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Hells Raiders MC: Last Mile: Erlösung

Katie Ashley

 

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Joy Fraser

 

© 2016 by Katie Ashley unter dem Originaltitel „Last Mile (A Vicious Cycle Novel Book 3)“

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

info@plaisirdamourbooks.com

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

© Coverfoto: Shutterstock.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-461-0

ISBN eBook: 978-3-86495-462-7

 

This edition is published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Random House LLC.

 

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

Autorin

Widmung

 

Für meine treuen Leser, die mich durch alle Genres begleiten.

Ich werde euch für alles Gute, das ihr mir habt zuteilwerden lassen, für immer unendlich dankbar sein.

Dafür habt ihr meine tiefste und aufrichtigste Liebe.

Prolog

 

Klirrendes Besteck und Geplauder hallten durch das Esszimmer und raubten der achtjährigen Samantha Vargas den letzten Nerv. Zum hundertsten Mal spähte sie in den Flur auf die goldenen Zeiger der alten Standuhr. Es war schon fast sieben und ihr Vater war bereits dreißig Minuten zu spät. Während ihrer Mutter und ihren Geschwistern seine Unpünktlichkeit nichts auszumachen schien, erwartete sie wie auf glühenden Kohlen sitzend seine Ankunft.

„Dein Essen zu ignorieren bringt Daddy auch nicht schneller nach Hause“, schimpfte ihre Mutter und deutete auf die Gabel auf Sams Teller. „Iss auf.“

Mit einem Seufzen nahm Sam die Gabel und schob ihr Essen, das normalerweise ihre Lieblingsspeise war, sie aber heute Abend nicht begeistern konnte, auf dem Teller herum. Sie hob etwas von dem spanischen Reisgericht Arroz con Pollo an den Mund. Als sie gerade essen wollte, hörte sie einen Automotor. Dann wurde eine Tür zugeworfen und Sam hob den Kopf. „Er ist da!“, rief sie und sprang vom Stuhl.

Mit ihren schwarzen Turnschuhen brannte sie fast eine Rille in den Boden, als sie aus dem Raum rannte.

„Samantha Eliana Vargas, komm sofort zurück und iss deinen Teller leer!“

Sie überhörte den Befehl ihrer Mutter, rannte durch den Flur und riss die Haustür auf. Sie polterte die Vordertreppe hinab auf den Pfad und sprang ihrem Vater in die Arme. Er ließ seine Aktentasche fallen, weil er nicht beides balancieren konnte.

Er lachte über ihren Schwung. „Du freust dich wohl, mich zu sehen, was?“

„Du warst fast eine Woche weg.“ Sie schlang die Arme fester um seinen Hals. Als sie sich eng an ihn presste, spürte sie unter seinem Anzug das Pistolenhalfter und den Stahl der Waffe. Die meisten Kinder hätte das verängstigt, doch auf sie hatte es eine tröstliche Wirkung. So kannte sie ihren Vater. Wie im Fernsehen und in Filmen war er einer der Guten und kämpfte gegen die Bösen, die kriminelle Dinge taten.

„Der Fall hat etwas länger gedauert, als ich dachte, Mija. Aber ab übermorgen werde ich dann eine Weile zu Hause sein.“

„Das freut mich sehr.“ Sie sah in seine dunkelbraunen Augen, die sie von ihm geerbt hatte. Natürlich hatte sie noch viel mehr von ihm als nur die Augenfarbe. Im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder und ihrer Schwester, die mehr nach der Mutter kamen, war sie das Mini-Ich ihres Vaters. Wenn sie einmal groß war, wollte sie genauso sein wie er. Strafverfolgung lag ihr im Blut. Ihr Großvater war Polizist in Miami gewesen und ihr Vater war ein Agent der Behörde für Drogen und Schusswaffen, der ATF. Sie hatte den starken Wunsch, die Bösen zu erwischen, so wie die Agenten. Während andere Mädchen in ihrem Alter mit Barbies und anderen Puppen spielten, bekam sie von ihrem Vater erzählt, wie man eine Waffe auseinander- und wieder zusammenbaut und wie man Körpersprache liest.

„Komm mit, gehen wir rein. Deine Mama hat versprochen, dass sie heute mein Lieblingsessen kocht, und ich bin am Verhungern.“

Sam grinste. „Hat sie auch.“

„Und deshalb habe ich sie auch so lieb. Sie mag zwar Irin sein, aber sie gibt sich alle Mühe, ihrem kubanischen Ehemann sein Lieblingsessen zu kochen.“

Sie stiegen die Treppe hinauf und der Rest der Familie wartete bereits an der Tür. Ihr Vater stellte Sam auf den Boden, um ihren fünfzehnjährigen Bruder Steven und ihre dreizehnjährige Schwester Sophie umarmen zu können. Da Steven und Sophie Teenager waren, fanden sie es uncool, den Vater genauso enthusiastisch zu begrüßen wie Sam.

Ihr Vater nahm ihre Mutter in den Arm und gab ihr einen langen Kuss. „Du hast mir gefehlt, Jenny.“

Ihre Mutter lächelte ihn an. „Du mir auch. Haben wir dich jetzt endlich mal eine Weile für uns?“

„So um neun muss ich noch etwas zu Ende bringen, aber dann bin ich für die nächsten paar Wochen an den Schreibtisch gekettet.“

Ihre Mutter seufzte erleichtert. „Da das der sicherste Platz ist, an dem du sein könntest, freue ich mich, das zu hören.“

Ihr Vater drückte ihrer Mutter noch einen Kuss auf. „Du machst dir zu viele Sorgen.“

„Daddy, darf ich heute Abend mitkommen?“, fragte Sam. Er schüttelte den Kopf, doch sie widersprach. „Aber es ist Freitag. Ich muss morgen nicht in die Schule.“

„Das wäre etwas zu gefährlich für dich heute.“ Er sah ihr enttäuschtes Gesicht und stupste ihre Nase an. „Nächstes Mal, Mija.“

An Vaters entschlossenem Ton erkannte sie, dass es keinen Sinn hatte, weiterzubohren.

Als er am Tisch Platz genommen hatte, setzte sie sich zögernd wieder auf ihren Stuhl. Jetzt interessierte sie ihr Abendessen etwas mehr als vorher, und sie schaffte es, alles aufzuessen, weil sie wusste, dass es ihn freute.

Während des letzten Bissens kam ihr eine blendende Idee. Sie würde ihrem Vater beweisen, dass sie nicht noch zu jung war, um einen Fall zu sehen, bei dem es heiß hergehen könnte. Wenn sie eines Tages ein Agent sein wollte wie er, musste sie ja irgendwann einmal anfangen. Genau wie ihren Geschwistern hatte er ihr schon sehr früh gezeigt, wie man am Schießstand die Waffe abfeuerte, und einige Griffe zur Selbstverteidigung beigebracht. Allerdings, wenn die Sache Erfolg haben sollte, musste sie es geschickt anstellen. Und da war ihr die Idee gekommen.

„Worüber grinst du so?“, fragte ihr Vater und holte sie aus den Gedanken.

„Ach, über nichts.“

Nachdem die Küchenarbeit erledigt war und ihre Geschwister ihren Freitagabend-Verabredungen nachgingen, tat Sam so, als ob sie sich etwas im Fernsehen anschauen wollte. Als es immer mehr auf neun Uhr zuging, gähnte sie ein paarmal und gab vor, müde zu sein und ging früh in ihr Zimmer. Sie unterdrückte ein Lächeln und gab ihren Eltern Gutenachtküsse.

Als sie sicher war, dass sie nicht weiter auf sie achteten, schlüpfte sie aus der Hintertür. Sie schlich ums Haus zu Vaters Wagen, öffnete die Tür und kauerte sich im Fußraum des Rücksitzes zusammen. Mit ihrer Decke, die dort lag, bedeckte sie sich. Vor Aufregung bebte sie so stark, dass ihre Zähne klapperten.

Sie wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte, als sie endlich hörte, wie ihr Vater kam. Als er im Auto saß, atmete sie nur noch flach, aus Angst, er könnte sie trotz des laufenden Motors hören.

Nachdem das Auto ein paarmal abgebogen war, wusste Sam, dass sie jetzt auf der Schnellstraße waren und wahrscheinlich nach Miami unterwegs. Ihre Gedanken rasten, und sie stellte sich verschiedene Szenarien vor, was ihr Vater wohl vorhaben könnte. Vielleicht traf er sich mit einem Informanten oder arbeitete undercover. Diese Vorstellungen jagten Adrenalin durch ihre Adern.

Es schien ewig zu dauern, bis der Wagen von der Schnellstraße abbog. Er fuhr mit gleichmäßiger Geschwindigkeit weiter und bog dann erneut ab. Bei dem Gerüttel und Geschüttel ging sie davon aus, dass er auf eine Art Feldweg gefahren war. Als der Wagen anhielt, zog sich Sam die Decke vom Kopf und atmete frische Luft.

Ihr Vater stellte den Motor ab und fummelte an etwas herum. Dann ertönte das unverwechselbare Krächzen eines Funkgerätes.

„Agent Vargas meldet sich von der Liberty Avenue 1901.“

„Roger, Vargas. Brauchst du Verstärkung?“, krächzte die andere Stimme.

„Nein. Handelt sich nur um einen routinemäßigen Informationsaustausch.“

„Viel Glück. Zehn-vier.“

„Zehn-vier.“

Ein paar Minuten verstrichen. Plötzlich ertönte das Geknatter von Motorrädern, und Sam zuckte in ihrem Versteck erschrocken zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihr Vater mit einer Motorradgang zu tun haben sollte. Als sie das letzte Mal in der Stadt gewesen war, war eine Gruppe Biker an ihnen vorbeigefahren. Das Abzeichen auf ihren Lederwesten hatte ihr mehr Angst eingejagt als die lauten Geräusche. Es war ein Schädel mit einer Art Indianerkopfschmuck. Ihr Vater hatte es einen Death’s Head genannt.

Sie fragte sich, ob es sich um dieselbe Gruppe handelte, und spähte vorsichtig aus dem Fenster. In der schattigen Dunkelheit stieg ein Mann von seinem Bike und kam über den Parkplatz näher. Die einsame Straßenlaterne ließ Sam etwas erkennen. Langes, dunkles Haar hing über seine breiten Schultern, doch vom Gesicht sah sie nicht viel, weil er einen Bart hatte. Sogar im Dunkeln trug er eine Sonnenbrille, und Sam wunderte sich, wie er überhaupt etwas sehen konnte.

„Schön, dich wiederzusehen, Willie. Weißt du jetzt den Ort der Übergabe, wie du versprochen hast?“

„Nein“, murmelte der Mann mit rauer Stimme.

Ihr Vater knurrte frustriert. „Ich dachte, wir hätten einen Deal. Der Übergabeort sorgt dafür, dass der Fall geschlossen wird, aber vor allem schützt er dich vor dem Knast.“

Willie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur eine Nachricht für dich.“

„Eine Nachricht?“ Vorsicht und Sorge erfüllten seine Stimme.

„Wer sich mit den Rogues anlegt, landet unter der Erde.“

„Oh Scheiße!“, sagte ihr Vater und bewegte sich hektisch.

Eine Explosion wie ein Kanonenschlag ertönte neben dem Auto. Sams Schrei erstickte in ihrer Kehle bei dem Geräusch, und weil sie von etwas Warmem und Klebrigem berieselt wurde.

Sekunden tickten vorbei. Oder waren es Minuten?

Sams Herz schlug so laut, dass sie sicher war, ihr Vater und der Mann konnten es hören.

Das Motorrad startete, und sie begriff, dass der Biker wegfuhr. Als sie sicher war, dass er fort war, richtete sie sich auf.

„D-Daddy?“

Als sie sich traute, nach vorn zu sehen, kam ein Schrei in ihr hoch, doch obwohl sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Sie blinzelte mehrmals und starrte entsetzt auf die klaffende Wunde an Vaters Kopf und auf das Blut, das mit noch etwas anderem auf den Sitz und das Armaturenbrett gespritzt war.

Sofort war ihr klar, dass er Hilfe brauchte. Jemand musste herkommen und ihren Vater wieder zusammenflicken. Mit zitternden Fingern fummelte sie am Türgriff herum. Als sie die Tür geöffnet hatte, sprang sie auf den Schotter, aber ihre weichen Knie trugen sie beinahe nicht. Sie öffnete die Beifahrerseite und stieg ein. Dann nahm sie ihrem Vater das Funkgerät aus der Hand. Mit bebenden Fingern drückte sie auf den Knopf, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Natürlich war das damals alles nur ein Spiel gewesen. „H-hallo?“

Nachdem sie den Knopf losgelassen hatte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich jemand meldete.

„Kind, das ist eine Polizeifrequenz. Verlasse sie, bevor du Ärger bekommst.“

Instinktiv überdeckte ihre Wut ihre Angst. „Ich heiße Samantha Vargas. Mein Vater ist Agent Antonio Vargas. Er wurde …“ Sie sah kurz zu ihrem leblosen Vater hinüber und kniff die Augen zu. „Es wurde auf ihn geschossen.“

„Um Himmels willen!“

Sie hörte jede Menge Aktivität auf der anderen Seite. Sie ließ das Funkgerät fallen und hörte nicht mehr zu, was der Mann noch zu sagen hatte. Sie nahm die Hand ihres Vaters in ihre.

 

Noch immer starrte sie seine Hand an, als die Polizei und die Sanitäter erschienen, begleitet von flackernden Lichtern und heulenden Sirenen.

Jemand öffnete die Beifahrertür. „Verfluchte heilige Scheiße“, murmelte jemand.

Als Arme sie ergriffen, wehrte sich Sam nicht. Sie drückte einen Kuss auf Vaters Hand und ließ sich aus dem Wagen heben. Eine freundliche weibliche Stimme sprach beruhigend auf sie ein. Sie hörte nicht zu. Denn niemand hätte etwas sagen können, das alles wieder gut gemacht hätte.

Ihr Vater war tot.

Kapitel 1

 

Bishop

 

Der Klang der Eröffnungsglocke hallte in meinen Ohren wider und jagte elektrische Energie durch mich hindurch. Adrenalin wurde in mein Blut gepumpt und meine Muskeln und Sehnen zogen sich erwartungsvoll zusammen, als ich aus der Ecke des Rings trat. Meine Boxhandschuhe befanden sich vor meiner Brust, um entweder Schaden zu verursachen oder einen Treffer zu blockieren.

Wenn man vor einem Gegner stand, war gutes Timing alles. Sich eine Sekunde zu spät zu ducken, machte den ganzen Unterschied zwischen dem Verfehlen deines Kinns oder einem K.-o.-Schlag. Und im richtigen Moment aus der Deckung zu gehen, war ausschlaggebend, um den Gegner kampfunfähig zu machen und zu gewinnen.

Ich hatte schon vielen Gegnern gegenübergestanden. Meistens in überfüllten, lauten Bars oder schlecht beleuchteten Hinterhöfen.

Obwohl ich die Fäuste auch einsetzte, um meine Club-Brüder zu beschützen, benutzte ich dafür lieber andere Waffen.

Heute allerdings stand ich in dem grellen Licht eines Boxrings einem Kämpfer gegenüber, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Im Ring war ich am stärksten. Zwischen den Seilen musste ich mich nicht auf Knarren und Messer verlassen, um meinen Arsch zu retten. Meine Hände und mein Körper waren die einzigen Waffen, die ich brauchte. Damit konnte ich viel Schmerz und Leid verursachen und zum Gewinner werden.

Mit fünfundzwanzig hatte ich den größten Teil meines Lebens gekämpft. Als ich noch ein Kind war, hatte mein alter Herr mich dazu gebracht, um Dampf abzulassen. Da er ein früherer Verbrecher war, der ein heiliger Pastor wurde und dann ein MC-Präsident, hatte er genug Erfahrung darin, wie man heißes Temperament in intensive körperliche Aktivität umsetzen konnte. Was er nicht hatte ahnen können, als er mich ins clubeigene Fitnessstudio brachte, war mein gottgegebenes Talent im Ring.

Als ich heute Abend kämpfte und rechte Haken und Geraden austeilte, fand ich meinen Gegner derartig pussymäßig, dass ich den Verdacht hegte, man hätte ihn fürs Verlieren bezahlt. Doch in der fünften Runde bekam er Aufwind und schlug auf mein Gesicht ein. Ich spürte das Brennen aufgeplatzter Haut auf der Stirn und in den Augenbrauen. Blut brannte in meinen Augen und meine Sicht verschwamm. Doch anstatt mich davon behindern zu lassen, machte es mich nur wütender.

Im Laufe dieser Runde erschöpfte ich meinen Gegner. Endlich, nach der neunten Glocke, verpasste ich ihm einen ans Kinn und dann auf die Nase. Er stolperte rückwärts, sackte auf die Knie und kippte nach vorn auf sein Gesicht.

Der Schiedsrichter kam auf die Matte, um sicherzustellen, dass mein Gegner k. o. war. Als er sich erhob, nahm er meinen Arm und riss ihn in die Höhe. Die Zuschauer sprangen auf und brachen in Jubel aus. Ein arrogantes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich drehte mich triumphierend um und hob beide Arme, was die Zuschauer zum Ausflippen brachte. Ich stieß mit der Faust in die Menge und ging dann in die Ecke, wo mich Boone, der offizielle Schatzmeister der Raiders und mein inoffizieller Trainer, erwartete.

Er reichte mir eine Flasche Wasser, die ich dankbar leerte.

„Breakneck ist unauffindbar, also habe ich in dieser fiesen fünften Runde Rev geschrieben, dass er Annabel schicken soll, um dich zu versorgen.“

„Ach, fuck, Mann. Mecker von Rev, weil seine Frau mich zusammenflicken soll, ist das Letzte, was ich brauchen kann.“

„Tja, entweder Annabel oder die Notaufnahme.“ Boone schnaubte. „Schließlich wollen wir nicht, dass deine hübsche Fresse Narben bekommt.“

„Wie auch immer“, brummte ich, nahm das Handtuch von den Seilen und trocknete mich ab.

„Soll ich das für dich machen?“, schnurrte eine Stimme hinter mir.

Ich blickte über meine Schulter und betrachtete die spärlich bekleidete Figur eines Nummerngirls. Sie gehörte zu den scharfen Mädels, die mit über den Köpfen gehaltenen Rundennummern um den Ring liefen. Ich hatte sie schon bei den letzten paar Kämpfen gesehen. Sie neigte den Kopf seitlich und schenkte mir ihren besten Fick-mich-Blick. Trotz meiner Schmerzen und dem blutigen Gesicht reagierte mein Schwanz sofort auf diese Offerte.

Ich trat näher an sie heran. „Meinst du, du kannst mir helfen, wenn ich nachher zusammengeflickt bin?“

Sie spitzte die roten Lippen. „Vielleicht.“

„Es wird sich lohnen. Mehrmals. Das verspreche ich dir.“

Sie ließ den Blick über meinen Körper schweifen, ehe sie mich wieder ansah. „Okay, Champ. Mal sehen, ob du heute zwei K. o. hinbekommst.“

„Gib mir eine halbe Stunde.“

„Klingt gut.“

Boones Hand landete auf meiner Schulter. „Los jetzt, Casanova. Gehen wir.“

Als ich vom Ring sprang, stand ich direkt Rev gegenüber. Er grinste bei meinem Anblick.

„Boone hat nicht übertrieben, als er gesagt hat, dass du heute ziemlich verbeult worden bist.“

„Fühlt sich aber gar nicht anders an als sonst.“

Rev deutete mit dem Kinn auf den Ring, wo meine baldige Bettgefährtin stand. „Scheint dich auch nicht daran zu hindern, dich flachlegen zu lassen.“

Ich grinste. „Nichts außer dem Tod oder einem Ganzkörpergips kann mich davon abhalten, mich flachlegen zu lassen.“

Rev lachte in sich hinein. „Du bist mir echt einer, Bro.“

Wir arbeiteten uns durch die Menge nach hinten zu den Trainingsräumen. Revs Handy klingelte. Nachdem er es aus seiner Tasche geholt und draufgeschaut hatte, bedeutete er mir, zur letzten Tür links weiterzugehen.

Als ich eintrat, stand Annabel mit dem Rücken zu mir und suchte etwas in ihrer Arzttasche.

Ich schlich mich an sie heran und sagte dann: „Hallo, sexy Frau.“

Sie machte einen erschrockenen Satz und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Obwohl es jetzt ein Jahr her war, dass sie von einem Mitglied des Rodriguez-Drogenkartells in Mexiko gefangen gehalten worden war, war sie immer noch schreckhaft, was Männer anging.

„Entschuldige, das war blöd“, sagte ich verlegen.

Sie sah nicht von ihrer Tasche auf. „Ich sollte inzwischen daran gewöhnt sein.“ Ein Lächeln hob ihre Lippen. „Zumindest daran, dass du dich wie ein Affe benimmst.“

Ich warf den Kopf zurück und lachte. „Wohl wahr.“

Als Annabel mich ansah, weiteten sich entsetzt ihre Augen.

„Keine Sorge. Der Mistkerl sieht viel schlimmer aus als ich.“ Ich setzte mich auf den Massagetisch.

„Das hoffe ich.“

„Weißt du, ich bin ein bisschen beleidigt, dass ich nur von einer Tierärztin behandelt werde statt von einem echten Arzt.“

Annabel sah mich an und spitzte die Lippen. „Okay, und ich bin genauso beleidigt, dass ich von meinem Abend mit Rev weggeholt wurde, um mich um dich zu kümmern.“

Ich grinste sie frech an. „Sorry, Süße, aber als du meinen Bruder geheiratet hast, hast du auch den Club geheiratet.“

„Und in guten wie in schlechten Zeiten bedeutet in dem Fall, auf den Nachtisch zu verzichten, um dich zusammenzuflicken?“, fragte sie neckend.

„Ganz genau.“ Ich betrachtete sie in ihrem sexy kleinen Schwarzen, das ihre Beine und ihre Titten betonte, und pfiff leise. „Ich muss aber gestehen, dass ich es besser habe als du, denn du siehst heute echt super aus, Mrs. Malloy.“

Ihre Wangen wurden rosa und sie legte ihre medizinischen Sachen neben mich. Als sie mir in die Augen sah, lächelte sie. „Immer ganz der Schmeichler.“

„Immer. Natürlich wäre es auch völlig idiotisch von mir, jemanden zu beleidigen, der gerade eine Nadel in mich stechen will.“

„Ausnahmsweise klingst du mal richtig weise.“

Während sie die Risse in meinem Gesicht säuberte, fragte ich sie: „Wieso genau ist Breakneck heute eigentlich nicht da?“

„Er hat ein Date.“ Sie machte eine dramatische Pause und fügte dann hinzu: „Mit Kim.“

Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch und zischte vor Schmerz. „Ist das dein verfickter Ernst?“

Annabel nickte und warf die blutigen Tupfer in den Mülleimer. Ich konnte nicht behaupten, überrascht zu sein, dass der Mann es wieder wissen wollte. Seit Jahren war er geschieden, und obwohl er sich mit ein paar der älteren Clubhuren eingelassen hatte, war nie etwas Ernstes dabei gewesen. Weder im Club noch außerhalb. Aber heilige Scheiße, mit Kim, der Witwe unseres früheren Präsidenten. Zwar war es über ein Jahr her, seit Case umgebracht worden war, doch bis vor Kurzem war Kim noch in Trauer. Seit sie achtzehn war, hatte es für sie keinen anderen gegeben.

„Ist das das neueste Gerücht im Club?“ Ich schnaubte. „Ihr Old Ladys seid ja ganz schön redselig.“

„Zu deiner Information, ich weiß es von Rev, nicht von Kim.“

„Im Ernst?“

Sie nickte. „Breakneck hat wohl Rev um Rat gefragt, ob er Kim ausführen solle oder lieber nicht.“

Sie rieb ein Desinfektionsmittel über meine Stirn. Es brannte wie die Hölle, aber ich wollte vor Annabel nicht wie ein Weichei rumheulen.

Mit einem verträumten Ausdruck sagte sie: „Ich finde, das ist eine tolle Idee. Sie brauchen beide jemanden und sie sind beide im Club.“

„Ja, aber die Old Lady eines Bruders zu poppen, ist schwer für einen Kerl.“

Annabel sah mich entsetzt an, ehe sie grinste. „Du kannst so gut mit Worten umgehen.“

„Vielen Dank.“

„Außerdem glaube ich, es geht um mehr als …“, sie schluckte, „poppen, wie du es nennst.“

„Letztendlich läuft es immer aufs Poppen hinaus.“

„Für dich vielleicht, aber an einer Beziehung ist mehr dran als nur das.“

Ich zwinkerte ihr zu. „Wir sollten uns darauf einigen, in dieser Sache uneinig zu sein.“

„Von mir aus.“ Sie öffnete das Nähset, und ich wappnete mich dafür, gleich genäht zu werden.

„Sag mal …“, begann sie.

„Was?“

„Wie passen eigentlich deine Kämpfe damit zusammen, dass die Raiders legal werden wollen?“

Ich schenkte ihr meinen besten ahnungslosen Blick.

Sie verdrehte die Augen. „Echt jetzt, Bishop, ich bin kein Idiot. Ich weiß, dass du nicht nur kämpfst, um Dampf abzulassen, und dass ihr eine Menge Geld daran verdient. Und bevor du Rev als Petze gegenüber seiner Old Lady bezeichnest … Er hat kein Wort gesagt. Ich bin ganz allein dahintergekommen.“

Ich lachte in mich hinein und justierte meine Sitzposition auf dem Tisch. Deacon und Rev hatten sich starke, dickköpfige Frauen angelacht. Die besten Old Ladys waren diejenigen, die einfach wegschauten, keine Fragen stellten und den Mund hielten. Andererseits brauchte man eine starke Frau, um die anderen Frauen in Schach zu halten, besonders als Frau des Präsidenten. Annabel hatte genug durchgemacht, wodurch sie hart wie Stahl geworden war, und ich wusste, dass sie mit der Zeit zu einer Frau werden würde, zu der andere im Club als Frau ihres Anführers aufsehen würden.

„Du hast recht. Ich mache es nicht nur aus Spaß. Sondern für das Preisgeld.“ Ich fluchte leise, als die Nadel in meine Haut drang.

„Darf ich fragen, was du mit deinen Anteilen machst?“

Ich biss die Zähne zusammen beim nächsten Stich. „Ich will nicht ewig ein Mechaniker sein, auch wenn es ein ehrlicher Job ist.“

Annabels Hand hielt inne. „Was willst du denn sonst tun?“, fragte sie leise.

Ich dachte darüber nach, sie abzublocken. Bisher hatte ich noch keinem von meinen langfristigen Zielen erzählt. Vielleicht hatten Deacon und Rev eine Ahnung bekommen, weil ich in meiner Freizeit alte Motorräder kaufte und sie wieder aufpolierte, doch offiziell hatte ich noch nicht darüber gesprochen.

Bei meinem Zögern nähte Annabel weiter. „Oh, es ist etwas, das du mir nicht sagen willst, weil es illegal ist.“

„Himmel, nein. So ist es nicht.“ Ich atmete tief durch. „Ich möchte irgendwann einen Motorradladen aufmachen. Ich restauriere gern welche.“

„Das ist doch eine tolle Idee!“

„Findest du?“

Annabel nickte. „Na klar. Ich glaube, dass du alles auf die Beine stellen kannst, wenn du nur willst, B.“

Es fühlte sich super an, ihre Zustimmung zu haben. „Danke. Das bedeutet mir viel.“

Sie war fertig mit meiner Augenbraue, und ihr Ausdruck wurde ernst. „Also stehst du voll und ganz dahinter, in welche Richtung der Club jetzt geht?“

Die Frage überrumpelte mich zwar, doch ich versuchte, neutral auszusehen. „Ich stehe immer hinter meinen Brüdern.“

„Eine sehr diplomatische Antwort.“ Sie zupfte an einem Faden.

Nach einer Weile des Schweigens atmete ich tief aus. „Ich weiß, dass ein paar Brüder aus anderen Chaptern denken, dass wir nur einen feigen Weg heraus suchen. Dass Deacon es nur angestoßen hat, weil er unter dem Pantoffel steht. Aber so ist es ja nicht.“

„Und wie ist es deiner Meinung nach?“

Ich schüttelte kurz den Kopf. Es gefiel mir nicht, so ernst über unser Leben zu sprechen, besonders nicht mit einer Frau. Doch Annabel hatte auf ihre eigene Weise Respekt verdient. „In den letzten fünf Jahren habe ich meinen alten Herrn und meinen Präsidenten verloren. Deacon wäre beinahe in die Luft geflogen, Rev wurde gefoltert und ist fast gestorben und ich wurde angeschossen. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Und wenn der Scheiß so weitergeht, werde ich die Dreißig nicht erreichen. Jedes Mal, wenn man einen Bruder beerdigen muss, nagt das an einem. Und selbst wenn ich älter werde als dreißig, will ich auf keinen Fall noch jemanden verlieren, besonders nicht Deacon und Rev. Es ist ein verfickter Teufelskreis und wir müssen einfach etwas ändern.“

„Der Tod ist also dein größter Motivator.“

„Fuck, ja.“

„Machst du dir nie Sorgen, ins Gefängnis zu kommen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Das wäre kacke, aber da besteht wenigstens die Möglichkeit, irgendwann wieder rauszukommen. Man kann wieder zu seiner Familie und seinem Bike zurück.“

Annabel lächelte. „Rev zitiert gern den MC-Prez, der das Chapter geändert hat. Der hat gesagt: ‚Im Gefängnis kann man nicht Motorradfahren.‘“

„Das ist die verdammte Wahrheit.“

„Und letztendlich ist euch Jungs das am wichtigsten, oder?“

„Motorradfahren und die Bruderschaft ist alles, was eine Rolle spielt.“

Rev erschien in der Tür. „Flickst du Humpty Dumpty wieder zusammen?“, fragte er grinsend.

Annabel lachte. „Ja, ich bin soeben fertig geworden.“

„Gut. Denn es wartet jemand auf ihn.“

Rev wackelte mit den Augenbrauen und Annabel stöhnte auf. „Das will ich gar nicht so genau wissen.“ Sie warf ihre Sachen in die Arzttasche. „Ich empfehle, für die nächsten zwei Tage Ibuprofen zu nehmen.“ Als ich widersprechen wollte, weil ich kein Weichei war, das was gegen die Schmerzen brauchte, hielt sie ihre Hand hoch. „Die sind auch gegen Entzündungen.“

Ich grinste. „Okay, Doc.“

Mein Nummerngirl erschien neben Rev. „Du siehst schon besser aus“, sagte sie mit einem verschwörerischen Lächeln.

Annabel warf einen Blick auf meine Eroberung, rollte mit den Augen und nahm ihre Tasche. „Ich empfehle auch einen Eisbeutel für die Stirn. Alles, was ich sonst noch sagen könnte, stößt bei dir eh auf taube Ohren.“

„Ganz genau.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Malloy-Männer seid allesamt unverbesserliche Sturköpfe.“

Ich senkte die Stimme. „Außerdem sind wir alle geile Hunde, also tu dir selbst und meinem Bruder den Gefallen und geht nach Hause ins Bett.“

„Du bist unmöglich“, murmelte sie.

Doch als sie Rev ansah, erkannte ich an ihrem heimlichen Lächeln, dass er heute noch glücklich werden würde.

Sobald Annabel von meiner Seite gewichen war, nahm das Nummerngirl ihren Platz ein. Rev schloss die Tür von außen.

„Ich heiße übrigens Candy“, sagte sie.

Ich nickte. Am liebsten hätte ich ihr versichert, dass ich ihren Namen nicht brauchte, weil wir uns sowieso nicht wiedersehen würden. Den bräuchte ich höchstens, um nicht aus Versehen einen anderen Namen zu rufen, wenn ich kam, denn bei den vielen Frauen, die ich so traf, könnten sie sich eines Tages begegnen.

Nachdem ich mich schnell ausgezogen hatte, zeigte ich ihr, dass ich ein wahrer Champion darin war, mehrere K. o. an einem Abend zu erzielen.

 

Kapitel 2

 

Samantha

 

Der Asphalt strahlte glühende Sommerhitze ab und mir lief der Schweiß die Schenkel hinab. Obwohl die Sonne vor Stunden untergegangen war, gab es kein Entkommen vor der Hitze. Eigentlich sollten mein schwarzes Spitzenbustier und der schwarze Minirock genug Kühlung bringen, doch ich fächerte mir mit der Hand Luft zu, in der Hoffnung, zu verhindern, dass mein Make-up dahinschmolz. Wie zur Hölle machten das so viele Frauen tagtäglich?

Ein Knistern des Kommunikationsgerätes in meinem Ohr alarmierte mich. „Der Verdächtige wurde im Zwölf-Block-Radius gesichtet. Alle Teams sind bereit.“

„Verstanden.“

Nachdem ich mich schnell in der Umgebung umgesehen hatte, knisterte es erneut in meinem Ohr. „Voraussichtliche Ankunftszeit bei Vargas in zwei Minuten, dreißig Sekunden.“

„Siehst scharf aus, Sammie-Lou-Nutte“, sagte eine andere Stimme in meinem Ohr.

Ich unterdrückte den Drang, zu dem Wagen über die Straße zu blicken. Darin wartete mein Partner Gavin McTavish mit einem dreckigen Grinsen. Da er drei Jahre älter war als ich, benahm er sich wie ein nerviger Bruder. Er war mehr als nur mein Partner. Er war auch mein bester Freund. Vor fünf Jahren hatten wir uns auf der Polizeiakademie kennengelernt und mit ihm hatte ich mehr Blut, Schweiß und Tränen geteilt als mit jeder anderen Person auf der Welt.

Auch ohne den Sprechfunk wusste ich genau, wann der Verdächtige, Chuck Sutton, ankam. Eine Ahnung summte in meinen Knochen und ich tauchte in die Rolle meiner Tarnperson ein. Schon seit seinen Teenagertagen hatte Chuck Waffen an die Atlanta-Straßenbanden verschoben. Nachdem er ein paarmal erwischt worden war, war er vorsichtiger geworden und hatte gelernt, unseren üblichen Methoden auszuweichen. Wir mussten ihn unbedingt wegen eines geringeren Delikts erwischen, um ihn für einen größeren Fall, an dem wir arbeiteten, benutzen zu können.

Da kam ich ins Spiel. Wenn Chuck eine Achillesferse hatte, dann waren es Frauen. Besonders solche, die er sich erkaufte. Etwas an dem Verbotenen daran schien ihn zu reizen.

Als ich ihn hinter mir hörte, drehte ich mich um und schenkte ihm mein bestes sexy Lächeln. „Hallo. Willst du dich heute Abend ein bisschen amüsieren?“

Er leckte sich über die Lippen, und ich bemühte mich, ihm nicht vor die Füße zu kotzen. „Vielleicht.“ Leicht unsicher sah er sich um. „Bist du heute hier ganz allein?“

Schnell nickte ich. „Ich arbeite nur für mich selbst.“

„Das gefällt mir. Ich mag keine Mittelsmänner.“

Ich streichelte über seinen Arm und drückte seine Schulter. „Das ist nur eine Sache, die wir gemeinsam haben.“ Um ihn hochzunehmen, musste ich ihn dazu bringen, dass er sich mit mir auf einen Preis einigte. So wie jetzt um den heißen Brei herumzuschleichen, reichte nicht, um ihn festzunehmen. „Wollen wir woanders hingehen, damit ich herausfinden kann, worauf du sonst noch stehst?“

Ein langsames Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Klar, gern. Von wie viel Kohle reden wir hier?“

„Einem Hunderter pro Stunde, auch wenn du nicht so lange brauchst.“ Ich sah einen Schatten über seine Augen huschen und schnurrte: „Aber ich bin sicher, du hältst lange genug durch, um das meiste aus deinem Geld rauszuholen.“

Mein kleines Kompliment heizte seinem Feuer ein. „Ich bin dafür bekannt, ein großzügiges Trinkgeld zu geben, wenn du die Sache wert bist.“

„Natürlich bin ich das, Süßer.“ Ich nahm die Finger von seiner Schulter und griff nach seiner Hand. „Wäre dein Auto okay oder bist du spendabel und wir gehen in das Motel da hinten?“

„Mein Auto reicht völlig.“

Als er mich dorthin führte, traf einer der Agentenkollegen eine blöde Entscheidung, indem er mit seiner Knarre zu früh eingriff. Als er aus den Schatten trat und Chuck ihn sah, brach die Hölle los.

Chuck ließ nicht nur meine Hand los, sondern schubste mich, sodass ich auf den hohen Absätzen rückwärts taumelte und auf dem Hintern landete. Dann flüchtete er in die entgegengesetzte Richtung.

„Greenburg, du dämlicher Idiot!“, knurrte ich den Agenten an, als ich versuchte, mich zu sammeln.

„Wir hatten, was wir brauchten, um ihn hochzunehmen.“

Ich kam wieder auf die Beine und sah ihn finster an. „Ach, wirklich? Warum haben wir ihn dann jetzt nicht mehr?“ Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ich hatte nicht die letzte halbe Stunde in diesem widerlichen Outfit verbracht, ganz zu schweigen von dem Mist, den ich hatte sagen müssen, um dann den Verdächtigen zu verlieren.

Zwar kannte ich mich hier nicht aus wie in meiner Westentasche, ich wusste aber, wie ich Chuck noch einholen konnte. So schnell wie möglich rannte ich auf diesen Absätzen los. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir den Vier-Block-Radius vor, den ich tagelang vorher auf der Karte studiert hatte. Kurz entschlossen bog ich in eine Seitengasse ab.

Ich sah mich nach etwas um, was Chuck handlungsunfähig machen könnte. Dann erblickte ich einen alten Besen und schnappte ihn mir schnell. Ich rannte zum Ende der Gasse. Ich kam dort an, als Chuck gerade vorbeirannte. Ich schwang den Besen wie einen Baseballschläger in seine Kniekehlen, was Chuck herumwirbelte und über den Boden schlittern ließ. Ich warf den Besen weg und zog meine Waffe. „Denk nicht mal dran, dich zu bewegen!“ Ich zielte auf seinen Kopf.

Chuck ergab sich mit zittrig erhobenen Händen. Ich machte mir nicht die Mühe, das Team anzufunken, denn sie hatten mich auf dem GPS. Und nach nur ein paar Sekunden hörte ich die Sirenen, und ein Polizeiwagen stoppte mit quietschenden Reifen neben uns.

Als ich Greenburg sah, sagte ich: „Jetzt kannst du ihn mitnehmen.“

Er nickte verlegen und kümmerte sich um Chuck.

Ich steckte die Waffe zurück ins Halfter und spürte eine Hand auf meiner Schulter.

„Alles okay?“, fragte Gavin. Besorgnis stand in seinen blauen Augen.

„Alles super, jetzt, nachdem ich diese Ratte hochgenommen habe.“

Gavin schüttelte den Kopf. „Dich kann wirklich nichts umhauen, oder?“

„Nee. Nur Vollidioten, die mir in die Quere kommen“, antwortete ich mit Blick auf Greenburg.

„Du meinst Leute, die dir die Show stehlen wollen?“, gab Gavin zurück.

„Pass bloß auf, McTavish, oder ich lege dich auch mit dem Besen flach.“

Gavin schlang einen Arm um meine Schultern und wir gingen zu unserem Auto.

Mich in der Gluthitze Atlantas als Prostituierte zu verkleiden, war nur eine meiner vielen Masken, die ich als Agentin des ATF tragen musste. Als mein Vater in dem langen Krieg zwischen der Drogenbehörde und den Bikern erschossen worden war, verlor ich jedes Interesse daran, in seine Fußstapfen zu treten. Nach der Ausbildung zur Kriminalbeamtin führte mich mein Weg schließlich doch zur Drogenbehörde, wo ich seit vier Jahren arbeitete. Dort konnte ich meinen Kindheitstraum, Kriminelle einzubuchten, erfüllen, genau wie meinen Drang, einen Beruf auszuüben, der mich hellwach hielt.

Als wir am Auto ankamen, lehnte unser Leiter, Grant Peterson, daran.

„Guten Abend“, sagte er mit einem Lächeln.

„’n Abend“, antwortete Gavin.

„Hattest du Bock auf ein bisschen Slum-Luft? Wo du doch sonst nur in deinem gemütlichen Büro mit Klimaanlage sitzt“, sagte ich. Obwohl Peterson mein Boss war, hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis.

Peterson lachte. „Ein guter General ist auch immer mit im Schützengraben.“

„Verstehe.“

„Gute Arbeit, wie immer, Vargas.“

„Danke, Sir.“ Ich balancierte auf einem Bein und zog die High Heels aus. Ich stöhnte erleichtert auf, als meine Füße endlich aus dem Stiletto-Gefängnis freikamen.

Peterson sah zwischen uns beiden hin und her. „Habt ihr zwei heute noch was anderes zu tun?“

Gavin schüttelte den Kopf. „Wir dachten, wir machen die Nachbesprechung morgen Früh. Wenn das okay ist?“

Peterson nickte. „Da ihr frei habt, würde ich euch gern zum Abendessen einladen.“

Gavin und ich hoben gemeinsam die Augenbrauen.

„Du hast wohl etwas Wichtiges zu erzählen, wenn du uns zum Essen einlädst“, antwortete ich.

Peterson lachte in sich hinein. „Du kennst mich einfach zu gut.“

Ich war zwar erschöpft und mein Bett rief nach mir, doch mein Magen knurrte zustimmend bei Petersons Einladung. „Klingt gut.“

Gavin lachte. „Meinst du, ich werde je eine Einladung des Büros ablehnen?“

„Erwarte bloß kein Fine-Dining-Erlebnis. Ich sehe ein Waffel-Haus vor meinem geistigen Auge“, sagte ich neckend.

„Oh, ich habe doch mehr Klasse als so was“, wandte Peterson ein.

„Dann IHOP?“

Er grinste. „Ganz genau. Wie wär’s mit dem an der Ausfahrt 243 in zehn Minuten?“

„Okay. Bis gleich.“

Peterson betrachtete skeptisch mein Outfit.

Ehe er etwas sagen konnte, hielt ich eine Hand hoch. „Ich habe etwas zum Umziehen im Auto.“

„Gut. Ich möchte keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenken.“

Ich klimperte mit den Wimpern. „Willst du damit sagen, dass ich die Blicke auf mich ziehe?“

Er grinste. „Sagen wir mal so, ich glaube nicht, dass ich dir gegenübersitzen und eine ernsthafte Unterhaltung führen könnte, ohne dass meine Gedanken abschweifen würden.“

Freundschaftlich schlug ich ihm gegen den Arm. „Du alter Perversling, du.“

„Du kennst mich zu gut. Bis gleich.“ Er machte sich auf den Weg die Straße entlang.

Wir stiegen in unser Auto. „Was meinst du, worum es geht?“

Gavin startete den Wagen und wirkte nachdenklich. „Muss was Großes sein, wenn er es beim Essen besprechen will und nicht einfach morgen Früh beim Kaffee im Büro.“

„Denke ich auch. Ich glaube nicht, dass wir je außerhalb des Büros über einen Fall informiert wurden.“ Ich nahm ein T-Shirt aus meiner Tasche und zog es über das Bustier. „Solange ich nicht wieder so was wie das hier anziehen muss, bin ich dabei.“

Gavin lachte und bog auf die Straße ein. „Weißt du was, Vargas? Du wärst vielleicht nachts nicht so allein, wenn du so was öfter mal anziehen würdest.“

Ich bedachte ihn mit einem tödlichen Blick. Dann zog ich den Minirock aus und dachte über seine Worte nach. Zwar hatte er nur Spaß gemacht, doch war viel Wahres dran. Ich verbrachte die meisten Nächte allein. Meine letzte längere Beziehung war über ein Jahr her. Sie alle endeten aus demselben Grund: Ich war mit meinem Job verheiratet.

Die meisten Männer fanden meinen Beruf zunächst sexy. Doch schnell wurden sie abgetörnt, weil sie immer an zweiter Stelle standen. Letztendlich konnte ich es ihnen nicht verübeln. Wer wollte schon eine Beziehung mit einem risikobereiten Workaholic?

Ich verdrängte diese Gedanken und zog mir eine Yogahose über. Das Prostituierten-Outfit rollte ich zusammen und stopfte es in meine Tasche.

Das IHOP, das Peterson ausgesucht hatte, befand sich in einer besseren Gegend als die, in der wir gerade gewesen waren. Gleichzeitig lag es etwas außerhalb und es waren nicht viele Gäste da. Am Empfang bat Peterson um einen Tisch ganz hinten, weit fort von den anderen Gästen.

Ich setzte mich auf die Sitzbank neben Gavin, und Peterson nahm uns gegenüber Platz. Nachdem eine Kellnerin unsere Bestellung entgegengenommen hatte, öffnete Peterson seine Aktentasche und kam gleich zur Sache.

„Was wisst ihr über den MC der Hells Raiders?“

Allein bei dem Namen wollte sich mir der Magen umdrehen. Plötzlich war ich nicht mehr die selbstbewusste dreißigjährige ATF-Agentin. Sondern das achtjährige Kind, das durch das Autofenster blickte und einen Mann in Lederweste sah, der meinen Vater umbrachte und meine bis dahin perfekte Existenz zerstörte. Allein der Klang eines Motorrades löste das Trauma wieder aus. Natürlich wusste die Agency das nicht. Wenn man Fälle bearbeiten wollte, konnte man sich keine emotionalen Defizite leisten.

„Nie wirklich von denen gehört“, sagte Gavin und ich stimmte ihm nickend zu.

„Was das kriminelle Element von den One-Percentern angeht, hat deren Club in Georgia eine relativ kleine Mitgliederzahl. Die letzten zwei Jahrzehnte sind sie unter dem Radar geflogen. Verglichen mit vielen anderen Clubs bleiben sie ziemlich sauber, machen nur kleinere Waffengeschäfte ohne schweres Geschütz, ein bisschen Glücksspiel und betreiben einen Stripclub ohne Prostitution.“

„Wie löblich“, sinnierte ich.

Peterson lächelte leicht. „Wegen der Drogen und schweren Waffen, mit denen die Nordic Knights und Gangbangers aus Techwood handeln, lag unsere Aufmerksamkeit anderswo und die Raiders waren unsere Zeit nicht wert. Bis vor Kurzem.“

„Was hat sich geändert?“, fragte ich.

Peterson machte eine Pause, als die Kellnerin unsere Getränke brachte. Als sie gegangen war, sprach er weiter. „Es sieht so aus, als ob die Raiders eine Allianz mit dem Rodriguez-Kartell eingegangen wären.“

„Heilige Scheiße“, murmelte Gavin.

Ich stützte mich mit den Ellbogen auf dem Tisch auf. „Moment mal. Habe ich da nicht vor ein paar Monaten was flüstern gehört, dass das ATF mit Bikern zu tun hatte, als jemand hochgenommen wurde?“

Peterson nickte. „Ein früherer Lieutenant vom Rodriguez-Kartell ist überflüssig geworden. Ein Kerl namens Mendoza. Ein Krieg mit dem Präsident der Raiders, Nathaniel Rev Malloy, führte zu einer Entführung. Rev wurde von Mendoza gefoltert und angeschossen, hat sich aber wieder erholt. Zwischen den Zeilen der Berichte, die jetzt als streng geheim geschwärzt sind, habe ich gelesen, dass das alles auf der Entführung von Annabel Percy beruhte, die von den Raiders befreit wurde.“

Erstaunt hob ich die Augenbrauen. „Befreit? Sag nicht, dass die Raiders etwas auch nur annähernd Heldenhaftes getan haben.“

„Sie haben ihr Leben und den Club riskiert, indem sie die Tochter eines Clubmitglieds befreien wollten. Zwar kam die Tochter unglücklicherweise dabei um, aber sie konnten Annabel da rausholen.“

„Und in ihrer Zeit bei den Raiders kam sie ungeschoren davon?“, fragte ich skeptisch.

Peterson lachte in sich hinein. „Sie ist jetzt mit Rev verheiratet.“

Langsam schüttelte ich den Kopf. „Du sagst also, eine ehemalige Debütantin wie die Percy hat diesen MC-Abschaum geheiratet? Das muss ja ein enormes umgekehrtes Stockholm-Syndrom gewesen sein.“

Gavin sah mich skeptisch an. „Seit wann hasst du MC-Gangs derartig?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Das sind Kriminelle, die Frauen erniedrigen und ihre Gewalttaten mit ihrer angeblichen Liebe zu Motorrädern verschleiern.“

Ich wandte mich von Gavins Verhörton ab und widmete mich meinem Bacon-Cheeseburger, der inzwischen gebracht worden war. Zwar war Gavin mein bester Freund und kannte ein paar Details über den Mord an meinem Vater, doch ich hatte nie zugegeben, dass der Mörder ein Biker gewesen war.

Peterson räusperte sich. „Es geht darum, dass wir vor dem größten Waffenschieberfall meiner Laufbahn stehen könnten. Es handelt sich nicht um einen kleinen Deal mit niederen Kreaturen und Kriminellen. Sondern es geht darum, das Kartell mit Waffen zu versorgen, und zwar direkt vor unserer Haustür.“

„Ich nehme an, die Agency ist mit den üblichen Methoden wie Telefone abhören und Überwachungen nicht weitergekommen und will Agenten einschleusen. Stimmt’s?“, fragte Gavin.

Peterson nickte. „Diese Biker mögen nur kleine Gangster sein, aber sie sind schlau. Alles zwischen ihnen und dem Kartell passiert nur entweder persönlich oder per Wegwerfhandys.“

„Und wie kommen wir da ins Spiel?“, wollte ich wissen.

„Gavin, du bist in der Werkstatt deines Vaters aufgewachsen, oder?“

Bei der Erwähnung seiner Arbeiterherkunft verzog Gavin leicht das Gesicht. „Ja, mein Vater und mein Großvater waren Mechaniker. Ich habe immer ein bisschen mitgeholfen und kann ein paar Werkzeuge auseinanderhalten.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Aber ich weiß nicht, wie mir das in diesem Fall weiterhelfen sollte.“

Peterson blätterte durch die Akte und hielt dann inne. Er nahm ein Foto heraus und legte es auf den Tisch. „Das ist der Sergeant at Arms der Raiders. Benjamin Bishop Malloy.“

„Ui, eine Augenweide“, sinnierte Gavin und rieb sich die Stoppeln am Kinn.

Ich stieß ihn unter dem Tisch an. „Ich bin sicher, er spielt nicht in deinem Team.“

„Schade.“

Peterson rollte mit den Augen wegen uns. „Darf ich weitermachen?“

„Ja“, antwortete Gavin.

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