Über das Buch

Träume aus Seide.

Hamburg, 1948: Obwohl es an allem mangelt, ist Paula fest entschlossen, die Schönheit in ihr Leben zurückzuholen – das Trümmergrau soll endlich Farbe weichen. Mit ihrem Gespür für Mode wird Paula die rechte Hand eines Strumpffabrikanten und kämpft gegen alle Hürden der Nachkriegszeit darum, den Frauen ihre heißbegehrten Nylons zu verschaffen. Schon bald erreicht sie viel – und kann dennoch nicht vergessen, dass sie im Krieg ihre große Liebe verloren hat. Dann begegnet sie einem britischen Offizier, doch der scheint nur die Geschäfte ihres Chefs kontrollieren zu wollen.

Eine junge Frau, die im Nachkriegsdeutschland die Welt der Mode neu erfindet.

Der neue Roman von der Autorin des Nummer-1-Bestsellers »Frida Kahlo und die Farben des Lebens«

Über Caroline Bernard

Caroline Bernard ist das Pseudonym von Tania Schlie. Die Literaturwissenschaftlerin arbeitet seit zwanzig Jahren als freie Autorin. Sie liebt es, sich Geschichten über starke Frauen auszudenken. Neben »Die Muse von Wien« und »Rendezvous im Café de Flore« erschien von ihr zuletzt im Aufbau Taschenbuch der Bestseller »Frida Kahlo und die Farben des Lebens«, der monatelang die Bestsellerlisten anführte und in zahlreichen Ländern erscheinen wird.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Caroline Bernard

Fräulein Paula und die Schönheit der Frauen

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Nachwort an die Leserinnen und Leser

Impressum

Kapitel 1

Paula schlug die Arme um den Körper, als sie die Brache passierte, wo früher die Häuser gestanden hatten. Jetzt ragten dort nur noch die Reste einer Mauer auf, an deren Fassade die Umrisse der ehemaligen Räume zu erkennen waren. Ein einzelner Balkon zeigte in Höhe des dritten Stockwerks auf den Fußweg hinaus, hinter der geschmiedeten Umrandung stand in aller Unschuld ein Stuhl. Er war nur noch da, weil niemand an ihn herankam, denn einen Stuhl hätten viele Leute gebraucht.

Die Mauer hatte Paula für die Dauer weniger Schritte vor dem heftigen Novemberwind geschützt, jetzt hatte er wieder freies Spiel auf dem Trümmerfeld und fegte den eiskalten Regen in ihre Richtung. Sie nahm den Mantel vor der Brust zusammen und ging schneller. Eine Frau kam ihr entgegen, und Paula glaubte, eine Erscheinung zu haben. Als würde plötzlich eine Farbfotografie in einem Schwarz-Weiß-Film auftauchen. Die Frau trug einen flauschigen Mantel aus kamelfarbenem Mohair. Paula spürte förmlich, wie weich er sich um ihren Körper legte, wie warm sich das passende Wolltuch mit eingewebten Rosen an ihren Hals schmiegte. Zu allem Überfluss trug die Frau einen modischen Hut, unter dem ihr rötliches Haar in Wellen hervorquoll. Bei jedem ihrer raschen Schritte wippte es auf und ab. Die Fremde ging an Paula vorüber, die stehen blieb, um ihr mit offenem Mund nachzusehen. Die Frau hatte warme, dennoch nicht klobige Stiefel an den Füßen, mit denen sie leichtfüßig ausschritt. Wahrscheinlich trug sie sogar echte Seidenstrümpfe. Sie musste die Frau eines englischen Soldaten sein. Oder eine Prostituierte, obwohl sie dafür zu elegant wirkte. Normale Frauen hatten in diesen Zeiten keine warmen Mäntel, und in solch edlen Stiefeln würde eine ganz normale Hamburgerin in diesen Zeiten niemals durch die notdürftig von Trümmern geräumte Stadt laufen.

Paula fuhr sich mit der Hand über die Ärmel ihres Mantels, um die Regentropfen abzustreifen. Dabei fühlte sie die fadenscheinigen Stellen am Ellenbogen. Der Mantel hatte ihrem Vater gehört, sie hatte ihn für sich geändert. Sie seufzte. Lange würde der Mantel nicht mehr mitmachen, und dabei stand der Winter erst noch bevor. Was würde sie für einen Traum wie diesen Mohairmantel geben! Aber immerhin wurden die Zeiten langsam besser, und wenn auf Hamburgs Straßen wieder Frauen in solcher Garderobe zu sehen waren, gab es Grund zur Hoffnung.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, als eine neue Windböe sie traf. Noch ein paar Schritte, dann schlüpfte sie erleichtert durch die Tür des Wohnhauses in der Hoheluftchaussee, gerade noch rechtzeitig bevor es draußen richtig zu schütten begann.

»Na, na! Und ich muss wieder alles sauber machen!«

Paula verdrehte die Augen. Hätte sie sich ja denken können, dass Renate Schostack sie dabei erwischte, wie sie ihr das Treppenhaus volltropfte. Dabei waren weder Frau Schostack noch das Treppenhaus in einem sonderlich gepflegten Zustand. Die Frau müffelte stets, und ihr Kittel hätte eine Wäsche vertragen können. Weil auf dem Gehweg vor dem Haus immer noch Schuttberge lagen, drangen Staub und bei Regenwetter grauer Matsch mit den Schuhen herein. Es war bestimmt nicht leicht, unter diesen Umständen einigermaßen Ordnung zu halten, aber Frau Schostack lauerte auch lieber den Hausbewohnern auf, statt zu fegen oder zu feudeln.

»Guten Tag, Frau Schostack«, rief Paula betont fröhlich. »Ein scheußliches Wetter ist da draußen.« Sie wollte an der Hausmeisterin vorbei, doch die verstellte ihr mit ihrem Besen den Weg.

»Ihre Schwester kommt immer so spät nach Hause. Meine Güte, wenn ich daran denk, dass sie bis vor Kurzem noch so ein liebes Mädchen war …«

»Uschi kellnert im Winterhuder Keller, das wissen Sie doch. Da muss sie nun mal bis spät arbeiten«, gab Paula zurück. Mein Gott, die Schostack ging ihr so was von auf die Nerven. Unter Hitler war ihr Mann Hauswart gewesen und hatte sie alle tyrannisiert. Im letzten Kriegsjahr war er dann noch eingezogen worden, obwohl er schon über fünfzig war. Er war an die Ostfront gekommen, und seitdem gab es keine Nachricht mehr von ihm. Was Paula wirklich leidtat. Ihr eigener Vater wurde auch vermisst, schon seit dem Sommer 1943. Sie wusste, dass man darüber bitter werden konnte. Aber dass nun Schostacks Frau hinter ihr und ihren Schwestern herschnüffelte, musste auch nicht sein.

»Wer hat denn in diesen Zeiten Geld, um in ein Restaurant zu gehen?«, fragte Frau Schostack, und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, was sie von solchen Leuten hielt.

»Lassen Sie mich durch?« Mit diesen Worten stieg Paula einfach über den Besen hinweg, den die Hausmeisterin quer vor die Treppe gestellt hatte und auf dessen Stiel sie ihr Kinn abstützte. Paula nahm die ersten drei Stufen und ließ dann die nächste und die übernächste aus. In den letzten Kriegstagen hatte das Haus noch einen Treffer abbekommen, und von den beiden Wohnungen unter dem Dach waren nur die Mauern zur Straße geblieben. Der Rest war ins Treppenhaus gestürzt und hatte das Geländer und einige Stufen mitgerissen. Inzwischen kannten alle Hausbewohner die notdürftig mit losen Brettern geflickten Stufen und überstiegen sie einfach.

»Ob das wohl noch mal repariert wird«, murmelte sie gerade laut genug, dass die Schostack es hören musste. Obwohl die auch nichts dafürkonnte. Es gab kaum Bauholz, und das wenige, was da war, wurde für notwendige Instandsetzungen gebraucht, für Schulen, Krankenhäuser oder die Bahnhöfe der Stadt.

Paula stieg weiter die Treppe hinauf. Sie wohnte mit ihrer Mutter und den Schwestern im zweiten Stock rechts. Die Wohnung war zum Glück mehr oder weniger unversehrt durch den Krieg gekommen, es gab Wasser, und die elektrischen Leitungen funktionierten, auch wenn der Strom öfter mal abgestellt war. Doch sie hatten noch ihre Möbel, sie konnten in Betten schlafen und hatten ein Dach über dem Kopf. Nur Geschirr und der Spiegel im Badezimmer waren bei dem Bombeneinschlag kaputtgegangen. Und viele Einrichtungsgegenstände, das bisschen Schmuck und das gute Porzellan hatten den Weg auf den Schwarzmarkt gefunden, damit sie nicht verhungerten. Bis vor einigen Wochen war ein älteres Paar aus Breslau bei ihnen einquartiert gewesen und hatte das zweite Zimmer bewohnt. Sie waren ganz gut mit den Wojczinjuks ausgekommen, trotzdem waren alle froh gewesen, als sie einem Evakuierungsangebot der Stadt folgten. Man hatte sie mit DDT-Pulver entlaust und ihnen einen Sack mit Marschverpflegung und eine Zugfahrkarte nach Meldorf in Dithmarschen in die Hand gedrückt. Seitdem hatten sie nichts mehr von dem Ehepaar gehört, obwohl die Post inzwischen recht gut funktionierte.

Jetzt hatten Paula und ihre Familie alles wieder für sich, auch wenn es nur zwei kleine Zimmer waren. Paula wohnte mit ihren beiden Schwestern in dem einen und ihre Mutter im anderen Zimmer, dazu kam eine winzige Küche, die zum Glück ein Fenster mit einer breiten Fensterbank außen hatte, wo sie jetzt im Winter ihre wenigen Lebensmittel lagern konnten. Alles war besser als die Nissenhütten an der Schwenckestraße, wo sich zwei Familien eine dieser Wellblechhütten ohne Heizung teilen mussten. Jedes Mal, wenn Paula dort vorbeikam, war sie dankbar, diese Wohnung zu haben.

Paula öffnete die Wohnungstür. Drinnen streifte sie als Erstes ihre Schuhe ab. Sie war so stolz gewesen, als sie die braunen Wildlederschuhe mit den kleinen Hacken erstanden hatte. Aber sie drückten! Mit einem Laut des Schmerzes rieb sie sich die Füße, dann schlüpfte sie in die ausgelatschten Pantoffeln ihres Vaters und ging in die Küche.

»Hallo, Mama«, sagte sie.

Ihre Mutter stand am Herd und rührte in einem Topf.

»Was gibt es zu essen?«

»Was soll es schon geben«, gab ihre Mutter zurück, »Kartoffeln und Speckstippe. Aber die Schostack war hamstern im Alten Land und hat mir ein paar Äpfel abgegeben. Ich hab Mus davon gekocht. Dafür soll ich ihr die Jacke von ihrem Mann im Rücken enger machen, damit sie ihr passt.« Sie wies mit dem Ellenbogen auf die Jacke, die über einem Küchenstuhl hing.

Paula ärgerte sich. »Ach, Mama, die Schostack nutzt dich aus.« Sie nahm die Jacke der Hauswirtin und begutachtete sie. Der Stoff war hart und verfilzt, ihre Mutter würde Stunden damit zubringen, sie zu ändern. Und das alles für ein paar Äpfel. »Und dann tut sie auch noch so, als würde sie dir einen Gefallen tun. Hamstern muss keiner mehr. Seit der Währungsreform gibt es doch alles. Hast du gesehen, in der Roonstraße hat schon wieder ein neues Lebensmittelgeschäft aufgemacht. Und nächste Woche wird das Kaufhaus für Mode am Eppendorfer Weg eröffnet. Die sollen auch Tischdecken zum Aussticken und Wolle haben.«

Ihre Mutter schnaubte. »In der Theorie vielleicht. Man muss sich das erst mal leisten können. Und unter Nachbarn hilft man sich doch gern.«

Ganz unrecht hatte sie nicht. Kohle und Benzin waren immer noch rationiert, und Zucker gab es erst seit einigen Monaten wieder frei auf dem Markt. Paula konnte sich noch gut an die Tage vor dem 20. Juni erinnern. Alle ahnten, dass bald eine neue Währung kommen würde. Wer noch etwas zu verkaufen hatte, hielt es zurück und wartete auf das neue Geld, weshalb sich die Schaufenster leerten. Und viele, die noch wertlose Reichsmark hatten, wollten sie unbedingt loswerden und kauften alles, was sie kriegen konnten. Am Sonntag, dem 20. Juni, hatten sie dann alle angestanden und sich ihre vierzig Mark abgeholt. Und am Montagmorgen waren die Geschäfte plötzlich voller Dinge und Lebensmittel gewesen. Paula war damals mit der Straßenbahn gefahren, und an jeder Straßenecke waren Stände mit Blumenkohl und Gemüse aufgetaucht. Die Menschen hatten gehungert, obwohl die Lager voll gewesen waren! Nicht einmal ein halbes Jahr war das jetzt her, und immerhin war ein wenig Normalität in ihr Leben zurückgekehrt. Überall auf den geräumten Trümmergrundstücken entstanden provisorische Holzbuden, wo alles Mögliche verkauft wurde. Kohl und Groschenromane, gebrauchte Textilien und selbst gebrannter Schnaps. Aber es fehlte dennoch an vielem, und wer nicht organisieren konnte, hatte schlechte Karten.

Paulas Blick fiel auf die Singer-Nähmaschine, die vor dem Fenster stand. Diese Nähmaschine war neben dem alten Volksempfänger ihr wertvollster Besitz. Sie hatte ihre Schwestern und die Mutter durchgebracht, als es gar nichts zu kaufen gab, in der Zeit direkt nach Kriegsende, als man in Hamburg nur allzu leicht an Hunger und Kälte sterben konnte. Die Frauen der Nachbarschaft waren gekommen, weil sie nichts anzuziehen hatten, und Paula hatte ihnen Mäntel und Kostüme aus Wehrmachtsjacken und Gardinen, manchmal sogar aus gefärbten Kartoffelsäcken genäht. Und bisweilen war der Stoff gut genug gewesen, um etwas Besonderes daraus zu zaubern, das nicht nur wärmte und zweckmäßig war, sondern das den Frauen einen Teil ihrer Schönheit zurückgab. Paula sorgte immer dafür, dass es eine Falte, einen Abnäher, einen bunten Knopf oder irgendein Detail gab, das zum Blickfang wurde und die Kleidung verschönte. Das strahlende Lächeln der Kundin war ihr dabei ebenso wichtig gewesen wie die Kartoffeln oder das Stück Butter, die sie zum Lohn bekommen hatte.

Paula strich mit den Fingern über das schwarze Gehäuse aus Holz, das die Maschine vor Staub und Nässe schützte.

Seit der Währungsreform gab es auch wieder Mäntel, Wäsche und Stoffe zu kaufen. Das Angebot war nicht üppig und oft teuer, aber es wurde größer, und damit war ihre Singer nicht mehr lebensnotwendig. Zudem waren die Frauen die hundertmal geflickten und umgeänderten Sachen leid, wo man die alten Nähte sah und wo die ausgelassenen Säume dunkler waren als der Rest. Wie satt hatte sie selbst die ewige Flickschusterei, wenn ein Rock, der zu kurz oder zu eng war, immer wieder neu aufgetrennt und mit Einsätzen versehen wurde, wenn aus den Säumen der Hosen neue Taschen genäht wurden, um einen Riss zu verbergen. Und dieses Aufribbeln alter Pullover, die immer kratzten. Was würde sie dafür geben, wenn sie endlich ihre geflickten, unansehnlichen Strümpfe in den Müll werfen könnte, wo sie seit Langem hingehörten. Sie würde selbst beim Essen sparen, wenn sie dafür nur ein schönes Kleid bekommen könnte.

Paula wollte sich endlich wieder einmal zurechtmachen, mit guter Kleidung und den richtigen Accessoires betonen, was sie an sich mochte – sich schön fühlen. Sie wollte vor den Schaufenstern am Jungfernstieg entlangflanieren und davon träumen, sich einen schicken Stoff oder ein Kleid zu kaufen. Und sie wusste, dass es vielen Frauen so ging wie ihr.

»Wo bleibt denn Uschi wieder?«, fragte ihre Mutter.

»Ich hör sie schon«, sagte Paula mit einem Lächeln.

Ihre kleine Schwester Uschi polterte die Treppe herauf. Kurz darauf krachte die Wohnungstür ins Schloss.

»Habt ihr schon gehört? Das Hanse-Kino hat wieder aufgemacht! Heute Abend läuft ein Film mit Hans Albers. Ich gehe hin.«

»Mit wem?«, fragte ihre Mutter.

»Ist doch egal.« Uschi drehte sich um sich selbst und ließ ihren Rock schwingen. Dabei kamen ihre dünnen Beine zum Vorschein, ihr größter Kummer. Uschi war siebzehn, hübsch und keck, aber sie hätte gern mehr Rundungen gehabt. Was bei der knappen Versorgungslage schwierig war.

Die kleine Schwester ging um den Tisch herum und stieß dabei an das Sofa, das neben dem Herd stand. Hier schlief ihre Mutter. Sie ertrug es nicht, in ihrem Ehebett zu schlafen, ohne zu wissen, ob ihr Mann noch lebte. Deshalb bekam sie genau mit, welche ihrer Töchter wann nach Hause kam.

»Mama, warum schläfst du nicht wieder in eurem Schlafzimmer, jetzt, wo die Wojczinjuks nicht mehr da sind?«, schimpfte Uschi. »Wenn du es nicht brauchst, dann richte ich mich dort ein.«

»Gar nichts wirst du tun. Früher hat euch das eine Zimmer auch gereicht«, sagte Wilhelmine.

»Früher waren wir ja auch noch Kinder. Eine Frau braucht doch ihre Intimsphäre.« Uschi wedelte dramatisch mit den Armen.

»Was brauchst du?«

Uschi antwortete nicht. »Schon wieder Kartoffeln«, beschwerte sie sich, nachdem sie in den Topf geschaut hatte.

»Wenn du was anderes mitbringen und dein Geld nicht fürs Kino ausgeben würdest, gäbe es bei uns auch was Besseres zu essen«, sagte Wilhelmine.

Paula hörte sich das Geplänkel amüsiert an. In ihrer Familie wurde gern gestritten und gestichelt, aber immer mit einem heimlichen Lächeln auf den Lippen. Wilhelmine wurde selten richtig böse, dann allerdings kannte sie kein Pardon. Doch hier ging es um Kleinigkeiten. Ihre Mutter war zwar nicht glücklich, wenn Uschi jeden Abend weg war, aber sie konnte ihre Tochter auch verstehen. Endlich konnten die jungen Leute wieder ins Kino und sich amüsieren. Und wer weiß, vielleicht fand sie auf diese Weise einen netten Mann?

»Die Schostack hat sich über dich beklagt. Du würdest immer so spät nach Hause kommen. Und früher wärst du so ein nettes Mädchen gewesen.« Paula verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Sie macht sich richtig Sorgen um dich.«

Uschi knuffte sie in die Seite. »Lass mich bloß mit der in Ruhe, die alte Nazine. Ich will nicht nett und anständig sein, ich brauch Geld und will mich amüsieren. Ich bin doch nicht dem Reichsarbeitsdienst und dem BDM entkommen, um jetzt zu Hause zu sitzen, wie es die Nazis von den Frauen immer wollten. Damit ist jetzt Schluss – ich will wie eine Amerikanerin leben.«

Wilhelmine sah ihre jüngste Tochter mit einem Kopfschütteln an. »Woher hast du diese Ideen?«, fragte sie, erwartete jedoch nicht ernsthaft eine Antwort.

Sie hatten sich gerade zum Essen an den Tisch gesetzt, als Gertrud nach Hause kam. Sie war zwei Jahre älter als Uschi und diejenige der Schwestern, die aus der Art geschlagen war. Während Paula und Uschi sich trotz der zwölf Jahre Altersunterschied sehr ähnelten und beide schlank und leichtfüßig waren, war Gertrud von schwerem Knochenbau. Sie stolperte oft, warf Dinge um und zog Missgeschicke an. »Dich haben sie im Krankenhaus vertauscht, Fräulein Ungeschickt«, hatte ihr Vater oft zu ihr gesagt.

Und Gertrud war von den drei Schwestern jene, die das Leben am schwersten nahm. Oft grübelte sie und zweifelte an sich selbst. Sie hatte weder Paulas Selbstsicherheit noch Uschis naive Unbekümmertheit. Aber sie war immer bereit, sich für andere einzusetzen, und für ihre Schwestern hätte sie sich vierteilen lassen.

Nun hievte sie ein Einkaufsnetz auf den Tisch und zog umständlich ihren Mantel aus. »Ich hab Makrele dabei«, sagte sie. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Fischgeschäft am Eppendorfer Weg, eine Arbeit, die sie verabscheute. Aber etwas anderes fand sie nicht, und sie war froh, ab und zu mit einem Stück Fisch die Kartoffeln aufpeppen zu können.

Uschi nahm nur ein paar Bissen, weil sie es eilig hatte, ins Kino zu kommen. »Entschuldigt, Kinder, ich muss los«, sagte sie und verschwand in dem winzigen Badezimmer, um sich zurechtzumachen.

Gertrud sah ihr missbilligend nach. »Jeden Abend geht sie aus. Und immer mit so komischen Typen.«

»Du bist nur neidisch«, rief Uschi aus dem Badezimmer.

»Lass sie. Soll sie sich doch amüsieren«, sagte Paula.

»Diese Wohnung ist sowieso viel zu eng. Wenn wir alle hier sind, krieg ich einen Lagerkoller«, ließ sich Uschi vernehmen.

»Pass auf, was du sagst. Hast du dir mal angesehen, wie die Leute in den Nissenhütten wohnen?«

»Ach, mir doch egal! Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich tanz nun mal gerne, und endlich darf ich die Musik hören, die früher verboten war.«

Dass sie auch gern Cocktails trank und rauchte, sagte Uschi wohlweislich nicht. Sie rauschte an ihnen vorbei und war schon aus der Tür.

* * *

Vielleicht sollte ich auch mal wieder ausgehen, dachte Paula, als sie zu Bett gegangen war. Die Decke war klamm, nur an den Füßen, wo der heiße Ziegelstein lag, war es warm. Paula nahm den in ein Handtuch gewickelten Stein und zog ihn an ihren Bauch. Ich bin zu jung, um jeden Abend allein und frierend im Bett zu liegen, nachdem ich mit meiner Mutter zu Abend gegessen habe, dachte sie.

Na ja, zumindest schlief sie nicht ganz allein, sondern teilte das Bett mit Uschi. Aber das war doch kein Zustand. Und war man mit neunundzwanzig Jahren überhaupt noch jung? Wenn man davon ausging, was sie schon alles erlebt hatte, fühlte es sich nicht so an. Dabei hätte sie auf vieles verzichten können. Auf den Krieg sowieso, auf die Nächte im Bunker, während die Bomben auf Hamburg fielen, auf den Hunger und die unmenschliche Kälte in den ersten beiden Nachkriegswintern. Paula drehte sich auf die andere Seite der durchgelegenen Matratze, die alles andere als bequem war, und brachte dabei die Bettfedern zum Quietschen.

Trotz allem wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, sich zu beschweren. Was hätte sie nicht noch vor ein paar Jahren nur für eine einzige Nacht gegeben, die sie einfach hätte durchschlafen können, ohne vom Heulen der Sirenen aus dem Bett gejagt zu werden. Angesichts der Zerstörung und des allgegenwärtigen Mangels in Hamburg ging es ihr und ihrer Familie vergleichsweise gut.

Der Artikel, den sie vor einigen Tagen gelesen hatte und in dem ein Mitarbeiter der Baubehörde versucht hatte, das ungeheure Ausmaß der Zerstörungen in der Stadt bildhaft zu machen, ging ihr durch den Kopf. Was hatte dort gestanden? Mit den Trümmern der Stadt hätte man die Außenalster dreiundzwanzig Meter hoch auffüllen können. Wie gut, dass niemand auf die Idee gekommen war, die Trümmer auf diese Weise zu entsorgen. Dann hätte Hamburg nicht nur ein Wahrzeichen, sondern auch ein wunderbarer Spazierweg gefehlt. Hundertzweiundachtzig Millionen Ziegelsteine waren geborgen und von Zement freigeklopft worden. Fünfundzwanzigtausend Türen und Fenster waren aus den zerstörten Gebäuden gerettet worden. Das Schlimmste aber war, dass die Hälfte der Hamburger Wohnungen immer noch zerstört war. Die Menschen hausten überall: in den Bunkern, in einsturzgefährdeten Ruinen, in Kellern und in den berüchtigten Nissenhütten, in Kasernen und Schulen, in selbst gebauten Verschlägen. Wie wurde die Hamburger Straße in Altona noch genannt? Richtig, Wolldeckenallee, weil die Bewohner dort Wolldecken aufgehängt hatten, um wenigstens etwas Intimsphäre in ihre Räume zu bringen.

Und nicht nur die Stadt lag in Trümmern – auch die Lebensträume der meisten Menschen hatten sich in Rauch aufgelöst. Ihre eigenen eingeschlossen. Sie war fast dreißig Jahre alt. Sie hatte keine Arbeit und kam mit Näharbeiten gerade so über die Runden. Und einen Mann hatte sie auch nicht. Bei dem Gedanken stiegen ihr die Tränen in die Augen. Der Gedanke an Konrad tat immer noch weh, obwohl er schon seit so vielen Jahren nicht mehr an ihrer Seite war.

Paula warf sich auf die andere Seite und berührte mit ihrem Arm Uschi, die vor einer halben Stunde nach Hause gekommen war und sich leise summend ausgezogen und neben sie gelegt hatte. Uschi stöhnte auf und drehte sich ebenfalls um, wobei sie die Matratze zum Schaukeln brachte.

Paula grübelte weiter. Wenn sie nicht schlafen konnte, rief sie sich immer Zahlen und technische Einzelheiten ins Gedächtnis, irgendwelche Details, die sie gehört oder gelesen hatte. Es beruhigte sie, wenn sie sich an Tatsachen halten konnte. Und es war noch nie von Nachteil gewesen, wenn man was im Kopf hatte. Dreißigtausend britische Soldaten waren in Hamburg, die jetzt auch endlich ihre Familien nachholen durften. Im letzten Jahr waren rund zweihundert Kinder geboren worden, deren Väter Engländer waren …

Sie stieß einen Laut des Unwillens aus. Wenn dieses ganze Wissen ihr doch nur etwas nützen würde.

Während des Krieges hatte sie in einem Zeichenbüro gearbeitet. Wie stolz war sie an ihrem ersten Arbeitstag gewesen, wie gern war sie morgens in das Büro am Dovenfleth gefahren. Als sie 1938 bei Baumann & Sohn am Hafen angefangen hatte, war dort Zubehör für Schiffskräne konstruiert worden. Anfangs hatte sie lediglich Briefe und Bestellungen getippt, aber als absehbar wurde, dass irgendwann fast alle Männer an die Front mussten, hatte sie in Abendkursen technisches Zeichnen gelernt und immer mehr konstruktive Arbeiten übernommen. Sie hatte ein gutes Vorstellungsvermögen und bewies Talent darin, kriegsbedingte Materialengpässe durch geschickte Konstruktion und die Umstellung auf Ersatzstoffe auszugleichen. Von ihr stammte die Idee, ein oft gebrauchtes Konstruktionsteil aus der Automobilherstellung zu übernehmen, wo es noch produziert wurde. Letztlich war ihr dabei die Schneiderlehre, die sie vor dem Krieg gemacht hatte, zugutegekommen. Aber nun gab es Baumann & Sohn nicht mehr, auch technische Zeichnerinnen wurden nicht mehr gebraucht, seit die Männer aus dem Krieg heimgekehrt waren, und seitdem trug sie mit Näharbeiten zum Familieneinkommen bei.

Paula war immer noch sehr geschickt mit der Nähmaschine, und es gelang ihr ohne große Mühe, aus wenigen Stoffresten etwas zu schneidern, das tragbar war. Aber sie hatte keine Lust mehr, aus alten Armeemänteln Jacken zu fertigen. Ihre alte Leidenschaft fürs Nähen wollte sich unter diesen Bedingungen nicht mehr einstellen. Sie sehnte sich nach einer vernünftigen, sinnvollen Arbeit, die sie ausfüllte und für die sie ihren Grips brauchte. Wenn sie sich vorstellte, wie Gertrud tagaus, tagein Fisch zu verkaufen oder wie Uschi als Serviererin zu arbeiten, drehte sich ihr der Magen um. Aber ihre Nähmaschine mochte sie auch nicht mehr. Etwas musste passieren – sie brauchte eine vernünftige Arbeit. Eine, die genügend Geld einbrachte, um anständig zu leben und sich ab und zu ein winziges Stückchen Luxus zu leisten, etwas, das das Leben schön machte.

Sie drehte sich wieder auf die andere Seite, und endlich schlief sie ein.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen machte Paula sich auf zur Baustelle der Hochhäuser am Grindel. Dort, auf halbem Weg von der Hoheluftchaussee bis in die Innenstadt, hatten die Briten gleich nach dem Krieg mehrere zehnstöckige Häuser geplant, die auf den Entwürfen aussahen wie aufgestellte Zigarrenkisten und deren Fronten komplett verglast sein sollten. So etwas hatte man in der Stadt noch nicht gesehen – Manhattan mitten in Hamburg.

Britische Soldaten und ihre Familien sollten dort einziehen. Die Hamburger waren entsetzt, weil für die Häuser intakte Gebäude abgerissen worden waren. Und dann hatten die Briten in April des vergangenen Jahres beschlossen, die Häuser nicht zu Ende zu bauen, weil sie ihr Hamburg Project aufgegeben hatten, das Hamburg zur Hauptstadt der britischen Besatzungszone machen sollte. Mit der Gründung der Bizone, zu der sich Briten und Amerikaner zusammengeschlossen hatten, waren die Pläne vom Tisch. Ein Großteil der Briten zog ab, sie brauchten die Wohnungen nicht mehr.

Wieder gab es Streit in der Hamburger Öffentlichkeit. Was sollte mit den Häusern geschehen? Sollte man die Ruinen abreißen oder weiterbauen? Schließlich hatte die Stadt Hamburg die Baustelle übernommen, und nun sollte das erste Hochhaus bald fertiggestellt werden. Paula hatte Gerüchte gehört, dass Hamburger sich dort um eine Wohnung bewerben konnten. »Was nützt mir eine Aussicht aus dem zehnten Stock, wenn ich nur auf Ruinen und Zerstörung heruntersehe?«, hatte Wilhelmine gefragt. Paula hätte es schon gereizt, in einer modernen Wohnung zu leben, aber ihr Interesse lag anderswo. Zu den Hochhäusern sollten auch Geschäfte, Arztpraxen und Büros gehören. Wo so viel gebaut wurde, gab es vielleicht irgendeine Arbeit für sie. Deshalb ging sie in regelmäßigen Abständen dort vorbei, um zu sehen, ob womöglich an irgendeiner Tür schon ein Zettel hing, auf dem eine Mitarbeiterin gesucht wurde. Sie las natürlich auch regelmäßig die Anzeigen im Abendblatt und im Echo, aber manchmal war es besser, vor Ort zu sein.

Paula war kaum ein paar Schritte gelaufen, da war sie schon durchgefroren. Dieses Wetter war wirklich scheußlich. Ein paar Hundert Meter weiter hatte Eier-Lienchen ihren Stand. Jeder im Viertel kannte die rüstige Frau, die ihr Geschäft in einem notdürftig gezimmerten Verschlag hatte, von denen sich mehrere auf dem Bürgersteig aneinanderreihten. Die Materialien waren aus den meterhohen Trümmerhaufen zusammengesucht, die sich hinter den Buden erhoben. Rechts neben Eier-Lienchen war ein Kiosk für Zeitschriften; links logierte Madame Tosca, die ihren Kunden hinter einem Vorhang aus einer Wolldecke aus der Hand las. Sie machte ihr Geschäft mit den vielen Vermissten, weil sie den Angehörigen wahrsagte, dass sie bald wiederkommen würden. »Ich tue den Leuten doch nichts«, sagte sie immer. »Von mir kriegen sie ein bisschen Hoffnung, dass sie ihre Lieben noch mal wiedersehen. Was ist daran falsch?« Ja, was eigentlich, dachte Paula. Heute war Madame Tosca, die eigentlich Ingrid Meyer hieß, allerdings noch nicht da.

»Die ist krank. Hörte sich gestern gar nicht gut an. Aber bei dem Wetter und dem wenigen Essen ist das ja kein Wunder.« Auch Helga Lien fror entsetzlich, das sah man. Wahrscheinlich stand sie schon seit ein paar Stunden hier in der feuchten Kälte. Obwohl ihr kleiner Laden sogar ein Dach aus Pappe hatte. Aber sie hatte die dicken Wolldecken, anstatt sich selbst darin einzuwickeln, über die Eierpappen gelegt, damit ihr die Ware nicht gefror und platzte.

»Ich habe heute Knickeier«, sagte Helga Lien mit blau gefrorenen Lippen zu Paula, »bei dieser Kälte kein Wunder.« Dabei stapfte sie von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten.

»Ich nehme zehn. Wer weiß, ob es noch welche gibt, wenn ich nach Hause komme.« Paula reichte das Geld über den Ladentisch, der aus einem einfachen Brett bestand, verstaute die Eier sorgfältig in ihrer Tasche und ging gedankenverloren weiter.

Wie sie diese ständigen Provisorien satthatte. Dabei bewunderte sie Eier-Lienchen und die vielen anderen Frauen, die sich aus dem Nichts eine wacklige Existenz aufbauten und mit einer schlichten Idee und jeder Menge Tatkraft ihre Familien durchbrachten. Auch der Mann von Helga Lien wurde vermisst, und sie hatte zwei Kinder im Grundschulalter zu versorgen. Wilhelmine hatte ihr erzählt, dass Helga Lien beantragt hatte, ihren Mann für tot erklären zu lassen, damit sie ihr Erbteil antreten konnte, das ihre Schwiegermutter ihr streitig machte. Mit dem Geld wollte Helga einen richtigen Laden aufmachen.

Paula wünschte der Eierfrau, dass sie ihren Plan verwirklichen konnte, denn das, was Helga Lien wollte, war genau das, wovon auch sie selbst träumte: mehr vom Leben zu haben. Wenn man sie gefragt hätte, was das denn sei, hätte sie nicht lange überlegen müssen: einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr ein Auskommen bescherte, ein Zimmer für sich allein, in dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte, warme Kleidung, die zumindest einen Hauch von Eleganz haben durfte, genug zu essen und ab und zu ein kleines Vergnügen: einen Kinobesuch, einen Spaziergang, einen Glühwein auf der zugefrorenen Alster und im Sommer einen Segeltörn oder einen Besuch in Hagenbecks Tierpark.

Paula kam an der Haltestelle der Straßenbahn in Richtung Innenstadt vorbei. Dort standen die Menschen in dichten Trauben und warteten auf die nächste Bahn. Eine junge Frau, die zwei Mäntel übereinandertrug, schob einen Kinderwagen, in dem zwei süße Kinder von vielleicht zwei Jahren lagen.

»Zwillinge?«, fragte Paula.

Die Frau nickte.

Sobald die Bahn sich von Norden her näherte, begann das Schieben und Schubsen um die besten Plätze, und als sie hielt, drängten sich die Menschen an den Türen. Doch die Waggons waren derart brechend voll, dass es für die Frau mit dem Kinderwagen aussichtslos war, hineinzukommen. Die anderen Leute stürzten sich auf die Türen und drängelten sich hinein.

»Das ist schon die dritte Bahn, die ohne mich abfährt«, sagte die junge Frau. »Jetzt reicht es. Ich muss mit den Kleinen zum Arzt.«

Bei einem weiteren Blick in den Kinderwagen sah Paula, dass eines der Kinder fiebrig wirkte und glasige Augen hatte. Es wimmerte leise vor sich hin.

»Und zahlen tun die Briten auch nicht«, schimpfte ein anderer Fahrgast, der auch nicht mehr hineinpasste.

Die Frau schob den Wagen zu einem Abteil weiter vorn, das bis auf eine Handvoll Männer vollkommen leer war.

»Ich helfe Ihnen«, rief Paula, die ahnte, was sie vorhatte, und packte den Kinderwagen, um ihn in die Bahn zu hieven.

»No Germans!«, kam eine barsche Stimme von innen. »Get the hell out of here!«

Ein britischer Soldat stellte sich drohend an die Tür und gab dem Kinderwagen, der schon mit den Vorderreifen in der Bahn war, einen Stoß. Der Wagen kippte gefährlich zur Seite, die Frau stieß einen Schrei aus, weil er kopfüber aus der Bahn zu fallen drohte.

Paula zögerte. Es war nie gut, sich mit den Besatzern anzulegen. Man war schneller im Gefängnis, als man bis drei zählen konnte. Aber hier konnte und wollte sie nicht tatenlos zusehen, also griff sie gemeinsam mit der Frau nach dem Wagen und richtete ihn wieder auf. Er stand immer noch halb in der Bahn, halb draußen.

Wütend herrschte sie den Soldaten an: »Was machen Sie denn da? Wollen Sie diese Kinder verletzen? Die können doch nun wirklich nichts für Hitler. Sehen Sie nicht, dass sie krank sind? Bringt man Ihnen das in England bei, sich so gegenüber Frauen und Kindern zu verhalten?« Ohne es zu merken, hatte sie Englisch gesprochen. Der Soldat sah sie mit offenem Mund an, dann wurde er dunkelrot vor Zorn und griff mit der Hand an seine Pistolentasche.

Paula sah sich um, alle anderen Fahrgäste waren zurückgewichen. Hiermit wollte keiner was zu tun haben. Sie bekam Angst, obwohl sie immer noch wütend war. Warum musste es so sein, dass die Briten mit zwei Männern einen ganzen Waggon besetzten und eine Mutter ihre Kinder nicht zum Arzt bringen konnte?

»Wer muss hier zum Arzt?«, mischte sich plötzlich ein anderer Soldat ein, der hinter dem ersten auftauchte. Er trug eine Offiziersuniform, und Paula registrierte sein gepflegtes Aussehen. Seine Schulterklappen sagten ihr, dass er Major war.

Habe ich den Bogen womöglich überspannt?, dachte Paula. In diesem Moment fing die junge Mutter neben ihr an zu weinen. Paula straffte sich und sagte in fast akzentfreiem Englisch: »Diese junge Frau hier muss mit ihren kranken Kindern zum Arzt. Aber alle Straßenbahnen sind voll.« Sie atmete schwer, dann fügte sie etwas leiser hinzu: »Können Sie nicht eine Ausnahme machen?«

Der Offizier sah sie nachdenklich an, dann lächelte er.

Inzwischen war der Schaffner zu ihnen gekommen. »Ich muss weiterfahren. Was ist denn hier los? Deutsche haben keinen Zutritt zu den reservierten Waggons für Briten. Das wissen Sie doch.«

»Private Harris, helfen Sie der Dame mit dem Kinderwagen. Wir Engländer sind schließlich Gentlemen. Wohin wollen Sie?«, wandte er sich an die junge Mutter. Er sprach Deutsch mit einem merkwürdigen Akzent, hatte jedoch offensichtlich keine Mühe, die Wörter zu finden.

»Stephansplatz«, brachte die hervor.

»Aber …«, sagte der Schaffner. Der Offizier beachtete ihn nicht.

»Okay. Private Harris, Sie fahren mit und sorgen dafür, dass sie heil dort ankommt, und helfen ihr mit dem Kinderwagen. Das ist ein Befehl.«

Der Soldat schaute zwar mürrisch, musste aber dem Befehl seines Vorgesetzten gehorchen und bugsierte den Kinderwagen in die Straßenbahn.

Die Frau mit dem Kinderwagen hob schüchtern die Hand, um sich bei Paula zu bedanken.

Der Offizier stieg aus und trat neben Paula, woraufhin die Bahn abfuhr. Die Reisenden, die keinen Platz ergattert hatten, warteten auf die nächste Bahn und starrten zu ihnen herüber.

Das war’s, dachte sie. Jetzt verhaftet er mich. Er kann nicht zulassen, dass jemand vor aller Augen die Autorität der Besatzer untergräbt. Fahrten in den für Tommys reservierten Waggons waren verboten, daran war nicht zu rütteln. Meine Güte, was würde mit den Eiern passieren, die sie in der Tasche hatte? Womöglich würden sie kaputtgehen? Ihre Mutter würde zornig werden.

»Warum sprechen Sie so gut Englisch?«, fragte er.

Paula gab keine Antwort. Sie war auf der Hut. Warum wollte er das wissen?

»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« Er lächelte, während er das fragte.

Paula schüttelte sich. Sie starrte fasziniert in das Gesicht des Majors. Er hatte Augen von einem strahlenden Blau, das in dem trüben Wetter fast unwirklich leuchtete. Kornblumenblau. Seine Lässigkeit nahm Paula beinahe den Atem, während sie selbst um jede Kleinigkeit kämpfen musste, um Essen, um Kohle für den Ofen, um Kleidung. Was sie in diesen Augen sah, fand sie ungeheuer anziehend, gleichzeitig berührte es schmerzhaft ihr Herz. Wie lange war es her gewesen, dass sie selbst derart unbekümmert, frei von allen Sorgen gelacht hatte? Würden diese Zeiten jemals wiederkommen?

Er hat Konrads Augen, dachte sie verwundert. Für einen Moment verlor sie sich in der Erinnerung an den geliebten Mann, den der Krieg ihr genommen hatte. »Was?«, fragte sie dann, als sie sich wieder im Griff hatte.

»Wo waren Sie gerade mit Ihren Gedanken?«

Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. Nur jetzt nicht an Konrad denken. »In einem britischen Gefängnis.«

Er lachte auf. »Die sind zum Fürchten. Dunkel und voller Ratten. Und das Essen erst.«

»Das dachte ich mir. Obwohl das Essen wahrscheinlich im Vergleich zu dem, was wir bekommen, gut ist.«

»Und trotzdem haben Sie sich eben vor Ihre Freundin gestellt.«

»Ich kenne die Frau nicht. Und ich finde, wir Deutschen haben lange genug zugesehen, wie unseren Nachbarn unrecht getan wurde.« Trotzig hielt sie inne.

»Umso beeindruckender.« Er sah sie an, und sie bemerkte die Sommersprossen um seine Nase herum, die man aber nur sah, wenn man ihm ziemlich nahe war. Ansonsten fielen eher das dunkle Haar auf, das für einen Offizier fast ein bisschen zu lang war, und der fein geschnittene Mund. Die Uniform stand ihm gut.

»Verhaften Sie mich nun oder nicht?«, fragte sie.

»Ich hatte Sie gefragt, woher Sie so gut Englisch sprechen.«

Hatte er das tatsächlich? Warum interessierte ihn das?

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Bekomme ich nun eine Antwort?« Er sah sie auf eine Weise an, von der sie nicht sagen konnte, ob er verärgert oder amüsiert war. Sie war zu sehr von seinen ungewöhnlichen Augen gefangen. Plötzlich wurde sie sich ihres fadenscheinigen Mantels bewusst. Und unter ihrem Rock guckten dicke Wollstrümpfe heraus, der rechte war am Knie geflickt.

Paula stellte einen Fuß vor den anderen, um wenigstens den heilen Strumpf zu zeigen, selbst wenn der nicht weniger plump wirkte.

»Ich habe es in der Schule gelernt.«

»Sie sprechen fließend. Das muss eine gute Schule gewesen sein.«

Paula wurde es unbehaglich. Warum hatte sie sich vorhin nur hinreißen lassen? Jetzt hatte sie sich in Schwierigkeiten gebracht. Obwohl der Offizier letztlich nicht besonders grimmig aussah. Irgendwie glaubte sie nicht, dass er sie verhaften wollte. Aber sie konnte ihm ja schlecht erzählen, dass sie Englisch während des Krieges gelernt hatte, weil viele der Zeichnungen, mit denen sie bei Baumann & Sohn zu tun gehabt hatte, aus Amerika stammten. Ein Amerikaner, der mit Hitler sympathisierte, brachte sie regelmäßig vorbei. Erst mit dem Kriegseintritt Amerikas war damit Schluss gewesen.

»Ich habe heimlich BBC gehört«, sagte sie stattdessen. Das würde er ihr wahrscheinlich nicht glauben. Nach dem Krieg behaupteten doch alle Deutschen, Widerstandskämpfer gewesen zu sein.

Er runzelte die Stirn. »Wohnen Sie hier?«, fragte er dann.

Paula zeigte die Straße hinauf. »Nummer fünfundvierzig.« Verflixt, warum hatte sie das gesagt? Sie hätte doch eine falsche Adresse angeben können.

»Und wie heißen Sie?«

»Rolle. Paula.«

»Frau Rolle …«

»Ich bin nicht verheiratet.«

Er nickte. »Gut, Fräulein Rolle. Einen schönen Tag noch.«

»Sie verhaften mich nicht?«

Nun sah er sie auf eine Art an, die ihr unbehaglich war. Er schien zu überlegen, ob er noch etwas sagen sollte. Dann tippte er sich zum Abschied mit zwei Fingern an die Mütze.

Gerade noch einmal gut gegangen, dachte Paula erleichtert, während sie rasch die Straße hinunterlief.

* * *

Felix Robinson folgte ihr nachdenklich mit den Augen. Was für eine mutige Frau, dachte er. Sich einfach mit einem Offizier der Besatzungsmacht anzulegen. Und dabei ging es noch nicht einmal um sie selbst. Hübsch war sie auch, mit ein paar Pfund mehr auf den Rippen und ein paar Sorgen weniger wäre sie eine Schönheit. Und vor allem müsste sie schönere Kleider tragen. Allein diese Strümpfe! Er seufzte. Sie war halb verhungert und völlig verfroren, und dennoch machte sie Eindruck auf ihn. Dann verdüsterte sich sein Blick. Sicher, heute war sie einer anderen Frau beigesprungen. Aber was hatte sie in den Jahren zwischen 1933 und 1945 getan? War sie eine glühende Hitler-Verehrerin gewesen? Bestimmt im BDM, vielleicht sogar Parteigenossin. Ob sie sich damals auch für ihre jüdischen Nachbarn eingesetzt hatte? Oder war sie froh gewesen, dass sie weg waren, weil sie so an eine schönere Wohnung oder zumindest an Möbel und Hausrat gekommen war? Vielleicht sah sie auch deshalb ein wenig abgerissen aus, weil die Schuld an ihr nagte?

Er schüttelte sich. Er war ungerecht. Nicht alle Deutschen waren Täter gewesen. Aber wie sollte er wissen, wer damals seine Menschlichkeit bewahrt hatte und wer nicht? Er warf noch einen letzten Blick auf diese Deutsche, die ihm gerade so etwas wie Respekt abgenötigt hatte. Dann wandte er sich abrupt ab.

Eigentlich hatte er an diesem Morgen an seinem ehemaligen Elternhaus vorbeigehen wollen. Er wusste nicht, was davon noch übrig war. Heute hatte er plötzlich das Bedürfnis verspürt nachzusehen. Aber die Begegnung mit dieser jungen Frau hatte ihn verunsichert und aufgewühlt. Er wollte nichts mehr mit Deutschen zu tun haben. Da mochte diese Paula Rolle noch so anziehend sein.

Er machte auf dem Absatz kehrt. Er würde in sein Büro zurückfahren. Dort wartete genügend Arbeit auf ihn.

Kapitel 3

Paula war inzwischen am U-Bahnhof Hoheluft angekommen. Von hier aus konnte sie die Baustelle der Grindelhäuser schon sehen. Doch anstatt geradeaus weiterzugehen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, bog sie am Isebekkanal nach rechts ab und folgte der schmalen Grünfläche neben dem Wasserlauf. Sie war schnell gegangen, weil ihr die Auseinandersetzung mit den Briten noch in den Knochen steckte. Jetzt war ihr warm, und sie lockerte den selbst gestrickten Schal. Ein flacher Kahn glitt fast lautlos vorüber. Paula sah die Kohlehaufen, die er vom Hafen über die Alster nach Barmbek ins Gaswerk brachte, und ging automatisch die Möglichkeiten durch, wie sie ein paar davon stehlen könnte. Solche Denkweisen waren in den Jahren nach dem Krieg ganz selbstverständlich geworden. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Die Stille unter den Bäumen, die hier noch standen, weil sie weder den Bomben noch den Brennholzbeschaffungsaktionen der Hamburger zum Opfer gefallen waren, half ihr beim Nachdenken. Die Sonne zeigte sich zwischen den Wolken und ließ die nassen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, golden glänzen. Paula blieb stehen, um sich an dem Anblick zu erfreuen, und musste die Augen gegen das gleißende Licht zusammenkneifen.

Die Begegnung mit dem Engländer machte sie unruhig. Sie wusste nicht einmal seinen Namen, weil er sich nicht vorgestellt hatte. Aber er hatte nach ihrer Adresse gefragt. Was wollte er von ihr? Warum hatte sie ihm ihren richtigen Namen und die Adresse gesagt? Weil er nach ihrem Ausweis hätte fragen können, und dann hätte er es ohnehin gewusst, sagte sie sich dann. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Ergebnis, dass die Sache vielleicht gar nichts zu bedeuten hatte. Warum sollte ein britischer Offizier mit den schönsten Augen der Welt sich ausgerechnet für eine Frau in geflickten Strümpfen, die noch dazu mager wie eine Bergziege war, interessieren?

Sie erreichte die Osterstraße, die an dieser Stelle den Kanal querte. Hier herrschte wieder mehr Verkehr. Plötzlich hielt neben ihr mit quietschenden Reifen ein britischer Jeep. Ein paar Soldaten sprangen herunter. Ein Schreck durchfuhr Paula. Würde man sie jetzt abführen? Aber dann dachte sie, dass das unmöglich war. Woher sollte der Major wissen, dass sie hier war? Und die Tommys machten auch gar keine Anstalten, sondern lehnten lässig an dem Wagen. Sie zündeten sich Zigaretten an. Sofort näherten sich zwei Jungen, die darauf warteten, dass sie ihre Kippen wegwarfen. Die Briten lachten über sie, aber auf gutmütige Art, und einer von ihnen, ein freundlich wirkender Mann mit abstehenden Ohren und roten Haaren, holte eine volle Schachtel aus der Tasche und hielt sie den Jungen hin. Die konnten ihr Glück kaum fassen und nahmen jeder eine der Chesterfields und klemmten sie sich hinter die Ohren. Trotzdem bückten sie sich blitzschnell, als die Männer ihre Kippen wegwarfen. Sie führten die noch glimmenden Zigaretten an den Mund und rauchten mit großen Gesten.

Paula war stehen geblieben, ohne es zu bemerken. Was für eine Szene, dachte sie. Sie sagt so viel aus über unsere Stadt. Natürlich sind die Briten hier die Herren, aber immerhin gilt das Fraternisierungsverbot nicht mehr. Engländer und Deutsche redeten miteinander. Die beiden Jungen verabschiedeten sich mit einem breiten »See you later!« und nahmen auch die Kippen mit, um den Tabak aus dem Papier zu pulen und neue Zigaretten daraus zu drehen.

Sie blickte ihnen nach und bemerkte, dass die Engländer zu ihr herübersahen. »Fräulein!«, riefen sie in einem merkwürdigen Akzent, bei dem das R klang, als hätten sie einen Schuh im Mund, und winkten ihr zu.

Paula machte, dass sie davonkam. Eine Begegnung mit der Besatzungsmacht am Tag reichte ihr völlig. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel ihr über einem Schaufenster die Leuchtreklame in geschwungener Schreibschrift ins Auge. Modehaus Woller leuchtete es in Rot und Grün zu ihr herüber. Sie wurde neugierig. Das Geschäft hatte neu eröffnet, letzte Woche war es noch nicht da gewesen. Und es war ein Geschäft nach Paulas Geschmack, ganz das Gegenteil von den Verkaufsbaracken an der Hoheluftchaussee. Sie ging hin und starrte fasziniert auf die Auslagen. Die hatten sogar Schaufensterpuppen. Und eine von ihnen trug einen blau-rot karierten Wollrock mit einem breiten Bündchen und einer tiefen Kellerfalte. Paulas Herz füllte sich mit Sehnsucht. Endlich mal eine andere Farbe als das ewige Grau und Braun. Und warm sah er aus. Paula ahnte, wie schön er bei jedem Schritt schwingen würde. Sie entdeckte ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe, das sich mit der Schaufensterpuppe deckte. Meine Güte, wie abgerissen sie aussah. Der verschossene Mantel. Am schlimmsten aber waren die Wollstrümpfe, die zu allem Überfluss auch noch ständig bis auf die Knöchel herunterrutschten. Sie sah aus wie ein Schulmädchen, weil sie sich die Strümpfe hochziehen musste. Oder wie eine Vogelscheuche. Wenn sie wenigstens einen schönen Schal besitzen würde, um dem Mantel ein wenig Pep zu geben.

Ohne dass sie es wollte, kam ihr der englische Major wieder in den Sinn. Was musste er von ihr denken? Unwillkürlich fragte sie sich, wie er wohl gucken würde, wenn er sie in diesem Rock sähe, der ihre Figur betonte und sie als schöne, gepflegte Frau zeigte. Mit Bitterkeit stellte sie fest, dass ihr dazu schon lange die Mittel fehlten. Sie hatte einfach keine Kraft, sich schön zu kleiden. Und Geld sowieso nicht.

Ihr Blick fiel wieder auf den Rock. Und wenn sie ihn einfach mal anprobierte? Nur um sich für ein paar Minuten schön zu fühlen? Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft.