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Torsten Riecke

Europas Stunde

Der Kampf der großen Mächte
und die Renaissance eines unterschätzten Kontinents

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Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

© 2020 Orell Füssli AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-280-05725-4

eISBN 978-3-280-09105-0

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Teil I: Aufstieg und Fall der großen Mächte im digitalen Zeitalter

Prolog

Der andere Kalte Krieg

Die GoT-Formel der Weltpolitik

Das Ende des amerikanischen Zeitalters und die überkochende Wut der Verlierer

China und das Gesetz ökonomischer und politischer Schwerkraft

Russland: Scheinriese und Störenfried

Europa – Missing in Action

Tech War

Das neue Wettrüsten

Zurück in die Zukunft

Nation Facebook

Wirtschaft als Waffe

Der Fluch der Globalisierung

Geteilte Welt

Teil II: Europas Stunde

Was uns erwartet

Wohin geht Europa?

Strategische Souveränität

Digitale Souveränität

Geoökonomische Souveränität

Darwin – der neue Joker im geopolitischen Machtpoker

Beim Geld fängt die Freundschaft an

Grüne Schwäne

Die neue deutsche Frage

Renaissance eines unterschätzten Kontinents

Europas Platz in der Welt

Europas großes Gespräch

Literatur

Vorwort

»Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht; und es gibt Wochen, in denen so viel geschieht wie sonst nur in Jahrzehnten.« Dieses alte Lenin-Zitat aus der stürmischen Zeit der Russischen Revolution beschreibt ganz gut die atemberaubenden Veränderungen unserer Gegenwart. Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 hatten politische Krisen, wirtschaftliche Umbrüche und die digitale Revolution das gefühlte Tempo unserer Zeitläufe so deutlich erhöht, dass Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Eindruck hatte, die Welt gerate aus den Fugen. Handelskriege, Klimawandel, Bürgerkriege, Massenmigration, wirtschaftlicher Nationalismus, autoritärer Populismus, der Zerfall des Westens, die Dauerkrise Europas, der Aufstieg Chinas, der Abstieg Amerikas, der Wettlauf beider Großmächte um technologische Dominanz, das vermeintliche Ende der Globalisierung. »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.« Mit diesen Worten hatte die deutsche Rockband »Fehlfarben« bereits 1982 den schon damals als atemlos empfundenen Zeitgeist beschrieben. Rückblickend erscheinen uns die 1980er-Jahre jedoch wie eine Epoche in Zeitlupe. Ob das hohe Tempo der jüngsten Veränderungen dem Fortschritt Beine machen wird, muss man allerdings bezweifeln. Vieles von dem, was uns momentan schwindelig werden lässt, ist nicht unbedingt ein Schritt in eine bessere Welt.

Zu Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts sieht sich Europa drei globalen Disruptionen gegenüber, die miteinander eng verknüpft sind und sein Schicksal für den Rest des Jahrhunderts bestimmen werden: einer technologischen Revolution, die unseren Alltag, unsere Arbeit und das Zusammenleben der Völker in noch nie dagewesenem Ausmaß und bisher ungekannter Geschwindigkeit verändert. Dieser Technologieschub verschärft einen sich schon länger anbahnenden Kampf der Großmächte USA und China um die geopolitische Dominanz, der Europa vor die Wahl stellt, sich für eine Seite zu entscheiden oder seinen eigenen Weg zu gehen. Ausgetragen wird der Kampf der großen Mächte in der Arena der Wirtschaft, und neue Technologien sind dabei die entscheidenden Waffen. Gekennzeichnet ist das geoökonomische Ringen der Großmächte außerdem von einem wirtschaftlichen Nationalismus, der eine Reaktion auf die wachsende soziale Ungleichheit und die kulturelle Rebellion ist, die insbesondere in westlichen Industrieländern mit dem technologischen Wandel und der Globalisierung einhergehen. Zu diesem explosiven Gemisch technologischer, wirtschaftlicher, machtpolitischer und sozialer Kräfte kam im Frühjahr 2020 noch der »anthropologische Schock« einer Pandemie, der die Erschütterungen des Weltbebens weiter verstärkt hat. Die weltpolitische Landschaft, durch die Europa sich seinen Weg bahnen muss, könnte herausfordernder kaum sein. Europa darf jedoch jetzt nicht länger zaudern und lamentieren. »Die Europäer müssen mit der Welt so umgehen, wie sie ist, und nicht, wie sie sie sich wünschen«, schrieb EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Frühjahr 2020.

Noch können wir nicht wissen, ob die Pandemie entsprechend der altgriechischen Bedeutung des Wortes »Krise« ein derart epochaler Einschnitt ist, dass er die Geschichte in ein Davor und ein Danach unterteilt. Das werden Historiker erst viel später entscheiden. Und doch spüren wir, dass es sich hier um eine Zeitenwende handeln könnte, wie es sie zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg gab: »Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört«, schrieb der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig im Exil Anfang der 1940er-Jahre in seinen »Erinnerungen eines Europäers« und berichtete davon, dass er bis nach Indien und Amerika ohne Pass reisen konnte: »Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte.« Auch wenn das schon damals nur für die Privilegierten zutraf, die sich das Reisen leisten konnten, beschreibt Zweig doch sehr gut das Lebensgefühl grenzenloser Freiheit, das uns Europäern heute so selbstverständlich und lieb geworden ist. Zweigs Erinnerungen an »Die Welt von Gestern« sind auch deshalb wieder aktuell, weil sie uns zeigen, dass Katastrophen – dem Ersten Weltkrieg folgte mit der Spanischen Grippe eine Pandemie – oft die Weichen in die Zukunft stellen. Und zwar im Guten wie im Schlechten. Nationalismus, Protektionismus und wirtschaftliche Depression führten damals geradewegs in die nächste, noch größere Katastrophe. Am Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch rückten zumindest im Westen die Nationen zusammen, sodass kurze Zeit später die Idee Europas geboren wurde – zunächst als Wirtschafts- und später auch als Wertegemeinschaft.

Dies ist kein Buch über die Coronakrise. Wenn die Pandemie im Folgenden dennoch eine wichtige Rolle spielen wird, dann nur insoweit, wie sie das zentrale Thema dieses Buches berührt: den Kampf der großen Mächte China, Amerika und Europa um die technologische, wirtschaftliche und geopolitische Dominanz. Niemand ist gegen das Virus immun, die Pandemie hat liberale Demokratien genauso getroffen wie autoritäre Regime. Es gibt zwei Denkschulen, welchen Effekt die Pandemie auf den geopolitischen Machtkampf haben könnte: Entweder das Virus wirkt wie ein Katalysator, der die bereits vor seinem Ausbruch erkennbaren Konflikte verschärft. Oder wir werden aus dem Corona-Koma aufwachen und die Welt wird völlig anders aussehen. Dieses Buch vertritt eine mittlere Position: Die Pandemie beschleunigt langfristige Trends und spitzt den Kampf der großen Mächte zu. Dadurch wird sich die ohnehin in Auflösung befindliche alte Weltordnung schneller und deutlicher verändern, als es ohne das Virus geschehen wäre. Die Pandemie hat bereits die Rivalität zwischen Amerika und China verschärft. Beide Supermächte ringen mit Propaganda und Verschwörungstheorien um die Deutungshoheit der Katastrophe. Nationalismus, Protektionismus und Grenzen sind heute stärker als zuvor und scheinen vor allem Europa weiter zu schwächen. Neue Überwachungstechnologien spielen beim Schutz, vielerorts aber auch bei der Kontrolle der Bevölkerung eine entscheidende Rolle. Und auch das Rennen um den Corona-Impfstoff wird nicht zuletzt von neuen Technologien entschieden.

Das Virus trifft auf eine Welt mit politischen Vorerkrankungen, und Europa zählt dabei zu der besonders gefährdeten Risikogruppe. Für die Europäische Union ist die Corona-Pandemie gleich eine doppelte Herausforderung: Der erste Krisenreflex hat alte Grenzen neu gezogen, den Nationalismus geschürt, autoritären Populisten wie Viktor Orbán in Ungarn noch mehr Macht verliehen und den alten Streit zwischen Nord und Süd ums Geld wieder aufleben lassen. Die Krise weckt also ausgerechnet jene Untugenden, die Europa schon lange schwächen und die es als Gemeinschaft überwinden will. Zugleich jedoch offenbart die Coronakrise wie keine andere zuvor die Stärken der Europäer: ihren Glauben daran, dass Aufklärung und Vernunft gerade in Krisenzeiten unser Handeln leiten müssen. Ihre Einsicht, dass die Pandemie wie andere globale Bedrohungen keine Grenzen kennt und deshalb nur gemeinsam und solidarisch besiegt werden kann. Und ihr Vertrauen darauf, dass die politische Balance zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger und ihrem Wunsch nach Freiheit nur durch einen demokratischen und offenen Diskurs garantiert wird. Der Jahrhunderttest der Pandemie ist deshalb »Europas Stunde« und könnte zu einer Renaissance jener europäischen Tugenden beitragen, die den Kontinent einst stark gemacht haben. Auch nach der mittelalterlichen Pest folgte schließlich die europäische Renaissance.

Phil Graham, der frühere legendäre Verleger der »Washington Post« hat Journalismus einmal als »ersten Entwurf der Geschichte« bezeichnet. In diesem Sinne ist dieses Buch ein journalistisches Buch. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist noch nicht zu Ende. Viel spricht dafür, dass wir noch mittendrin stecken und das Ende offen ist: Weder sind Chinas Aufstieg und Amerikas Abstieg ausgemacht, noch ist Europas Schwäche unabänderlich. Viel wird davon abhängen, wie wir die wirtschaftlichen und politischen Zukunftsfragen beantworten: Wie verteidigen wir in Europa unsere offene Gesellschaft und ihre Werte der Aufklärung gegenüber autoritären Staaten wie Russland und China und gegen populistische Scharlatane im Inneren? Wie wehren wir uns gegen den wachsenden Nationalismus, der die regelgebundene internationale Ordnung durch das Recht des Stärkeren ersetzen will und die Weltwirtschaft zu spalten droht? Wie sichern wir unseren Wohlstand in einer Welt, in der die marktwirtschaftliche Demokratie womöglich nicht mehr per se das wirtschaftlich und technologisch überlegene Gesellschaftssystem ist? Ist Europa in der Lage, die Pandemie nicht nur zu überstehen, sondern daraus vielleicht sogar gestärkt hervorzugehen? Die Antworten auf diese Schicksalsfragen sind offen. Das heißt aber auch: Wir können noch Einfluss nehmen auf den Lauf der hier erzählten Geschichte. Umso wichtiger ist eine informierte Debatte, zu der dieses Buch einen Beitrag leisten will. Niemand weiß, welche Richtung der neue Kalte Krieg zwischen den USA und China nehmen und welche langfristigen Folgen die Coronakrise haben wird. Gut möglich, dass die wachsende Rivalität zwischen China und dem Westen noch Jahrzehnte fortdauert. Drohungen, neue Handelsbarrieren und Wirtschaftssanktionen könnten sich abwechseln mit Verhandlungen, »Feuerpausen« und Friedensverträgen. Es ist aber auch möglich, dass der amerikanische Politologe Graham Allison Recht behält und die rivalisierenden Großmächte wie viele vor ihnen in die Falle des Thukydides tappen und es zu militärischen Scharmützeln kommt. Zum Beispiel im Südchinesischen Meer, wo China und die USA im Streit über Schifffahrtsrouten ihre militärischen Muskeln spielen lassen. Oder in Taiwan, das China für sich beansprucht und dessen Sicherheit und Demokratie die USA garantieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Kampf um die geopolitische Vorherrschaft im 21. Jahrhundert nicht auf dem militärischen Schlachtfeld, sondern in der wirtschaftlichen und technologischen Arena entschieden wird und dass neue Technologien wie die Künstliche Intelligenz dabei jene entscheidende Rolle spielen werden, die bislang die Atomwaffen beim militärischen Kräftemessen innehatten.

Torsten Riecke, im Juni 2020

Teil I: Aufstieg und Fall der großen Mächte im digitalen Zeitalter

Prolog

Noch zehn Minuten, um die Welt zu retten. Unerbittlich zeigt mir die digitale Uhr links auf dem schlichten Holztisch an, dass die Zeit abläuft. Was tun? 200 nuklear bestückte Interkontinentalraketen rasen unaufhaltsam auf Amerika zu. Vor mir liegen drei Handlungsoptionen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die prognostizierten Opferzahlen um zig Millionen Menschenleben schwanken. Wie auch immer ich mich entscheide, das Ende der Welt, so wie wir sie kennen, scheint sicher. »Ich brauche jetzt eine Entscheidung«, verlangt der uniformierte Chef der Streitkräfte auf einem Video-Bildschirm vor mir. Auf dem Bildschirm daneben philosophiert der Nationale Sicherheitsberater über die Motive des Angreifers, zu dem es keine Verbindung gibt. Der Monitor rechts davon flimmert nur noch – so wie mein Herzschlag etwa. Noch vier Minuten, um einen nuklearen Gegenschlag anzuordnen. Doch gegen wen? Nur Russland kommt als Angreifer in Frage, niemand sonst verfügt über eine so große Zahl von Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen. »Wir haben neue Informationen«, ruft der General von der Videowand, »es hat heute Nacht eine Cyberattacke gegeben. Wir können also nicht mehr hundert Prozent sicher sein, dass der Nuklearangriff wirklich stattfindet.« Was nun? Noch zwei Minuten bis zum Einschlag der Raketen, die es womöglich gar nicht gibt. Ich entscheide, einfach abzuwarten – in der Hoffnung, dass dies alles nur ein digitaler Albtraum ist.

»Das war’s«, sagt Sharon Weiner und nimmt mir die schwere Virtual Reality (VR)-Brille mit den Kopfhörern vorsichtig aus den Händen. Der digitale Albtraum ist zu Ende. »Wir wollten Ihnen zeigen, in welch unmöglicher Stresssituation sich ein amerikanischer Präsident heute bei einem Nuklearangriff befinden könnte«, erklärt mir die Professorin von der American University in Washington. Sie arbeitet für »Global Zero«, eine internationale Organisation für die Abschaffung der Nuklearwaffen. Die VR-Simulation eines Nuklearangriffs auf Amerika soll mit dazu beitragen, dass der öffentliche Druck auf die Atommächte wächst, ihre Vernichtungswaffen zu strecken. Ich verlasse den schmucklosen Raum auf der Empore des Münchner Luxushotels »Bayerischer Hof« und tauche mit einem mulmigen Gefühl in die Schar aus Politikern, Wissenschaftlern und Militärs der »Munich Security Conference« (MSC) ein: Zwar hatte ich Szenen eines nuklearen Showdowns schon in einigen Katastrophenfilmen wie »War Games« gesehen. Erschreckt hat mich jedoch, wie sich hier die Risiken der alten Atomwaffen des 20. Jahrhunderts durch eine virtuelle Cyberattacke des 21. Jahrhunderts potenzieren. Der erste Kalte Krieg trifft quasi auf den neuen kalten Technologiekrieg. Eine Bemerkung von Ren Zhengfei, dem Gründer des umstrittenen chinesischen Hightech-Konzerns Huawei, über die kommende, fünfte Generation der digitalen Mobilfunktechnik (5G) kommt mir in den Sinn: »Für Amerika ist das eine Art neue Atombombe.«

Der andere Kalte Krieg

Für Kai-Fu Lee ist der neue »Rüstungswettlauf« bereits entschieden. Der 57-jährige Chinese gibt Europa keine Chance mehr. Und das macht er mit einer Selbstverständlichkeit, die kaum Zweifel am Urteil des Technologie-Gurus zulässt. Die Europäer, so Lees Kassandra-Ruf, könnten im globalen Wettrennen um die Zukunftstechnologien am Ende sogar »leer ausgehen«. Es ist Ende Januar 2019 und die Mächtigen und Möchtegern-Mächtigen der Welt gönnen sich beim »World Economic Forum« (WEF) im tiefverschneiten Davos ihre alljährliche Denkpause. Grund dafür gibt es mehr als genug: Handelskriege, Bürgerkriege, Währungskriege und jetzt auch noch ein »Tech War«. Die Welt ist ziemlich in Unordnung geraten. Und der technologische Wandel spielt dabei eine zentrale, womöglich sogar die entscheidende Rolle. Lee gehört auf dem Davoser Jahrmarkt der Eitelkeiten zu den gefragtesten Hellsehern der Welt von Morgen. Dass ausgerechnet er ein vernichtendes Urteil über Europa fällt, hat durchaus symbolische Bedeutung: Lee ist in Taiwan geboren, hat für die US-Giganten Apple, Microsoft und Google Pionierarbeit bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) im Silicon Valley geleistet und sucht heute mit seinem Risikokapitalfonds »Sinovation Ventures« in China nach »the next big thing« – also nach der nächsten bahnbrechenden Erfindung. In Person und Biografie verkörpert der Chinese mit dem amerikanischen Pass damit die beiden Machtzentren der Tech-Welt: China und die USA. Im Titel seines 2018 erschienenen Bestsellers »AI Superpowers: China, Silicon Valley, and the New World Order« kommt Europa schon gar nicht mehr vor.

Für europäische Ängste vor einem »Big Brother«, sei es im Gewand von Facebook oder der Kommunistischen Partei (KP) Chinas, hat Lee wenig Verständnis. »Die Debatte über mögliche Gefahren Künstlicher Intelligenz hat paranoide Züge angenommen«, moniert er in Davos in kleiner Runde und meint damit vor allem europäische Bedenkenträger. In seinem dunkelgrauen Anzug und seiner weinroten Krawatte ähnelt Lee eher einem Investmentbanker denn einem Computer-Nerd. Kühl und ohne Mitleid fällt er sein Urteil über Europas technologische Schwäche. Dass einer der renommiertesten Technologie-Experten der Welt mit weltweit über 50 Millionen Fans in den sozialen Netzwerken ausgerechnet jenen Kontinent abschreibt, dem die Welt die Aufklärung und moderne Wissenschaft verdankt, ist zwar noch kein Todesurteil, aber eine letzte Warnung für Europa ist es schon. »Wir kämpfen um unsere Souveränität. Wenn wir nicht in allen Gebieten, den digitalen wie der Künstlichen Intelligenz, unsere eigenen Champions aufbauen, dann werden unsere Entscheidungen von anderen diktiert«, redet wenig später der französische Präsident Emmanuel Macron den »Movern & Shakern« aus Europa ins Gewissen.

Die Warnung kommt zur rechten Zeit. Wandelt sich unsere Welt doch gerade dramatisch. Der Aufstieg Chinas hat zu einer nachhaltigen Machtverschiebung von West nach Ost geführt und damit einen Machtkampf auf globaler Ebene ausgelöst. Das aufstrebende Reich der Mitte mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern ist, gemessen an internationalen Kaufkraftparitäten, bereits heute die größte Volkswirtschaft der Welt und hat damit die USA überholt. Ein Drittel des globalen Wachstums kommt heute aus China – das ist mehr als die USA, Europa und Japan zusammen erarbeiten. Deutschland verkauft, gemessen an der eigenen Wirtschaftsleistung, heute fast so viel Waren nach China wie in die USA. Für Südkorea, Australien und Japan ist China bereits jetzt der wichtigste Exportmarkt. Unter den zehn wertvollsten Technologieunternehmen der Welt befinden sich immer noch sechs amerikanische, aber bereits zwei chinesische Konzerne. Weit abgeschlagen auf Platz zwölf folgt mit dem deutschen Softwareanbieter SAP das erste europäische Unternehmen. Der chinesische Telekomausrüster Huawei ist zum Weltmarktführer aufgestiegen und spielt für den Aufbau des neuen, für Wohlstand und technologischen Fortschritt so wichtigen Mobilfunkstandards 5G eine ebenso zentrale wie umstrittene Rolle. Smart Cities, autonomes Fahren, Smart Grids – all das geht nicht ohne 5G. Huaweis Konkurrenten Ericsson aus Schweden und Nokia aus Finnland sind immerhin noch im Rennen, doch die Nordamerikaner haben nach dem Untergang ihrer Telekomausrüster, Nortel aus Kanada und Lucent aus den USA, ihre Kompetenz in dieser Schlüsseltechnologie weitgehend verloren.

Machtwechsel zwischen Großmächten verlaufen nie friedlich. Auch diesmal nicht. Mit einer Mischung aus Protektionismus und Nationalismus stemmen sich die USA unter ihrem Präsidenten Donald Trump gegen den immer stärker spürbaren Machtverfall. Es ist durchaus noch nicht ausgemacht, dass die Pax Americana, die seit dem Zweiten Weltkrieg den Lauf der Welt bestimmt hat, im 21. Jahrhundert durch eine Pax Sinica abgelöst wird. Die USA sind nach wie vor die größte Militärmacht der Welt und in vielen Technologien immer noch führend. Amerika und China ringen weltweit um die modernen Insignien der Macht: um wirtschaftliche Stärke, militärische Überlegenheit, politischen Einfluss, vor allem aber um technologische Dominanz. Denn sie ist der Schlüssel zu wirtschaftlichem Wohlstand und militärischer Überlegenheit in einer digitalisierten Welt. Der Titel von Lees Buch macht deutlich, dass es dabei um mehr geht, als um die Kinder und Enkel von Alexa und Siri, den intelligenten Sprachassistenten von Amazon und Google. Um viel mehr. Es geht um eine neue Weltordnung, also um die Frage, wer künftig die Welt beherrscht und ihre Standards, Werte und Regeln bestimmt. Dass Lee dabei China und die großen amerikanischen Technologie-Konzerne aus dem Silicon Valley als die eigentlichen Kontrahenten sieht, ist durchaus kein Zufall. »Entweder China oder wir«, stellte Facebook-Chef Mark Zuckerberg amerikanische Kongressabgeordnete bei einer Anhörung im Herbst 2019 vor die Wahl, wem sie in Zukunft vertrauen wollten. Und der Politikberater Ian Bremmer von der »Eurasia Group« in New York ergänzt: »Der Kalte Krieg mit China wird sehr wenig mit militärischer Macht zu tun haben. Es geht um wirtschaftliche Stärke und technologische Überlegenheit. Und um die Stärke und Effektivität zweier radikal unterschiedlicher politischer Systeme.«

Was für die Großmächte früher ihre Nuklearwaffen waren, sind heute Zukunftstechnologien wie der neue Mobilfunkstandard 5G, die Daten-Cloud, Künstliche Intelligenz oder das Quanten-Computing. »Wer die Künstliche Intelligenz beherrscht, regiert die Welt.« Nicht zufällig hat ausgerechnet Wladimir Putin diese neue Formel der Macht im 21. Jahrhundert formuliert. Der russische Präsident gilt als der Staatschef mit den größten Machtinstinkten, sein Land hat allerdings nur Außenseiterchancen, im Wettrennen der großen Mächte ganz vorne mitzumischen. Wirtschaftliche Stärke, vor allem aber technologische Überlegenheit sind heute Voraussetzungen für nationale Sicherheit. Früher galt »Wandel durch Handel« als Friedensformel, heute ist der Handel eine wichtige »Waffe« im Ringen mächtiger Nationalstaaten um globale Dominanz. Aus der liberalen, regelbasierten, vom Westen geprägten Nachkriegsordnung ist eine »Arena« geworden, in der jeder gegen jeden um den eigenen Vorteil ringt, und dabei gilt nur ein Recht: das des Stärkeren. »Ich zuerst«, ruft der neue Zeitgeist. Europa hat darauf noch keine Antwort gefunden. Zwar hat sich die neue EU-Kommission unter der deutschen CDU-Politikerin Ursula von der Leyen selbst das Prädikat »geopolitische Kommission« gegeben und die Europäer aufgefordert, die »Sprache der Macht zu lernen«. Darin steckt zwar der richtige Wunsch, dass Europa sich im Powerplay der Großmächte behaupten muss. Wie die Europäische Union (EU), die in wesentlichen Fragen oft uneins und vom Populismus innerlich und dem Brexit Großbritanniens äußerlich geschwächt ist, ihre wirtschaftliche und politische Macht wirksam einsetzen will, darauf gibt es weder in Brüssel noch in den europäischen Hauptstädten bislang eine Antwort.

Was von der Leyen anmahnt, dürfte vielen Europäern und insbesondere vielen Deutschen gegen den Strich gehen. Für sie ist die EU ein Gegenentwurf zur Machtpolitik des frühen 20. Jahrhunderts, die den Kontinent verwüstet hat. Das Friedensprojekt Europa ist von der Rückkehr nationalistischer Machtpolitik denn auch überrascht worden. Mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhang zwischen Ost und West ist die Geschichte mit voller Wucht zurückgekehrt. Ob im Mittleren Osten, Afghanistan oder im Südchinesischen Meer. Ob auf der koreanischen Halbinsel, in Hongkong oder der Ukraine: So viele Krisen wie heute gab es zuletzt vor hundert Jahren. Kapitalismus und Marktwirtschaft gelten seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr als natürliche Sieger der Geschichte, die Verlierer der Globalisierung gehen auf die Barrikaden und erhoffen sich die Rettung ihrer Jobs und ihrer abendländischen Leitkultur von populistischen »Scheinriesen« und Scharlatanen wie Donald Trump, Viktor Orbán und Boris Johnson. Der Klimaschutz wird zum Kultur- und Überlebenskampf, Millionen Menschen fliehen vor Klimakatastrophen und Bürgerkrieg, der technologische Wandel verschlingt mit immer intelligenterer Software die alte, vertraute Welt und mit ihr die Geschäftsmodelle, Betriebe und Jobs des industriellen Zeitalters. Ein Beispiel: 1955 war der US-Autokonzern General Motors (GM) das größte und wertvollste US-Unternehmen und beschäftigte damals rund 577000 Mitarbeiter. Im Oktober 2019 übernahm Apple die Krone der Wirtschaft, der Tech-Gigant beschäftigt aber »nur« 137000 Menschen. »Software is eating the world«, hat Marc Andreessen, Mitbegründer des ersten Internet-Browsers »Netscape«, schon 2011 gewarnt. Europa scheint dabei das Hauptgericht zu sein. Findet sich doch unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt kein einziges mehr vom europäischen Kontinent.

Dabei sollte nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 doch eigentlich alles ganz anders kommen. Stellvertretend für den damaligen Zeitgeist feierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama mit seinem weltberühmten Buch »The End of History and the Last Man« den Sieg der westlichen Demokratien über ihre ideologischen Gegner. 30 Jahre und viele Rückschläge später musste Fukuyama zum Jubiläum des Berliner Mauerfalls im November 2019 einräumen, dass der Westen sowohl von innen wie von außen bedroht ist und sich die Welt keineswegs auf einem unwiderruflichen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft befindet. Schuld daran ist seiner Meinung nach auch der technologische Wandel. Ist der technische Fortschritt doch nicht immer ein Schritt in die richtige Richtung. »Die neuen Technologien haben zwei Gesichter: Sie erhöhen unsere Freiheit, sie sind aber auch ein Werkzeug der Unterdrückung«, warnt Fukuyama bei seinem Besuch in Berlin und denkt dabei vor allem an die immer größer werdende Macht intelligenter Maschinen. Eurasia-Chef Ian Bremmer geht sogar noch einen Schritt weiter: »Die neuen digitalen Technologien begünstigen autokratische Regime«, warnt er mit Blick auf den Überwachungsstaat China, der schon jetzt digitale Gesichtserkennung zur politischen und sozialen Kontrolle einsetzt.

»Der Krieg um die Künstliche Intelligenz hat gerade erst begonnen«, sagt der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson. Ich treffe den gebürtigen Schotten ebenfalls in Davos. Der an der »Hoover Institution« in Stanford lehrende Historiker ist so etwas wie der »Rockstar« seiner Zunft, seitdem er frühzeitig vor der weltweiten Finanzkrise 2008 gewarnt hatte. Vor allem aber ist der 55-Jährige ein Querdenker, der seinen historisch geschulten Blick nicht nur nach hinten in den Rückspiegel der Geschichte wirft, sondern auch nach vorne schaut. Ferguson war es auch, der 2006 zusammen mit dem deutschen Ökonomen Moritz Schularick den Begriff »Chimerica« prägte, um die symbiotischen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und China zu beschreiben. Die USA importieren jedes Jahr Waren im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar aus China. Mit den Einnahmen daraus kauft China in großer Zahl amerikanische Staatsanleihen und besitzt heute Schuldscheine der USA im Volumen von deutlich mehr als einer Billion Dollar. »Heute ist Chimerica tot«, konstatiert Ferguson mit der Gewissheit eines Pathologen, »Trump hat den Handelskrieg mit China auf den Technologiesektor und den Währungsbereich ausgeweitet. Wir befinden uns in einem neuen Kalten Krieg.«

Tatsächlich gibt es einige Parallelen zum ersten Kalten Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wieder stehen sich zwei Großmächte mit konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Systemen gegenüber. Wiederum wird der Konflikt durch Stellvertreterkriege rund um den Globus ausgetragen. Wiederum spielen Schlüsseltechnologien darin die entscheidende Rolle. Und doch ist es ein anderer Kalter Krieg, den wir jetzt erleben. Es gibt bislang noch keine eindeutige Blockbildung zwischen dem von Amerika geführten Westen und einer von China dominierten Einflusssphäre. Dass es dazu noch nicht gekommen ist, liegt vor allem daran, dass die Welt wirtschaftlich viel zu stark miteinander verflochten ist, als dass man sie durch einen neuen Eisernen Vorhang so einfach spalten könnte. Unmöglich ist es aber nicht, und wir werden noch sehen, wie die USA unter ihrem Präsidenten an einer Abkoppelung von China arbeiten. »Wir könnten die gesamte Beziehung abbrechen und würden 500 Milliarden Dollar sparen«, drohte Trump Mitte Mai 2020 in seinem amerikanischen Lieblingssender Fox.

Seit der düsteren Prophezeiung von Kai-Fu Lee ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem US-Präsident Donald Trump fast die gesamten chinesischen Exporte nach Amerika mit Strafzöllen von bis zu 25 Prozent überzog, chinesische Tech-Firmen wie Huawei geächtet und damit internationale Lieferketten großer Konzerne gekappt hat. Die Chinesen haben mit ihren begrenzten Mitteln zurückgeschlagen. Im Moment herrscht zwischen der alten und der neuen Supermacht ein brüchiger Waffenstillstand im globalen Handelskrieg. Der Anti-Globalist Trump hat die Globalisierung zur wichtigsten Waffe für seine »America First«-Politik verkehrt. Die beiden US-Wissenschaftler Henry Farrell und Abraham L. Newman nennen das »Weaponized Interdependence«. Die Erdkugel ist heute von einem engmaschigen Geflecht aus Güter-, Kapital- und Datenströmen überzogen, den eigentlichen Lebensadern der Weltwirtschaft. Apples iPhone wird von 300 Firmen aus fast 30 Ländern gebaut. Die Smartphones von Huawei liefen bis vor Kurzem mit dem Android-Betriebssystem von Google und den Chips der US-Anbieter Intel und Qualcomm. Das schafft gegenseitige Abhängigkeiten – und macht Unternehmen und ganze Nationen verwundbar. Mit Strafzöllen und Technologieembargos hat Trump viel Sand in das Getriebe der Globalisierung gestreut und damit die auf Kooperation und Freihandel aufgebaute Weltwirtschaftsordnung zu einer Arena der Konfrontation gemacht. Als der US-Präsident 2019 kurzzeitig ein Technologieembargo gegen den chinesischen Smartphone-Hersteller ZTE verhängte, stand die Firma kurz vor der Pleite. Huawei muss ein eigenes Betriebssystem für seine Smartphones entwickeln, seitdem Google auf Druck von Trump die Chinesen nicht mehr mit seiner Android-Software beliefern darf.

Die immer noch anhaltende »Schlacht um Huawei«, dem führenden Anbieter des neuen Mobilfunkstandards 5G, sei Beispiel für die kommende Spaltung der Welt in unterschiedliche Technosphären, prophezeit Ferguson. »Huawei ist zum Symbol des globalen kalten Technologie-Krieges geworden.« »Decoupling« heißt dafür das Schreckenswort, das die technologische Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften beschreibt. Die USA haben den chinesischen Telekomausrüster aus Angst vor Spionage und Cyberattacken aus ihrer Technosphäre verbannt und drängen auch ihre westlichen Verbündeten, die Verbindungen zu Huawei zu kappen. »Leider sehen die USA die 5G-Technik als eine strategische Waffe. Für sie ist es eine Art Atombombe«, klagte Huawei-Gründer Ren Zhengfei in einem Interview mit dem »Handelsblatt«. In Davos gibt er sich nach außen dennoch gelassen: »Wir sind für die nächste Attacke gerüstet«, versichert der 75-Jährige. Da wusste er noch nicht, dass die US-Regierung wenig später versuchen würde, Huawei auch von lebenswichtigen Chiplieferungen aus dem Ausland abzuschneiden. »Überleben ist für uns das Schlüsselwort«, gestand Huawei-Manager Guo Ping im Mai 2020 nach der neuerlichen Attacke aus den USA und bestätigte damit die düstere Prophezeiung von Yuval Noah Harari. Der israelische Historiker und Autor des Weltbestsellers »Eine kurze Geschichte der Menschheit« hatte in Davos ein weltweites technologisches Wettrüsten vorausgesagt. »Um ein Land zu erobern, braucht es heute keine Waffen mehr«, sagte Harari, Imperialismus und Kolonisierung fänden jetzt mithilfe von Daten statt.

Europa ist Frontstaat und Schlachtfeld zugleich im neuen Kalten Krieg. »Die Europäer werden von den beiden Supermächten Amerika und China in die Zange genommen und glauben immer noch, sie könnten ihre eigenen Wege gehen. Das ist jedoch reines Wunschdenken«, warnt Ferguson. Europa habe den großen Tech-Konzernen aus dem Silicon Valley und China nichts entgegenzusetzen. Apple sei heute mehr wert als alle deutschen Dax-Konzerne zusammen. »Europa muss sich zwischen den beiden Technosphären der Supermächte entscheiden«, sagt der Historiker. Eine Meinung, die zum Beispiel auch von Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlages geteilt wird. »Nach der (Corona-)Krise müssen wir uns festlegen: Wollen wir weiter an der Seite Amerikas stehen oder an der Seite Chinas? Beides geht nicht«, schreibt der ehemalige Journalist in einem Essay. Dass es zu einem wirtschaftlichen und technologischen Decoupling kommen wird, hält Ferguson für unausweichlich – trotz der immer noch engen ökonomischen Verflechtungen zwischen dem Westen und China. Ist das überhaupt möglich in einer so stark vernetzten Welt? Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges glaubten auch viele Experten, dass ein militärischer Konflikt zwischen Deutschland und England wegen der engen wirtschaftlichen Bande beider Länder unvorstellbar sei. »Nach Kriegsbeginn haben Deutschland und England innerhalb von Tagen alle Bande gekappt«, erinnert der Historiker Ferguson. Wie ähnlich die Rivalität zwischen den USA und China heute dem Machtkampf zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ist, haben der Ökonom Markus Brunnermeier und der Wirtschaftshistoriker Harold James von der Princeton University zusammen mit dem China-Experten Rush Doshi vom »Brookings Institute« dokumentiert. »Die Rivalität zwischen China und den Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert«, schreiben die drei Wissenschaftler in ihrem Aufsatz aus dem Herbst 2018. Wie schnell auch heute noch Grenzen geschlossen, Lieferketten gekappt und Forderungen nach »strategischer Autonomie« laut werden, hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Die Folgen einer Spaltung der Weltwirtschaft wären insbesondere für Europa und Deutschland dramatisch. Noch mehr als die USA und China, die beide über riesige Binnenmärkte verfügen, wäre Deutschland als offenste Volkswirtschaft der Welt davon betroffen, wenn sich Globalisierung und Freihandel von Wohlfahrtsgaranten zu Achillesfersen verwandeln sollten. Zwar bietet der europäische Binnenmarkt mit seinen 450 Millionen Verbrauchern einen gewissen Schutz und fast 60 Prozent der deutschen Ex- und Importe gehen bzw. kommen aus den EU-Ländern. Schlüsselbranchen wie die deutsche Automobilindustrie sind jedoch stark von China und den USA abhängig. Etwa jedes dritte Auto von Volkswagen, BMW und Daimler wird von Chinesen gekauft. Allein BMW verkaufte 2019 doppelt so viele Fahrzeuge in China wie in den Vereinigten Staaten. Aber auch die USA bleiben für deutsche Firmen ein enorm wichtiger Absatzmarkt: 16 der 25 im Deutschen Aktienindex (DAX) zusammengefassten Konzerne machen in den USA höhere Umsätze als in Deutschland, hat das Handelsblatt ausgerechnet.

Kriege um Macht, Wohlstand und Territorien werden seit Menschengedenken geführt. Dass politische Macht und wirtschaftliche Stärke dabei Hand in Hand gehen, ist ebenso wenig neu wie der Einsatz wirtschaftlicher »Waffen«, um geopolitische Ziele zu erreichen. Schon in den Peloponnesischen Kriegen zwischen Athen und Sparta spielten Seeblockaden für Lebensmittel- und Nachschublieferungen eine wichtige Rolle. Der amerikanische Politologe Graham Allison von der »Kennedy School« an der Harvard University sieht die USA und China bereits in der Falle des Thukydides und befürchtet, dass die beiden Großmächte, ähnlich wie die griechischen Stadtstaaten Athen und Troja in ihrem vorchristlichen Duell, auf einen militärischen Konflikt zusteuern. Das nach dem Historiker Thukydides der griechischen Antike benannte Dilemma besagt, dass die Rivalität zwischen einer aufsteigenden und einer etablierten Macht meist zu einem militärischen Konflikt führt. In den vergangenen 500 Jahren habe es sechzehn Versuche einer aufstrebenden Nation gegeben, eine etablierte Großmacht zu verdrängen. »Zwölf davon endeten in einem Krieg«, schreibt Allison in seinem Buch »Destined For War«. Die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen den USA und China sieht auch Henry Kissinger: »Ich bin sehr besorgt. Die gegenseitigen Beziehungen haben sich in den vergangenen Monaten derart verschlechtert, dass auf beiden Seiten ein Feindbild entstanden ist«, warnte der Doyen der amerikanischen Außenpolitik und Strippenzieher für die historische Chinareise des früheren US-Präsidenten Richard Nixon im Januar 2020 im US-Magazin »The New Yorker«.