Über das Buch

Im Jahr 1984 ist London Teil des Staates Ozeania, eine von drei Weltmächten. Das Leben der Bürger wird von der regierenden Partei, an deren Spitze der symbolhafte Große Bruder steht, auf Schritt und Tritt überwacht. Der neununddreißigjährige Winston Smith verbringt als Mitarbeiter des Ministeriums der Wahrheit seinen Alltag damit, die Geschichte zugunsten der aktuellen Parteilinie umzuschreiben. Aber in seinem Inneren wächst ein Widerstand gegen das totalitäre System. Als Winston sich verbotenerweise verliebt und eine Affäre eingeht, muss er auf schmerzhafte Weise erfahren, was der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung kostet.

Big Brother, Fake News und alternative Fakten: George Orwell hat in seinem visionären dystopischen Meisterwerk eine Sprache geschaffen, die Einzug in unsere Realität gefunden hat und uns plakativ vor Augen führt, welche Gefahren in einem absoluten Überwachungsstaat liegen.

Ansichten über Wahrheit

Vorwort von Robert Habeck

George Orwell ist der Analytiker des Totalitarismus. Bis 1989 und dem Ende des real existierenden Sozialismus blieben seine Romane ›1984‹ und ›Farm der Tiere‹ die vielleicht jeweils aktuellsten Bücher ihrer Zeit. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetrepublik und dem beschworenen Sieg des globalen kapitalistischen Liberalismus schienen sie historisch geworden zu sein. Aber heute, nochmals dreißig Jahre später, sind sie wieder aktuell, vielleicht aktueller denn je. Denn nicht nur gewinnen autoritäre Regime global gesehen an Zuspruch, auch Staaten, die von sich glauben mögen, sie seien die ehemaligen Fackelträger der Freiheit und Demokratie, werden von einem autoritären Populismus gebeutelt. Insofern erleben wir derzeit nicht einfach nur eine neue Teilung der Welt in liberale und illiberale Demokratien, autoritäre Herrschaft gegen eine freiheitliche, liberale Ordnung. Wir erleben, wie das Gift des totalitären Denkens auch in das Fundament der Demokratie einsickert und sie von innen auszuhöhlen droht. Neue Allianzen entstehen zwischen weltanschaulich ganz unterschiedlich ausgerichteten Regierungen, die jedoch alle die Ablehnung gegen Freiheitsrechte, Pressefreiheit und Gewaltenteilung eint. Für alle, die die Instrumente des Autoritären, des Totalitären verstehen wollen, ist das Wiederlesen von George Orwell ein Muss.

Bedrohlich ist diese Entwicklung und Systemkonkurrenz zwischen autoritären und freiheitlichen Staaten, weil Erstere anders als früher möglicherweise auch einen ökonomischen Vorteil durch das massenweise Abgreifen von Daten haben. Galt es in der analogen Welt als ausgemacht, dass Wettbewerb, Freiheit und Kreativität und Marktwirtschaft gegenüber Planwirtschaft, gelenkten Prozessen, Oligopolen und Kartellen mindestens langfristig überlegen sind, weil sie effizienter und schneller Erkenntnisse und Innovationen hervorbringen, so ist das in der digitalen Wirtschaft bei Weitem nicht sicher. China beispielsweise mit seinen großen, zentral gesammelten Daten über Verhaltensweisen, Krankheitsbilder, persönliche Vorlieben weiß viel mehr über die Gesellschaft als die europäischen Staaten. Der Staat hat einen gigantischen Informationsvorteil gegenüber den dezentralen Wirtschaftssystemen. Erst recht, wenn Künstliche Intelligenz mit ins Spiel kommt und die Datenmengen auswertet. Für Demokratie und Bürgerrechte ist diese staatliche Kontrolle inakzeptabel. Der Machtvorteil gegenüber einer freien Gesellschaft, die das private Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht ausspäht und ausbeutet, ist jedoch immens. Ob die liberalen Demokratien diese neue Systemauseinandersetzung bestehen werden oder nicht, hängt ganz maßgeblich von der Frage ab, ob es ihnen gelingt, sich gegenüber den großen Herausforderungen unserer Zeit als handlungsfähig zu erweisen.

Für heutige Generationen, die freiwillig ihre privatesten Angelegenheiten im Internet teilen und die daran gewöhnt sind, dass Google immer weiß, wo wir uns gerade befinden, scheint die Überwachung durch die Technik, die Orwell in ›1984‹ aufzeigt, möglicherweise geradezu altmodisch. Dabei wird übersehen, wie aktuell die damit verbundene Warnung ist. Zynischerweise liefert gerade die Corona-Krise Beispiele en masse dafür, was technische Überwachung mittlerweile zu leisten in der Lage ist. Und die autoritären Herrscher weltweit nutzten die Lebensgefahr durch das Virus radikal aus. Parlamentarische Mitbestimmung, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit wurden eingeschränkt. China vor allem spielte während der Corona-Zeit seinen technisch-totalitären Komplex voll aus und nutzte sein »Social Scoring«-System, um Menschen mit Corona-Infektion zu isolieren, indem ihnen beispielsweise verwehrt wurde, Züge, Busse oder Bahnen zu benutzen oder einzukaufen. Dritte konnten über ihre Smartphones identifizieren, wo sich Corona-Infizierte aufhielten. Über die Gesichtserkennung des Handys und die Temperaturmessung des Fingers auf dem Touchscreen konnte eine Vordiagnose getroffen werden. Der chinesische Staat übte totale Überwachung aus und kontrollierte das Verhalten seiner Bürgerinnen und Bürger bis ins letzte Detail. China schuf durch das »Social Scoring« den gläsernen Untertanen. War man schon daran gewöhnt, dass das Überqueren von Straßen ohne Erlaubnis gefilmt und gespeichert wurde, ist die Ausweitung der sozialen Kontrolle auf die Gesundheitsdaten der Menschen eine weitere Dimension auf dem Weg zur sozialen Manipulation. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari wies in einem Gastbeitrag in der Financial Times am 20. März 2020 darauf hin, dass Emotionen messbare biologische Phänomene seien wie Krankheitssymptome. Wird auf Handys oder in Armbändern eine Technik eingesetzt, die Erkältungen und Infekte erkennen kann, ist sie auch in der Lage, Gelächter oder Ablehnung zu erkennen – und könnte dieses Wissen zur Beeinflussung von Meinungen nutzen. Das markiert die Grenze zwischen Überwachung und Manipulation. Und es ist genau diese Grenze, die Orwell schon in ›1984‹ sichtbar gemacht hat. So schlimm es ist, in einem Staat zu leben, in dem das Recht auf freie Rede genommen ist, schlimmer ist es, in einem Land zu leben, das die Menschen so manipuliert, dass sie überhaupt nicht mehr auf den Gedanken kommen zu widersprechen, beziehungsweise ihnen die Sprache genommen wird. Auch hier liefert die jüngste Geschichte eindringliche Beispiele dafür, dass genau solche Versuche immer wieder unternommen werden, auch in Deutschland. Nach der Landtagswahl in Thüringen 2019 konnte man AfD-Funktionären einen Abend lang zuschauen, wie sie behaupteten, dass ihr Wahlerfolg ein Sieg über Hass und Hetze sei. Diejenigen, die alle Grenzen des Sagbaren verschieben und überschreiten, beklagen sich, dass es in Deutschland Sprachverbote gebe. Diejenigen, die Anstand und Moral vermissen lassen, bezeichnen sich als bürgerlich. Diejenigen, die die Demokratie zu einer Volksherrschaft umbauen vollen, beschimpfen sie als Diktatur und Fassadendemokratie. Wir erleben in diesen Zeiten ein orwellsches NeuSprech par excellence. Aus Lüge wird Wahrheit und aus Wahrheit Lüge.

›1984‹ erneut zu lesen, hatte einen eigentümlichen Effekt auf mich. Als ich das Buch das erste Mal las, noch in der Schule, war es für mich eine Metapher für die totalitären Regime der dunkelsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, des Stalinismus und des Nationalsozialismus. Es führte vor, wie Menschen gebrochen und manipuliert werden, wie Faschismus funktioniert, wie die Wirklichkeit zu einer einzigen Manipulation wird. Man weiß nicht, ob der Krieg, den Eurasien gegen Ozeania und Ostasien im Roman führt, tatsächlich stattfindet oder ob die Raketenangriffe nicht doch auf das Konto der eigenen Regierungen gehen, um ihre Gewalt zu rechtfertigen, so, wie beispielsweise der Reichstagsbrand 1933 in Berlin von den Nazis gelegt wurde, um Kommunisten und Sozialdemokraten zu inhaftieren. Und am Ende des Tages wird ein großer Sieg vermeldet, wie in der Wochenschau der Nazis.

Man weiß auch nicht, ob Emmanuel Goldstein, der Widersacher des Systems, und die Untergrundbewegung der »Bruderschaft« überhaupt existieren. Vermeintliche Freunde entpuppen sich als Spitzel, die Gedankenpolizei spürt nicht nur Verrat auf, sondern implementiert den Gedanken an Verrat in Köpfen, nur um diese dann abzuschlagen. Und am Ende verraten sich auch die einander liebenden Hauptfiguren, Winston Smith und Julia, gegenseitig. Es bleiben nur Scham und gebrochene Individualität. Es bleibt nichts Gutes. Es bleibt keine Hoffnung.

›1984‹ war für mich früher die literarische Intensivierung dessen, was ich aus Geschichtsbüchern und Nachrichtensendungen kannte. Es war die Veranschaulichung dessen, was die Generation meiner Großeltern im Nationalsozialismus und meiner Onkel und Tanten in der DDR erlebt haben müssen. Es war eine überzeugende Darstellung davon, wie es sich anfühlen muss, wenn die Intimsphäre ausgeleuchtet wird. »Ständig beobachteten dich seine Augen, ständig umgab dich seine Stimme. Beim Schlafen und beim Wachen, bei der Arbeit und beim Essen, zu Hause und auf der Straße, in der Badewanne und im Bett – es gab kein Entkommen. Nichts gehörte dir selbst, außer den paar Kubikzentimetern im Inneren deines Schädels.«

Aber es hatte damals nichts mit meiner Wirklichkeit zu tun. Und auch all die Kampagnen der letzten Jahre, die sich auf »orwellsche Überwachung« beriefen, gegen Vorratsdatenspeicherung, Datenleaks, Volkszählungen, Videoüberwachung, Warnung vor Amazons Alexa etc. fand ich letztlich an den Haaren herbeigezogen. Den orwellschen Überwachungsstaat auf den Bildschirm zu reduzieren, reduziert den Roman auf die Auflistung technischer Instrumente. Letztlich leben wir in einer freien Demokratie, das war immer meine feste Überzeugung gewesen. Und das Vertrauen darauf hat die Orwell-Lektüre für mich zu einem Spiegel der Vergangenheit gemacht. Eindringlich, ja. Grundsätzlich, unbedingt. Immerhin ist ›1984‹ einer der wenigen Romane der Weltliteratur, von dem es Elemente in unser sprachliches Allgemeingut geschafft haben – »Big Brother is watching you«. Aber diesen Roman darüber hinaus als gegenwärtig zu bezeichnen? Irgendwie schien mir diese Interpretation etwas überzogen, etwas zu dystopisch.

Beim erneuten Lesen ist es mir vollkommen anders gegangen. Ehrlich gesagt, habe ich dabei überhaupt nicht mehr an 1933–1945 oder die DDR oder Sowjetrussland gedacht. Ich dachte nur noch an unsere Zeit, unsere unmittelbare Gegenwart. Und das liegt an der von Orwell messerscharf vorgeführten Analyse, wie Sprache manipuliert werden kann. Wie Geschichte umgedeutet werden kann. Wie der Gesellschaft ein festes Wertefundament entzogen wird, sodass am Ende nur noch Angst und totale Unterwerfung übrig bleiben.

Da ist zunächst die Hauptperson Winston, die mit ihrer Arbeit im »Ministerium der Wahrheit« selbst dazu beiträgt, die Geschichte so umzuschreiben, dass sie zu der gegenwärtigen herrschenden Doktrin passt. In einem gewissen Sinn interpretiert Politik die Vergangenheit immer zu ihren Gunsten. Aber Orwell zeigt, dass die Vergangenheit nicht nur auf eine bestimmte Art und Weise interpretiert, sondern tatsächlich verändert wird. Das ist etwas ganz anderes. Es macht einen Unterschied, ob man darüber streitet, was die deutsche Geschichte ausmacht, oder ob man behauptet, die »Wehrmacht« der Nazis stehe in einer humanistischen Tradition, bzw. der Holocaust sei ein »Vogelschiss in 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« gewesen, wie es Politiker der AfD in den letzten Jahren taten. Orwell führt in seinem dystopischen Roman dieses Umdeuten der Wahrheit und infolgedessen ihren Verlust vor. Und dann ist da vor allen Dingen »NeuSprech«. Eine Sprache, die »gereinigt« ist, die »schädliche Begriffe ausgemerzt hat« und damit nicht mehr nur Propaganda ist, sondern eine eigene Wirklichkeit schafft, eine, in der es keine Wahrheit mehr gibt, sondern nur noch Ansichten über Wahrheit, wo dann »Unwissenheit« »Stärke«, »Krieg« »Frieden«, »Freiheit« »Sklaverei« ist. So entsteht »DoppelDenk«, eine Logik, nach der von zwei widersprüchlichen Überzeugungen beide richtig sind. Heute nennt man das »alternative Fakten« oder »Fake News«. Aber der Mechanismus ist der gleiche. Die Wahrheit als Basis einer gemeinsam geteilten und interpretierten Wirklichkeit wird zerstört. NeuSprech und DoppelDenk, beides feiert heute fröhliche Urständ – beides wird als politisches Mittel gebraucht. Die Manipulation durch Lügen und gefälschte Zitate, die Zergliederung des öffentlichen Raumes in lauter Gruppen und Grüppchen, oft unterstützt durch die sozialen Medien. »Die Partei sagte, man dürfe seinen Augen und Ohren nicht trauen. Das war ihr entscheidendes, ultimatives Gebot«, heißt es in ›1984‹. Und genau so agieren Populisten weltweit. Am radikalsten vielleicht der US-amerikanische Präsident, der beispielsweise behauptete, dass Bilder von seiner Amtseinführung, auf denen zu sehen ist, dass deutlich weniger Menschen anwesend waren als bei Barack Obama, von den Medien manipuliert worden seien. Was nicht seinem Weltbild entspricht, kann nicht wahr sein und ist »Fake News« oder im deutschen Pegida-Jargon »Lügenpresse«.

In ›1984‹ heißt es, nachdem die Beweisbilder manipuliert worden sind: »Du hast geglaubt, du hättest unwiderlegliche Beweise dafür gesehen, dass ihre Geständnisse falsch waren. Es gab da ein Foto, das Halluzinationen bei dir ausgelöst hat. Du hast sogar geglaubt, dass du es in der Hand gehabt hättest.«

Es geht bei diesen Formen der politischen Kommunikation nicht darum, dass Lüge zu einem Instrument der Politik wird. Denn Lüge setzt ein Bewusstsein von Wahrheit voraus. Das Dringliche und Eindringliche des Romans ist, dass er aufzeigt, wie nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterschieden werden kann. Und wenn das passiert, dann ist Demokratie am Ende. Weil es keinen gemeinsamen Grund mehr gibt, auf dem und von dem aus man streiten kann. Oder wie es im »Anhang: Die Grundlagen von NeuSprech« heißt: »Der Zweck von NeuSprech bestand nicht nur darin, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und die Geisteshaltung […] zu schaffen, sondern darin, jede andere Denkweise a priori unmöglich zu machen. Sobald NeuSprech ein für alle Mal angenommmen und AltSprech vergessen war, sollte jeder häretische […] Gedanke buchstäblich un-denkbar sein, jedenfalls, soweit er sich auf Worte stützte. Das Vokabular war so konstruiert, dass es den Parteimitgliedern erlaubte, alles Nötige korrekt und oft sehr subtil auszudrücken, während es den Ausdruck irgendwelcher anderer Ansichten (auch auf indirektem Weg) von vornherein unmöglich machte.«

Die Zerstörung der Erinnerung ist ein weiteres Ziel von NeuSprech und DoppelDenk. Und auch die begegnet uns heute. Wenn etwa die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland als »Vogelschiss« und das Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« bezeichnet wird, wie es AfD-Politiker tun, dann soll damit die gemeinsame Erinnerung, auf der unsere freiheitliche Rechtsordnung aufgebaut ist, zerstört werden. Unser Grundgesetz beruht in seinen Artikeln 1 und 3 maßgeblich auf der Erfahrung, dass die Würde des Menschen angegriffen werden kann, dass Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihres Namens ausgegrenzt, ausgemerzt werden können. Und dieses historische Bewusstsein soll nach Auffassung dieser Partei zerstört werden, damit die Gegenwart umgedeutet und uminterpretiert werden kann. »Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft, und wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.« Durch Manipulation, Verdrehung von Tatsachen oder der Bedeutung von Geschehnissen, Auslöschen von Erinnerung.

Winston und Julia wehren sich dagegen mit ihren eigenen Mitteln. Sie führen »Gespräche auf Raten«. Sie versuchen, amoralisch zu sein. Sex zu haben, gegen die exerzierte Lustlosigkeit. »Sie hatte es viele Dutzend Mal getan, und er wünschte sich, es wäre hundert- oder tausendmal gewesen. Alles, was auf Verdorbenheit hinwies, erfüllte ihn immer mit wilder Hoffnung. Wer weiß? Vielleicht war die Partei ja unter der Oberfläche völlig verfault und der Kult der angestrengten Selbstverleugnung in Wirklichkeit nur eine Täuschung, hinter der sich ein Sündenbabel verbarg?« Täuschung ist hier das Schlüsselwort. Denn während Winston sich noch einer Hoffnung auf ein anderes Leben in anderen Umständen hingibt, ist er schon längst Gegenstand der Überwachung.

In ›1984‹ gibt es nicht mehr die eine geteilte Wirklichkeit, sondern verschiedene Universen der Täuschung. Auch das kann man heute beobachten. Der Journalismusforscher Gerret von Nordheim hat nach dem Amoklauf von München im Juli 2016, bei dem neun Menschen in einem Einkaufszentrum erschossen wurden, 80.000 Tweets ausgewertet. Es gab zwei Kern-Tweets, die die Kommunikation bestimmten und Cluster bildeten. Der eine Cluster wurde durch die Twitter-Kommunikation der Münchner bestimmt. Auf deren Kommunikation bezogen sich die großen Medien wie ›Tagesschau‹ oder ›Spiegel Online‹. Das andere Cluster war ein Netzwerk aus rechten Organisationen und AfD-Politikern. Der Tweet mit der größten Reichweite in diesem Cluster lautete: »Deutschland im Visier des islamistischen Terrors! Nun muss das deutsche Volk für die Fehler der Regierung Merkel bluten!« Beide Cluster wiesen so gut wie keine Verbindung miteinander auf. Es gab geschlossene, parallele Deutungswelten.

Dieses Phänomen ist nicht neu. Und es gab es schon lange vor dem Internet. Auch in unserem Alltag umgeben wir uns mit Menschen, die so ähnlich ticken wie wir. Die Freunde, die wir haben, haben meist ähnliche Meinungen und Einstellungen wie wir. Der Grund ist einfach und einfach nachzuvollziehen. Es ist schlicht anstrengend, sich permanent infrage stellen zu lassen oder sich dauernd entschuldigen zu müssen. So ist die ›taz‹ eine Zeitung des linksliberalen Milieus, und die meisten Grünen lesen sie. Die ›FAZ‹ ist eine bürgerliche Zeitung, und nur wenige Grüne lesen sie, geschweige denn die ›BILD‹. Aber welche Zeitung auch immer – einmal gedruckt, antwortet sie nicht. Auch wenn man eine Zeitung liest, die einem politisch nahesteht, sie wird immer Artikel und Aspekte haben, die einem neu sind, die einen herausfordern. Das Internet und die sozialen Medien sind nicht nur schneller, sondern auch individueller, ja individualisierbarer. Und das macht den entscheidenden Unterschied aus. Durch Antworten und Retweets bestätigen sich Nutzer permanent selbst, sowohl in ihren Urteilen als auch in ihren Vorurteilen. Die eigene Weltsicht wird zu einer Echokammer, »ein selbst tragendes Parallelnetzwerk, das sich selbst genügt«. Die digitale Welt zersplittert die Gesellschaft in User-Gruppen von hoher Homogenität. Innerhalb dieser Gruppen bestätigen sich die Leute permanent in ihren Urteilen wie Vorurteilen. So entstehen zunehmend homogene Milieus, unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmungen. Und eine Politik, die auf Widerspruch angelegt ist, die autoritär und illiberal ist, kann sich dies sehr geschickt zunutze machen. Von der Struktur her neigen die sozialen Medien – Twitter und Facebook – nicht zur analytischen Debatte, sondern zur populistischen Polemik, zum Freund-Feind-Schema. Und weil die modernen sozialen Medien eine solche emotionale Kraft haben, weil sie die Gefühle in uns ansprechen und uns vor allem bei unseren negativen Gefühlen packen, bei Neid, Hass, Eifersucht, sind sie Werkzeuge der Manipulation. Sie sind zwar »sozial« in dem Sinne, dass wir uns durch sie besser zusammenfinden, verabreden und verstehen können, aber auch sozial-selektierend. Und je fester und fest gefügter das Weltbild in der eigenen Filterblase und Twitter-Wolke ist, umso mehr wird die gesellschaftliche Spaltung durch soziale Selektierung verstärkt. Wie beim Aufkommen der Verschwörungstheorien während der Corona-Krise gut zu beobachten war, gab es für die Menschen, die ausschließlich in ihren Internetwelten lebten, nur noch ihre eigene Wahrheit. Und für eine so sozial selektierte Gesellschaft gibt es gar keinen Ort mehr, von dem aus Wahrheit festgestellt werden kann. Das ist der orwellsche Albtraum. Nicht der Streit um die richtige Wahrheit, noch nicht mal die Unterdrückung des Streites durch staatliche Kontrolle, sondern dass es einfach kein Bewusstsein für abweichende Meinungen mehr gibt. Dass man unbewusst »etwas in den Staub auf dem Tisch malt: 2 + 2 = 5«.

»NeuSprech war darauf angelegt, die Reichweite des Denkens zu verkleinern«, heißt es im »Anhang« von ›1984‹. »Alle Zweideutigkeiten und Bedeutungsnuancen waren beseitigt worden. […] Eine kritische Haltung […] war schon deshalb hilflos, weil sie sprachlos und unbestimmt bleiben musste.« Äußern tut sich das dann beispielsweise im Denken von Katharine, Winstons erster Frau. »Sie hatte keinen Gedanken im Kopf, der kein Slogan war, und es gab keine Idiotie, die sie nicht mitgemacht hätte, solange sie von der Partei kam. ›Die menschliche Schallplatte‹ hatte er sie in seinen Gedanken getauft.« Selbst der Sex wird zum sprachlich denunzierten Objekt. »Sie erinnerte ihn schon am Morgen daran. Es war eine Pflicht, die am Abend getan werden musste und auf keinen Fall vergessen werden durfte. Sie hatte zwei Namen dafür. Der eine war ›ein Baby machen‹ und der andere ›unsere Verpflichtung gegenüber der Partei‹.« Alle anderen Deutungen und Gefühle, Liebe, Romantik, Begierde, Zärtlichkeit sind abtrainiert.

Auch Übersetzungen sind immer relativ. Sie sind immer geprägt durch die Erfahrungen und den Horizont ihrer jeweiligen Zeit. Deshalb ist es gut, dass es eine Neuübersetzung von ›1984‹ gibt. Zu der neuen Aktualität von Orwell und ›1984‹ vor dem Hintergrund der politischen und medialen Verschiebungen unserer Zeit, dem Systemkampf eines neues Autoritarismus, ja digitalen Totalitarismus gegen die freiheitliche, liberale Demokratie, passt die Aktualisierung von ›1984‹ gut.

Sprache schafft dir Wirklichkeit. Und erst recht in der Politik. Freiheit – auch die der Sprache und der Rede – und Verantwortung gehören zusammen. Darauf gründet sich Demokratie. Das ist der Kern unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Und bei all den Ungerechtigkeiten und all den Aufgaben, die zu tun sind – wir leben in der besten Demokratie, die es in Deutschland je gab, wir leben in der freiesten Gesellschaft, die wir je hatten –, und die Feinde der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaats, sie zielen darauf, die Freiheit der Rede und der Gesellschaft durch gezielte Verantwortungslosigkeit zu zerstören. Wie das geschehen kann, zeigt ›1984‹. Dass es Fiktion bleibt und nicht Wirklichkeit wird, ist unsere Aufgabe.

1984

TEIL I