Berauscht vom Leben

Gary Davenport Brabander Ward, Larry und Barbara Meckel, Peter Westley –und ihrer Komplizin Jardine.

 

Jardine widmet dieses Buch all den Ravens, die ihr gezeigt haben, wie köstlich das Leben sein kann, und ihrer lieben Verbündeten Amanda.

Wir träumten davon, große Romanciers zu werden, hörten Johnny Thunders, Billie Holiday und Jimi Hendrix, saßen viel zu lange und weit über die Sperrstunde hinaus in Bars und wachten am nächsten Morgen mit brummendem Schädel und klopfendem Herzen auf. Wir wollten etwas Wahres und Schönes erschaffen, einen todsicheren Weg finden, dem Alltag zu entfliehen, denn wir wollten kreativ, anarchistisch und sinnlich leben.

Aber wir bissen uns die Zähne daran aus, dieses glorreiche Dasein mit zu viel Alkohol zu erreichen. Wir waren unserem Ziel damit nicht nähergekommen, sondern hatten uns immer weiter davon entfernt. Etwas musste sich ändern, und wieder suchten wir in Büchern nach Antworten. Wir fanden A Drinking Life von Pete Hamill; Drinking – A Love Story von Caroline Knapp, Blackout von Sarah Hepola und Lit von Mary Karr. Wir verschlangen

 

Wir wurden einander vorgestellt, weil wir beide Autorinnen sind, die keinen Alkohol mehr trinken. Als wir uns unterhielten, stellte sich heraus, dass wir größtenteils über dieselben Dinge nachdachten. Wir hatten das Trinken aus jeweils unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Wegen aufgegeben, doch wir fragten uns beide, wie abenteuerlich man nüchtern eigentlich sein konnte. So ein selbstzerstörerisches Leben war zwar nicht immer schön, aber wenigstens romantisch und glamourös, das wussten wir aus unzähligen Filmen und Romanen. Entweder man starb an seinen Dämonen, oder man schwor ihnen ab, fertig.

Aber was kam danach?

Wir redeten stundenlang, trafen uns bei Jardine im Garten oder spazierten um den Lady Bird Lake in Austin. Amanda weinte, während Loverman, Jardines Chihuahua, zusammengerollt neben ihr lag, sein Blick ebenso flehentlich wie Amandas Stimme. Wir trafen uns mit Gleichgesinnten, gingen Mittagessen. Tranken Kaffee und immer mehr Kaffee.

Wie ist das, wenn man auf Alkohol verzichtet – für

 

Das Oxford English Dictionary definiert »nüchtern« als »enthaltsam gegenüber Alkohol«, aber auch als »trist, sachlich, humorlos«. Doch wir haben überhaupt keine Lust, unser Leben lang ernst, bieder und vernünftig zu sein! Dass ein abstinentes Leben so aussehen könnte, hat uns jahrelang davon abgehalten, überhaupt darüber nachzudenken, auch wenn wir vom Gefühl her schon längst hätten aussteigen wollen.

Also mussten wir das Buch selbst schreiben, das wir brauchten, aber nicht finden konnten: Eine Gebrauchsanweisung für alle, die ohne Alkohol, aber nicht ohne Rock ’n’ Roll, Intensität und Schönheit auskommen wollen. Das aufregende Leben ist nicht vorbei. Unser Leben ist nicht vorbei.

In diesem Buch soll es darum gehen, den Rausch neu zu erfinden und zurückzugewinnen. Für uns und viele andere war es eine ziemlich einsame Sache, das mit der Abstinenz hinzukriegen, aber das muss nicht so sein. Wir zeigen euch, wie man einander Gesellschaft leistet, während man den Kurs ändert. Manche Geschichten hier handeln von Alkohol oder auch von seiner Abwesenheit, die meisten aber von Orchideen, Eiskrem, Bergen, Basilikum,

Auch wir haben mal geglaubt, Abstinenz bedeute, ohne etwas auszukommen, etwas aufzugeben, auf etwas zu verzichten, sich einen Ersatz zu suchen. Inzwischen heißt unsere Philosophie Überschwang und Ausgelassenheit. Und da sind wir nicht die Einzigen. Nicht alle Vegetarier bereiten noch Braten aus Tofu zu, viele servieren stattdessen wahre Festessen aus sonnenreifen Tomaten, Gartenzucchini, gerösteten Pinienkernen, Süßkartoffeln mit selbstgemachter Tahinsauce, gegrilltem Halloumi und Naan-Brot, gefolgt von Ingwersorbet mit Granatapfelkernen zum Nachtisch. Sie haben die Lust am Kulinarischen von Grund auf neu erfunden. Ein Freund von uns wollte kräftiger werden, aber nicht einfach nur auf Junk-Food und Zucker verzichten – er fing mit Kickboxen an, lernte vorzüglich kochen und fährt neuerdings jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit. Inzwischen ist er nicht nur kräftiger geworden, sondern auch viel lebendiger.

 

 

Berauscht vom Leben ist kein Sittenkodex, und wir sind auch kein Club. Es ist eine lose Sammlung von Ideen und Erfahrungen, an der sich jeder gerne bedienen darf. Es geht uns nicht darum, einen Kampf von Nüchternen gegen Trinker anzuzetteln. Niemand ist entweder drinnen oder draußen.

Wir haben uns entschieden, von »wir« zu sprechen, um so viele Leser wie möglich auf diese Reise einzuladen. Ein paar Geschichten handeln jeweils von einer von uns beiden, andere können auf jeden Menschen zutreffen.

Wir haben uns entschieden, mit dem Trinken aufzuhören, weil es aus ganz persönlichen Gründen einfach besser für uns ist. Ob sich jemand auch auf diesen Weg macht, ist nicht unsere Entscheidung, sie liegt bei jedem einzelnen. Wir wollen leben, wie es uns gefällt – und tatsächlich hat uns das überhaupt erst bewogen, nein danke zu Alkohol zu sagen. Scheiß auf den Gruppenzwang.

Genießen ohne Alkohol, das wollen die verschiedensten Menschen. Frauen wie Männer, alte und junge, aus allen sozialen Schichten, berühmte und anonyme Leute, manche ganz am Anfang, andere weise alte Veteranen, die uns weit voraus sind. Sie alle haben ihre ganz eigenen Gründe. Einige wollen nur mal probieren, andere sind seit Jahrzehnten nüchtern, wieder anderen geht es um Mäßigung, manche haben lebensbedrohliche Drogenkrisen hinter sich. Hier dürfen sich alle treffen. Niemand wird ausgeschlossen.

Das ist kein Buch mit allen Antworten, den richtigen Rezepten und therapeutischen Ratschlägen, und wir tun auch gar nicht erst, als wäre es eins. Wir sind Träumerinnen und Geschichtenerzählerinnen, die selbst Hunderte von Fehlern gemacht und mehr Fragen als Antworten haben. Für uns ist das Leben eine verrückte Reise, kein Zugfahrplan.

Auch wenn wir hoffen, euch mit diesem Buch zu erreichen, ist uns klar, dass ein Buch – egal welches – in den meisten Fällen nicht annähernd ausreicht, um nüchtern zu werden oder nüchtern zu bleiben. Schlagt also auf keinen Fall die vielen anderen Hilfsangebote aus. Das hier ist keine Entgiftungskur und auch kein 12-Schritte-Kurs, kein Therapeut und kein Sponsor. Für uns hat der Kontakt zu Gleichgesinnten eine wesentliche Rolle beim Nüchternbleiben gespielt. Und der steht allen zur Verfügung, online oder im echten Leben.

Dieses Buch ist ein Angebot, kein Lehrwerk. Tut einfach so, als würdet ihr das erste Mal in einen Badesee springen: Tief eintauchen oder nur einmal kurz reinhüpfen. Egal an welchem Punkt ihr euch in eurem Leben befindet, wir hoffen, dass ihr etwas mitnehmen könnt. Manche Menschen kommen erst durch die sogenannten Mocktails wieder auf den Geschmack; wenn ihr das befürchtet, überspringt bitte das Kapitel »Im Glas« und auch das letzte mit den Rezepten für alkoholfreie Drinks. Schließlich wollen wir nicht unseren alten Gewohnheiten nachhängen, sondern essen und trinken einfach sehr gern. Aber so geht es uns. Wir respektieren jeden einzelnen Leser, jeden einzigartigen Weg.

 

Willkommen also, liebe Leser, in einer Geschichte, die weniger davon handelt, was wir verloren haben, als von dem,

Ob ihr hier richtig seid? Setzt euch einen Moment auf unser durchgesessenes schwarzes Samtsofa, es gibt Ginger-Beer und Kuchen, und wir legen eine Platte auf. Nehmt euch Zeit und entscheidet selbst.

Fragt ihr euch, ob ihr heute Abend ohne Alkohol vielleicht zufriedener wärt? Seid ihr schwanger und sucht neue Wege, euch zu amüsieren? Verzichtet ihr schon seit zehn Jahren auf Alkohol? Habt ihr euch vorgenommen, den ganzen Januar nichts zu trinken, oder wollt ihr einen sober October einlegen – einen Monat ohne Zucker und Alkohol? Seid ihr neugierig darauf, wie es sich ausschweifend, verrucht, wild und glamourös leben lässt – ohne den Kater und die Reue? Habt ihr Kinder und wollt mehr für sie da sein? Googelt ihr hin und wieder: »Bin ich Alkoholiker:in«? Macht ihr gerade Karriere und wisst trotzdem nicht, wo ihr im Leben steht? Seid ihr Single und habt keine Ahnung, wie man nüchtern jemanden daten soll? Oder trinkt ihr häufig zusammen mit eurem Partner? Seid ihr allein mit eurer Unsicherheit und fragt euch, ob andere Menschen über dieselben Dinge nachdenken? Seid ihr Studenten und neugierig auf euer künftiges Leben? Trinkt ihr, weil ihr keine Spielverderber sein wollt, obwohl euch gar nicht klar ist, was daran Spaß machen soll? Habt ihr Angst,

Herzlich willkommen.

Für euch haben wir dieses Buch geschrieben.

Amandas Geschichte

Als ich aufwachte, hatte ich immer noch mein Silvesterkleid an. Mein kleiner Sohn schlief neben mir, und meine Jade-Ohrringe waren weg. Ich schaute auf beide Nachttische, entdeckte aber nur Bücher und ein halbvolles Glas Chardonnay. Am Abend zuvor hatte ich eine Party gegeben, erinnerte mich vage, dass vor Mitternacht Feuerwerk gezündet worden war. Danach an nichts mehr.

Schlaf erfüllte das perfekte Gesicht meines Sohnes. Durch das Fenster fiel das Licht der Sonne von Colorado, es wirkte fast fahl auf dem Schnee. Beklommen versuchte ich festzustellen, wo meine Ohrringe abgeblieben waren. Sie waren groß und auffällig – triumphal. Ich hatte sie mir selbst zu Weihnachten geschenkt.

Ich warf meinen Morgenmantel über das silbrige Samtkleid, zog den Gürtel fest. Meine Haare rochen noch nach der schicken Frisur, die ich mit Aqua Net fixiert hatte, als ich mich am frühen Abend für die Party zurecht gemacht und dabei Wein aus einem großen Glas getrunken hatte. Einer meiner schwarzen hohen Schuhe lag neben dem Bett. Panik stieg in mir auf, als ich mich nach dem anderen umschaute, aber ach, da lag er ja, an der Tür.

Ich sah nach meiner kleinen Tochter, die in ihrem

Diesen Schrecken hatte ich häufig gegoogelt – war es irgendeine chemische Reaktion, weil der Chardonnay in meiner Blutbahn schlecht geworden war? War ich Alkoholikerin? Musste ich mit dem Trinken aufhören? Für immer? (Am liebsten möchte ich meinem armen verzweifelten Teenager-/College-/Erwachsenen-Ich heute zurufen: Wenn du solche Fragen googelst, dann lautet die Antwort ja. Einfach ja. Du musst nicht aufhören, aber du liebe Güte, du darfst!)

Ich war neun Jahre alt, als ich einen Fragebogen auf der Rückseite einer Broschüre der Anonymen Alkoholiker beantwortete und meinem Vater anschließend erklärte, dass er Alkoholiker sei. Ich weiß noch, wie ich neben dem Schrank stand, wo er seine Jack-Daniels-Flaschen aufbewahrte. Meine beiden jüngeren Schwestern und ich hatten eine Heidenangst vor ihm: Ich wusste nie, wann er uns anschreien würde, nur weil wir mal wieder die verdammte Treppe hinaufgerannt waren; wann er mir schmerzhaft auf die Schulter klopfen und mich fragen würde, wie man sich so als Versagerin fühlt; oder wann er uns schlagen würde, weil er uns für verhätschelt hielt. In mir lebt immer noch das kleine Kind von damals. Es hat eine solche Angst vor ihm, dass mir noch heute schlecht davon wird. Manchmal zittere ich, wenn ich an diese Zeit denke. Dabei kann ich mich gar nicht mehr an so viel erinnern.

 

 

Wenn es darum ging, nach einem Blackout meine eigenen Spuren zu verfolgen, war ich eine miserable Detektivin. Was hatte ich am Abend vorher getan? Würden meine Ohrringe unter dem Bett eines Mannes auf der anderen Seite der Stadt gefunden werden? Hatte ich zu meinem Mann etwas gesagt, das er mir niemals mehr würde verzeihen können? Als ich letztens mal wieder unterwegs gewesen war, bestand ich darauf, mir vom Barmann noch einen »doppelten Chardonnay für unterwegs« geben zu lassen. Später postete jemand ein Foto von mir auf Facebook, auf dem ich der Kamera lachend mit einem großen Bierbecher zuproste. Ich erinnere mich nicht, wie das Foto entstand. Auch nicht daran, einen doppelten Chardonnay bestellt zu haben. Auf dem Bild, das bin ich, aber irgendwie auch nicht. Nur – wer ist es dann?

In den Augen der anderen ging es mir gut. Über mehrere Monate hinweg trank ich ganz normal, abends ein bis zwei Gläser Wein oder auch mal gar nichts. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, irgendwann übertrieb ich es doch wieder. Später bezeichneten abstinente Freunde dies als meinen Versuch, die »dritte Tür« zu finden – wenn man nicht aufhören will, es einem aber auch nicht gelingt, sich zu mäßigen. Als ich schließlich akzeptiert hatte, dass es für mich keine dritte Tür gibt, eröffnete sich mir ein neues Leben.

Sie sah mich zweifelnd an und fragte: »Mama, können wir was lesen?«

Ich schenkte mir heißen Kaffee in einen Becher, setzte mich damit ins Wohnzimmer. Meine Tochter kuschelte sich an mich, Daumen im Mund, ihre Wange lag auf dem elfenbeinfarbenen flauschigen Besatz meines Morgenmantels. Als ich Madeleine aufschlug und vorlas, wachte erst der eine, dann auch der andere Sohn auf, und beide kamen zu uns. Und plötzlich war ich da: die Mutter, die ich so furchtbar gerne sein wollte.

Ich schwor mir, ich würde niemals, absolut nie und unter gar keinen Umständen, noch einmal mehr als vier Gläser Wein an einem Abend trinken.

Und brach meinen Schwur schon im Februar.

Und auch während ich dies tippe, habe ich Lust auf ein Glas Chardonnay.

Meine Jade-Ohrringe habe ich übrigens nie wiedergefunden.

 

Als ich fünfzehn war, wurde mein Vater trocken. Zum Schluss war sein Kampf das größte Geschenk, das er mir je machen konnte: durch die Einsicht, dass Alkohol das Herz zerstört, und indem er ein lebendes Beispiel dafür wurde, dass man in die Freiheit durchbrennen kann.

 

Am fünfzehnten Geburtstag meines ältesten Sohns hatte ich die Suche nach der dritten Tür aufgegeben und bereits seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr getrunken. Nachdem wir

Ich schaute auf.

»Ich geh ne Runde laufen. Kommst du mit?«

Früher hätte ich träge erwidert: »Ich bin schon im Schlafanzug.« Außerdem hatte ich um acht Uhr abends normalerweise schon drei Gläser Chardonnay intus. Aber jetzt klappte ich mein Buch zu, verlor die Stelle, an der ich stehengeblieben war, warf die Decke zurück und sagte: »Warum nicht?«

Die Sonne stand tief am Himmel. Gerade erst war ein Gewitter über uns hinweggezogen, es war kühl, der Abend roch nach warmem Asphalt und Magnolien. Mein Sohn war Crossläufer und schnell. »Lauf ruhig vor«, sagte ich. Er nickte und fand sein Tempo.

Fünfzehn Jahre nachdem ich ihn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, sah ich ihm jetzt hinterher. Ich nahm das Tempo raus, fing an zu gehen, blieb stehen, überwältigt von einer schlichten, friedlichen Ruhe. Mein Sohn würde bis ans Ende der Straße laufen, kehrtmachen und zurückkommen. Ich würde da sein, mit heißen Wangen und Tränen in den Augen – und er würde beim Anblick seiner Mutter lächeln.

Die Angst der ersten nüchternen Monate, die anstrengende Wandlung, jemand anderer zu sein, die verwirrende Erfahrung, sich mitten im Leben ein neues Umfeld suchen zu müssen, und die Nächte, in denen ich einfach nur wahnsinnig gerne einen einzigen Schluck oder am liebsten gleich

Über mir tauchte der Mond auf, und ich wusste: Dafür hatte ich all das getan.

Jardines Geschichte

August auf Long Island. Ich bin sieben Jahre alt und stehe mit meiner Familie am Hafenanleger; wir steigen einer nach dem anderen auf unser Boot, um rüber nach Fire Island zu fahren und mit befreundeten Familien dort vor Anker zu gehen, den ganzen Sonntag lang zu schwimmen, Schinkensandwiches zu essen und Strandglas zu suchen. Der Himmel ist diesig, die Sonne steht tief am Himmel. Die Mütter – riesige Siebzigerjahre-Sonnenbrillen auf der Nase – zünden sich Zigaretten an, unterhalten und sonnen sich auf den Booten. Die Väter sind Cowboys, sie stehen bis zur Taille im schillernden Glanz der grauen Bucht, prosten sich mit Bierflaschen zu.

Nach dem Mittagessen spazieren alle einmal quer über die schmale Insel auf die Ozeanseite, wo wir Kinder stundenlang in der Brandung surfen, uns auf den Wellen hochtragen, fallen und herumschleudern lassen, danach luftschnappend wieder auftauchen. Als die Sonne untergeht, milchig und pink, tuckern wir auf dem dickbäuchigen alten Kahn heimwärts – jeder allein mit seinen Gedanken, müde, aber zusammen. Am Ufer stakst ein Reiher geziert durch Seetang und Treibholz in die Abenddämmerung davon. Später im Bett schließe ich die Augen und sehe nichts als

 

Dann bin ich fünfzehn und baue mit meinen Freundinnen ein Baumhaus im Wald. Wir wollen an diesem blauen Herbstnachmittag dort abhängen, Camel Lights rauchen und jede für sich ihr Notizbuch vollschreiben. Das Laub um uns herum ist bereits grellorange und gelb. Wir trinken noch nicht, nehmen keine Drogen, wir schreiben nur Gedichte und listen absurde Dinge auf, schreiben immer und immer wieder Prince-Texte ab, verewigen »Starfish and Coffee« mit seinen Butterscotch Clouds und unsere magisch befreiten Gedanken in unseren Tagebüchern. Meine Freundinnen und ich, in Flanelljacken, Basecaps und zerrissenen Jeans, probieren Kautabak und lachen, bis wir beinahe aus dem Himmel fallen. Wir wollen alle dasselbe: unseren Geist befreien, wild sein. Sternschnuppen werden, uns Reißzähne wachsen lassen und durch die Nacht tigern, geliebt werden, durchdrehen. Wir sind in dem Alter, in dem jedes einzelne unserer Moleküle lichterloh zu brennen scheint. Wir behelfen uns mit Charles Bukowski, Anaïs Nin und Comics, mit Witzen und Frotzeleien, wir nehmen unzählige Mixkassetten mit Songs von den Rolling Stones, Bad Brains und Joan Jett auf. Wir sind Außenseiter und anders als die anderen, aber echte Freundinnen füreinander. Nichts ist wichtig außer diesem Nachmittag unter strahlend blauem Himmel.

 

 

Sprung in einen anderen Club – den Bungalow 8 in New York City. Downtown, West Side. Inzwischen bin ich dreißig, und gerade ist mein erster Roman erschienen, den ich nachts schrieb, während ich in Manhattan jobbte. Heute Abend findet die Party anlässlich seiner Veröffentlichung statt, und die Leute sind in die Bar gekommen, um zu tanzen, zu trinken, zu flirten, zu lachen und mit mir zu feiern. Ein Traum ist für mich wahr geworden, oder? Besser als

 

Mit achtunddreißig ziehe ich nach Texas. Irgendwo in meinem dumpfen Hinterkopf hoffe ich, dabei ein paar meiner Süchte hinter mir zu lassen. Mein Haus ist ein alter Bungalow, im Garten wachsen Rosen, Jalapeños, Amaryllis und Jasminsträucher. Der Duft eines Neuanfangs. Ich stehe mittendrin, der goldene Morgen berührt mein Gesicht wie die Hand einer Mutter, sagt mir, hier könnte ich glücklich sein. Ich fühle mich willkommen. Und ich tauche ein in die Stadt, ich habe wirklich Spaß und liebe diese neue Welt mit Cowboys, Motorrädern, Dancehalls und ungenierten Originalen. Aber sonst? Sonst ist alles wie immer, einfach weil ich denke, dass man das so macht. Nach wenigen Monaten

 

Ich bin einundvierzig und arbeite ehrenamtlich in einem texanischen Frauengefängnis, wo ich der Graduiertenfeier eines Literaturstudiengangs beiwohnen soll. Drinnen sind keine Telefone erlaubt, keine Portemonnaies, keine Stifte, nicht mal Lippenbalsam, nichts außer uns selbst. Am Eingang werden unsere Ausweise kontrolliert. Die Wände sind bemalt, und es riecht nach billigem Putzmittel, nach Bohnen und Reis. Wir kommen in der Sporthalle zusammen, es gibt keine Klimaanlage, ein Ventilator dreht sich langsam, und als ich meinen Klappstuhl zurechtschiebe, hallt das Geräusch durch den riesigen Raum. Die inhaftierten Frauen kommen im Gänsemarsch herein, tragen Uniformen, wir sehen sie an, und sie sehen uns an. Körperkontakt ist verboten.

Seit beinahe zwei Jahren bin ich jetzt nüchtern und sehe alles aus einer anderen Perspektive. Was ich von diesem Tag halten soll, weiß ich allerdings noch nicht genau. Ich war noch nie in einem Gefängnis. Kenne hier niemanden. Die

Die Frau steht auf, weiße Sneaker, ein einzelnes mit Kugelschreiber beschriebenes Blatt zittert sichtbar in ihren Händen, sie räuspert sich; wir warten, im Publikum hustet jemand, dann Stille. Die Frau beginnt zu sprechen, sagt uns, wer sie ist, erzählt Geschichten über BMX-Räder und große Brüder, Eiskrem und erste Liebe, dreibeinige Katzen und Großmütter, Autounfälle und Prügeleien, Aushilfsjobs in Küchen, das Kinderkriegen, Valentinskarten und Kredite. Mein Herz klopft, im Raum wird es stickig vor lauter Leben, die Luft ist zum Schneiden, es ist heiß. Alle schwitzen unter der drückenden Erkenntnis, dass wir einander doch kennen, jede Einzelne die andere.

 

Sechsundvierzig Jahre alt, sieben Jahre nüchtern, lebe ich heute in einem kopfstehenden Wunderland aus Highways, Feigenbäumen, Kinos, Kolibris und Surfboards: Los Angeles.

Ich habe keine verfluchte Ahnung, was ich tue, aber ich tu’s. Gertrude Stein hat gesagt: »Du siehst blöd aus, wenn du tanzt. Du siehst blöd aus, wenn du nicht tanzt. Also kannst du ebenso gut auch tanzen.« Ich bin mit meinem Mann hergezogen, wir leben in einem schiefen Haus aus Stahl und Beton neben dem Elysian Park, vor der Haustür wächst ein Zitronenbaum. Ich schreibe für Film und Fernsehen, arbeite mit Regisseuren und Schauspielern zusammen, feile tage- und nächtelang wie im Fieber an Storylines und Figuren. Hier brodelt es nur so vor neuer Kunst und Möglichkeiten, alten Geschichten und mythischen Wesen.

Pitch-Meeting in einem Konferenzraum aus Glas und Chrom im vierundzwanzigsten Stock, meine Nerven liegen blank. Plötzlich erzähle ich den Anwesenden eine eigenartige und dunkle Geschichte. Als würde ich einen Traum oder ein Geheimnis verraten. Die anderen kommen auch mit ihren Ideen, Sachen, die sie ganz für sich allein zusammenphantasiert haben, werden nun allgemein zur Diskussion gestellt. Wir reden und debattieren, die Unterhaltung zerfasert kurz und fügt sich dann wieder zusammen. Das Projekt wird wie ein Neugeborenes in den Arm genommen und hin und her gewiegt, es bekommt einen Namen, und jeder erklärt seine Vorstellung davon, wie man es großziehen müsste.

Während sich das Gespräch weiterdreht, blicke ich unwillkürlich auf die Panoramalandschaft, unzählige helle Gebäude, Palmen, Berge in der Ferne, Wolken, die sich nicht bewegen. Ganz schön unheimlich, so weit oben in diesem unbekannten Raum zu schweben. Aber genau hier bin ich wie elektrisiert, wild, frei. Hier erinnere ich mich mit jeder Faser meines Körpers, wie es damals war, als Mädchen auf einer schäumenden brechenden Welle zu reiten, Teil des Ozeans zu sein – ich hatte Angst und wusste nichts, aber ich war so lebendig.

I swim in a shaf‌t of light, upside down,

and I can see myself clearly,

through and through, from every angle.

Perhaps I stand on the brink of a great discovery …

Jamaica Kincaid

Früher wurde der Neujahrstag häufig von dem langen übermächtigen Silvesterabend überschattet. Wir wachten um vier Uhr nachmittags auf, kratzten uns das Make-up vom Gesicht und schleppten uns zu einem späten Brunch oder frühen Abendessen mit Freunden, die noch Konfetti im Haar und wilde Geschichten zu erzählen hatten. Oder wir standen unanständig früh auf, weil die Kinder nicht zur Schule mussten und vorgelesen bekommen oder zu Freunden gefahren werden wollten. All das mit roten Augen und hektisch rotierenden Gedanken daran, was in der Nacht zuvor wohl geschehen war. Irgendwie kaputt, aber auch herrlich. Es ist eine amerikanische Tradition, dass man den ersten Tag eines funkelnagelneuen Jahres vollkommen fertig begeht. Vielleicht glauben wir an die Zerstörung des eigenen Ichs, damit sich ein neues wie ein Phönix in den fahlen Winterhimmel erheben kann. Aber verdammt, gibt’s keine andere Möglichkeit? Müssen wir, wenn wir nüchtern sind, immer höflich und vernünftig sein? Oder können wir einfach darauf pfeifen?

Eine Antwort: das Eisbärbad am Neujahrsmorgen. Man wacht klar und ausgeschlafen auf, ist sich des Neuanfangs bewusst, der noch leeren ersten Seite im Kalender. Bikini oder Badehose verschwinden unter dicken Klamotten und

Zu Hause angekommen, macht man ein Feuer. Jede einzelne Zelle des Körpers strahlt.

Früher gehörte ein bisschen Großtun zum Neujahrstag dazu, Heldengeschichten nach einer langen aufregenden Nacht, und daran ist auch nichts verkehrt. Aber mit einem Sprung in eiskaltes Wasser kann man genauso gut angeben. Beginnt den Januar mit ein bisschen Masochismus und einer großen Portion Stolz, esst danach die Reste vom chinesischen Takeaway oder von den Pfannkuchen, und ihr werdet merken, dass ihr ganz und gar nicht bezwungen seid, sondern stärker denn je. Alles kribbelt, und ihr seid bereit für das, was kommen mag.

Vor ein paar Jahren postete Jardines Freundin Emily ein Foto, auf dem sie mit Helm und Lederjacke neben einem großen, starken Monster von einem Motorrad zu sehen ist – das Bike und sie funkelten auf dem Seitenstreifen eines kalifornischen Highways in der goldenen Sonne, und Emily lächelte irgendwie eigenartig und schön. Sie war einem Motorrad-Club nur für Frauen beigetreten, einer Gruppe von Bikerinnen, die an jeweils einem Wochenende im Monat die Straßen eroberten, gemeinsam Ausflüge unternahmen, das Zelt im Gepäck.

Jardine horchte sie über die Einzelheiten aus. Hast du keine Angst? Wer sind die anderen Frauen? Wie hast du sie gefunden? Wo hast du Fahren gelernt? Emily muss die Ausflüge neben ihrer Arbeit einplanen und kann nur weg, wenn ihr Exmann ihre Tochter übernimmt, wodurch ihr nicht viel Spielraum bleibt. Aber es reicht. Ihr Lohn sind blauer Himmel, neue Freundinnen mit faszinierenden Geschichten und ein enormer Adrenalinkick. Sie ist zu einer Entdeckerin geworden, der die Zeit wie im Flug vergeht.

Jardine sah, was ihre Freundin da machte, und plötzlich sprang auch für sie eine Tür sperrangelweit auf. Mag sein, dass sie nicht gleich morgen loszieht und sich ebenfalls eine gebrauchte Ducati kauft, aber die Saat fiel auf den

Früher waren wir voller Sorge: Was sollen wir machen, wenn wir keinen Alkohol mehr trinken? Niemand wird sich mit uns abgeben wollen, wir werden allein sein und uns langweilen, ausgeschlossen von jedem Spaß. Als wir unsere Scheuklappen abnahmen, entdeckten wir plötzlich überall Menschen, die uns auf unglaubliche Ideen brachten, wir hatten sie vorher nur nicht bemerkt. Wir mussten sie erst sehen wollen.

Jardines liebe Freundin Justine hat ihr vieles beigebracht – aber eine Erkenntnis übertrifft alle anderen: Ein Abendkleid ist glamouröser, wenn man damit wenigstens einmal über einen Zaun gesprungen ist, oder es Flecken bekommen hat, weil man um Mitternacht unbedingt Kirschen essen musste; eine Party, über die ein Gewitter hereinbricht, kann viel prickelnder und großartiger sein, wenn sich alle ins Haus drängen und von Blitz und Donner in helle Aufregung versetzen lassen.

Mit anderen Worten: Das Nicht-Perfekte ist bezaubernd. Zu viel Kontrolle und Genauigkeit sind wie Desinfektionsmittel für die Liebe.

Das japanische Konzept des wabi-sabi gewinnt für uns immer mehr an Attraktivität. Es bestärkt uns in dem, was wir tun, weil wir damit spirituelle Blessuren und Prellungen unserer Ernüchterung akzeptieren (und möglicherweise sogar begrüßen) können. Das Konzept ist komplexer, aber im Kern bezeichnet wabi-sabi den Versuch, jeden Gegenstand als schön zu betrachten – nicht, obwohl er unbeständig ist, sondern eben, weil er es ist. Auch Kintsugi will uns etwas Ähnliches verdeutlichen: Bei dieser japanischen Methode wird beispielsweise eine kaputte Vase instandgesetzt, und zwar mit goldenem Kitt, so dass die Bruchstelle immer

Manche Menschen hören vor allem deshalb mit dem Trinken auf, weil sie besser aussehen wollen. Zu denen gehören wir nicht. Wir sind glücklich und zufrieden, wenn man uns am Ende unserer Zeit auf Erden ansieht, wie abgerissen und verbraucht wir sind. Wir hätten auch nichts gegen ein kürzeres Leben, wenn es dafür ein umso tieferes, reicheres, ehrlicheres, mit Edelsteinen geschmückteres, schockierenderes (je nachdem, wohin es uns gebracht hat), vorzüglicheres (je nachdem, wen wir lieben durften und von wem wir geliebt wurden), unvollkommeneres, eigenwilligeres, ja sogar chaotischeres oder einsameres war. Wir haben mit dem Trinken aufgehört, um tiefer zu empfinden, um Risiken einzugehen. Nicht weil wir ewig leben, sondern weil wir uns lebendig fühlen wollen.

Nachdem wir jahrelang wie die Wilden bis in die frühen Morgenstunden gefeiert haben, können wir jetzt mit einem guten Gefühl die Sonne aufgehen sehen. Unglaublich. In unseren schönen Köpfen hat sich neben so einigem anderen auch festgesetzt, dass der Sonnenaufgang mit Traurigkeit verbunden ist, und irgendwann ließ sich daran nicht mehr rütteln.

Uaahhh. Manchmal wird Jardine bei der Erinnerung heute noch mulmig – dieses Gefühl, wenn man aus der Bar oder dem Club in den trüben Morgen hinaustritt und in ein Taxi steigt. Irgendwie ist es einem peinlich, dass der Fahrer einen so sieht, und dann kommt sie, die spektakulär große Woge aus Depressionen, und man will nur noch nach Hause. Auf dem Weg dorthin ist alles um einen herum bestens ausgeleuchtet, weil die gottverfluchte Sonne bereits am Himmel steht.

Schon komisch, dass etwas so Herrliches, das eigentlich spirituelle Ehrfurcht erzeugen sollte, zu etwas so Feindlichem werden konnte. Wenn Jardine nach einer langen Nacht die ersten Vögel zwitschern hörte, hatte sie die Vögel wirklich gehasst. Aber wer bitte hasst denn Vögel? Sie hat die Sonne gehasst. Den Tag. Eines Morgens musste Jardine sich in Downtown Manhattan einen Weg durch eine

Es schien ein fairer Tausch – die Nacht gegen den Tag. Die darauf folgende Depression war nun mal der Preis für den ausgelassenen Spaß. Und manche Nächte waren es wirklich wert, kein Zweifel. Aber es gab auch viele, für die das nicht gilt.

Es dauerte Jahre, bis wir uns wieder in den Sonnenaufgang verlieben konnten, ihn nicht mehr als eine Strafe, ein Symbol unseres schlechten Gewissens oder eine vage Bedrohung betrachteten.

Jetzt kann er ein Augenblick voller Hoffnung sein. Ein Bad im Licht. Und in der Stille.

Und der Zeitpunkt ist perfekt, um konzentriert zu arbeiten. Kurz bevor die E-Mails hereinströmen, wenn die Kinder aus dem Haus und in der Schule sind, wenn es ganz ruhig ist im Haus, dann bekommen die Gedanken und Ideen Raum, sich zu entwickeln und sich auf der noch unbeschriebenen Seite zu verbreiten. Früher hatten wir Leute damit angeben hören, dass sie kurz vor Morgengrauen aufstehen, um zu schreiben, hatten dabei zähneknirschend gelächelt und gedacht: Wirklich? Wie schön für dich. Ich hoffe, du fällst tot um. Dabei war für uns allein die Vorstellung schon erschreckend, wir könnten möglicherweise

Jardine hat einen Freund, ein taffer Typ mit Riesenarmen, Bart und Lederweste, der einmal im Jahr in die texanische Wüste fährt und dort drei Tage und Nächte allein und ohne Zelt verbringt, um spirituell wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Bei seiner Rückkehr spricht er immer sehr liebevoll darüber, wie es ist, wach zu sein und die Sterne zu betrachten, Nachttiere zu beobachten und dem Geruch der Luft nachzuspüren, einzuschlafen und aufzuwachen, wenn die Sonne die Dunkelheit am violett-schwarzen Horizont vertreibt. Davon, wie es sich anfühlt, wieder ein Teil von allem zu sein.

Jardine wohnte einmal im Sommer auf einer Insel vor Maine in einer Künstlerresidenz. Ein Maler dort beschloss, eine Nacht allein aufzubleiben und spazieren zu gehen, Skizzen und Fotos von den mondbeschienenen Wäldern, dem Ozean und der aufgehenden Sonne zu machen, von allen atmosphärischen Veränderungen der Landschaft. Es hatte etwas Anarchistisches, einfach Tag und Nacht zu vertauschen. Danach war er ein paar Tage ein bisschen verpeilt und kam sich komisch vor, wie neben der Spur, durcheinander. Ein kleiner Spalt hatte sich aufgetan und neue Rätsel und Ideen zum Vorschein gebracht.