Ditta op den Dries

Zurück aus dem Himmel

Wie Nahtod-Erfahrungen das Leben verändern

Ditta op den Dries

Zurück
aus dem Himmel

Wie Nahtod-Erfahrungen
das Leben verändern

mit einem Interviev mit

Pim van Lommel

Covergestaltung: Annette Wagner unter Verwendung von Supernova Spacewalk © styleuneed #36696454 - Fotolia.de
Fotos der Interviewten Personen: © Rikkert Harink
Foto von der Autorin: Carlo ter Ellen

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Vorwort

Die zwölf Elemente einer Nahtod-Erfahrung

1.Joke: „Jetzt weiß ich, dass es für mein Leben einen bestimmten Plan gibt.“

2.Rinus: „Seit meiner Nahtod-Erfahrung betrachte ich das Leben mit dem Herzen.“

3.Sybrig: „Meine Nahtod-Erfahrung ist der Fels, auf dem ich stehe.“

4.Rein: „Der Tod ist unausweichlich, doch in der Zeit davor kann man ein erfülltes Leben haben.“

5.Marian: „ Im nächsten Moment war ich wieder im schwarzen Raum.“

6.Marcus: „Ein Mensch muss den Winter kennen, bevor er den Frühling spüren kann.“

7.Marga: „Ich habe tagelang geweint. Es stimmt also wirklich.“

8.Mick: „Mein Leben vor der Nahtod-Erfahrung war ein Kampf ums Überleben. Mein Leben nach der Nahtod-Erfahrung ist eine Entdeckungsreise.“

Nachbetrachtung mit Pim van Lommel

Danksagungen

Vorwort

Königinnentag in den Niederlanden im Jahr 2001. Mein Vater liegt im Sterben. Zusammen mit meinen Familienmitgliedern sitze ich neben seinem Bett und halte Wache. Er ist schon weit weg und den ganzen Tag lang nicht mehr ansprechbar gewesen. Doch gegen Abend, etwa eine halbe Stunde vor seinem Tod, richtet er sich noch einmal kerzengerade im Bett auf. „Ooooohhhhh… wie schön, wie schön!“, ruft er – und seine Augen strahlen. Ich frage ihn, was er denn sehe. Gleißendes Licht sieht er, und dann, zu seiner großen Freude, verstorbene Familienangehörige. Seine Mutter, seine Schwester, seinen Schwager – er zählt ihre Namen auf. „Ist es schön dort, Paa?“, frage ich noch einmal nach, nur um sicherzugehen. Er nickt. „Endlich geschafft!“, sagt er und sackt zurück in die Kissen. Er findet es gut. Und wir auch. „Tschüss, Papa, geh‘ du mal ruhig!“

Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961) wusste darum. Und vielleicht weiß es Ihre Nachbarin oder Ihre Kollegin ebenfalls. In diesem Buch geht es um Menschen, die eine Nahtod-Erfahrung hatten – um ganz normale Menschen mit besonderen Geschichten. Joke, Rinus, Sybrig, Rein, Marian, Marcus, Marga und Mick sind acht von den schätzungsweise 600.000 Menschen in den Niederlanden, die eine Nahtod-Erfahrung gemacht haben.

Ich war damals ganz überwältigt, als ich letztes Jahr in Pim van Lommels Buch „Endloses Bewusstsein“ auf diese bemerkenswerte Zahl gestoßen bin. 600.000 Menschen – damit kann man eine Veranstaltungshalle wie Ahoy Rotterdam zwanzig Mal füllen. Bis zu diesem Moment wusste ich kaum etwas über Nahtod-Erfahrungen. Ich hatte zwar schon oft davon gehört, mich bis dahin jedoch nicht weiter hineinvertieft. Aufgrund dieses überzeugenden Zahlenmaterials stand die Nahtod-Erfahrung dann schlagartig voll und ganz im Mittelpunkt des Interesses. Die Medien griffen das Thema massiv auf. Als Journalistin der Regionalzeitung „Tubantia“ von Twente schrieb auch ich einen Artikel über Nahtod-Erfahrungen. Warum? Weil dieses Thema Neugier erregt. Ich besuchte einen Vortrag in Hengelo, wo Bürger(innen) von Twente über ihre Erfahrungen berichteten, um auf diese Weise die Thematik in der Region bekannt zu machen.

Die Veröffentlichung führte zum Kontakt mit dem Verleger, der daraufhin den Vorschlag machte, ein Buch mit Interviews von Menschen mit Nahtod-Erfahrungen herauszubringen. Das fand ich spannend.

Es wurde ein besonderes Projekt, mit ganz besonderen Gesprächen – grundlegend anders als ein Interview für einen Zeitungsartikel. Wer ein Gespräch mit jemandem beginnt, der eine Nahtod-Erfahrung gehabt hat, kann das anfangs schwer einschätzen. Die betreffende Person will zunächst abtasten, ob ihr Gegenüber ihrer Geschichte wirklich ernsthaft und mit einer offenen Einstellung lauscht. Bevor diese Person mit ihrer Geschichte beginnt, muss zunächst gegenseitiges Vertrauen erweckt werden. Ist diese Basis erst einmal geschaffen, so wird sehr schnell stundenlang geredet – meist sogar einen ganzen Tag. Ein Mensch mit einem Nahtod-Erlebnis muss oft nach Worten suchen, um diese unaussprechliche Erfahrung mit anderen teilen zu können, und hat dann immer noch das Gefühl, dass das, was er erzählt hat, die Nahtod-Erfahrung gar nicht richtig beschreibt.

Es waren Interviews mit Pausen – mit notgedrungenen Pausen, die sich empfahlen, wenn jemand einen Weinkrampf bekam. Oder auf dem Balkon eine Zigarette rauchen ging, weil ihm die Fragestellung unvermittelt unter die Haut ging. Selbst der Mann, der schon seit einiger Zeit aufgehört hatte zu rauchen, griff dann wieder nach einer Zigarette. Dann gab es noch einen Interviewpartner, der im Anschluss tausend Entschuldigungen vorbrachte, weil er die natürlichen Bedürfnisse des Menschen völlig vergessen hatte. Den ganzen Tag lang hatten wir über einem Tässchen Kaffee gesessen und geredet. Wer denkt denn schon ans Essen und Trinken, wenn er über eine ergreifende Nahtod-Erfahrung spricht? Er nicht. Und ich auch nicht.

Es gab während der Interviews niemals einen Augenblick, in dem ich dachte: „Jetzt kann ich den Notizblock wegpacken, jetzt weiß ich alles.“ Im Gegenteil, ein Interview wurde beendet, weil der Interviewpartner vor Müdigkeit nicht mehr die richtigen Worte finden und der Interviewer das Gesagte nicht mehr richtig zusammenfassen konnte. Im Auto beschlich mich auf der Rückfahrt immer wieder ein nagendes Gefühl. „Weiß ich jetzt alles über die Nahtod-Erfahrung der interviewten Person?“ Sehr wahrscheinlich nicht. Doch das darf durchaus sein, denn ich schrieb ja keine wissenschaftliche Abhandlung.

Eines wusste ich jedoch mit Gewissheit: Die Berichte all der Menschen, die ich interviewte, waren aufrichtig und kamen direkt aus dem Herzen. Das hatten sie selbst persönlich erlebt. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe keinen Augenblick an der Echtheit ihrer Erlebnisse gezweifelt – wie sie das im Übrigen genauso wenig tun. Bedeutet das, dass ich von jetzt ab für Nahtod-Erfahrungen in all ihren Facetten einstehe? Nein, das nicht. Ich bin Agnostiker und gehöre zu den Menschen, die mit Bestimmtheit von sich zu behaupten wagen, dass sie nichts mit Gewissheit wissen. Ich halte nichts von der einen unumstößlichen Wahrheit. Diese gibt es nur dann, wenn man über alles, aber dann auch wirklich alles nötige Wissen verfügt. Mir reicht eine bescheidene Haltung, denn dieses Allwissen besitze ich schlicht und ergreifend nicht. Die Nahtod-Erfahrungen sind auch nicht meine eigene Erfindung. Daher erscheint es mir klüger, mein Urteil hintanzustellen. Die Tatsache, dass ich bei diesem Projekt das journalistische Prinzip von Pro und Contra nicht anwenden konnte, vergeben Sie mir, verehrte Leserschaft, bitte an dieser Stelle ganz schnell. Es ist unmöglich, „die andere Seite“ um eine Reaktion zu bitten.

Ich hoffe, dass Sie als Leser(in) die acht Lebensgeschichten in diesem Buch mit Respekt und einer offenen Einstellung lesen werden. Mehr als das Recht auf Anerkennung ihrer Erfahrung erwarten die Menschen mit einem Nahtod-Erlebnis auch nicht von uns.

Inzwischen weiß ich, dass mein Vater eine Todesvision hatte. Hierzu gibt es bisher noch kaum wissenschaftliche Forschungsarbeiten, doch viele Menschen müssen wohl ähnliche Erlebnisse haben. Eine Todesvision ist etwas anderes als eine Nahtod-Erfahrung. Der Unterschied besteht laut van Lommel darin, dass sterbende Menschen ein Wachbewusstsein haben und mit anwesenden Menschen sprechen können. Bei einer Nahtod-Erfahrung in einer lebensbedrohlichen Situation ist man weder bei Bewusstsein geschweige denn ansprechbar. In beiden Fällen spricht man jedoch von Bewusstseinserweiterung. Sowohl nach einer Todesvision als auch nach einer Nahtod-Erfahrung ist die Angst vor dem Tod völlig verschwunden.

Wie dem auch sei – die Erfahrung am Sterbebett meines Vaters hat mir persönlich einen Spaltbreit die Tür geöffnet, wenn es um Erfahrungen mit einem erweiterten Bewusstsein geht. Die tiefgreifenden Begegnungen mit den acht Menschen in diesem Buch haben diese Tür noch ein Stück weiter aufgestoßen.

Nijverdal, 27. Februar 2009

Ditta op den Dries

Elemente einer Nahtod-Erfahrung

Der amerikanische Psychiater Raymond Moody schrieb 1975 das Buch „Life after Life“ („Leben nach dem Tod“) über Nahtod-Erfahrungen. Er beschrieb darin zwölf verschiedene Elemente einer Nahtod-Erfahrung.

Er betonte dabei die Tatsache, dass die meisten Menschen lediglich einige dieser Elemente erleben – nur selten werden alle angeführt. Daher ist jede Nahtod-Erfahrung einzigartig.

Die zwölf Elemente nach Moody:

1.Für die Erfahrung kann man keine Worte finden.

2.Man erfährt ein Gefühl von Frieden und Ruhe. Die Schmerzen sind verschwunden.

3.Man ist sich der Tatsache bewusst, dass man tot ist. Manchmal hört der Betroffene hierauf auch Klänge.

4.Eine Astralreise oder außerkörperliche Erfahrung (Nahtod-Erfahrung). Menschen können aus einer Position außerhalb von und über ihrem Körper ihre eigene Wiederbelebung oder Operation mit verfolgen.

5.a) Der Betreffende befindet sich in einem dunklen Raum. Nur 15% der Menschen flößt dieses Erlebnis Angst ein. In dem dunklen Raum bildet sich ein Lichtpunkt, von dem sie angezogen werden. Diese Erfahrung wird folgendermaßen beschrieben:

b) Eine Tunnelerfahrung. Sie werden mit hoher Geschwindigkeit ins Licht gezogen.

c) Etwa 1-2 % der Menschen bleiben im dunklen Raum hängen und erleben dies als furchteinflößende Nahtod-Erfahrung – auch „Höllen-Erfahrung“ genannt.

6.Wahrnehmung eines außerweltlichen Umfeldes, einer bezaubernd schönen Landschaft mit prächtigen Farben, schönen Blumen und manchmal auch Musik.

7.Begegnungen und Kommunikation mit Verstorbenen.

8.Begegnung mit einem strahlenden Licht oder einem Wesen des Lichtes. Man erfährt absolute Akzeptanz und bedingungslose Liebe und kommt mit tiefem Wissen und Weisheit in Berührung.

9.Lebensschau, Lebenspanorama oder Rückblick auf das gesamte Leben seit der Geburt. Man erlebt alles noch einmal. Man überblickt das ganze Leben in einem einzigen Moment. Zeit und Raum scheinen nicht zu existieren, alles findet gleichzeitig statt. Man kann tagelang über die Lebensschau sprechen, die nur einige wenige Minuten gedauert hat.

10.Vorblick oder „Flash nach vorne“: Man hat das Gefühl, einen Teil des Lebens, das in Zukunft noch kommen wird, im Überblick und im Detail anzuschauen. Auch hierbei gibt es folglich weder Zeit noch räumlichen Abstand.

11.Es wird eine Grenze wahrgenommen. Man begreift, dass man nicht mehr in den eigenen Körper zurückkehren kann, wenn man diese Grenze überschreitet.

12.Die bewusste Rückkehr in den Körper. Wieder zurück im kranken Körper ist es eine tiefe Enttäuschung, dass einem so etwas Wundervolles weggenommen wurde.

Quelle: Pim van Lommel, „Endloses Bewusstsein“

„Ich weiß jetzt, dass es für mein Leben einen festen Plan gibt. Das schenkt mir innere Ruhe.“

JOKE ENDEDIJK-VAN DER JAGT (58),
ehemalige OP-Assistentin.
Sie wohnt in Kampen.
Sie ist mit Bert verheiratet.
Sie hat fünf Kinder: Mattijs (30), Petra und Marieke (29) und Berendjan (25). Die Tochter Leonieke ist am plötzlichen Kindstod gestorben.
Sie hatte an einem Montagmorgen, im Oktober 1997, eine Nahtod-Erfahrung.
Sie war damals siebenundvierzig Jahre alt.

Joke

Elf Jahre später

Vor der Nahtod-Erfahrung

Dass manchmal nicht genug zu essen im Haus war? Und dass sie ab und an mal abgetragene Klamotten von ihrer Nichte trug? Joke van der Jagt störte das nicht eine Sekunde lang in ihrem Leben. Sie war ein fügsames Kind, das alles im Leben ohne zu murren so hinnahm, wie es war. Die Familie Van der Jagt wohnte in einer Einliegerwohnung in Den Haag. Vater, Mutter und sieben Kinder. Joke war die Vierte in der Reihe – drei Brüder vor ihr und ein Bruder und zwei Schwestern nach ihr. Diese Position in der Geschwisterreihe sollte ihr späteres Leben prägen.

Ihr Vater war Versicherungsmakler. Es war in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts ein ganz schönes Kunststück, für den Unterhalt einer Familie mit sieben Kindern zu sorgen. Das erforderte klare Absprachen. Und diese gab es in der Familie Van der Jagt denn auch. Die Jungs bekamen drei Butterstullen, die Mädels zwei. Fleisch gab es nur sonntags. Was für den Rest der Woche auf den Tisch kam, hing davon ab, was gerade im Haus war. Manchmal erforderte das Improvisationskünste. Joke hat keinen Augenblick darunter gelitten, dass sie kein Fahrrad besaß, wie all die anderen Kinder in der Nachbarschaft.

Ihre Mutter war in jener Zeit viel krank. Was ihr genau fehlte, weiß Joke bis heute nicht. Doch Tatsache ist, dass ihre Mutter viel im Bett lag und mehrmals zur Kur ging, um wieder zu Kräften zu kommen. Später dachte Joke, dass ihrer Mutter die große Familie mit den sieben Kindern einfach zu viel war.

Doch sie blickt auf eine Kindheit zurück, die ihr das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Viel veränderte sich in ihrem zwölften Lebensjahr, als sie nach Arnheim zog. Ihr Vater war vom Versicherungsmakler zur leitenden Führungskraft aufgestiegen. Die Geselligkeit im Haus blieb, es hatte ab und an schon den Touch eines geselligen Hauses. Dennoch hatte Joke in Arnheim keine glückliche Zeit. Es war selbstverständlich, dass sie, als die älteste Tochter, viel im Haushalt mithelfen musste. Sie putzte und passte auf die jüngsten Geschwister auf. Es schien das Normalste von der Welt zu sein, dass Familienangelegenheiten höhere Priorität hatten als ihre Bedürfnisse als Kind. Das empfand sie selbst auch so. Heute jedoch nicht mehr. Heute denkt sie: „Es gab doch auch noch andere? Die hätten doch auch mal die Ärmel hochkrempeln können?!“

Es war eine Zeit, die wie Blei auf ihr lastete. Joke besuchte die M.U.L.O.-Schule und hatte darüber hinaus auch noch Hausaufgaben zu erledigen, doch dafür fehlte es ihr an Zeit und an Privatsphäre. Jeden Morgen stand sie um halb sechs Uhr auf, um zu lernen, doch ihre Hausaufgaben hatte sie niemals wirklich fertig. In der Schule hatte sie beständig das Gefühl, den Unterrichtsstoff nicht richtig zu beherrschen. Dadurch erlitt ihr Selbstwertgefühl einen starken Knacks. Schlimmer noch, sie hatte in jener Zeit eigentlich gar kein Selbstvertrauen.

Und dann gab es noch diesen ekelhaften Lehrer. Er stellte sie regelmäßig vor all ihren Klassenkameraden bloß. Dann holte er sie vor die Klasse, fragte sie ab und sagte dann mit eindringlicher Stimme: „Schaut euch nur an, was Joke van der Jagt macht: So geht das aber gar nicht!“

Joke machte das sehr unglücklich. Gott sei Dank merkte ihr Vater, dass sich Joke nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Er beschloss, sie von der Schule zu nehmen. Joke war damals in der dritten Klasse der M.U.L.O. und durfte direkt auf die Mittelschule für Mädchen, die MMS, überwechseln. Im Nachhinein betrachtet, war das ein Volltreffer. Es war eine herbe, strenge Schule mit klaren Regeln. Die Mädchen durften keine Hosen und keine Slipper tragen. Im Fahrradschuppen gab es morgens immer eine große Umziehaktion. Doch sie lernte dort viel.

An ihrem 18. Geburtstag erhielt sie ihr Diplom. Joke wollte eigentlich Physiotherapie studieren, doch sie hatte dazu zu wenig Kenntnisse in Mathematik und Chemie. Außerdem drängte ihre Mutter sehr, dass sie in die Pflege gehen sollte. Das fand Mutter einen schönen Beruf. Und Joke? Sie war noch immer ein ganz fügsames Kind – und lehnte sich daher nicht dagegen auf. Jokes Wahl fiel auf die Ausbildung in dem nagelneu eingerichteten Diakonissenhaus in Utrecht: Eine Ausbildung zur OP-Assistentin. Innerhalb von drei Jahren schloss sie diese Ausbildung mit einem guten Abschluss ab.

Inzwischen hatte Joke die Liebe ihres Lebens gefunden. Bert war ein Freund ihres Bruders und schaute regelmäßig bei Familie Van der Jagt vorbei. Er war stets jedem willkommen und durfte mitessen: Die Portionen wurden dann für alle einfach etwas kleiner. Es war zwar einerseits gesellig, doch auch immer etwas unordentlich und chaotisch in dieser Großfamilie. Bert, Sohn eines Pfarrers, war aufgrund seiner Erziehung hingegen sehr strukturiert und immens geordnet. Joke fand diese Eigenschaften an ihm herrlich und verknallte sich mit sechzehn Jahren in den Kumpel ihres Bruders.

Bert studierte Theologie in Kampen. Nachdem Joke ihre Ausbildung zur OP-Assistentin in Utrecht absolviert hatte, beschlossen sie zu heiraten. Joke übernahm in den folgenden Jahren die Rolle der Hauptverdienerin, so dass Bert in Ruhe studieren konnte. Sie heirateten 1972 und zogen in ein winzig kleines Häuschen in Kampen. Damit begann eine sehr glückliche Zeit. Joke hatte inzwischen im Stadtkrankenhaus in Kampen eine Anstellung gefunden. Sie arbeitete dort drei Jahre, doch schließlich fühlte sie sich in dem kleinen Krankenhaus nicht richtig gefordert. Damals fehlte es an OP-Assistenten, und so war schnell eine neue Stelle gefunden. Sie wechselte in eine Klinik nach Zwolle über.

Dort, in Weezenlanden, mangelte es nicht an Herausforderungen, denn die Klinik in Zwolle war auch auf Lungen- und Thoraxchirurgie spezialisiert.

Jokes Selbstwertgefühl wuchs. Sie fand selbst, dass sie eine gute OP-Assistentin war. Es war eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe: Immer dafür zu sorgen, dass man dem Operateur eine Nasenlänge voraus ist, und ihm die richtigen Instrumente zu reichen. Arbeit mit höchster Konzentration. Darauf zu achten, dass der Patient stabil bleibt und alle Instrumente steril sind, oder dass nichts im Körper des Patienten zurückblieb. Doch es wurde glücklicherweise bei ihrer Arbeit auch viel gelacht. Hatte man die Operation hinter sich und der Patient war stabil, schaltete man das Radio ein, und es wurde fröhlich mitgesungen.

Fünf Jahre lang war sie mit Leib und Seele bei der Arbeit. Dann wurde ihr erstes Kind, Mattijs, geboren. Joke hatte sich vorgenommen, sich ganz ihrer Mutterrolle hinzugeben. Doch sechs Wochen nach der Geburt fiel ihr die Decke auf den Kopf. Ihr ganzes Leben lang war sie es gewohnt, die Ärmel hochzukrempeln und am Stück zu arbeiten. Und da saß sie nun – um zehn Uhr morgens in einem blitzblanken Haus, mit einem frisch gebadeten, zufriedenen Baby, und hatte den ganzen lieben langen Tag noch vor sich. Joke beschloss, sofort wieder in die Arbeit zu gehen. Mattijs ging mit ins Krankenhaus. Dort wurde er in einem separaten Raum versorgt. Und wenn sich ihr Dienst unerwartet in die Länge zog, wurde Mattijs zu den Nonnen von Weezenlanden gebracht.

Als sie Zwillinge gebar, zwei Mädchen, beschloss Joke, sich in Vollzeit in die Mutterrolle zu stürzen und aufzuhören zu arbeiten. Sie hatte jetzt mit dem Haushalt und der Versorgung von drei Kindern alle Hände voll zu tun. Die Zwillinge waren zwei Jahre alt, als ihr viertes Kind, Leonieke, geboren wurde. Eine perfekte Geburt, ein perfektes Baby. Sie bildeten eine glückliche Familie.

Eines Morgens schickte Joke die Mädchen nach oben: „Geht mal nachsehen, ob Leonieke schon wach ist.“ Nach ein paar Minuten folgte sie ihnen. Sie erfasste es auf den ersten Blick: Leonieke, kaum einmal dreieinhalb Wochen alt, lebte nicht mehr. Plötzlicher Kindstod. Joke blieb unwahrscheinlich ruhig. Sie rief den Doktor, schnappte sich Leonieke und setzte sich mit ihrem Baby auf die Treppe. Warten, bis der Arzt kam. Es fühlte sich an, als würde ein schwerer Fels auf ihrem Herzen lasten. Erst Jahre später sollte sich die Last dieses Steines etwas lindern. Es folgte eine ganz heftige Zeit – eine Zeit, in der es viel zu verarbeiten gab. Ihr Mann und sie taten das jeder auf ihre eigene Weise. Bert stürzte sich voll und ganz auf seine Arbeit. Joke hatte ein starkes Bedürfnis, darüber zu sprechen. Sie tat das vor allem mit Freundinnen. Wie sie auf diese Zeit zurückblickt? Mit großer Wehmut. Leonieke hat noch immer einen Platz in ihrem Herzen. An ihrem Geburtstag steckt sie bei ihrem Babyfoto eine Kerze an und stellt ein paar Blümchen dazu. Und immer noch bleibt die Frage: „Was wäre aus Leonieke heute wohl geworden?“

1983 wurde Berendjan geboren, zwei Wochen zu spät. Ein aufgewecktes Baby mit mehr als zehn Pfund. Emotional war das ebenfalls eine schwere Zeit. Sie machten sich fast verrückt um Berendjan. Bert bezeichnete ihn oft als die Krönung ihrer Ehe; doch stets lauerte im Hintergrund die Angst vor dem plötzlichen Kindstod.

Als Berendjan vier Jahre alt war, wurde Joke vom Stadtkrankenhaus in Kampen angesprochen. Sie hatten zu wenige OP-Assistenten, und man bedrängte sie, wieder in ihren Beruf zurückzukehren. Joke passte das eigentlich gar nicht in den Plan. Ihr Leben war bereits mehr als ausgelastet. Sie war Mutter von vier Kindern, die sie überall selbst hinbringen musste – auf dem Fahrrad, wohlgemerkt, denn sie hatte zur damaligen Zeit so ihre Prinzipien. Ein Auto war für Joke schlecht für die Umwelt und in keiner Weise erforderlich. Sie war eine ‚Vorlesemutter‘, saß im Elternbeirat der Schule und war Kirchenälteste der reformierten Kirche. Kurzum – ihr Leben war bereits voll ausgelastet. Wie sollte sie all das mit einer Berufstätigkeit vereinbaren? Doch sie nahm das Angebot an. Hinterher fragte sie sich, warum sie es getan hatte. Um sich gegenüber ihrem Umfeld zu beweisen? Um zu zeigen, dass sie eine starke Frau war, der keine Herausforderung zu groß ist? Wie auch immer, es war die schlechteste Entscheidung, die sie jemals getroffen hatte.

Sie bekam eine Teilzeitanstellung. Wenn sie Bereitschaftsdienst hatte, musste sie nachmittags und abends für eine (Not-) Operation erreichbar sein. Das stresste Joke enorm. Um zwei Uhr nachmittags stellte sie bereits die Kartoffeln für das Abendessen auf den Herd. Denn was wäre, wenn das Telefon klingeln würde? Dann hätten die Kinder keine warme Mahlzeit, und das durfte nicht sein. Joke trabte mit Scheuklappen wie ein aufgescheuchtes Pferd durch das Leben. Nur nicht jammern. „Weitermachen bis zum Umfallen!“, schien ihr Motto zu lauten – und so kam es dann auch.

1994, zehn Jahre nach der Geburt von Berendjan, beschloss Joke, sich operieren zu lassen. Ein kleiner Eingriff. Die Operation verlief hervorragend, und sie durfte nach ein paar Tagen wieder nach Hause. Kaum dort angekommen, bekam sie eine Infektion an der Naht. Tag für Tag fühlte sie sich schlechter. Nach einigen Wochen war sie nicht mehr imstande, auch nur die kleinsten Kleinigkeiten zu erledigen. Sie konnte kaum noch laufen, und auch andere Bewegungen konnte sie nur noch äußerst mühsam ausführen. Es war, als sagte ihr Körper: „Mach‘ das alleine, ich mache nicht mehr mit.“ Zunächst glaubte man, Joke leide am chronischen Müdigkeitssyndrom, doch nach der Untersuchung stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall war. Danach folgten mehrere Muskeluntersuchungen. Sie wurde zu einem Neurologen nach Nijmegen geschickt, doch es konnte keine klare Diagnose gestellt werden: „Etwas stimmt nicht mit Ihren Muskeln, doch wir wissen nicht, was es ist“, war die Mitteilung, die Joke erhielt.

Der Neurologe erklärte auch, dass die Operation nur ein „Auslöser“ war. Da Jokes Körper nicht dagegen protestierte, war dies wohl durch einen anderen Anlass geschehen. Eine einfache kleine Grippe hätte ebenfalls zu einem kompletten Zusammenbruch führen können.

Inzwischen wurde sie kränker und kränker. Es wurde ein Pflegebett ins Wohnzimmer gestellt. Joke hatte entsetzliche Schmerzen am ganzen Leib – als ob jede einzelne Zelle in ihrem Körper laut aufschrie. Sie konnte immer weniger erledigen. Sprechen konnte sie kaum noch, das Kauen war ein Problem, und sie hatte nicht mehr die Kraft, ihren Kopf selbst zu halten. Sie war an Bett und Rollstuhl gefesselt.