Über das Buch

»Und Gott schuf Etgar Keret, den besten Kurzgeschichten-Autor seit Kafka und Hemingway.« Maxim Biller

Etgar Keret, einer der bekanntesten Schriftsteller Israels und Meister der kurzen Form, kann auf wenigen Seiten sagen, wofür andere Romane brauchen. »Tu's nicht« ist sein neuer Band mit Short Stories. Seine Figuren ringen mit dem Elternsein, Familie, Alltag im Krieg, Marihuana und Pfannkuchenbergen, einem Goldfisch, der nachts aus dem Aquarium steigt und in Hauspantoffeln fernsieht, und einem Mann, der vom Dach springt. Keret ist heiter und fantastisch, seine Geschichten sind anarchisch, absurd und anrührend. Er erzählt unwiderstehlich komisch, und bei ihm gewinnt am Ende immer das Leben.

Über Etgar Keret

Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, Israel, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels. Er gilt als Meister der Kurzgeschichte, seine Short-Story-Bände sind in Israel Bestseller und werden in 40 Sprachen übersetzt. »Tu's nicht« wurde mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet und stand auf den Jahres-Besten-Listen von The Guardian, The Times, Financial Times, Buzzfeed und vielen weiteren. Etgar Keret schreibt auch Drehbücher und Graphic Novels. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.
Mehr zum Autor unter www.etgarkeret.com.

Barbara Linner, geboren 1955 in München, studierte Judaistik, Orientalistik und südosteuropäische Geschichte. Sie ist Übersetzerin von u. a. David Grossman, Assaf Gavron und vielen anderen.

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Etgar Keret

Tu’s nicht

Storys

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Tu’s nicht!

Goldherzgras

Das vorletzte Mal, als sie mich aus einer Kanone schossen

Todd

Tabula rasa

Autokonzentrat

In der Nacht

Fenster

Und die Kasse morgen

GooDeed

Streuselkuchen

Väterlicherseits Hase

Die Eisechse

Die Leiter

Yad Vashem

Das ganze Jahr Geburtstag

Allergien

Der Pilz

Erdnussflips

Heim!

Pineapple Crush

Evolution eines Abschieds

Impressum

Für Eli und Guy

Tu’s nicht!

Pit-Pit bemerkt ihn als erster. Wir sind auf dem Weg in den Park zum Ballspielen, als er plötzlich sagt: »Papa, schau mal!« Er hat den Kopf in den Nacken gelegt, und mit zusammengekniffenen Augen schaut er hinauf, weit über mich hinaus, und noch bevor ich anfangen kann, mir ein außerirdisches Raumschiff oder ein Klavier auszumalen, das uns gleich auf den Kopf kracht, habe ich schon das Gefühl, dass hier was passiert, das ganz und gar nicht in Ordnung ist. Aber als ich den Kopf in die Richtung drehe, in die Pit-Pit schaut, sehe ich bloß ein hässliches, viergeschossiges Gebäude, mit Billigputz und Klimaanlage-Kästen zugekleistert, als leide es an irgendeiner Hautkrankheit. Die Sonne, die genau darübersteht, blendet mich ein bisschen, und bis es mir gelingt, einen besseren Blickwinkel zu finden, höre ich Pit-Pit schon sagen: »Er will fliegen.« Jetzt erkenne ich die Gestalt eines Menschen mit weißem Hemd, der auf der Dachumrandung steht und nach unten, direkt zu mir herunterblickt, und höre Pit-Pit hinter mir flüstern: »Ist das ein Superheld?« Statt ihm zu antworten, schreie ich zu dem Mann hinauf: »Tu’s nicht!«

Der Mann starrt mich nur an. Ich schreie ihm noch einmal zu: »Tu’s nicht, bitte! Was immer es ist, das dich dort raufgebracht hat – es kommt dir sicher so vor, als ob man das nicht lösen kann, aber weißt du, man kann. Wenn du jetzt springst, trittst du mit diesem ausweglosen Gefühl ab, und das wird deine letzte Erinnerung ans Leben sein. Nicht Familie, nicht Liebe, nur Niederlage. Aber wenn du jetzt bleibst, ich schwör’s dir bei allem, was mir lieb und teuer ist, dieser ganze Kummer und die Verzweiflung werden sich langsam auflösen, und in ein paar Jahren ist alles, was davon übrig ist, irgendeine komische Geschichte, die du den Leuten bei einem Bier erzählst, eine Geschichte, wie du einmal von einem Dach springen wolltest und ein Mann, der unten stand, zu dir raufgeschrien hat …«

»Was?«, schreit der Mann auf dem Dach zurück und deutet auf sein Ohr. Er hört mich offenbar nicht wegen dem Straßenlärm. Oder es ist nicht der Lärm, denn sein »Was?« habe ich ja ausgezeichnet verstanden. Vielleicht hört er einfach so nicht. Vielleicht hat er ein Hörproblem. Pit-Pit, der jetzt meine Hüften umklammert, ohne ganz herumzukommen, als ob ich ein riesiger Affenbrotbaum wäre, schreit dem Mann zu: »Hast du Superkräfte?« Doch der Mann deutet wieder auf sein Ohr, als könne er nichts hören, und schreit: »Mir reicht’s! Schluss! Wie viel denn noch!« Und Pit-Pit schreit zurück, als führten sie ein völlig normales Gespräch: »Flieg schon, nu! Flieg!« Ich gerate unter Druck, dieser Druck, der immer dann entsteht, wenn du weißt, dass jetzt alles auf dich ankommt.

Bei der Arbeit habe ich das eine Menge. Auch in der Familie, aber weniger. Wie damals, auf dem Weg zum Nationalpark nach Sachneh, als ich bremsen wollte und die Räder blockierten. Der Wagen geriet auf der Straße ins Schleudern, und ich sagte mir, »Entweder du löst das, oder das ist das Ende.« Bei dem Mal damals, in Sachneh, gelang es mir nicht, es zu lösen, und es kam zu einem bösen Unfall. Liat, die als einzige nicht angeschnallt war, starb, und ich blieb allein mit den Kindern zurück. Pit-Pit war damals zwei und konnte noch kaum sprechen, aber Noam fragte mich pausenlos, »Wann kommt Mama zurück? Wann kommt Mama zurück?« Und ich rede von lange, lange nach der Beerdigung. Er war damals acht, ein Alter, in dem man schon verstehen sollte, dass jemand tot ist, aber er hat nicht aufgehört zu fragen. Und ich, wo ich ja auch ohne diese nervigen Fragen wusste, dass das alles wegen mir passiert war, wollte mit allem Schluss machen. Genau wie der Mann auf dem Dach. Aber ich fand wieder raus. Und da bin ich heute, gehe ohne Krücken, wohne mit Simona zusammen, bin ein guter Vater. Das alles will ich dem Mann auf dem Dach sagen, ihm sagen, dass ich ganz genau weiß, was er gerade fühlt, aber es wird vorbeigehen, wenn er sich jetzt nicht wie ein Pizzateig auf dem Gehsteig plattschmiert. Garantiert. Es hat wohl keinen Menschen auf diesem blauen Planeten gegeben, der mehr am Boden war als ich. Er muss einfach da runterkommen und sich eine Woche geben. Einen Monat. Sogar ein Jahr, falls nötig.

Aber wie sagt man das alles einem Halbtauben? Währenddessen zieht mich Pit-Pit an der Hand und sagt: »Er fliegt heute nicht mehr. Komm, Papa, wir gehen in den Park, bevor es dunkel wird.« Aber ich bleibe wie festgenagelt stehen und schreie, so laut ich kann: »Menschen sterben die ganze Zeit, wie die Fliegen, auch ohne dass wir uns selber umbringen. Tu’s nicht! Bitte, tu’s nicht!« Der Mann auf dem Dach nickt, es scheint, dass er diesmal etwas gehört hat, und schreit zurück: »Woher weißt du das? Woher hast du gewusst, dass sie gestorben ist?« Eine stirbt immer, will ich ihm zurufen. Immer. Und wenn nicht sie, dann jemand anders. Aber das würde ihn nicht von dort runterholen, also schreie ich stattdessen: »Hier ist ein kleiner Junge«, und deute auf Pit-Pit, »er sollte das nicht sehen!« Doch Pit-Pit neben mir schreit: »Schon! Ich schon! Jetzt flieg endlich, bevor es dunkel wird!« Wir haben Dezember, es wird wirklich früh dunkel.

Wenn er springt – hätte ich auch das auf dem Gewissen. Irene, meine Psychologin, würde mich mit ihrem Nach-Dir-Geh-Ich-Nachhause-Blick anschauen und sagen: »Es ist nicht deine Schuld. Du musst aufhören, dir das in den Kopf zu setzen.« Und ich würde nicken, weil ich weiß, dass die Stunde in zwei Minuten zu Ende ist und sie ihre Tochter aus der Krippe abholen muss, aber ändern würde das nichts, denn auch diesen Halbtauben werde ich mit mir rumschleppen müssen, neben Liat und Noams Glasauge. Ich muss ihn retten.

»Warte dort auf mich!«, brülle ich ihm zu, mit aller Kraft. »Eine Minute! Ich komm rauf zu dir zum Reden!«

Er schreit von oben zurück: »Ich kann nicht ohne sie sein! Ich kann nicht!«

Ich schreie hinauf, »Sekunde!«, und sage zu Pit-Pit: »Komm, mein Schatz, wir gehen aufs Dach rauf.« Pit-Pit macht so ein niedliches »Nein« mit dem Kopf, wie immer, bevor er mich bis aufs Blut piesackt, und sagt: »Wenn er fliegt, sehen wir das von hier viel besser.«

»Er wird nicht fliegen«, erwidere ich, »nicht er, nicht heute. Komm, wir gehen rauf, nur einen Moment, Papa muss dem Mann was sagen.«

»Dann schrei’s doch von hier«, beharrt Pit-Pit. Sein Arm rutscht mir aus der Hand, und er legt sich auf den Gehsteig, so wie er es gern mit Simona und mir im Einkaufszentrum macht. »Wettlauf aufs Dach«, sage ich zu ihm. »Wenn wir ankommen, ohne zu stoppen, kriegen Pit-Pit und Papa ein Eis zur Belohnung.«

»Jetzt ein Eis«, wimmert Pit-Pit und wälzt sich auf dem Gehsteig, »jetzt!« Ich habe keine Zeit für solchen Blödsinn. Ich nehme ihn auf die Arme. Er windet sich und kreischt, aber ich ignoriere es und renne auf das Haus zu.

»Was ist mit dem Jungen?«, höre ich den Mann von oben schreien. Ich gebe keine Antwort, stürze nur ins Treppenhaus. Vielleicht wird ihn die Neugier jetzt aufhalten. Vielleicht wird er deswegen noch nicht springen, auf mich warten.

Der Junge ist schwer, und es ist schwierig, diese ganzen Treppen mit einem fünfeinhalbjährigen Jungen auf dem Arm hinaufzurennen, speziell wenn es ein Junge ist, der nicht daran interessiert ist. Im dritten Stock geht mir schon die Puste aus. Eine dicke rothaarige Nachbarin macht die Tür einen Spaltbreit auf und fragt mich, wen ich suche, anscheinend hat sie Pit-Pits Gebrüll gehört, aber ich ignoriere sie und klettere weiter die Stufen hinauf. Auch wenn ich etwas zu ihr sagen wollte, ich hätte gar nicht genug Luft dazu in der Lunge.

»Da oben wohnt niemand!«, ruft sie mir nach. »Da ist nur das Dach!« Als sie »Dach« sagt, kippt ihre schrille Stimme, und Pit-Pit schreit mit tränenerstickter Stimme zurück, »Jetzt ein Eis! Jetzt!« Ich habe keine Hand frei, um die abblätternde Tür aufzustoßen, die nach draußen führen sollte, meine Hände sind voll mit Pit-Pit, der nicht zu randalieren aufhört, also trete ich mit aller Kraft dagegen. Das Dach ist leer. Der Mann, der noch einen Augenblick vorher auf der Umrandung stand, ist nicht mehr da. Hat nicht auf uns gewartet. Hat nicht gewartet, um herauszufinden, warum der Junge so brüllt. »Er ist geflogen«, heult Pit-Pit in meinen Armen. »Er ist geflogen, und wegen dir haben wir nichts gesehen! Wegen dir!« Ich beginne, mich dem Dachrand zu nähern. Es könnte ja sein, dass er es bereut hat und ins Gebäude zurück ist, versuche ich mir zu sagen. Aber ich glaube es nicht. Ich weiß, dass er dort unten ist, in einer seltsamen Körperhaltung auf dem Gehsteig liegt. Ich weiß es, und ich habe ein Kind in den Armen, dass das nicht sehen darf, schlicht und einfach nicht darf, denn das wäre ein Trauma fürs ganze Leben, und er hat schon eins, er braucht nicht noch eins, doch meine Füße tragen mich zum Rand des Dachs. Das ist wie an einer Wunde kratzen, wie noch ein Glas Chivas bestellen, wenn du weißt, dass du schon zu viel getrunken hast, wie Auto zu fahren, wenn du weißt, dass du müde, so schrecklich müde bist.

Als wir schon ganz nah am Rand sind, wird die Höhe spürbar. Pit-Pit verstummt, und ich kann uns beide keuchen hören und von Weitem die Sirenen der Ambulanzen, als sagten sie zu mir, »Für was? Wozu musst du es sehen? Meinst du, das ändert irgendwas? Ist das gut für irgendjemand?« Plötzlich höre ich hinter mir die schrille Stimme der rothaarigen Nachbarin, die befiehlt, »Lass ihn los!« Ich drehe mich um zu ihr, verstehe nicht recht, was sie will. »Lass mich los!«, schreit auch Pit-Pit. Wenn sich jemand Fremdes einmischt, stachelt ihn das immer an.

»Er ist nur ein Kind«, redet die Rothaarige weiter, aber ihre Stimme wird in Sekundenschnelle brüchig und weich. Sie ist am Rande der Tränen. Die Sirenen kommen näher, und die Rothaarige fängt an, auf mich zuzugehen. »Ich weiß, dass du leidest«, sagt sie zu mir. »Ich weiß, dass das alles schwer ist. Ich weiß es. Glaub mir.« In ihrer Stimme liegt ein solcher Schmerz, dass sogar Pit-Pit zu strampeln aufhört und sie gebannt anstarrt. »Schau mich an«, flüsterte sie, »schau. Dick, allein. Ich hatte auch einmal ein Kind. Weißt du, was das heißt, wenn du ein Kind verlierst? Begreifst du überhaupt, was du tun willst?« Pit-Pit, immer noch in meinen Armen, umarmt mich ganz fest. »Siehst du, was für ein süßer Junge«, sagt sie, schon ganz nah bei uns, streichelt Pit-Pits Haar mit ihrer dicklichen Hand.

»Da war ein Mann hier«, sagt Pit-Pit und heftet seine schönen braunen Augen, Liats Augen, auf sie. »Hier war ein Mann, aber jetzt ist er geflogen. Und wegen Papa haben wir’s nicht gesehen.« Die Sirenen stoppen genau unter uns. Ich mache noch einen Schritt auf den Rand zu, da greift die schweißnasse Hand der Rothaarigen nach meiner – »Tu’s nicht«, sagt sie, »bitte, tu’s nicht.«

Pit-Pit bekommt eine Vanillekugel im Becher. Ich nehme Pistazie und Schokoladenchip in der Waffel. Die Rothaarige will einen Schokomilchshake. Sämtliche Tische in der Eisdiele sind verschmiert, also versuche ich, mit einer Serviette einen für uns sauberzumachen. Pit-Pit besteht darauf, von dem Milchshake zu probieren, und sie lässt ihn. Sie heißt auch Liat. Das ist ein verbreiteter Name. Sie weiß nichts von Liat, von dem Unfall, sie weiß gar nichts. Und ich nichts von ihr. Außer, dass sie ein Kind verloren hat. Als wir aus dem Haus getreten sind, haben sie gerade die Leiche des Mannes in den Ambulanzwagen geschoben. Zum Glück war er schon mit einem weißen Laken zugedeckt, ein Leichenbild weniger im Kopf. Das Eis ist mir zu süß, aber Pit-Pit und die Nachbarin sehen zufrieden aus. Pit-Pit hält mit der einen Hand den Plastikbecher, und die zweite streckt er nach dem Milchshake der Rothaarigen aus. Er macht das immer, ich weiß nicht, warum, er hat doch schon ein Eis in der Hand, warum braucht er noch was? Ich mache den Mund auf, um ihn darauf hinzuweisen, aber die Rothaarige bedeutet mir, das sei in Ordnung, und gibt ihm ihren fast leeren Milchshakebecher. Ihr Sohn ist tot, meine Frau ist tot, der Mann auf dem Dach ist tot.

»Schau, wie goldig er ist«, flüstert sie, während sich Pit-Pit angestrengt bemüht, den letzten Tropfen vom Boden ihres Bechers aufzusaugen. Er ist wirklich goldig.

Goldherzgras

In dem Café neben meinem Haus gibt es eine süße Bedienung. Oren, der in der Küche arbeitet, sagt, dass sie keinen Freund hat, dass sie Schikma heißt und leichte Drogen mag. Bevor sie dort zu arbeiten anfangen hat, bin ich kein einziges Mal dort reingegangen, aber jetzt sitze ich jeden Morgen dort. Trinke Espresso. Rede ein bisschen mit ihr. Über Sachen, die ich in der Zeitung lese, über andere Leute, die im Café sitzen, über Kekse. Manchmal gelingt es mir sogar, sie zu erheitern, und wenn sie lacht, dann fühle ich mich gut. Ich wollte sie schon ein paarmal ins Kino einladen, aber ein Film, das ist so offensichtlich. Ein Film ist was kurz vor einem Abendessen im Restaurant oder der Bitte, dass sie mit dir nach Eilat fliegt. Ein Film ist was, das man nicht auf mehrere Arten interpretieren kann. Das ist wie zu ihr sagen: »Ich will dich.« Und wenn sie nicht interessiert ist und nein sagt, grenzt das schon ans Unangenehme. Deswegen habe ich mir gedacht, es wäre besser, sie zu einem Joint einzuladen. Schlimmstenfalls kann sie sagen, »Ich rauche nicht«, ich würde irgendeinen Witz über Kiffer loslassen, noch einen kleinen Espresso bestellen, als sei nichts gewesen, und wir würden weitermachen.

Deswegen rufe ich Avri an. Avri ist vielleicht der einzige, der mit mir in der Schule in der Oberstufe war, der ein schwerer Raucher war. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, war vor über zwei Jahren, und während ich wähle, spule ich im Kopf Smalltalk ab, irgendwas, worüber ich mit ihm reden könnte, bevor ich nach dem Gras frage. Aber Avri, gleich als ich ihn frage, wie es ihm so geht, antwortet auf der Stelle: »Auf dem Trockenen. Die haben uns die Grenze zum Libanon dichtgemacht wegen den Scherereien mit Syrien und jetzt auch noch zu Ägypten wegen dem ganzen Kack mit al-Qaida. Nichts zu machen, Mann. Ich gehe schon die Wände hoch.« Ich frage ihn, was sonst noch so los ist, und er antwortet, auch wenn wir beide wissen, dass es mich nicht interessiert. Sagt, dass seine Freundin schwanger ist und sie beide das Kind wollen, ihre Mutter aber, die Witwe ist, Druck macht, dass sie auf dem Rabbinat heiraten, denn das sei, was der Vater gewollt hätte, wenn er noch leben würde. Und jetzt geh mal hin, und nimm es mit einem solchen Argument auf. Was kannst du da machen? Den Vater mit einer Spitzhacke ausgraben und ihn fragen? Die ganze Zeit über, während Avri redet, versuche ich, ihn zu beruhigen, sage zu ihm, das sei doch nicht so tragisch. Denn für mich ist es wirklich nicht entscheidend, ob Avri auf dem Rabbinat heiratet oder nicht. Auch wenn er beschließt, dass er auswandern oder eine Geschlechtsumwandlung machen will, würde ich das eher leichtnehmen. Aber das Gras für Schikma ist mir schon wichtig. Also werfe ich ein: »He Mann, und was ist mit ein klein bisschen Gras? Nicht wegen dem Trip, für ein Mädchen, ein ganz besonderes, bei der ich Eindruck schinden will.«

»Trocken«, sagt Avri wieder, »ich schwör’s dir, ich hab selber angefangen, mir was zum Schnüffeln reinzuziehen wie so ein Narkomane.«

»So was kann ich ihr doch nicht bringen«, sage ich zu ihm. »Das sieht nicht gut aus.«

»Ich weiß«, murmelt er auf der anderen Seite der Leitung, »weiß schon, aber isnich.«

Zwei Tage später ruft mich Avri in der Früh an und sagt, dass er vielleicht was hat, aber es sei kompliziert. Ich sage zu ihm, dass ich gern auch was Teures nehme. Für mich sei das was Einmaliges, Besonderes, ich bräuchte nicht mal ein Gramm. »Ich hab nicht ›teuer‹ gesagt«, erwidert Avri gereizt, »ich hab gesagt ›kompliziert‹. Triff mich in vierzig Minuten in der Carlebach 46, und ich erklär’s dir.«

Das passt mir jetzt gar nicht, das mit dem »kompliziert«. Soweit ich mich von der Schule her erinnere, ist »kompliziert« bei Avri tatsächlich kompliziert. Und ich will doch nur eine Handvoll Blüten, einfach nur einen Joint für ein hübsches Mädchen, das ich zum Lachen bringen kann. Mir steht jetzt nicht der Sinn nach irgendwelchen Treffen mit Schwerkriminellen, oder wer auch immer das ist, der da in der Carlebach haust. Avris Ton am Telefon hat gereicht, um mich zu stressen, und außerdem hat er gleich zweimal »kompliziert« gesagt.

Als ich zu der Adresse komme, ist er schon da, den Mopedhelm noch auf dem Kopf. »Dieser Mann«, sagt er mir halb schnaufend auf der Treppe, »zu dem wir jetzt raufgehen, ist Rechtsanwalt. Meine Freundin putzt jede Woche bei ihm, aber nicht für Geld, für medizinisches Marihuana. Er hat einen Irgendwaskrebs, weiß nicht genau, was, kriegt jeden Monat vierzig Gramm auf Rezept, raucht aber kaum. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihn mal fragen, ob er ein bisschen was davon loswerden will, und er hat gesagt, darüber ließe sich reden, aber wir sollten beide kommen. Ich weiß nicht, warum. Also hab ich dich angerufen.«

»Avri«, sage ich zu ihm, »ich wollte etwas Gras, ich geh jetzt nicht mit dir zu einem Drogendeal mit einem Rechtsanwalt, den du noch nie getroffen hast.«

»Das ist kein Deal«, erwidert Avri. »Das ist einfach ein Mensch, der gebeten hat, dass du und ich zu ihm in die Wohnung kommen zum Reden. Wenn er was zu uns sagt, das uns nicht passt, sagen wir sofort Tschüss und kratzen die Kurve. Das wird sowieso kein Geschäft heute, ich hab nicht mal einen Schekel dabei. Bestenfalls wissen wir dann, dass es ein offenes Türchen gibt.«

Ich zögere immer noch. Nicht, weil ich meine, dass es gefährlich wird. Weil ich Angst habe, dass es unangenehm wird. Ich bin nicht fähig, Unangenehmes auszuhalten. Bei Leuten zu sitzen, die ich nicht kenne, in einer Wohnung, die ich nicht kenne, und dann in einer so komplizierten Atmosphäre. Das tut mir nicht gut. »Also«, sagt Avri, »komm einfach mit rauf, und nach zwei Minuten tust du so, als ob du eine SMS gekriegt hättest und gehen müsstest. Sei kein Spielverderber, er wollte, dass wir beide kommen, also geh mit mir rein, damit ich nicht wie ein Trottel dastehe, und nach einer Minute haust du ab.« Es behagt mir immer noch nicht, aber nachdem Avri das jetzt so gesagt hat, ist es schon ziemlich schwierig für mich, nein zu sagen, ohne wie ein Spielverderber dazustehen.

Der Familienname des Rechtsanwalts ist Korman, oder wenigstens steht das an der Tür, und er ist echt in Ordnung. Bietet uns Cola an, tut in jedes Glas Zitrone und Eis, als ob wir in der Lobby von irgendeinem Hotel wären. Auch seine Wohnung ist in Ordnung: hell, riecht gut. »Seht mal«, sagt er, »ich habe in einer Stunde eine Verhandlung am Bezirksgericht. Eine Zivilklage gegen jemanden, der ein zehnjähriges Mädchen überfahren und Fahrerflucht begangen hat. Saß nicht mal ein Jahr im Gefängnis, und jetzt vertrete ich die Eltern, die ihn auf zwei Millionen verklagen. Er ist ein Araber, der mit der Fahrerflucht, aber aus einer reichen Familie.«

»Wallah«, sagt Avri zu ihm, als ob er irgendeine entfernteste Ahnung hätte, von was dieser Korman da gerade redet, »aber wir sind in einer ganz anderen Sache hier, wir sind die Freunde von Tina. Wir sind wegen dem Gras gekommen.«

»Das ist die gleiche Sache«, erwidert Korman ungeduldig. »Wenn du mich ausreden lässt, wirst du es verstehen. Bei dieser Verhandlung werden eine Menge Leute von der Familie des Fahrers zu seiner Unterstützung kommen. Von Seiten des toten Mädchens wird außer den Eltern niemand kommen. Und sie werden still mit gesenktem Kopf dasitzen, kein Wort sagen.« Avri nickt und schweigt. Er versteht immer noch nichts, aber er will Korman nicht verärgern. »Ich möchte, dass du und dein Freund hier zu der Verhandlung kommt, als ob ihr von der Familie seid, und Krawall schlagt. Lärm macht. Schreit den Angeklagten an, dass er ein Mörder ist. Heult, flucht ein bisschen, aber nichts Rassistisches, nur ›Schurke‹ und so etwas. Kurz gesagt, macht euch bemerkbar. Dass sie im Saal spüren, dass es Menschen in diesem Staat gibt, die meinen, dass er zu billig davongekommen ist. Das mag sich für euch dumm anhören, aber solche Dinge haben starken Einfluss auf die Richter. Rütteln ein bisschen an ihrer Mottenkiste des knochentrockenen Gesetzes, bringen sie in Tuchfühlung mit der wahren Welt.«

»Aber das Gras …«, setzt Avri an.

»Dazu komme ich gerade«, unterbricht ihn Korman. »Macht mir diese halbe Stunde bei der Verhandlung zum Geschenk, und ich gebe jedem von euch zehn Gramm. Wenn ihr laut genug schreit, sogar fünfzehn. Was sagt ihr dazu?«

»Ich brauche ein Gramm«, sage ich zu ihm, »vielleicht verkaufen Sie mir eins, und das war’s, und danach können Sie und Avri …«

»Verkaufen?«, lacht Korman. »Für Geld? Bin ich vielleicht ein Dealer? Ich kann höchstens hier und da einem Freund ein Tütchen als Geschenk geben.«

»Dann schenken Sie’s mir«, flehe ich, »ein Gramm nur.«

»Aber was habe ich gerade gesagt?« Korman lächelt unangenehm. »Ich schenke es her, nur musst du mir vorher beweisen, dass du wirklich ein Freund bist.«

Wäre nicht Avri, würde ich nie zustimmen, aber er baggert im Dauerbetrieb an mich hin, das sei unsere Chance, und wir würden ja nicht irgendwas Gefährliches oder Illegales machen. Gras rauchen ist illegal, aber einen Araber anschreien, der ein kleines Mädchen überfahren hat – das ist nicht nur legal, sondern sogar fast schon obligatorisch. »Wer weiß«, sagt er zu mir, »wenn das Fernsehen da ist, sieht man uns am Ende noch in den Nachrichten.«

»Aber was soll dieses Ding, dass wir so tun, als ob wir von der Familie wären?«, beharre ich. »Die Eltern wissen doch, dass das nicht so ist.«

»Er hat nicht gesagt, dass wir sagen sollen, dass wir zur Familie gehören«, verteidigt Avri Korman, »er hat nur gesagt, wir sollen schreien. Wenn jemand fragt, können wir immer sagen, wir haben’s in der Zeitung gelesen und sind einfach betroffene Bürger.«

Diese Unterhaltung führen wir im Treppenhaus des Gerichts. Obwohl draußen die Sonne scheint, ist drinnen fast kein Licht, und überall riecht es nach Kanalisation und Moder. Und obwohl ich noch mit Avri diskutiere, ist uns schon beiden klar, dass ich dabei bin. Sonst wäre ich nicht mit ihm auf dem Moped hergekommen.

»Keine Sorge«, sagt er zu mir, »ich schrei für uns beide, du musst gar nichts machen, bloß, als ob du ein Freund wärst, der mich zu beruhigen versucht. Du weißt schon, damit sie merken, dass du dabei bist.« Der Grund, warum Avri jetzt zu mir sagt, dass ich nicht schreien brauche, ist, dass so an die fünfzig Araber, alle vom Familienclan des Fahrers, im Saal sind. Der Fahrer selber ist leicht verfettet, sieht jung aus, redet mit jedem, der reinkommt, küsst alle, als ob es eine Hochzeit wäre. Auf der Bank der Kläger, neben Korman und noch irgendeinem jungen Rechtsanwalt mit Bart, sitzen die Eltern des Mädchens. Sie sehen nicht nach Hochzeit aus. Sie schauen erledigt aus. Die Mutter, fünfzig oder drüber, aber klein wie ein Küken, hat kurzgeschnittenes graues Haar und wirkt total neurotisch. Der Vater sitzt mit geschlossenen Augen da, hin und wieder macht er sie auf, und eine Sekunde später wieder zu.

Die Verhandlung beginnt, offenbar das Ende von etwas, das beim vorigen Mal angefangen hat, und alles klingt schrecklich zerstückelt, irgendwie mechanisch. Die ganze Zeit nur Gemurmel von Paragraphennummern. Ich versuche, mir Schikma und mich hier im Saal vorzustellen, nachdem unsere Tochter überfahren wurde. Wir sind am Boden zerstört, halten uns aber gegenseitig aufrecht, und sie flüstert mir ins Ohr, »Ich will, dass dieser Scheißkerl dafür bezahlt«. Es macht keinen Spaß, sich das vorzustellen, also höre ich auf damit und male mir stattdessen aus, wie wir beide bei mir in der Wohnung was rauchen und irgendeinen Tierfilm auf National Geographic ohne Ton anschauen. Und irgendwie fangen wir auf einmal an, uns zu küssen, und als sie sich bei dem Kuss an mich drückt, spüre ich ihre Brüste, die sich an meine Brust pressen … »Du Schweinehund!« Avri steht plötzlich im Saal auf und fängt zu schreien an. »Was gibt’s da zu grinsen? Du hast ein kleines Mädchen getötet! Was grinst du mich da an? Schande über dich!« Ein paar Leute aus seiner Familie bewegen sich langsam in unsere Richtung, und ich stehe auf und tue so, als wollte ich Avri beruhigen. Eigentlich versuche ich wirklich, ihn zu beruhigen. Der Richter klopft mit dem Hammer auf den Tisch und ruft Avri zur Ordnung. Er sagt, wenn er nicht zu schreien aufhört, würde ihn die Saalwache gewaltsam aus dem Gerichtssaal entfernen, was sich aber im Moment sehr viel netter anhört, als sich mit der ganzen Familienbande dieses Totfahrers anzulegen, von der ein paar jetzt einen Millimeter vor meiner Nase stehen, fluchen und Avri schubsen.

»Terrorist!«, brüllt Avri. »Du verdienst die Todesstrafe!« Ich habe keine Ahnung, warum er das sagt. Einer mit einem großen Schnurrbart haut Avri eine runter, ich versuche, die beiden zu trennen und kriege einen Kopfstoß ins Gesicht. Die Leute von der Saalwache schleifen Avri hinaus. Auf dem Weg schreit er noch, »Du hast ein kleines Mädchen getötet! Eine Blume geköpft! Hoffentlich bringen sie dir auch mal die Tochter um.« Während er das sagt, bin ich auf dem Boden, auf allen Vieren. Blut läuft mir aus der Nase oder von der Stirn runter, ich weiß nicht genau, von wo, aber es tropft. Und in der Sekunde, in der Avri noch das Ding mit der Tochter von dem Fahrer anbringt, verpasst mir jemand einen satten Tritt in die Rippen.

Als wir bei Korman in der Wohnung ankommen, macht er den Gefrierschrank auf, gibt mir eine Tüte Tiefkühlerbsen und sagt zu mir, ich solle sie fest draufdrücken. Avri sagt gar nichts zu ihm oder zu mir, fragt nur nach dem Gras. »Warum hast du Terrorist gesagt?«, fragt ihn Korman. »Ich habe euch doch ausdrücklich gesagt, nichts davon zu erwähnen, dass er Araber ist.«

»›Terrorist‹ ist nicht rassistisch«, verteidigt sich Avri, »das ist wie ›Mörder‹. Auch im jüdischen Untergrund waren Terroristen.« Korman sagt nichts darauf, geht bloß ins Bad und kommt mit zwei kleinen Plastiktütchen wieder. Er gibt mir eine, und danach wirft er Avri die andere zu, die er gerade noch auffängt. »Es sind zwanzig in jeder«, sagt er zu mir, während er die Wohnungstür aufmacht. »Die Erbsen kannst du mitnehmen.«

Am nächsten Tag morgens im Café fragt mich Schikma, was mit meinem Gesicht passiert ist. Ich sage, dass es ein Unfall war, ich sei einen verheirateten Freund besuchen gegangen und auf dem Spielzeug von seinem kleinen Sohn im Wohnzimmer ausgerutscht. »Und ich hab mir schon vorgestellt, dass du Prügel bezogen hast wegen einem Mädchen«, lacht Schikma und serviert mir den Espresso. »Auch das kommt vor«, versuche ich zurückzulächeln. »Wenn du dich lang genug mit mir rumtreibst, wirst du sehen, wie ich Prügel für Mädchen und Freunde und Katzen abkriege. Aber ich steck sie immer ein, ich schlage nie zu.«

»Du bist wie mein Bruder«, sagt sie, weiter lachend. »So einer von denen, die versuchen dazwischenzugehen und die Prügel abkriegen.«

Ich fühle das Plastiktütchen mit den zwanzig Gramm in meiner Jackentasche knistern, aber statt darauf zu hören, frage ich Schikma, ob sie diesen Film schon gesehen hat, den von der Astronautin, deren Raumschiff explodiert und die mit George Clooney im Weltraum strandet. Sie sagt nein und fragt, was das mit dem zu tun hat, worüber wir gerade geredet haben. »Gar nichts«, gebe ich zu, »aber es klingt spacig. Ist in 3-D, mit Brille und dem Ganzen. Willst du mitkommen?« Für eine Sekunde herrscht Stille, und ich weiß, danach kommt das Ja oder das Nein. Und währenddessen gerät mir dieses Bild wieder in den Kopf. Schikma weinend, wir beide im Gericht, händchenhaltend. Ich versuche, zu dem anderen Bild zu switchen, wir beide auf dem zerrissenen Sofa bei mir im Wohnzimmer, wie wir uns küssen, versuche es und schaffe es nicht. Es steckt mir zu fest im Kopf.

Das vorletzte Mal, als sie mich aus einer Kanone schossen

Das vorletzte Mal, als sie mich aus einer Kanone schossen, war, als Odelia mit dem Jungen wegging. Ich arbeitete damals als Käfigputzer in dem rumänischen Zirkus, der gerade in die Stadt gekommen war. Die Löwenkäfige erledigte ich in einer halben Stunde, auch die von den Bären, aber die Elefantenkäfige waren ein Alptraum. Mir tat der Rücken weh, und die ganze Welt stank nach Scheiße. Mein Leben war im Arsch, und der Geruch der Scheiße passte dazu. Irgendwann zwischendrin hatte ich das Gefühl, dass ich eine Pause brauchte. Ich suchte mir eine Ecke außerhalb des Käfigs und drehte mir eine Zigarette. Ich wusch mir vorher nicht mal die Hände.

Nach ein paar Zügen hörte ich hinter mir ein kleines, künstliches Hüsteln. Es war der Zirkusdirektor. Er hieß Itzo und hatte den Zirkus beim Kartenspielen gewonnen. Der alte Rumäne, dem der Zirkus ursprünglich gehörte, hatte drei Königinnen, aber Itzo hatte einen Viererstich. Er erzählte mir diese Geschichte an dem Tag, an dem er mich einstellte. »Wer braucht schon Glück, wenn man weiß, wie man betrügt«, zwinkerte er mir zu.

Ich war mir sicher, dass mich Itzo anmeckern würde, weil ich mitten bei der Arbeit eine Pause einlegte, aber er schien überhaupt nicht ärgerlich. »Sag mal«, sagte er zu mir, »willst du dir einen leichten Tausender verdienen?« Ich nickte, und er fuhr fort: »Ich war gerade im Caravan von Ischtevan, unserer menschlichen Kanonenkugel. Er ist sturzbetrunken. Ich hab’s nicht geschafft, ihn aufzuwecken, und in einer Viertelstunde soll die Vorstellung anfangen und …« Er zeichnete mit der ausgestreckten Hand eine Geschossbahn in die Luft, die da endete, wo seine Stumpenfinger gegen meine Stirn stießen. »Ich geb dir tausend in bar, wenn du für ihn einspringst.«

»Ich bin noch nie aus einer Kanone geschossen worden«, sagte ich und zog noch einmal an der Zigarette.

»Aber klar doch«, erwiderte Itzo, »als dich deine Frau verlassen hat, als dein Sohn zu dir gesagt hat, dass er dich nie wiedersehen will, weil du eine Null bist, als dein dicker Kater auf und davon ist. Kapier doch, um ein menschliches Geschoss zu sein, musst du nicht beweglich, flink oder stark sein, bloß einsam genug und unglücklich.«

»Ich bin nicht einsam«, protestierte ich.

»Wirklich?« griente Itzo. »Dann sag mir doch – Sex mal beiseite, wann hat dich zum letzten Mal eine angelächelt?«

Vor der Vorstellung zogen sie mir einen silbernen Overall an. Ich fragte einen alten Clown mit einer riesigen roten Nase, ob ich nicht irgendeine Einweisung bräuchte, bevor sie mich rausschossen. »Wichtig ist«, murmelte er, »dass du deinen Körper lockerlässt. Oder anspannst, eins von beiden. Ich weiß nicht mehr genau. Und man muss auch drauf schauen, dass die Kanone gerade nach vorn ausgerichtet ist, damit man das Ziel nicht verfehlt.«

»Und das ist alles?«, fragte ich. Auch in dem silbernen Overall roch ich noch nach Elefantenscheiße. Der Zirkusdirektor kam dazu und klopfte mir auf die Schulter. »Denk dran«, sagte er zu mir, »wenn sie dich ins Ziel geschossen haben, kommst du sofort auf die Bühne zurück, lächelst und verbeugst dich. Und wenn dir, Gott bewahre, was wehtut oder du dir sogar irgendwas gebrochen hast, musst du das unbedingt für dich behalten, du musst das verstecken, damit es das Publikum nicht merkt.«