Stefan Rebenich

Die
Deutschen
und ihre
Antike

Eine wechselvolle Beziehung

Klett-Cotta

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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

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Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-96476-9

E-Book ISBN 978-3-608-12093-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Wolfram Kinzig & Christoph Riedweg

amicis carissimis
collegis doctissimis
sodalibus sexagenariis

Zur Einleitung

1. Gegenstand und Erkenntnisinteresse

Jacob Burckhardt(1) zeigte sich beeindruckt von dem dorischen Tempel, der den Umschlag dieses Buches ziert. Allerdings missfiel dem Basler Historiker, wie er 1877 notierte, der »infame Treppenaufgang«, der viel zu groß geraten sei und den man auf die Rückseite hätte verlegen müssen. Jetzt könne man nur noch »an den Treppenmauern Efeu pflanzen«.[1] Noch sarkastischer hatte mehr als drei Jahrzehnte früher Heinrich Heine(1) über das riesige Monument geurteilt: Er nannte es schlicht »eine marmorne Schädelstätte«, erbaut von einem »Affen« allein »für deutsche Helden«.[2]

Objekt des Spottes ist eines der bekanntesten nationalen Denkmäler Deutschlands aus dem 19. Jahrhundert: die Walhalla bei Regensburg.[3] Ihr Architekt Leo von Klenze(1) hatte 1836 die »Ansicht der Walhalla« mit Öl auf Leinwand festgehalten. 1807 vom damaligen bayerischen Kronprinzen Ludwig(1) geplant, konnte nach endlosen Diskussionen mit dem Bau erst im Jahr 1830 begonnen werden. Finanziert wurde das Projekt aus dem Privatvermögen Ludwigs, der seit 1825 auf dem bayerischen Thron saß. 1842 weihte man mit großem Pomp den »Ehrentempel für die großen Männer der Nation« ein,[4] die im Inneren durch 96 Büsten und 64 Gedenktafeln gegenwärtig waren. Der germanische Name, der sich von der »Halle der Gefallenen« in der nordischen Mythologie ableitete, stammte von dem Schweizer Johannes von Müller(1), der für die Erinnerung an den Rütlischwur gesorgt hatte und selbst durch eine Büste verewigt wurde. Ohnehin bestimmte in diesem gesamtdeutschen Denkmal die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation über die Aufnahme in den hehren Kreis, und so wurden außer Eidgenossen wie Nikolaus von der Flüe(1) und Aegidius Tschudi(1) auch Wilhelm von Oranien und Katharina II.(1) berücksichtigt. Nur Luthers Büste, die bereits früh angefertigt worden war, fehlte zunächst; der reformatorische »Dickkopf«, wie Heine(2) lästerte, passte dem katholischen Monarchen nicht. Erst Ende der vierziger Jahre, als die konfessionellen Spannungen nachließen, fand er Einlass in die Ruhmeshalle.

Von Anfang an prominent vertreten waren die bekannten Gestalten der germanischen Frühzeit; ob cheruskischer, markomannischer, gotischer, vandalischer oder fränkischer Herkunft, sie alle wurden kurzerhand zu Deutschen erklärt. Natürlich begann die Reihe mit Arminius(1) alias Hermann, dessen Sieg über die Römer im Teutoburger Wald aus dem Jahr 9 n. Chr. auf einem äußeren Relief an einer Giebelwand dargestellt war. Deutschlands Kampf um Freiheit, so lautete das historische Narrativ, nahm seinen Anfang in den germanischen Wäldern. Auf dem gegenüberliegenden Giebel ist denn auch die Siegesfeier in den Befreiungskriegen gegen Napoleon(1) zu sehen. Wulfila(1), Alarich(1) und Athaulf(1) sind ebenso präsent wie Geiserich(1), Chlodwig(1) und Theoderich(1) der Große. Nicht nur Heerführer und Politiker, sondern auch Dichter und Denker, Bischöfe und Heilige haben Aufnahme gefunden. Auch einiger Frauen, die deutsche Kultur stifteten und sich durch christliche Tugenden auszeichneten, wurde gedacht; so sind im Inneren Tafeln für Hrotsvit(1) von Gandersheim, Hildegard von Bingen(1) und Elisabeth von Thüringen(1) angebracht.

Platziert wurde das Denkmal auf einer natürlichen Anhöhe in einer romantischen Landschaft. Auf dem Gemälde sind die Donau und Ausläufer des Waldes sowie die neugotische Salvatorkirche und die Ruine der Burg Donaustauf zu erkennen. Der deutsche Gedenkort liegt außerhalb des städtischen Getriebes des nahen Regensburg und grenzt sich scharf ab von urbanen Erinnerungsstätten wie dem Pantheon in Rom oder in Paris. Ein vergleichbares politisches Zentrum hatte Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Also verlegte Ludwig(2) das nationale Heiligtum in die freie Natur.

Für das Monument ist jedoch keine deutsche Formensprache verwendet. Stattdessen wird die griechische Tempelarchitektur aktualisiert: Die Ruhmeshalle erhebt sich im strengen dorischen Stil und erinnert den Betrachter an den Parthenon auf der Athener Akropolis. Die mächtige Substruktion zeigt zudem Anklänge an ägyptische und vorderorientalische Bauten. Der bayerische König(3) war ein begeisterter Philhellene, der sein Königreich »Baiern« mit Hilfe des griechischen Buchstabens Ypsilon in das Königreich »Bayern« verwandelte. Seine Stararchitekten Leo von Klenze(2) und Friedrich von Gärtner(1) beauftragte er, die Residenzstadt München im Geiste des Klassizismus umzugestalten. Die Ästhetik des griechischen Tempelbaus war im bayerischen Königreich omnipräsent und bildete einen integralen Bestandteil der monarchischen Repräsentation. Die Monumentalarchitektur bei Donaustauf erinnerte an die Größe und Schönheit der griechischen Vergangenheit, die ihre Fortsetzung in deutschen Landen fand. Zugleich nobilitierte der Rekurs auf klassisch-antike Formen die geehrten Deutschen. Denn »mit der griechischen Form« wurde »an die ideale Ausprägung der Humanität erinnert«: Die Nation stand »in einer unlösbaren Beziehung zum klassischen Ideal des Griechentums«; »die Synthese von Nationalität und universaler Humanität«, welche die Griechen repräsentierten, war »hier noch ungebrochen wirklich.«[5]

Die patriotische Erinnerungskultur, die auf die großen Gestalten des Vaterlandes fokussiert war, bediente sich eines antiken Tempels, um mitten im christlichen Abendland ein säkulares Heiligtum zu schaffen, das den Kampf für die nationale, nicht die bürgerliche Freiheit für die Zeitgenossen und die folgenden Generationen rühmte. Unterschiedliche welthistorische Räume und Zeitschichten sind in diesem Heiligtum an der Donau miteinander verbunden. Frohen Mutes blickte man in die Zukunft, in der Deutschland als eine Nation hervortreten sollte, deren Fundamente die eigene Kultur, Humanität und Geschichte bildeten. Auch in Donaustauf wurde die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen »zum Grundraster, das die wachsende Einheit der Weltgeschichte seit dem 18. Jahrhundert fortschrittlich auslegte«.[6]

Voller Optimismus vertraute man auf einzelne Individuen, deren zeitloses Andenken in Stein gemeißelt war. Ihre jeweiligen Botschaften zu entschlüsseln, war nicht jedem gegeben. Es bedurfte einer umfassenden literarischen und historischen Bildung, um die vielfältigen Anspielungen und Assoziationen verstehen zu können. Nicht das Volk wurde hier angesprochen, sondern die gebildete Schicht der deutschen Nation, die auf dem Gymnasium die alten Sprachen lernte und sich den Griechen geistesverwandt fühlte. Die Nation ist hier als Kulturgemeinschaft imaginiert. Die politische Einheit des »großen Vaterlandes« Deutschland, dem Ludwig die Walhalla vererbte, lag noch in weiter Ferne. Es mag ebendiese Bestimmung als kulturelles Nationaldenkmal sein, die es ermöglicht hat, dass auch später noch neue Büsten aufgestellt wurden, darunter Sophie Scholl(1), Edith Stein(1) und Käthe Kollwitz(1). Selbst Heinrich Heine(3) hat 2010 seinen Frieden mit dem Pantheon des deutschen Geisteslebens geschlossen.

Die Walhalla steht beispielhaft für das Thema dieses Buches: die Aneignung und Anverwandlung des antiken Erbes in Deutschland seit etwa 1800. Dies ist in der Tat ein weites Feld, da das Erbe des Altertums in unterschiedlicher Weise in Literatur und Musik, in Bildung und Wissenschaft, in Kunst und Architektur, in Theater und Film, ja selbst im Landschaftsgarten und in der Gebrauchskeramik gegenwärtig war – und noch immer ist.[7] Kaum mehr zu überschauen ist die einschlägige Literatur zur ubiquitären Rezeption der Antike. Um die Rekonstruktion der produktiven »Transformationen der Antike« hat sich ein interdisziplinärer Sonderforschungsbereich bemüht, der von 2005 bis 2016 an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelt war.[8] Statt von statischen Prozessen der Auf- und Übernahme auszugehen, hat das Projekt richtungweisend das dynamische Konzept der Transformation entwickelt, das von wechselseitigen Wirkungen ausgeht. Zum einen entsteht die Antike in den uns greifbaren, mannigfaltigen Zeugnissen und Gegenständen der Rezeption immer wieder neu und auf unterschiedliche Art, wird verändert und verändert sich, wird uneinheitlicher, differenzierter und bunter. Zum anderen konstituieren und konstruieren sich die Gesellschaften durch ihren Rückgriff auf Vergangenes aber auch selbst: »Indem die Antike zum privilegierten oder polemischen Objekt von Wissensprozessen, künstlerischen Adaptionen oder politischen Aushandlungen wird, funktioniert das dabei entworfene Antike-Bild als Selbstbeschreibung der jeweiligen Rezipientenkultur.«[9]

Die Bedeutung der europäischen Antike für die Genese politischer und kultureller Identitäten ist ebenso manifest wie ihre Funktion für die Entstehung globaler Wissensgesellschaften und Wissenschaftsinstitutionen.[10] Die interdependenten Prozesse der Entdeckung – oder Wiederentdeckung – der Antike, der ostentativen Idealisierung, der gezielten Übernahme, der bewussten Abgrenzung und der emanzipatorischen Zurückweisung ebendieser Antike sind zeit- und kulturspezifisch, wiederholen sich von Generation zu Generation und dauern bis in die heutige Zeit an.

Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Buches ist räumlich und zeitlich eindeutig definiert: Gegenstand der Darstellung sind die vielfältigen Beziehungen zwischen der griechisch-römischen Antike und der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Dieses Altertum galt als »klassisch«, weil seit dem Renaissance-Humanismus ihre als Einheit verstandene Kultur als normativ wahrgenommen wurde. Griechische und römische Autoren bildeten einen Kanon von auctores classici, die in den höheren Schulen gelesen und auf Grund ihrer sprachlichen, stilistischen und ästhetischen Qualitäten als mustergültig angesehen wurden. Ihr Studium vermittelte sprachlich-kommunikative Kompetenzen und wurde als elementare Voraussetzung für eine umfassende, aber auch elitäre Menschenbildung verstanden. Im Griechischen war – neben den homerischen Epen – die attische Literatur des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts vorbildlich; gelesen wurden die Tragiker Aischylos(1), Sophokles(1) und Euripides(1) sowie die attischen Redner. Im Lateinischen bildeten Cicero(1), Livius und die augusteischen Dichter Vergil(1), Horaz(1) und Ovid(1) den schulischen Lektürekanon. Diese »klassische« Bildung garantierte den direkten Zugang zur Universität.

Die griechisch-römische Antike stand über viele Jahrhunderte im Zentrum der gymnasialen und universitären Curricula und prägte das Selbstverständnis sowie die Selbstdarstellung der gebildeten Schicht in Deutschland – aber auch in den Ländern der Habsburgermonarchie und der Schweiz. Die intellektuelle und wissenschaftliche Beschäftigung mit Hellas und Rom und die daraus resultierenden bildungstheoretischen und -politischen Forderungen werden daher unsere besondere Aufmerksamkeit finden. Dass andere Kulturen des Altertums – wie der Alte Orient und Ägypten – nur gestreift werden, ist folglich der Prominenz geschuldet, die zunächst das griechische, dann aber auch das römische Paradigma für das deutsche Bildungsbürgertum hatte.

Unser besonderes Interesse gilt den Wissenschaften vom Altertum, die im Unterschied etwa zu Literatur und Kunst wenn nicht nach Objektivität und Wahrheit, so doch nach Überprüfbarkeit streben und sich in aller Regel durch eine exakte Methode und argumentative Stringenz auszeichnen. Hierbei sind die zeitbedingten Faktoren der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Antike im 19. und 20. Jahrhundert aufzudecken, um ein notwendiges Korrektiv für die aktuelle und künftige Forschung sowie die öffentliche Wahrnehmung des griechischen und römischen Altertums zu bieten. Auch für die Altertumswissenschaften gilt, was für die Germanistik gesagt wurde: Eine Geschichte »historischer Disziplinen bleibt mutlos, wenn sie keinen Begriff von der wissenschaftlichen Gegenwart, keine eigenen Vorstellungen zumindest von der wissenschaftshistorischen Zukunft entwickelt«.[11] Die wissen(schaft)sgeschichtliche Traditionskritik ist die conditio sine qua non für jeden historischen Rekonstruktionsversuch. Die Geschichte einer Disziplin, ihrer Fragestellungen und Methoden, ihrer Erkenntnisse und Irrtümer sensibilisiert für die fachspezifische Methodologie nicht weniger als die theoretische Reflexion. Zudem ist die Wissenschaftsgeschichte, so sie die nostalgische, gegenwartsapologetische oder zukunftsorientierte Moralisierung und Politisierung der Geschichte aufdeckt, ein wichtiger Beitrag zur Kultur- und Ideengeschichte der jeweiligen Epoche. Der Wandel der je vorherrschenden Interpretationsmuster und Betrachtungsweisen ist in der Geschichtsschreibung zur Alten Welt besonders gut zu erkennen, da es hier eine lange Deutungsgeschichte bei annähernd konstantem Quellenbestand gibt. Schließlich hilft die Wissenschaftsgeschichte, den Verlust historischer Bildung zu verstehen, der auch Gegenstand dieser Darstellung ist und den Alfred Heuß(1) mit der Verwissenschaftlichung und Spezialisierung seit dem 19. Jahrhundert erklärte.[12]

Bei der Breite des Themas sind inhaltliche Beschränkung und exemplarische Behandlung notwendig. In drei chronologisch strukturierten, übergreifenden Kapiteln, die die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts behandeln, werden zunächst allgemeine Entwicklungen geschildert und dann jeweils charakteristische Institutionen, herausragende Akteure und wichtige Diskurse vorgestellt. Im Vergleich zu anderen einschlägigen Monographien soll hier nicht nur eine »Wissenschaftlergeschichte« präsentiert werden, die der amerikanische Altphilologe William M. Calder(1) III. eingefordert hat.[13] Unstrittig ist indes, dass hier Männer im Mittelpunkt stehen. Die Geschichte der Frauen in den Altertumswissenschaften und überhaupt ihrer Bedeutung für die Rezeption der klassischen Antike muss erst noch geschrieben werden. Erst seit den späten 1960er Jahren wurden einige Wissenschaftlerinnen auf Professuren berufen. In den strukturkonservativen Fächern waren universitäre Besetzungsverfahren jahrzehntelang von Männerbünden dominiert und von männlichen Netzwerken kontrolliert.

Vita und Oeuvre bedeutender – und weniger bedeutender – Altertumswissenschaftler werden in die Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte der jeweiligen Epoche integriert. In diesem Zusammenhang interessieren auch Außenseiter und – mit Pierre Bourdieu(1) gesprochen – Häretiker im wissenschaftlichen Feld, die den Wissenschaften vom Altertum neue Impulse gaben. Am Beispiel der Platonrezeption im Georgekreises(1) sollen die zahlreichen Wechselwirkungen von wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskursen beispielhaft dargestellt werden. Der Blick ist dabei nicht nur auf die bereits breit erforschte Politisierung der altertumswissenschaftlichen Fächer in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« gerichtet, sondern auch auf außerwissenschaftliche Funktionalisierungen des griechisch-römischen Altertums unter fünf verschiedenen politischen Systemen in Deutschland. Die Darstellung fächerübergreifender Prozesse und grundlegender gesellschaftlicher Zustände wird immer wieder ergänzt durch die Charakterisierung einzelner Personen und die Schilderung konkreter Ereignisse. Zu diesem Zweck wird ausführlich auf archivalische Quellen zurückgegriffen, deren Orthographie und Zeichensetzung vorsichtig modernisiert sind. Schließlich ändern sich die Schauplätze: Der Leser wird in Gymnasien, Universitäten und Akademien geführt, aber auch Verlage und Ministerien, Bibliotheken und Museen werden betreten. Die Wissenschaftspolitik im Preußen der Kaiserzeit ist ebenso Gegenstand der Darstellung wie die Bedeutung verlegerischer Initiative für die Normierung unseres Wissens über das Altertum.

Übergreifende Fragestellungen

In den drei großen Abschnitten zum »19. Jahrhundert«, den »Übergängen in ein neues Zeitalter« und »Mitten im 20. Jahrhundert« geht es um Kontinuitäten und Diskontinuitäten altertumswissenschaftlicher Methoden und Theorien, um Projekte und Konzepte, Inhalte und Debatten, Institutionen und Organisationen. Insbesondere die epistemische Entwicklung der Alten Geschichte wird in diesem Kontext interessieren, ohne jedoch die Klassische Philologie und die Klassische Archäologie auszublenden. Die zunehmend polyzentrische Struktur der Wissenschaften von Altertum vervielfältigte die Zugänge und Wahrnehmungen der klassischen Antike, aber auch anderer Epochen der europäischen und der außereuropäischen Vergangenheit. Trotz der hieraus resultierenden Divergenz des Untersuchungsgegenstandes sollen übergreifende Fragestellungen verfolgt werden. Hierzu gehören die Forschungspraktiken in den Altertumswissenschaften und deren institutionelle Fundamente. Im 19. Jahrhundert bestand eine enge Verbindung zwischen einer Forschungspraxis, die auf die Sichtung, Sammlung und Ordnung der Überlieferung fokussiert war, und der wissenschaftlichen Produktion, die auf der Grundlage der in Editionsreihen, Corpora und Thesauri zusammengeführten Quellen zu historischer Erkenntnis gelangen wollte. Die Ordnung der »Archive der Vergangenheit«, wie Theodor Mommsen(1) formulierte, war die Voraussetzung altertums- und geschichtswissenschaftlicher Arbeit. Dazu bedurfte es wiederum institutioneller Grundlagen, die organisatorische, finanzielle und personelle Mittel zur Verfügung stellten, um den dynamischen Zuwachs an Wissen zu garantieren. Das Deutsche Kaiserreich sah deshalb den Siegeszug des wissenschaftlichen Großbetriebes. Die Konflikte und Kriege des 20. Jahrhunderts haben an den Forschungspraktiken der altertumswissenschaftlichen Unternehmungen nichts geändert, wie am Beispiel der epigraphischen Projekte der Berliner Akademie der Wissenschaften dargestellt ist. Aber die Voraussetzungen veränderten sich infolge der Zerschlagung internationaler Kooperationen, die für diese Vorhaben lebensnotwendig sind, zuerst durch den Ersten und dann durch den Zweiten Weltkrieg. Nach beiden Kriegen mussten zunächst die Reintegration der deutschen Wissenschaft in die internationale Gemeinschaft und die Restitution der unterbrochenen wissenschaftlichen Kontakte gesichert werden.

Das Beispiel der Mommsen-Gesellschaft erlaubt die Rekonstruktion der nationalen und internationalen Konsolidierung der (west-)deutschen Altertumswissenschaften und ihrer methodischen und inhaltlichen, ihrer epistemischen und theoretischen Entwicklungen in Ost und West nach 1945. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges führten in Westdeutschland die weitere Spezialisierung der Fächer, die Übernahme von Methoden und Theorien aus anderen Disziplinen und die Realisierung interdisziplinärer Kooperationen zu einer zunehmenden Differenzierung der Forschungspraxis in den einzelnen Fächern. Nicht betroffen hiervon war indes die akademische Qualifikation des Nachwuchses, der über zwei innovative Qualifikationsarbeiten, die im Rahmen der Promotion und der Habilitation vorzulegen waren, zum Privatdozenten ernannt wurde und auf den Ruf auf eine Professur warten musste.

Eingehend wird uns die Bestimmung des Verhältnisses von universitärer Wissenschaft und bürgerlicher Bildung beschäftigen. Am antiken Beispiel wurde die bürgerliche Gewissheit entfaltet, durch den Rekurs auf die Antike den Gang der Zeitläufte positiv beeinflussen zu können. Der Bürger konnte und musste aus seiner Beschäftigung mit dem Altertum verantwortungsvolles politisches und gesellschaftliches Handeln lernen. Historische Reflexion, die ihren Ausgang zunächst in der griechischen Antike nahm, dann aber auch das römische Erbe einschloss, wurde zu einem wesentlichen Bestandteil bürgerlicher Kultur. Im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts trug die Antike als historiographisches Konstrukt und als idealisierte zeitlose Projektion wesentlich zur kulturellen Homogenisierung des Bürgertums und zur Konstitution eines bürgerlichen Selbstverständnisses bei. Das neue Bildungsideal, das hier mit Wilhelm von Humboldt(1) assoziiert wird, richtete sich gegen die absolutistische Welt der Stände; denn die neue Bildungselite war radikal meritokratisch. Nicht Geburt und Herkunft, sondern Leistung und Bildung zählten.

Doch die säkulare Bildungsreligion, die die Entchristianisierung der deutschen Kulturnation beschleunigte, geriet in eine Krise, als an den deutschen Universitäten, in denen die ›klassische‹ Altertumswissenschaft zur Leitdisziplin aufgestiegen war, die Historisierung des Altertums das Ende eines normativen Verständnisses der Antike bedingte. Gegen die Relativierung der klassischen Bildung, für die disziplinäre Außenseiter wie Jacob Burckhardt(2) und Friedrich Nietzsche(1) eine professionalisierte und spezialisierte Altertumswissenschaft verantwortlich machten, suchten Wissenschaftler und Intellektuelle seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert, die europäische Antike als zeitloses Leitbild zu bewahren. Ihre Anstrengungen richteten sich auf die ›humanistische‹, d. h. eine am Menschen und seinen Bedürfnissen orientierte Bildung, die ebenso die wissenschaftliche Krise des Historismus wie die soziale Krise der als defizitär empfundenen Gegenwart überwinden sollte.

Das 20. Jahrhundert sah viele Gefechte um die Bedeutung des klassischen Altertums für Gymnasien und Universitäten. Heftig wurde um die alten Sprachen gestritten. Der Aufstieg zunächst der Naturwissenschaften und später der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften führte dazu, dass die humanistische Bildung ihre Exklusivität verlor. Sie trat in Konkurrenz mit anderen Bildungsinhalten. In Deutschland verlor das Humanistische Gymnasium bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Monopolstellung. Diese Entwicklung marginalisierte das Bildungsbürgertum, nicht aber die alten Sprachen. Der Zugang zu Latein und Griechisch wurde demokratisiert. Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas lernen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Schüler zumindest Latein als je zuvor. Der allgegenwärtige Bedeutungsverlust des Wissens um die Antike geht folglich nicht einher mit einem Verlust an Wissen um die Antike. Aber die Rezeptionsformen verändern sich rasant: Zu Literatur, Kunst und Musik sind Film, Comic und Internet getreten.

Auf Grund der manifesten Interdependenzen beschäftigt sich dieses Buch eingehend mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik