stieg langsam wieder die Böschung hinauf. Hermann sah ihr nach. Das Boot schaukelte noch eine Weile hin und her, nachdem sie aufgestanden war. Dann nahm er sich ein neues Blatt und machte sich an die nächste Zeichnung.

ACHT

Im Krieg kämpfte Hermann in der Schlacht in den Karpaten. Es war der Februar 1915 und sein Regiment der Gemeinsamen Armee Österreich-Ungarns rückte über den Tatarenpass nach Norden vor. Im Hochgebirge herrschte noch tiefer Winter. Der Vorstoß war überstürzt beschlossen worden und die Soldaten trugen noch alte, viel zu dünne Uniformen. Eisiger Wind fegte Schnee von den Gebirgshängen und Hermann fror elendig. Die Truppe marschierte bei Tag und bei Nacht. Die Offiziere erlaubten nur wenige Stunden Schlaf, in denen Hermann an eine Tanne gelehnt fiebrig vor sich hin döste. Er hatte große Mühe, mit den anderen mitzuhalten. Häufig war er in Gedanken vertieft und überhörte die Befehle des Truppführers. So kam es vor, dass die Kameraden schon längst zum Aufbruch bereit waren, während er noch auf seinem gefrorenen Essen herumkaute.

Schon während der Ausbildung hatte er sich ungeschickt angestellt. Besonders frustrierend waren die Schießübungen gewesen. Die Gefreiten hatten Gewehre bekommen, die Josef Werndl schon vor einem halben Jahrhundert konstruiert hatte und die damit so alt waren wie die Donaumonarchie selbst. Für jeden Schuss musste eine neue Patrone in den Tabernakelverschluss der uralten Büchsen eingeführt werden. Hermann brauchte immer Ewigkeiten, bis er den störrischen Zylinder geöffnet und die Messinghülse in die Lademulde eingelegt hatte. Der Abzugsbügel war so schwergängig, dass Hermann beim Schießen der Zeigefinger blau anlief. Und wenn das Schwarzpulver dann endlich doch knallte, riss die Kraft der Explosion den Lauf des Gewehrs nach oben und der Schuss schlug weit entfernt von den aufgestellten Pappkameraden in einem Baumstumpf ein. Ständig kam der Ausbilder zu Hermann und erklärte ihm wieder und wieder den Ladevorgang. Er zerrte beim Ausrichten des Gewehrs an seinen Schultern, stützte seinen Arm, stellte sich hinter ihn und atmete ihm heiß in den Nacken. Das alles machte Hermann nur noch nervöser und er traf die Pappkameraden erst recht nicht. Selten, so der Ausbilder, habe er einen so untalentierten Schützen am Schießstand erlebt.

»Die deutschen Truppen haben Repetierwaffen«, wandte Hermann vorsichtig ein.

»Wie meinen Sie das?«

Hermann erklärte es dem Ausbilder. Die Repetierwaffe sei eine einfache Idee, gar nicht kompliziert. Der Magazinschacht werde über einen Ladestreifen mit fünf Patronen gleichzeitig befüllt und nach jedem Schuss werfe eine mechanische Feder die leere Hülse automatisch aus und führe die nächste Patrone in den Lauf. So spare man enorm viel Zeit.

»Wollen Sie damit sagen, wir sollten all unsere schönen Gewehre am besten wegschmeißen?«

Hermann trat von einem Fuß auf den anderen. »Gründe hätte man.«

Der Ausbilder erkundigte sich, ob er richtig gehört habe. »Wenn der Jäger das Wild nicht trifft, ist nicht das Gewehr schuld!« Er musterte Hermann abschätzig. »Mit der Waffe in der Hand werden Sie jedenfalls zum besten Mann des Feindes. Wir können nur hoffen, Ihre Talente liegen woanders. Sie werden Sanitäter.«

Nach langem Marsch gelangten sie nach Czernowitz, das von den Russen besetzt war. Über einhunderttausend Menschen lebten in der Stadt, viele Völker miteinander, Deutsche, Polen, Ungarn, Juden, Armenier, Ruthenen, Rumänen. Hermann lief mit seiner Truppe über schneebedeckte, gepflasterte Straßen, vorbei an hellen kakanischen Bauten, am israelitischen Tempel mit der maurischen Architektur, über die breiten Kieswege vor der Residenz des Erzbischofs der Bukowina. Er blieb stehen und schaute das Backsteingemäuer der Kirche hinauf. Der Hauptturm mündete in einer byzantinischen Kuppel, die nicht wie die Spitze der Schäßburger Klosterkirche bloß in Richtung Himmel wies, sondern wie das Himmelsgewölbe selbst erschien. Es musste ein fantastischer Anblick sein, wenn ein Projektor inmitten der Kuppel ein Abbild des Firmaments an das Halbrund warf. Der Projektor könnte sich auf einem Motor drehen und dann würden die Planeten auf ihren Bahnen wandern und es würde sich anfühlen, als wäre man selbst dort oben im Weltraum und Venus und Mars und Jupiter zögen vorbei. Hermann war versucht, die Stufen zur Kirche hinaufzusteigen, aber der Truppführer packte ihn am Kragen und zog ihn weiter.

Bald stießen sie in das Stadtzentrum vor. Überall knallten Granaten, Rauchsäulen trübten die Sicht, durch die Straßen hallten die angsterfüllten Schreie der Menschen. Vor dem Rathaus verschanzte Hermanns Truppe sich hinter einer verwaisten Straßenbahn. Der Truppführer lud sein Gewehr nach. Er deutete zum Treppenaufgang. »Gleich stürmen wir das Rathaus. Seid ihr bereit?« Hermann schaute auf die dünnen Kabel, die über der Straßenbahn entlangliefen. Der Truppführer griff ihn im Genick. »Ob Sie bereit sind, habe ich gefragt!«

»Ja«, sagte Hermann schnell und massierte sich den Nacken.

»Warten Sie hier. Wenn die Luft rein ist, kommen Sie nach.«

Langsam krochen die Kameraden an den Rand der Straßenbahn. Der Truppführer hob die Hand und spähte um den Waggon herum. »Auf!« Die Soldaten rannten los. Sie schlitterten über die eisglatte Straße zum Treppenaufgang. Sofort knallten Schüsse. Ein Kamerad rutschte aus und stürzte auf das Pflaster. Sein Körper erbebte unter einem Treffer. Die anderen Kameraden erreichten den Aufgang und schossen zurück. Hermann starrte auf den Getroffenen. Verzweifelt versuchte der Kamerad aufzustehen, sank aber kraftlos zurück auf die Straße. Blut quoll aus der Uniform, neben ihm bildete sich langsam eine rote Pfütze. Wo war er getroffen worden? In der Leber? Oder sogar in der Lunge? Plötzlich hörte Hermann die Rufe des Truppführers. »Worauf warten Sie?« Hermann sah sich um. Die Schüsse hatten aufgehört, die Luft schien rein. Er sprang auf und stolperte über die Straße zum verwundeten Kameraden. Das Gesicht des jungen Mannes war bleich wie der Schnee. Mit zittrigen Händen öffnete Hermann den Verbandskasten. Der Soldat stöhnte vor Schmerzen. Hektisch zerschnitt Hermann am Einschussloch die Uniform. Es war ein Steckschuss, die Patrone hatte Haut und Fettgewebe durchschlagen und war tief ins Fleisch eingedrungen. Aus der Wunde suppte es rot heraus, eilig drückte Hermann eine Mullbinde darauf. Der Soldat hustete und spuckte Blut. Die Kugel steckte eindeutig in der Lunge. Kurz musste Hermann den Blick abwenden. So schrecklich jung war der Kamerad noch, vermutlich in Adolfs Alter, keine zwanzig. »Vorsicht! Rechts!«, hörte er den Truppführer. Schüsse knallten, Kugeln pfiffen vorbei. Hermann sprang auf und wandte sich panisch um. Rechts aus wessen Sicht? Schon riss ihn ein heftiger Schlag von den Beinen. Er knallte mit dem Hinterkopf auf das vereiste Pflaster. Alles drehte sich, die Geräusche um ihn herum verdichteten sich zu einem hohen Summen. Er kämpfte dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Schatten huschten durch sein Blickfeld, er sah seine Truppe um eine Straßenecke eilen. Er wollte ihnen nachrufen, aber aus seinem Mund kam nichts als ein Krächzen. Er starrte in den Himmel. Auf einmal fühlte er sich sehr müde, er musste die Augen schließen, ein paar Sekunden nur. Die Welt wurde leiser, die Schüsse entfernten sich. Eine angenehme Wärme breitete sich um seinen Bauch herum aus.

Nur seine Hände waren furchtbar kalt. Er legte sie auf den Bauch, die Uniform fühlte sich feucht an. Er öffnete die Augen wieder. Seine Hand war rot. Ein Bauchschuss. Panik erfasste ihn, jetzt spürte er die Schmerzen. Er schaffte es aufzustehen, stolperte ein paar Schritte, brach wieder zusammen. Neben ihm der Verbandskasten. Hektisch tastete er nach Schere und Morphium. Er schnitt ein Loch in den Ärmel und setzte sich selbst die Spritze. Sofort spürte er das Rauschgift in seinen Adern. Sein Blick wurde unscharf, der Schmerz nahm pulsierend ab. Er sank zurück auf die Straße. Da war eine Sehnsucht fortzugleiten, fort vom eisigen Pflaster und fort von Rauch, Explosionen und Schüssen um ihn herum. Nur die Augen musste er schließen, Sekunden würde es dauern. Doch in der Ferne sah er die schwarze Kuppel der Kirche und er blieb in der Kälte. Er hob den Kopf und zerschnitt die Uniform. Entblößt lag sein Bauch vor ihm, mit der Hand wischte er das Blut beiseite. Da unter dem Bauchnabel war das Einschussloch. Wie automatisch griff seine Hand in den Verbandskasten, fand die Zange, steckte sie in die Wunde hinein. Er schrie auf, der Schmerz schrillte durch seinen Körper, ihm wurde schwarz vor Augen. Er drückte die Zange weiter ins Fleisch. Er stieß auf etwas Hartes, griff danach. Wie durch ein Wunder bekam er die Kugel zu fassen. Zog sie heraus, Blut spritzte hervor. Er drückte eine Mullbinde auf die Wunde, griff eine zweite. Irgendwie gelang es ihm, den Verband um seinen Bauch zu wickeln. Zitternd sank er abermals auf das Pflaster zurück. Am Himmel über ihm hatten sich die Wolken zusammengezogen. Kleine Flocken, fein wie Staub, rieselten herab.

Er wusste nicht, ob Minuten vergangen waren oder Stunden, als sie ihn auf eine Trage stemmten und forttrugen. Bald lag er in einem Zelt. Der Stabsarzt beugte sich über ihn, löste den Verband, begutachtete die Wunde. Er stutzte, dann sah er Hermann ungläubig an. Ob er noch ganz richtig im Kopf sei? Man dürfe sich nicht selbst behandeln, wo komme man denn da hin? Der Arzt notierte sich etwas. »Eine Sanktion wird nicht zu vermeiden sein.« Hermann holte Luft und sammelte alle Kräfte, die in seinem Körper noch verblieben waren. Dann richtete er sich auf und gab dem Arzt eine Ohrfeige.

Zurück in Schäßburg herrschte in der Stube bedrücktes Schweigen. Neben dem Ofen flackerte eine Lampe, vom Schaukelstuhl her klackerten die Stricknadeln der Mutter. Obwohl der Winter schon zu Ende ging, strickte sie an Wollpullovern und Schals. Zwischendurch nagte sie an ihren Fingernägeln. Der Vater war noch seltener zu Hause als vor dem Krieg und wenn er doch einmal da war, hockte er schweigend am Esstisch und blätterte in seinen Untersuchungsberichten. Hermann saß mit einem Verband um seinen Bauch im Sessel und vermisste seinen Bruder. Adolf hätte bestimmt etwas zu sagen gewusst in dieses Schweigen hinein, doch er musste an der Front ausharren. Nur alle paar Wochen erreichte sie ein Brief von ihm. Die Schreiben erleichterten Hermann, immerhin wusste er dann, dass sein Bruder noch lebte. Gleichzeitig wuchs in ihm die Angst, Adolf könne das gleiche Schicksal ereilen wie jenen jungen Kameraden in Czernowitz. Würden die Eltern das verkraften? Manchmal fragte Hermann sich, ob es nicht besser gewesen wäre, sein Bruder wäre an seiner statt von der Front heimgekehrt. Womöglich dachte der Vater das Gleiche. Der Sohn, in den er all seine Hoffnungen gesteckt und von dessen Hilfsbereitschaft und Geselligkeit und Freundlichkeit er immer geschwärmt hatte, litt an der Front, und er, Hermann, war mit einem Heimatschuss davongekommen.

Eines Abends schob der Vater seine Untersuchungsberichte beiseite. Er schaute ernst in die Runde. »Ich habe eine großartige Neuigkeit.« Er stand auf und warf einen Holzscheit in den Ofen. Funken stoben. »Ich habe heute mit dem Kommandanten des Lazaretts im Spital gesprochen, Doktor Csallner. Wenn du wieder genesen bist – und der Tag ist hoffentlich nicht mehr fern –, dann musst du nicht wieder zurück an die Front, mein Sohn. Stattdessen wirst du Hilfsarzt bei uns im Spital.«

Hermann sank im Sessel zusammen. Hätte Csallner ihn nicht einfach wieder zu seinen Kameraden an die Front schicken können? Der Vater schritt durch die Stube. »Aus dir wird ein Arzt! Sie haben dich beim Heer nicht ohne Grund zum Sanitäter gemacht.« Er schaute triumphierend zur Mutter. »Hermann ist jetzt Sanitätsfeldwebel.« Die Mutter legte die Stricknadeln beiseite und schnäuzte sich.

»Bleibt die Frage, wo du nach dem Krieg Medizin studierst«, sagte der Vater. »Ich war in Wien. Aber auch München hat einen hervorragenden Ruf.« Hermann schwieg. Wie sollte er dem Vater bloß begreiflich machen, dass er nicht vorhatte, Medizin zu studieren? Konnte man dem Vater so etwas überhaupt begreiflich machen? Als Kind hatte Hermann ihn einmal bei einem Selbstgespräch im Garten erwischt. »Warum redest du so viel mit dir selbst?«, hatte er den Vater damals gefragt. Der hatte gelächelt. »Ich rede eben gerne mit gescheiten Menschen.«

Sosehr Hermann sich auch wünschte, die Wunde am Bauch möge nie verheilen: Nach einiger Zeit hörte sie auf zu nässen, ein wenig später verschwand auch das Jucken, dann verlor die Haut ihre rote Färbung und wurde blass – und schließlich blieb nur eine weiße Narbe zurück. Er musste seine Arbeit im Lazarett des Schäßburger Spitals aufnehmen.

Monat für Monat wurden mehr und mehr Verwundete von der Front eingeliefert. Viele Kameraden litten an grauenvollen Verletzungen durch Granatsplitter. Manche waren mit Gasbrand infiziert, ihre verletzte Haut war übersät mit schwarzen Blasen, aus denen faulig stinkendes Sekret austrat. Einige hatten Arme und Beine verloren, einem Patienten fehlte der Unterkiefer. Wenn die Krankenschwestern ihn fütterten, steckten sie ihm den Löffel direkt in die offen liegende Speiseröhre. Hermann musste an den Feldarzt denken, der vor dem Aufbruch in die Karpaten von den modernen Kriegswaffen geschwärmt hatte. Regelrecht human seien die! Die kleinkalibrigen Geschosse würden sauber ins Fleisch eindringen, das bakterizide Metall sei leicht zu entfernen, es würde kaum Wundinfektionen geben. Die neue Technik sei wirklich ein Segen! Der Krieg verliere so seinen Schrecken, man könne ihn künftig beinahe als Sport betreiben! Später war der Feldarzt bei einer Granatenexplosion in Czernowitz gefallen.

Der Krieg begleitete Hermann bis in den Schlaf. Durch seine Träume hallten die Artillerieschüsse und Schmerzensschreie der Kameraden. In einem Traum sah er Adolf, der ausgestreckt in einem staubigen Schützengraben lag, die Augen glasig in den Himmel starrend, neben ihm die zerbeulte Trompete. Hermann schrak schwitzend auf. Er wälzte sich zur Seite und spürte, wie die Hose seines Schlafanzugs nass an den Oberschenkeln klebte. Er schämte sich fürchterlich. An der Ostfront und in den Alpen vor Italien litten die Kameraden und er lag daheim im warmen Bett und nässte sich ein.

Ein paar Tage darauf rief Doktor Csallner die Hilfsärzte zu sich. Der Spitalkommandant war ein kleiner, glatzköpfiger Mann, der aus seinem schmalen Gesicht immer streng schaute und nie viele Worte verlor. Eine Schwester sei krank geworden, jemand müsse die Speisung des Kieferlosen übernehmen. Hermann meldete sich sofort. Csallner sah ihn zweifelnd an. Er habe doch sonst schon bei den Armamputierten zittrige Hände. Ob er sich wirklich sicher sei?

Hermann nickte fest. »Ich bin mir sicher.«

Csallner rückte sich die Brille zurecht. »Die Speisung ist kein schöner Anblick.«

Hermann schwieg.

»Sie sind ja jetzt schon ganz bleich.«

»Ich habe wohl zu wenig gefrühstückt«, erwiderte Hermann und nahm die Schüssel mit dem Kartoffelbrei entgegen. Auf wackligen Beinen trug er sie zu dem Kieferlosen. Der Mann saß aufrecht in seinem Bett und sah ihn aus halbem Gesicht an. Hermann zog einen Stuhl heran. »Jetzt gibt es etwas zu essen«, erklärte er unsicher. Der Kieferlose gab einen kehligen Laut von sich und legte den Kopf in den Nacken. Der Schlund tat sich auf, Kehlkopf und Luftröhre lagen offen da. Die Speiseröhre war ein fleischiger Stollen, tief unten ein dunkelrotes Loch. Hermann versuchte, sie sich als einen Schlauch vorzustellen, über den man eine Maschine betankte. Es gelang nicht. Er musste den Blick abwenden und rührte den Brei. Der Löffel klackerte auf dem Porzellan. Der Kieferlose gab ein röchelndes Geräusch von sich. Es klang fordernd. Zögerlich füllte Hermann den Löffel. Gierig streckte ihm der Kieferlose den Schlund entgegen. Bläuliche Adern pulsierten im offenen Rachen. Hermann führte den Löffel hinein. Langsam rutschte der Brei die Speiseröhre hinunter. Rasch füllte Hermann den Löffel erneut. Er musste das so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Kieferlose hustete, Brei spritzte aus dem Schlund. Hermann spürte eine Hand auf der Schulter. Der Vater schaute ihn an. »Nicht so eilig.«

Schon bald ließ Hermann sich für den Nachtdienst einteilen. Nachts mussten keine eiternden Wunden versorgt werden, keine Glieder wurden amputiert, der Kieferlose hatte keinen Hunger und vor allem war der Vater nicht da. Nur gelegentlich verlangten Patienten nach einem Glas Wasser oder mussten auf die Toilette gebracht werden.

Viele Stunden stand Hermann allein am Fenster und starrte nach draußen in die Dunkelheit. Der Krieg beherrschte seine Gedanken. Nichts schien voranzugehen, ein endloser Stellungskrieg schien es zu werden, ohne dass die Mittelmächte oder die Entente einen Vorteil erringen konnten. In den Schützengräben stapelten sich die Leichen, viele Soldaten würden ihre Heimat niemals wiedersehen. Und Adolf?

Es bedrückte Hermann, dass immer seltener Post von seinem Bruder kam. Auch erzählte Adolf in seinen Briefen kaum noch von sich selbst und schrieb nur von seiner Truppe, die den Schrecken an der Front in Norditalien gemeinsam erlebte. Östlich des Isonzo kämpfte sie gegen die Offensiven der Italiener. Sie harrten aus in den Gräben und Kavernen der Gebirgshänge, lagen unter Artilleriefeuer, überall Leichengestank, sie litten Hunger und Durst, fürchteten den Tod. Bald verschwand aus Adolfs Briefen auch die Truppe und es blieb nur ein »man«: Man hört die Donnerschläge der Feldkanonen, das Knattern der Gewehre, das Geschrei der Kameraden. Man sieht die Feuerbrunst über den Schutthaufen, die Blitze der Explosionen, man riecht das Schwarzpulver und den süßlichen Verwesungsgeruch, man spürt das Zittern des Berges, man fühlt die Erschütterung.

Die Beschreibungen wurden mit jedem Brief kürzer und bald stand darin kaum mehr als der Ort, von wo aus sein Bruder ihnen geschrieben hatte. Der Krieg musste schnell vorübergehen, bevor Adolf vollends verstummte.

Früher hatte Hermann nur in der Kirche gebetet, weil der Gottesdienst das eben so vorschrieb, aber nun am Fenster überkam es ihn manchmal und er faltete stumm die Hände, in der Hoffnung, es möge seinem Bruder helfen. Doch er wollte nicht nur hoffen, er wollte selbst etwas tun. Und er hatte auch schon eine Idee.

Seine Rakete konnte nicht nur in den Weltraum fliegen. Sie konnte auch einen Krieg entscheiden. Sie konnte Frontlinien, Schützengräben und Schlachtfelder überflüssig machen. In wenigen Minuten konnte sie von Österreich nach Italien gelangen, von Deutschland nach Frankreich – keine Möglichkeit, sie aufzuhalten. Sie konnte Rüstungsanlagen angreifen und feindliche Anführer bedrohen – Leute, die entschieden, den Krieg zu führen, ihn aber selbst nie erleben mussten. Was würde der Entente übrigbleiben, als die Kapitulation zu erklären? Soldaten, die jetzt noch hungernd an der Front ausharrten, würden heimkehren. Adolf würde heimkehren.

Die kommenden Monate saß Hermann während des Nachtdienstes im Büro seines Vaters und arbeitete an der Rakete. Viel schneller als zu Schulzeiten kam er voran. Er musste nicht, wie damals noch im Ruderboot, die Flächen unter Funktionenkurven in Raster teilen und die vielen kleinen Rechtecke für ein grobes Ergebnis aufsummieren. Die Infinitesimalrechnung half ihm, Integrale und Differentiale innerhalb weniger Minuten exakt zu lösen.

Er fühlte einen kindlichen Stolz, am liebsten wäre er zur Mutter gegangen und hätte ihr wie früher davon erzählt. Doch sosehr er sich auch danach sehnte, es wäre vergeblich gewesen. Sie hätte geistesabwesend in die Ferne geschaut und stumm genickt, so als habe man ihr eine Tasse Tee angeboten. Oder sie wäre wütend geworden und hätte, ganz den Vater im Sinn, geschimpft, er solle von diesen Fantastereien die Finger lassen.

Und zum Vater konnte er erst recht nicht gehen. Er musste an einen Streit denken zwischen Großvater Friedrich und dem Vater, von dem ihm die Mutter einmal erzählt hatte. Da hatte der Großvater auf einem Weihnachtsfest verkündet, in der Medizin sei die Zeit der Messer und der Scheren bald vorbei. Der Vater hatte den Kopf geneigt und seine Gans geschnitten. Was er dazu meine, hatte der Großvater ihn gefragt.

Er habe da seine Zweifel, hatte der Vater heiser erwidert.

Der Großvater war aufgesprungen. Wie könne man da Zweifel haben!

Der Vater schaute auf seinen Teller. Im Körper würden schlimme Dinge passieren, erklärte er. Da bleibe einem Arzt nichts anderes übrig, als sie herauszuschneiden.

Jesus Christus, rief der Großvater. So könne nur ein Chirurg sprechen. Ob der Vater denn auch glaube, die Gans auf dem Tisch sei mit Pfeil und Bogen geschossen worden?

Das glaube er nicht, sagte der Vater.

Oder ob er glaube, in den neuartigen Glühbirnen lodere ein Feuer?

Auch das schließe er aus.

Man könne es also sehen: Überall in der Welt gehe der Fortschritt voran. Nur in der Medizin werde man auch zukünftig bei den primitivsten Werkzeugen bleiben? Das könne man doch nicht ernsthaft behaupten!

Das behaupte er auch nicht, erwiderte der Vater. Er habe bloß Zweifel, dass man ganz auf sie verzichten könne.

Der Großvater warf die Hände in die Luft. Ob der Vater wirklich so fantasielos sei? Ob er sich nicht vorstellen könne, dass Pillen und Tränke bald Scheren und Messer ersetzen würden?

Der Vater kaute.

Ob er das ganz und gar ausschließen könne?

Ausschließen könne er natürlich nichts, sagte der Vater.

Na also! Der Großvater klatschte in die Hände. Habe man das also geklärt. Er setzte sich wieder an den Tisch und nahm ein weiteres Stück vom Gänsebraten. Und der Vater schwieg.