Über das Buch

In den Gassen von Paris geht ein Pamphlet von Hand zu Hand: Es diffamiert Ludwig XIV. und seine Mätressenwirtschaft. Der Sonnenkönig tobt und verlangt, den Urheber unverzüglich dingfest zu machen. Als das Flugblatt dem jungen Buchbinder Paul in die Finger kommt, schmiedet er zusammen mit seiner Geliebten Marianne, der Frau seines Meisters, einen perfiden Plan: Sie wollen dem Meister die skandalöse Schrift unterschieben und ihn an die Polizei verraten – und dann wie das Staatsoberhaupt frei in Lust und Laster leben. Aber Paul und Marianne ahnen nicht, welche verhängnisvollen Folgen ihre Intrige haben wird.

Basierend auf einem wahren Justizfall erzählt Janet Lewis lebendig und mit grandioser sprachlicher Klarheit, wie moralische Verkommenheit ihren Weg vom schillernden Hof in die dreckigen Gassen von Paris findet.

 

 

 

 

Auch diesmal möchte ich der John Simon Guggenheim Memorial Foundation für das 1950 bewilligte Stipendium danken, das mir die neuerliche Reise nach Frankreich ermöglicht hat.

 

Janet Lewis

 

 

 

 

Dieses Buch ist für Dan

1

Der Buchbinder Jean Larcher saß mit seiner Frau und seinem Sohn beim Abendessen. Es war Ostersonntag, der in diesem Jahr des Herrn, dem Jahr 1694, und dem einundfünfzigsten Jahr der Herrschaft Louis’ XIV., auf den elften April fiel. Sie saßen an dem mit weißem Leinen gedeckten Tisch in einem der vier Zimmer, die Larcher in der Rue des Lions in Paris mietete, in einem Haus, das selbst damals schon alt war. Das Zimmer, das als Küche, Wohnzimmer und Verkaufsraum diente, war sehr klein. Trotz des Steinfußbodens und des riesigen altmodischen Kamins hatte es eine gewisse Eleganz, die Eleganz der vergangenen Generation. Die Proportionen waren gut.

Vor dem Fenster, dessen Läden noch nicht geschlossen waren, schwand langsam das Zwielicht aus dem bewölkten Frühlingshimmel. In der Küche wurde es unmerklich dunkler, während die Familie Larcher das Brot brach und ihre Suppe aß. Als Jean den Löffel neben die leere Schüssel legte und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, stellte er überrascht fest, dass die Gesichter der anderen, obwohl ganz nah, nur noch undeutlich zu erkennen waren. In den Ecken der Küche war es schon dunkel. Selbst die Kohlenglut im Kamin leuchtete nur noch mattrot. Aber durch das vergitterte Fenster sah er die Straße, im Gegensatz zum Zimmer, in hellem Licht, was ihm bewusst machte, dass die Tage länger wurden, und das stärkte seine Zuversicht: Der Frühling hielt Einzug, der Winter lag hinter ihnen.

Der Winter war schwieriger gewesen als sonst, mit Entbehrungen und Missständen weit über das normale Maß hinaus. Bei der bitteren Kälte war die Seine zugefroren. Die Stadt, die über den Fluss versorgt wurde, musste tagelang in einer Art Belagerungszustand ausharren, und die noch größere Knappheit zu einer Zeit, als schon lange Mangel an Getreide und Brot herrschte, brachte immenses Leid über die Bevölkerung. Mit dem einsetzenden Tauwetter wurden die Boote und Kähne von den aufbrechenden Eismassen zusammengeschoben oder von der Gewalt des plötzlich frei strömenden Wassers gegen die Brückenpfeiler gedrückt, worauf sie zerbarsten und sanken. Jean Larcher hatte diese Verwüstung mit eigenen Augen gesehen. Die Rue des Lions lag in der Nähe des Flusses. Den ganzen Winter über waren obdachlose, kranke und hungernde Menschen durch die Straßen gezogen. Wo immer auf den Märkten Brot verkauft wurde, hatte es Schlägereien gegeben; und obwohl die Reichen weiterhin uneingeschränkt im Wohlstand lebten und anlässlich der Verheiratung ihrer Töchter große Gelage und Feste veranstalteten, ging es Geschäften wie dem seinen nicht gut. Der König führte Sparmaßnahmen ein, Sparmaßnahmen waren üblich geworden, wenn schon nicht bei Hochzeiten, so doch bei gut gebundenen Büchern. Jetzt aber war der Winter vorbei, und die Familie Larcher hatte ihn überstanden.

Sie hatte ihn sogar mit einem kleinen Gewinn überstanden und ein »Osterei« zurücklegen können. Die Familie war zur Beichte und zur heiligen Kommunion gegangen und hatte an diesem Ehrentag überdies gut gegessen. Auf dem Tisch lag eine weiße Leinendecke, es hatte Weißbrot gegeben, Suppenhuhn mit Lauch und zum Nachtisch Walnüsse mit Rosinen.

Jean Larcher war ein frommer Mann. Im Frühling hielt er so gewissenhaft und pflichtbewusst die Fastenzeit ein, wie er übers Jahr seine Geschäftsbücher führte, und wenn er das Gefühl hatte, dass alles in Ordnung war, genoss er bei aller Gottesfurcht eine stille Zufriedenheit. Er war von kräftiger Statur mit breiten Schultern und einem Gesicht, das eher kantig war als rund und einfache, aber angenehme Züge hatte; sein Haar wurde an den Schläfen schon grau, und um den Mund lagen ein paar deutliche Falten. Er füllte den Armlehnstuhl ganz aus. Was den Gewinn aus seinem Geschäft anging, der steckte in Form von zwei Pistolen in den tiefen Taschen seiner langen Wollweste. Von Zeit zu Zeit vergewisserte er sich mit den Fingerspitzen, dass sie noch da waren.

Ihm gegenüber saß seine Frau, sie hatte beide Unterarme auf den Tisch gelegt und den mit einer weißen Leinenhaube bedeckten Kopf geneigt. Um sich zu wärmen, hatte sie die Ellbogen mit den Händen umfasst und drückte die Unterarme an die Brust. Die üppigen Rüschen ihrer Sonntagsbluse fielen ihr über die Hände wie ein Muff, und das Weiß von Haube und Ärmeln war deutlicher zu sehen als ihr Gesicht. Die fächerförmigen Rüschen der Haube wippten bei jeder Kopfbewegung.

Jean brauchte das Gesicht seiner Frau nicht zu sehen, er kannte ihre Züge: das runde Kinn, die grauen Augen mit den schweren Lidern und den dichten Wimpern, den Mund, der immer schon, seit ihrer ersten Begegnung, zartrosa aus der gleichmäßigen Blässe ihres Gesichts hervortrat. Er kannte das Gesicht auch von der Berührung her, fest und kühl. Die glatte Haut war von keiner Krankheit entstellt.

Das Gesicht seines Sohnes, der näher bei ihm saß, war im Zwielicht klarer zu erkennen, aber schwieriger zu deuten. Er kannte dessen Maske sehr gut, mit Zügen, die seinen eigenen glichen, die junge, flaumige Haut, die Pockennarbe, eine einzige, zwischen den dichten, glatten Augenbrauen – er wusste, dass sie da war, obwohl er sie nicht sehen konnte. Er wusste es, denn er hatte viele Stunden am Bett des kleinen, fiebrigen Jungen gesessen und dessen Hände gehalten, um zu verhindern, dass er sich kratzte. Aber was hinter dieser Maske vor sich ging, welche brennenden Ideen den jungen Mann zu Taten drängten, die sein Vater missbilligte, darüber wusste er weniger gut Bescheid. Der Junge kam ihm beinah wie ein Fremder vor. Wann es zu dieser Veränderung gekommen war, konnte er nicht sagen, aber er hatte sie verständlicherweise an dem Tag bemerkt, als der Junge aus der Lehre nach Hause kam. Seitdem arbeitete Nicolas als geprüfter Geselle im Geschäft seines Vaters, jedoch ohne die Zufriedenheit, die sein Vater sich erhofft hatte. Jean hatte seinen Sohn in einer der besten Werkstätten der Stadt in die Lehre gegeben, nicht nur, damit der Junge ein besserer Handwerker würde als sein Vater, sondern auch, damit er unter strengerer Aufsicht lernte, als sein Vater sie aufgrund väterlicher Zuneigung üben konnte. Dem Jungen hatte er den zweiten Grund nie erklärt, noch hatte er zu seiner Frau davon gesprochen – ihm widerstrebte es, diese Schwäche einzugestehen.

Der Junge war im Begriff, eine Walnuss zu knacken, und zog die Stirn kraus. Sein Vater sah es und wusste, dass es nichts mit der Nuss zu tun hatte. Wieder spürte er das Unbehagen, das ihn in letzter Zeit seinem Sohn gegenüber oft befiel, und um es zu vertreiben, sagte er nach einem tiefen Luftholen:

»Das Leben ist gut.«

Er sagte es mit fester Stimme, als würde diese Festigkeit der Aussage Wahrheit verleihen. Seine Frau hob den Blick und lächelte ihm kurz zu.

»Das Leben ist hart«, korrigierte sie ihn. »Die Suppe war gut.«

»Na ja«, stimmte er ihr zu, »die Suppe war nicht schlecht.«

»Ich gebe dir nur deine eigenen Worte zurück, Jean. Das Leben ist hart. Aber ich hätte nichts dagegen, für meine Suppe gelobt zu werden.«

»Ich lobe dich für die Suppe, Maman«, sagte Nicolas.

Marianne lächelte ihrem Sohn zu, und Jean schwieg. Er dachte, dass er sie in all den Jahren oft genug für ihre Kochkünste, ihre Sparsamkeit und ihre vielen anderen guten Eigenschaften gerühmt hatte. Es wären lauter überflüssige Worte gewesen, hätte er ihr gesagt, was sie ohnehin wusste. Stattdessen zog er jetzt die zwei Pistolen aus der Westentasche. Auf der Straße blieb ein Fußgänger vor dem Fenster stehen und betrachtete die dort ausgelegten Bücher, die Kunden in den Laden locken sollten. Der Mann ging weiter, und erst als deutlich war, dass er nicht hereinkommen würde, legte Jean die Münzen auf den Tisch, bedeckte sie aber mit den Händen.

»Was hast du da?«, fragte Marianne. »Silber?«

»Goldmünzen«, sagte Jean und nahm die Hände hoch. »Gefällt dir das?«

»Natürlich gefällt mir das.«

»Dann nimm sie«, sagte Jean. »Näh sie in die blaue Seidenrolle ein.«

»Und die Miete?«, frage Marianne.

»Ist bezahlt.«

»Und die Rechnung für Leder bei Pincourt?«

»Auch bezahlt.« Er gestattete sich ein bedächtiges Lächeln. »Es ist doch eine Freude, hin und wieder ein bisschen Geld beiseitelegen zu können.«

Nicolas entgegnete abrupt: »Es wäre auch eine Freude, es auszugeben.«

»Nicolas!«, rief seine Mutter in tadelndem Ton. Sein Vater, erstaunt und vor den Kopf gestoßen, antwortete dennoch ganz sachlich:

»Aber wir brauchen es nicht auszugeben. Bereitet es Freude, Geld auszugeben, das man nicht ausgeben muss?«

»Ja«, sagte Nicolas und fügte dann, um seiner Bemerkung die Spitze zu nehmen, was aber die Sache nur schlimmer machte, hinzu: »Wenigstens vermute ich, dass es so sein könnte. Bisher habe ich diese Erfahrung noch nicht gemacht.«

»Auf diese Erfahrung kannst du auch gut verzichten«, sagte Jean. »Eine andere Erfahrung, die du nicht kennst, ist die, Geld zu brauchen, wenn man keines hat.«

Nicolas blickte stumm in die leere Schüssel vor sich. Jean sah von seinem Sohn zu seiner Frau, die den Kopf wieder gesenkt hatte und ihre Rüschen betrachtete. Von ihr bekam er keine Hilfe. Mit seiner breiten Hand schob er – nicht sehr geschickt – ein paar verstreute Nussschalen auf dem Tischtuch zusammen und warf sie in seine Schüssel. Die beiden goldenen Pistolen lagen unberührt auf dem weißen Leinen. Er betrachtete sie und versuchte, das Gefühl der Befriedigung wieder wachzurufen, mit dem er sie dorthin gelegt hatte. In verändertem Ton sagte er:

»Nun, mein kleiner Colas, was würdest du denn mit zwei Pistolen machen?«

»Ich würde reisen. Du weißt, dass ich reisen würde.«

»Mit zwei Pistolen kämst du nicht sehr weit.«

»Bis nach Lyon würde ich kommen. Oder nach Rouen. Dann würde ich arbeiten. Ich könnte eine Menge lernen.«

»Und was würdest du in Rouen lernen, das du in Paris nicht besser lernen könntest?«

Darauf antwortete Nicolas nicht. Er sah seine Mutter an, die seinen Blick erwiderte und leicht lächelnd den Kopf schüttelte. Jean, der in den Blickwechsel nicht einbezogen war, wusste, dass die Diskussion beendet war. Sie hätte gar nicht erst aufkommen sollen. Er streckte die Hand nach den Münzen aus, bedachte sich dann aber anders und faltete seine große Leinenserviette, legte sie mit bedächtigen, präzisen, dabei leicht tastenden Bewegungen an ihren Platz und erhob sich. Die Zufriedenheit war seinem Abend genommen. Am Kamin fühlte er im Halbdunkeln nach Tabak und Pfeife und steckte beides in die Jackentasche. Dann ging er, hinter seiner Frau entlang, zur Tür und nahm den Hut vom Haken. Mit der Hand auf der Klinke sah er zurück zu den beiden Menschen am Tisch. Sie hatten sich nicht geregt, sie hatten nicht aufgesehen. Sie wussten, wohin er ging.

Als er gegangen war, brachen in dem stillen Raum ein paar Kohlenstücke im Kamin mit einem hellen Klicken auseinander. Eine kleine Flamme sprang auf und brannte munter eine Weile lang. Langsam begann Marianne, den Tisch abzuräumen. Die beiden Pistolen ließ sie unter ihrer Schürze in die Rocktasche gleiten. Nachdem sie die Tischdecke abgenommen, gefaltet und weggelegt hatte, holte sie einen eisernen Kerzenständer mit einer Talgkerze, stellte ihn auf den Tisch und zündete die Kerze mit einem Papierspan an, für den sie Feuer vom Kamin nahm. Das Flämmchen im Kamin erlosch. Jetzt übernahm die rußige gelbe Flamme der Kerze die Aufgabe, das Zimmer zu erhellen.

Als Marianne die hölzernen Fensterläden schloss, wurde die Spiegelung der Kerzenflamme in der Scheibe von ihrer Gestalt verdeckt, und sie sah durch das Glas, dass Wind aufkam. Staub trieb durch die Straße, Strohhalme wurden aufgewirbelt. Der Himmel war fast dunkel. »Bald gibt es Regen«, dachte sie und setzte sich wieder auf ihren Platz, wie zuvor die Unterarme auf den Tisch gelegt und die Arme an die Brust gedrückt. Zu dem jungen Mann mit dem hübschen, schmollenden Gesicht neben sich sagte sie:

»Du hast ihm die Freude verdorben.«

»Er ist wie der Geizige in dem Stück«, sagte Nicolas.

»Nein, der Geizige ist unvernünftig. Das ist dein Vater nicht. Er weiß« – sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten –, »er weiß, was wahrer Mangel ist.«

»Du verbündest dich mit ihm.«

»Nein«, sagte sie wieder. »Aber ich bin mit dem Gedanken, dass du uns verlassen willst, auch nicht glücklich.«

»Vor einer Weile warst du dafür.«

»Und du warst bereit, noch zu warten.«

»Warten ist schwer. In der Lehre habe ich mich darauf gefreut, meine Abschlusspapiere zu bekommen und ein freier Mann zu sein. Jetzt bin ich Geselle, aber ich bin genauso wenig mein eigener Herr wie damals als Lehrling.«

»Ein Kind ist natürlicherweise an den Vater gebunden.«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Du warst einverstanden, dass ich den Zeitpunkt abwarte, um mit ihm zu sprechen.«

»Das hatte ich vergessen«, sagte er. »Das Geld hat mich wieder darauf gebracht. Er ist vielleicht nicht wie der Geizige in dem Stück, aber wenn er von Geld spricht, tut er so, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.«

»Er hat große Angst vor Krankheit, vor dem Alter.«

Der junge Mann fiel ihr ungeduldig ins Wort.

»Das weiß ich doch alles. Er redet dauernd von Unglücken und Krankheiten und seinem Alter. Krankheit ist unvorstellbar bei ihm. Er ist stark wie eine Eiche.«

»Trotzdem ist er nicht mehr jung.«

»Aber er ist nicht alt.«

»Er ist so alt wie der König. Und der König, finde ich, ist alt.«

»Der König ist fünfundfünfzig.« Nicolas nahm es ganz genau.

Der Docht der Talgkerze war zu einem langen schwarzen Haken heruntergebrannt und lehnte am Kerzenrand, die Flamme flackerte unstet. Der Junge nahm ein Messer aus der Tasche und zog es aus dem Futteral, richtete damit den Docht auf und kürzte ihn. Bei dieser kleinen Aufgabe wich die Verärgerung aus seinem Gesicht. Es wurde weicher, und seine Mutter wagte einen weiteren Vorstoß:

»Du könntest versuchen, ihn zu verstehen.«

»Warum?«, sagte der Junge in aller Ruhe. »Er versucht auch nicht, mich zu verstehen.«

»Das weißt du nicht.«

»War er überhaupt mal jung?«

Marianne antwortete nicht sofort. Sie blickte lange in die runde gelbe Flamme, dann sagte sie mit einem Seufzen: »Er war ein erwachsener Mann, als ich ihn kennenlernte.«

»Dann ist er doch älter als du«, sagte der Junge neugierig.

»Viel älter. Als ich ihn geheiratet habe, war ich so alt wie du jetzt.«

»Und trotzdem findest du, dass ich zu jung bin, um allein aus Paris wegzugehen.«

»Darum geht es doch nicht«, sagte Marianne. »Er hat sich so darauf gefreut, mit dir in der Werkstatt zu arbeiten. Er tut etwas für dich, das sein Vater nicht für ihn tun konnte, und er findet, du bist ihm dafür nicht richtig dankbar. Damit kommt er nicht zurecht.«

Nicolas, der die Klinge des Messers mit den Fingern gereinigt hatte, legte es auf den Tisch und drehte es spielerisch hin und her. Es war ein seltsames Messer und dafür gemacht, Leder zu schneiden; es hatte eine sehr scharfe Klinge und einen Griff aus Elfenbein oder Knochen, der in der Form eines Krokodils geschnitzt war; die Schnauze schloss sich um die Klinge, und der Schwanz ringelte sich unter dem Bauch, sodass die Form des Reptils gut in der Hand lag. Seine Mutter sah Nicolas zu und sagte:

»Er hat dir sein bestes Messer gegeben. Er liebt dich.«

»Er mag eine geschwungene Klinge lieber«, sagte der Junge ungnädig.

»Sein Vater hat ihm nichts geschenkt, soweit ich weiß.«

»Oh, ich weiß, dass er mich liebt«, sagte Nicolas, aber sein Ton war gereizt. »Ich sage auch nicht, dass er mich nicht gut behandelt. Ich will doch einfach nur eine Weile von hier weg – sechs Monate höchstens. Wenn ich woanders arbeiten würde, könnte ich so viel lernen – vielleicht nicht immer über die Buchbinderei. Was weiß ich denn schon von der Welt? Ich kenne nur die beiden Viertel St. Jacques und St. Paul und die Rue des Lions, das Haus hier.«

Er brach ab, überwältigt von der Unmöglichkeit, das Ausmaß seiner inneren Unruhe zu erklären oder auch nur in Worte zu fassen. Der Wind hatte einen Moment lang nachgelassen. Auf der Straße war es so still wie in dem Zimmer, in dem sie saßen. Als wollte sie das Thema wechseln, begann Marianne:

»Weißt du noch, als du klein warst, bevor du in die Lehre gekommen bist, als wir alle, dein Bruder und deine Großeltern, hier zusammen gelebt haben?«

Nicolas runzelte die Stirn. »Ich erinnere mich an eine Menge Beerdigungen. Warum?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, dann würdest du es vielleicht besser verstehen.« Es war der falsche Weg. Sie hätte wissen sollen, dass es keinen Sinn hatte, seine Kindheit zu erwähnen. Selbst, wenn er die Erinnerung daran zuließ, dachte sie, welche Erinnerungen könnte er haben, die denen seines Vaters oder ihren eigenen glichen?

Der Junge erwiderte: »Ich verstehe genug. Er hat mir mein Handwerk beigebracht – oder mir beibringen lassen. Jetzt soll ich bei ihm arbeiten, ob als Lehrling oder Geselle ist gleichgültig, denn er ist immer der Meister.«

»Am Ende wirst du der Meister sein. Seine ganze Arbeit ist schließlich für dich.«

»Ich möchte sein Ende nicht vorzeitig herbeireden«, sagte der junge Mann.

In seinem aufgewühlten Zustand war es ihm unmöglich stillzusitzen, und er stand auf und ging zum Kamin und wieder zurück. Dann blieb er neben seiner Mutter stehen. »Ich sehe das Gute an seinem Plan«, sagte er mit gefasster und vernünftiger Stimme. »Und ich bin bereit, an seiner Seite zu arbeiten. Aber verstehst du denn nicht? Wenn ich den Rest meines Lebens hier, in diesem Geschäft, zubringen soll, muss ich erst ein bisschen in die Welt hinausgehen. Warum kann er mir nicht seinen Segen geben und mich ziehen lassen? Umso schneller bin ich zurück.«

»Er sagt, er braucht deine Hilfe.«

»Dann soll er einen Gehilfen anheuern.«

»Er will einen Sohn.«

»Wenn er keinen Sohn hätte, müsste er sich einen Gehilfen nehmen, ganz einfach. Aber er hat ja einen Sohn, nicht wahr? Er ist zu geizig, einen Gehilfen anzuheuern.« Diese Worte schleuderte er so verächtlich und heftig heraus, dass Marianne plötzlich genau so zornig war wie der Junge.

»Du hast kein Recht, so zu sprechen!«, entgegnete sie aufgebracht und erhob sich, sodass er nicht mehr auf sie hinunterblicken konnte.

»Ich habe anscheinend überhaupt keine Rechte, solange ich zu Hause wohne«, gab er ebenso heftig zurück. »Dann kann ich auch gehen. Und ich brauche ihn nicht um Erlaubnis zu bitten. Ich komme einfach nicht zurück.«

Zornesröte war ihm ins Gesicht gestiegen, und Marianne sah Tränen in seinen Augen, Tränen des Zorns, dennoch Tränen, in den Augen dieses Jungen, der so groß, wenn auch nicht so kräftig war wie sein Vater. Plötzlich verging ihrer beider Zorn. »Ich besorge ihm einen Gehilfen. Das kann nicht schwierig sein. Wird er mich dann ziehen lassen?«

»Ich kann ihn fragen«, sagte Marianne.

»Ich will doch nur sechs Monate frei umherziehen«, sagte der Junge, und da er auch jetzt wie schon zuvor nicht ausdrücken konnte, warum er so dringend diese Freiheit brauchte, wandte er sich ab und nahm, wie sein Vater es getan hatte und fast mit derselben Bewegung, seinen Hut von dem Haken an der Wand. Seine Mutter machte keine Anstalten, ihn zu hindern. Als er die Tür zur Tordurchfahrt aufzog, fuhr ein starker Stoß frischer, feuchter Luft in die Küche, aber Regen war keiner zu hören. Einen Moment blieb Nicolas im Schatten der Durchfahrt stehen und stellte den Kragen seiner Jacke hoch. Dann schob er die Hände in die Taschen und trat auf die Straße hinaus. Im nächsten Moment war er aus dem Blickfeld verschwunden. Seine Mutter sah ihm nach und dachte: »Wenn er sich so aufführt, könnte es eine Erleichterung sein, ihn nicht in der Werkstatt zu haben.« Und dann: »Es ist erstaunlich, wie sehr er seinem Vater ähnelt und doch im Verhalten ganz anders ist.«

Jean war in den Goldenen Pflug gegangen. Das Wirtshaus wurde von vielen Bauersleuten frequentiert, die entweder auf dem Landweg oder dem Fluss mit ihren Waren in die Stadt kamen, um sie hier auf den Märkten zu verkaufen. Es stand im Schatten der Bastille an der Ecke des breiten Boulevard St. Antoine und der Rue du Petit-Musc, die zum Fluss führte. Jean musste von der Rue des Lions bloß in die Rue du Petit-Musc einbiegen, dann war er schon beim Goldenen Pflug.

Im Schankraum des Wirtshauses hatte er seinen Lieblingsplatz. Er konnte einen Weinbrand bestellen und für einen Sou eine Zeitung ausleihen, in der mit dem privilège du Roi einige wenige Nachrichten aus dem Ausland und reichlich Neuigkeiten vom Königlichen Hof gedruckt wurden. Er konnte dort lesen und in Ruhe seine Pfeife rauchen. Und obwohl es teurer war, seinen Weinbrand hier zu trinken statt zu Hause, war es billiger, eine Zeitung auszuleihen, als sie zu kaufen.

Das Schild Zum Goldenen Pflug quietschte im Wind, als er in den Hof trat. Wie seine Frau dachte auch er, dass der Wind Regen verhieß, was zu begrüßen wäre. Das Land brauchte dringend Regen. Er setzte sich auf seinen Platz in der Ecke und bestellte den Weinbrand. Ohne ein Wort von ihm brachte der Wirt ihm die Gazette de France, die Jean aufschlug, noch bevor er seine Pfeife gestopft hatte. Auf diese Weise gab er dem Wirt und den anderen Gästen am Tisch zu verstehen, dass ihm nicht nach einem Gespräch zumute war.

Während er den gedrehten Tabak aus der Tasche nahm und ein paar Scheiben abschnitt, las er, dass die Türken sich in Ungarn zu einer Armee von einhunderttausend Mann, die Tartaren nicht mitgezählt, aufgestellt hatten. Mit seinem breiten Daumen verrieb er den Tabak in der Handfläche, dann blätterte er ein paar Seiten weiter und las von neuen und härteren Steuern, die in England auf Salz, Seife und Leder erhoben wurden. Die Heringsfischer protestierten gegen die Salzsteuer. Er stopfte die Pfeife und zündete sie an, und als sie sauber zog, las er in den Nachrichten aus England weiter, dass der Fürst von Oranien wieder einen Feldzug nach Flandern plante und die Engländer mit äußerster Umsicht eine Flotte aufrüsteten. Zur Bemannung der Flotte, hieß es weiter, würden Kutterführer von der Themse zwangsrekrutiert. Der Krieg, der während des Winters unterbrochen worden war, würde bald an allen Fronten frisch entbrennen, in Flandern, in Katalonien, in Savoyen und auf dem Meer. Die Engländer, dachte Jean, waren den Krieg sicher genauso leid wie die Franzosen.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass der französische König Kutterführer von der Seine gewaltsam rekrutieren würde. Andererseits hatte er gehört, dass in der Bauernbevölkerung Soldaten für die königliche Armee ausgehoben wurden, und das Gleiche galt in den Städten für junge Handwerker und andere Männer, die gesund waren und keine Arbeit hatten. Jean stellte sich vor, Nicolas wäre in den Provinzen unterwegs und könnte keine Arbeit finden: Er wäre einer der Ersten, die eingezogen würden. Oder der Junge könnte womöglich, wenn er mittellos wäre, der Verlockung von Sold und Abenteuerlust nicht widerstehen und sich freiwillig melden. Nicolas hatte keine Vorstellung, was es bedeutete, als Fußsoldat zu kämpfen. Sein Vater war nicht sehr zuversichtlich, dass Nicolas außerhalb von Paris eine feste Anstellung finden würde. Dies waren keine günstigen Zeiten. Jean spürte, wie sich seine Niedergeschlagenheit verstärkte. Der Tabak schmeckte nicht mehr süß. Er griff nach dem Weinbrand, der ihm gewöhnlich den ganzen Abend reichte, und leerte das Glas in einem Zug.

Er konnte sich mit der Haltung seines Sohnes nicht abfinden. Der Junge wusste zu wenig von der Wirklichkeit. Er kannte weder die Bedeutung von Gefahr noch, wie sein Vater ihm beim Essen zu sagen versucht hatte, die Tragweite von Mangel.

Jean dachte an seine eigene Kindheit, die inzwischen weit zurücklag. Er hatte nie davon gesprochen, auch nicht zu Marianne, als sie frisch verheiratet waren. Er wollte das vergessen. Sein Vater war nicht Buchbinder gewesen, so fein war sein Beruf nicht, sondern Schuster und ein ehrlicher Mann. Es gab keinen Grund, warum er nicht ein ordentliches Auskommen hätte haben sollen. Schuhe brauchten die Menschen immer. Vielleicht hatte seine Mutter recht gehabt: Die Werkstatt seines Vaters lag im zweiten Stock – ein besseres Ladenlokal konnte er nicht bezahlen –, und wer, fragte sie, steigt schon zwei Treppen hinauf, um sich die Schuhe reparieren zu lassen, wenn er das Gleiche für denselben Preis ohne jedes Treppensteigen bekommen konnte?

Als sein Vater starb, gab seine Mutter alles, was sie besaß, aus, um ihn unter die Erde zu bringen. Sie hatte den gesamten Hausstand verkauft, nur die Kleider nicht, die sie am Leib trugen. Dann gab sie ihren Sohn bei einem Meister in der Rue St. Jacques in die Lehre, weil sie wollte, dass er ein besseres Handwerk lernte als sein Vater. Manchmal dachte Jean, das sei ein Fehler gewesen und er wäre ein besserer Schuster geworden, aber er wurde Buchbinder, und jetzt war sein Sohn auch Buchbinder, und so schlecht fuhren sie damit nicht.

Aber für ihn als kleinen Jungen war es ein hartes Leben gewesen. Weil seine Mutter nicht die volle Summe für die Lehre bezahlen konnte, wurde mehr von ihm verlangt und er bekam weniger als die anderen Jungen in der Werkstatt. Er hatte ein Strohlager auf dem Dachboden, gleich unter den Dachziegeln, wo er sommers wie winters schlief. Vor Sonnenaufgang stand er auf und kehrte die Werkstatt. Seine Mutter sah er nur selten. Sie tat, was sie konnte, die arme Seele. Sie arbeitete viele Stunden, um für seinen Unterhalt dort, wo er etwas lernen konnte, aufzukommen, und sparte sich das Geld vom Munde ab. Eines Tages – vielleicht war sie aus Erschöpfung nicht schnell genug auf den Füßen gewesen oder ihr war vor Hunger schwindlig geworden – wurde sie von einem Karren erfasst und überrollt. Jean durfte sie sehen, bevor sie beerdigt wurde. Er war noch keine zehn Jahre alt.

Nach vielen Jahren schloss er seine Ausbildung ab und wurde von Bourdon als Geselle eingestellt. Bourdon, der damals noch nicht Altmeister der Buchbinderzunft war, erwies sich als freundlicher Meister. Jean arbeitete hart, und wenn er einen Sou hatte, den er nicht ausgeben musste, legte er ihn zur Seite. Schließlich kam der Tag, da Mariannes Eltern ihm eine Mitgift für ihre Tochter anboten, die dem Betrag entsprach, den er brauchte, um seinen Meisterbrief zu kaufen und ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Das war eine große Ehre für ihn. Und er hatte sich den Schwiegereltern gegenüber als ehrenhaft erwiesen und sie im Alter bei sich aufgenommen. Marianne hatte sie in ihren letzten Krankheiten gepflegt, und er war für eine ordentliche Bestattung aufgekommen. Die Abmachung beruhte auf Gegenseitigkeit, so, wie sie es sich gewünscht hatten. Und was Marianne anging, so hatte er sie geliebt und liebte sie noch immer. Sie hatte nicht nur ihre Mitgift ins Geschäft eingebracht, sondern auch ihr Wesen, ihren fröhlichen und unbeschwerten Umgang mit den Kunden, und ihm hatte sie ein warmes Zuhause gegeben.

Sie hatten ihren Kummer gehabt. Nicolas war das einzige Kind, das ihnen blieb, Nicolas, der nicht zu würdigen vermochte, was sie alles für ihn getan hatten. Jean empfand das als tiefe Ungerechtigkeit, dazu kam die Angst vor dem, was seinem Sohn in diesen ungewissen Zeiten fern von zu Hause zustoßen könnte. Er sollte seinem Sohn nicht verbieten müssen, von zu Hause wegzugehen. Sein Sohn müsste bleiben wollen. Er verlangte nach einem zweiten Glas Weinbrand und stopfte sich abermals die Pfeife.

Einige Zeit darauf hörte er jemanden seinen Namen sagen und sah auf. Die hohe, nasale Stimme der Wirtin war über dem allgemeinen Gemurmel gut zu vernehmen.

»Neulich bin ich Ihrem Sohn begegnet, Mademoiselle Larcher. Ich hätte ihn beinah nicht erkannt. Wenn er mich nicht angesprochen hätte, wäre ich wie eine Fremde an ihm vorübergegangen. Wir sehen uns zu selten, dabei wohnen wir doch so nah beieinander. Ich bin übrigens zum zweiten Mal Großmutter geworden, wussten Sie das? Ah, an den Kindern merken wir unser Alter.«

Über die Schulter der Wirtin in ihrem hellgrünen Mieder hinweg sah Jean seine Frau, die kleine adrette Figur in gedecktem Blau und Braun gekleidet, die jetzt den Schal von Kopf und Schultern wickelte. Ihre Aufmerksamkeit galt der Wirtin.

»Hat es angefangen zu regnen?«, fragte die Wirtin jetzt.

»Ein paar Tropfen nur.«

»Wahrscheinlich zieht es vorüber. Schade. Die Leute hier reden von nichts anderem als davon, dass wir Regen brauchen. Ihr guter Mann sitzt in seiner Ecke.«

Marianne sah zu Jean hinüber. Er senkte den Blick und sah sie nicht an, als sie an seinen Tisch kam. Sie setzte sich neben ihn, Abendluft stieg aus ihrer Kleidung. Er nahm ihre Gegenwart mit einem kurzen Blick zur Kenntnis, dann las er weiter. Er wusste, warum sie gekommen war. Er würde das Gespräch nicht eröffnen, das hatte er beschlossen.

Er spürte, wie sie sich leicht an ihn lehnte und dann gerade hinsetzte. Er sah ihre Hand auf dem Tisch. Dafür brauchte er die Augen nicht von seiner Lektüre zu heben. Die Hand schnipste ein paar Tabakkrümel weg, ihr Zeigefinger schnellte wie eine Feder am Daumen entlang nach vorn. Die Hand schob die Krümel zusammen und formte daraus ein Bällchen, das sie zu Boden fallen ließ, dann nahm sie sein Glas, das sie, ohne es anzuheben, am Stiel ergriff und erst im Uhrzeigersinn, dann dagegen drehte. Schließlich verschwand die Hand aus seinem Sichtfeld, und seine Frau sagte leise:

»Hast du gehört, was sie gesagt hat? Wie schnell sie sich verändern!«

Larcher blätterte eine Seite um und strich die Zeitung glatt. Um sie herum war Stimmengemurmel. In ihrer eigenen Küche hätten sie nicht mehr für sich sein können. Sie waren so sehr für sich, dass er ohne Schutz vor ihr war. Dann sagte sie, was er schon halbwegs erwartet hatte:

»Könnten wir uns ein paar Monate lang einen Gehilfen leisten?«

»Das müsstest du wissen«, sagte er, ohne aufzusehen. »Du machst die Buchhaltung.«

»Ich sage, ja.«

»Mir würde es nicht gefallen.« Er hatte schon öfter einen Gehilfen eingestellt, aber es war nie richtig gut gegangen. Das müsste sie eigentlich noch wissen. Sie sagte:

»Ich habe Angst, dass er ohne deine Zustimmung geht.« Obwohl sie sich um einen leichten Ton bemühte, hörte er die Besorgnis in ihrer Stimme, und es war wie ein Echo seiner eigenen Ängste. Dennoch erwiderte er verständnislos:

»Würde er das tun?«

»Er würde –« Sie zögerte. »Er würde es nicht planen. Aber er könnte eines Tages einfach losgehen. Und dann würde er aus Angst nicht zurückkommen. Oder aus Stolz.«

»Das wäre sehr töricht.«

»Ja. Aber das heißt nicht, dass er es nicht tun würde.«

Sie hatte gesagt, was zu sagen sie gekommen war. Er wünschte, sie würde ihn jetzt allein lassen. Er musste nachdenken, und er konnte nicht ungehindert denken, wenn sie neben ihm saß, auch wenn sie sich noch so still verhielt. Und sie verhielt sich ein paar Minuten lang sehr still. Dann sagte sie, mit Betonung auf dem dritten Wort:

»Würdest du erwägen, einen Gehilfen einzustellen?«

»Ich würde es erwägen«, sagte er mit der gleichen Betonung, aber er wusste, dass er geschlagen war.

Marianne stand auf. Dann beugte sie sich vor, nahm Jeans Weinbrandglas und trank es aus. Er sah ihre Hand, die das Glas mit einer präzisen Bewegung auf den Tisch stellte; während des Gesprächs hatte er nicht ein einziges Mal seine Augen zu ihrem Gesicht gehoben. Als sie ging, sah er ihr nach, immer noch, ohne den Kopf zu heben, unter den gesenkten Augenbrauen heraus. Sie ging mit elastischem Schritt, und als sie sich zwischen den engen Tischen hindurchwand, war die Drehung ihrer Taille wendig und geschmeidig.

Er blieb noch lange allein sitzen, weit über die Stunde hinaus, zu der er gewöhnlich das Wirtshaus verließ. Als er aufbrach, füllten immer noch düstere Gedanken seinen Kopf. Immer noch war aus seiner Sicht das Vorhaben seines Sohnes leichtsinnig und unverantwortlich, und er empfand dessen Haltung als undankbar. Und von seiner Frau fühlte er sich im Stich gelassen. Gleichzeitig war seine innere Düsternis von Zärtlichkeit für beide, seinen Sohn und seine Frau, durchzogen. Er dachte, wenn der unvernünftige Wunsch seines Sohnes schon einen von ihnen dreien unglücklich machte, warum dann nicht ihn? Ja, das wäre sogar das Beste, denn schließlich war er der Vater, richtig?

Der Wind war abgeflaut. Jean ging den vertrauten Weg durch die Dunkelheit. Es war nach dem Abendläuten. Kein Lichtschimmer drang durch die Fensterläden. Lediglich die Straßenlampe, die über der Kreuzung der Rue des Lions und der Rue du Petit-Musc hing, war neblig verschleiert. Jean ging mit gesenktem Kopf, die Hände tief in die Taschen seines langen Rocks vergraben, und hörte nichts außer den eigenen Schritten auf dem Kopfsteinpflaster. Die klamme Luft drang unter dem Mützenrand und dem Jackenkragen an seine Haut.

Das Tor zur Hofeinfahrt war verschlossen. Er schloss auf, hinter sich wieder zu und ging weiter in den Innenhof des Gebäudes, in dem er zwei Räume im Erdgeschoss mietete, Küche und Werkstatt, und zwei im Stockwerk darüber. Große Müdigkeit und ein Gefühl tiefer Einsamkeit erfüllten ihn, als er die Treppe hinaufstieg, die Hand auf dem schmalen Eisengeländer. Er kannte die Windungen und Höhe der Stufen auswendig. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock musste er eine weitere Tür aufschließen. Hier schlief Nicolas, außerdem lag Material für die Werkstatt in diesem Zimmer. Das Fenster, von dem aus man bei Tageslicht in den Hof blicken konnte, war geschlossen, die Fensterläden ebenfalls. Es war so dunkel in dem Zimmer wie in seiner Jackentasche. Er ging hindurch, bis an die Tür zu seinem Schlafzimmer. Dort blieb er stehen und lauschte. Er glaubte, leises Atmen zu hören, und wartete, bis ein tieferer Atemzug ihn überzeugte, dass es keine Einbildung war. Nicolas war zu Hause, dachte er, und er dankte Gott und ging ins Zimmer nebenan.

Er zog die Schuhe und genähten Strümpfe aus und hängte sein Jackett, das klamm war vom Dunst des Flusses, über die Stuhllehne. Das Fenster ging, wie das in der Küche im Erdgeschoss, zur Straße hinaus, und die Läden waren geschlossen. Jean stand in völliger Dunkelheit, aber er brauchte nichts zu sehen. Er wusste, wo die Möbel standen und wie alles angeordnet war. Unter seinen Füßen spürte er das glatte Fischgrätparkett – das Haus stammte aus der Zeit der vergangenen Generation und war gut gebaut. Mit drei Schritten war er beim Bett. Die Vorhänge darum waren aus dichter Baumwolle, deren Dunkelrot im gewölbten Faltenwurf zur Farbe getrockneten Bluts verblichen war. An der Seitenwand war ein offener Kamin mit hohem Sims und einem Kaminschutz aus bemaltem Holz vor der Feuerstelle. Neben dem Kamin stand eine Eichentruhe mit einem sicheren Schloss, auf der eine gewebte, zu einem Blaugrün verblichene Decke lag. Und an der Wand darüber hing eine mit Weihwasser gefüllte weiße Porzellanmuschel, um die ein Rosenkranz aus dunklen Perlen, jede so groß wie eine Hagebutte, gewunden war. Den grünen Zweig über der Muschel, der erst vor einer Woche gesegnet worden war, hatte er selbst dort aufgehängt. In der Truhe lag sein Geld, das in Rollen aus Stücken alter Seide, alten Brokats und schweren Segeltuchs eingenäht war. Den Schlüssel zu der Truhe hatte er bei sich. All dies stellte seine Sicherheit dar, für dieses Leben und für das nächste. Die Porzellanmuschel und der Rosenkranz standen zwischen ihm und den Anfechtungen der Hölle, desgleichen das Skapulier, das er mit den Fingern berührte, als er sein Hemd gegen das Nachthemd tauschte; und die goldenen Pistolen, die Écus und selbst die bescheidenen Livres standen zwischen ihm und dem Armenhaus. Er band die Nachtmütze unter dem Kinn mit einer Schleife zu, fand den Spalt im Bettvorhang und stieg ins Bett, wo er sich zwischen den kalten groben Leinenlaken unter den schweren Wolldecken vorsichtig ausstreckte, den Kopf aufs Kissen legte und ihn seiner Frau zuwandte.

Marianne war da, er hörte ihren Atem, gleichmäßig und leicht, als schliefe sie. Falls sie wirklich schlief, würde er sie nicht wecken, aber er hoffte, dass sie noch wach war. Eine Weile lag er still, starrte in die Dunkelheit und wartete auf eine Regung seiner Frau, aber sie rührte sich nicht. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite und streckte die Hand zu ihrem Kopf aus. Er ertastete ihre gestärkte Nachthaube, legte ihr seine Hand ans Gesicht und streichelte es sanft, strich mit dem Zeigefinger über die warme, glatte Haut zwischen Kinn und der harten Schleife der Haube. Falls sie die Liebkosung spürte, ließ sie es sich nicht anmerken. Mit einem kleinen Bedauern zog er die Hand zurück und drehte sich zum Schlafen um. Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war der an die zwei Pistolen, die er auf den Esstisch gelegt hatte, und er spürte Besorgnis. Wo waren sie? Dann fiel ihm ein, dass Marianne sich ihrer zweifellos angenommen hatte, und er war beruhigt und schlief ein.