Cover

Inhalt

Vorwort

Praktiken und Formen der Theorie
Konturen der „Wissensarbeitsforschung“

Christiane Thompson

I Zukunft der Bildungsphilosophie

Eine bildungsphilosophische Flaschenpost in Zeiten steigender Meeresspiegel und sich abzeichnender Superintelligenzen
Olaf Sanders

II Bildungsphilosophische Einsätze

„Eingreifendes Denken“ – Überlegungen zur Praxis der Bildungstheorie
Carsten Bünger

Theorien revolutionärer Praxis
Bildungsphilosophische Überlegungen zu den Revolutionsbewegungen von 1917 und 1968
Daniel Burghardt

Bildung – Eine Welt bilden
Zum Begriff „mondialisation“ bei Jean-Luc Nancy
Edgar Forster & Madeleine Scherrer

Einfach kompliziert
Schule und die Sache mit dem Posthumanismus
Agnieszka Czejkowska

III Medien und Medialität in der Bildungs- und Erziehungstheorie

Inspiration und Irritation durch literarische Texte
Zu einer Form erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und ihren Praktiken
Hans-Christoph Koller

Filmische Bildungen und Montagen
Theoriebildung im Horizont der Bildlichkeit
Andrea Sabisch

Die Schmerzen der anderen
Privileg und Normalität als Gegenstand ästhetischer Bildung
Markus Rieger-Ladich

IV Systematische Forschung zwischen Konstruktion und Rekonstruktion

Horizonte der Systematisierung in der Erziehungswissenschaft
Zu den Potenzialen eines reflexiven Verhältnisses theoretischer Grundbegriffe und empirischer Rekonstruktion
Arnd-Michael Nohl

Bildungstheorie in the Making
Pädagogische Gegenstandskonstruktionen im Kontext der PISA-Debatte
Daniel Wrana

Quid iuris und quid facti
Über Formen erziehungswissenschaftlicher Kritik
Thomas Mikhail

V (Bildungs-)Philosophische Perspektiven auf „Methode“: Haltung, Grenze, Exploration

Die Macht der Methode
Ruth Sonderegger

Doing theory entlang disziplinärer Grenzen
Arbeiten mit Fotografien
Sabine Krause

Methode als Haltung: Der doppelte hermeneutische Respekt
Tatjana Schönwälder-Kuntze

VI Zur Frage der Methode in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie

Statements zur Frage der Methode in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie

Verwissenschaftlichung der Theoriebildung
Rita Casale

„Methoden“ in der Allgemeinen Pädagogik und der „Philosophy of Education“
Kai Wortmann

Methodisierung als Antwort?!
Erkenntnispolitische Rückfragen zur Methode in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie
Kerstin Jergus

Wozu Methoden pädagogischer Theoriebildung?
Hanno Su

Verzögerung als Methode
Martina Lütke-Harmann

Die Responsivität der Theoriebildung
Andreas Gelhard

Kontexte einer Methodisierung der theoretischen Forschung in der Erziehungswissenschaft
Norbert Ricken

Verzeichnis der Autor*innen

Christiane Thompson | Malte Brinkmann | Markus Rieger-Ladich (Hrsg.)

Praktiken und Formen der Theorie

Perspektiven der Bildungsphilosophie

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

 

Dieses Buch ist erhältlich als:

ISBN 978-3-7799-6594-7 Print

ISBN 978-3-7799-6595-4 E-Book (PDF)

ISBN 978-3-7799-6670-8 E-Book (EPUB)

 

1. Auflage 2021

 

© 2021 Beltz Juventa

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Alle Rechte vorbehalten

 

Herstellung: Myriam Frericks

Satz: Datagrafix, Berlin

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza

Printed in Germany

 

Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Vorwort

Die derzeitige Lage rund um die Corona-Pandemie scheint wenig Raum für das zu lassen, was klassisch mit dem Begriff der Theorie bezeichnet wird. Dieser steht für eine Form der gedanklichen Auseinandersetzung – für eine Kontemplation, die sich ihre Themen und Formen nicht von Handlungszwängen vorgeben lässt. Eine solche Wissensform bzw. Reflexionspraxis erscheint in der Gegenwart von Krisenstäben und Expertenräten mehrfach als verlorene Sache. Steigende Infektionszahlen und die Belastung oder sogar Überlastung gesellschaftlicher Teilsysteme, allen voran das Gesundheitssystem, verlangen nach einem entschlossenen und durch wissenschaftliche Evidenz gestützten Handeln, keine Frage. Zugleich ist zu bemerken, dass – ungeachtet aller Maßnahmen zur Überwindung der Pandemie – Fragen in den Vordergrund treten, die sich der Perspektive der Bewältigung sperren. Es sind u. a. diese Fragen, die auf die grundlegenden Verhältnisbestimmungen zu den anderen, zu sich selbst und zur Welt und also zum Grundmodus von Theorie zurückführen. Eine der drängendsten Fragen ist dabei wohl die, wie mit dem Virus zu leben sei. Wie kann man wörtlich und metaphorisch gesprochen ‚an einem gemeinsamen Ort sein‘? Derartige Fragen, die für die unterschiedlichsten Lebens- und Praxisbereiche zu konkretisieren wären – für die Universität beispielsweise bezüglich digitaler oder körperlicher Präsenz im Seminar –, setzen das theoretische Arbeiten in Gang im Sinne einer begrifflichen Verbindlichkeit und einer Verantwortung im Denken.

Dieser Band befasst sich nicht im engeren Sinne mit der Corona-Pandemie. Seine Beiträge gehen zum größten Teil auf die Tagung der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGfE zurück, die im Jahr 2018 an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg stattfand – und damit vor dem Auftreten des Virus. Die Idee, die Tagung der Kommission im Jahr 2018 an Praxen des Theoretisierens auszurichten, brachten Carsten Bünger und Olaf Sanders ein. In ihrem Konzeptpapier schlugen sie vor, das „Philosophieren als Praxis der Erziehungswissenschaft“ zum Dreh- und Angelpunkt einer Tagung zu machen. Sie verbanden damit das Verständnis von Philosophie als ein ‚Werkzeug‘ der Befremdung. Nicht erst seit Beginn des 21. Jh. würden die kritische Reflexion der Erziehungswissenschaft, die Re- und Dekonstruktion von Konjunkturen und wirkmächtigen Weichenstellungen des Pädagogischen und die aus solchen Analysen gewonnenen Hinweise auf ausgeblendete Momente oder Vereinseitigungen im vorherrschenden Bildungsdenken zur philosophischen Auseinandersetzung der Erziehungswissenschaft gehören – so die Kollegen in ihrem Konzeptpapier. Für die Tagung regten sie an, eine Bilanz dieser philosophisch-theoretischen Arbeit vorzunehmen und dabei ausdrücklich zu diskutieren, inwiefern und in welcher Weise Philosophieren als erziehungswissenschaftliche Praxis gefasst werden könne.

Schon bei der Auswahl der Beiträge für die Tagung zeigte sich das große Interesse am Philosophieren und an doing theory. Deutlich wurde allerdings auch der enge Bezug des Tagungsthemas auf die Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin seit den 1960er Jahren – und weitergehend auf die gesellschaftlichen Transformationen, darunter die widersprüchlichen Globalisierungsbewegungen, unter denen (heute) pädagogische Begriffe zu denken sind bzw. an denen sich pädagogische Theorie abzuarbeiten hat. Mit Blick auf die Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin sei beispielhaft die Methodendiskussion angeführt: Diese ist in der Erziehungswissenschaft sehr stark durch die Vorstellung sozialwissenschaftlich-empirischer Programme geprägt, die wiederum im engen Zusammenhang mit der Qualität und Förderung von Projektforschung zu sehen ist. Dieser Aspekt stellt die Verständigung über „Methoden“ immer schon in einen spezifischen Rahmen.

Zur Situierung erziehungswissenschaftlicher bzw. pädagogischer Theorie im Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen sei hier darauf hingewiesen, wie entscheidend die begriffliche Formatierung von Konzepten wie „Globalisierung/Globalität“ oder „Posthumanismus“ ist – für pädagogische Anschlüsse bzw. Einsätze. Auf diese und weitere Problemstellungen, darunter „Anthropozän“ und „Chthuluzän“ oder auch die Gestalt „revolutionärer Praxis“ gehen die Beiträge dieses Bandes ein. Damit verdichtet sich der Blick auf die Vollzüge von Theorie im Wechselbezug auf einen krisenhaften gesellschaftlichen Wandel (und darauf, wie Letzterer überhaupt zu beschreiben und zu erschließen wäre).

Das Interesse an den praktischen Vollzügen von Theorie schloss das Anliegen ein, die bildungs- und erziehungsphilosophische Arbeit selbst zum Gegenstand einer Theoretisierungsbemühung zu machen. Einige Beiträge dieses Bandes sind dementsprechend der Frage gewidmet, wie ein Hineinfinden in bzw. das Einsetzen des theoretischen bzw. philosophischen Forschen zu denken sei. In anderen Beiträgen wird die bildungstheoretische Produktivität von Literatur, Film und Serien behandelt und theorieprogrammatisch gewendet. Schließlich werden Debatten in der Erziehungswissenschaft sowie das Feld der erziehungswissenschaftlichen Forschung einer systematisierenden Analyse unterzogen.

Im Schlussteil des Bandes sind kürzere Statements zu Methode und Methodisierung in der Bildungs- und Erziehungstheorie zu finden. Zu diesem Thema hatte auf der Hamburger Tagung eine Podiumsdiskussion stattgefunden, auf der erste Impulse präsentiert wurden. Es kam die Idee auf, den hier begonnenen Austausch fortzusetzen. Daher wurden weitere Kolleg*innen aus der Kommission – an unterschiedlichen Punkten ihres wissenschaftlichen Wegs – gebeten, zur Methodenfrage der Bildungs- und Erziehungstheorie Stellung zu nehmen. Die Herausgeber*innen verbinden mit der hier abgedruckten Sammlung von Statements die Hoffnung, die weitere Diskussion dieses wichtigen Themas – in seiner Bedeutung für Studium und postgraduierte Studien, für die disziplinäre Stellung der Erziehungs- und Bildungstheorie sowie für die Forschungsarbeit in concreto – zu befördern.

Die Tagung der Kommission, die Ausgangspunkt für diesen Band war und die – wie bereits erwähnt – an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr in Hamburg stattfand, wurde von Olaf Sanders und seinem Team ausgerichtet. Die Herausgeber*innen danken herzlich für die hervorragende Organisation und die schöne Tagungsatmosphäre. Den Autor*innen der Beiträge und Statements gilt unser Dank für ihre Mitarbeit an diesem Band, der die Vielfalt und die Produktivität bildungs- und erziehungsphilosophischer Arbeit dokumentiert. Antje Naumann und Sören Meyer danken wir für die Redaktion und Aufbereitung des Manuskripts. Last but not least gebührt dem Verlag – namentlich Konrad Bronberger, Myriam Frericks und Frank Engelhardt – unser Dank für die Aufnahme des Bandes und seine professionelle editorische Begleitung.

Die Herausgeber*innen im Oktober 2020

Praktiken und Formen der Theorie

Konturen der „Wissensarbeitsforschung“

Christiane Thompson

In seinem Eröffnungsvortrag zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahr 2014 hat Roland Reichenbach die Lage der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft als „posttheoretisch“ beschrieben (Reichenbach 2020, S. 137 ff.). Reichenbach kritisiert die permanente Forderung der Innovation und Neuerung, aus der seines Erachtens nur „kurzlebige Diskurse“ resultieren können (ebd., S. 145). Dies hat für die Stellung von Theorie problematische Folgen, obgleich – das sei angemerkt – zur Charakterisierung der Lage von Reichenbach auch eine gehörige Verachtung der pädagogischen Traditionen angeführt wird. Nach Auffassung von Reichenbach hat sich eine erziehungswissenschaftliche Forschung entwickelt, für die gar keine „Theorie“ mehr notwendig sei. An die Stelle von Theorien seien „theoretische Modelle“ getreten (ebd., S. 149), welche die zu verarbeitenden Konzepte in Kästchen und Pfeilen anordnen würden: „Weil diese ‚Theorien‘ so sprachlos sind, werden sie häufig ein wenig anders genannt, so spricht man gern von unserem ‚theoretischen Modell‘ […]. Richtiger wäre es wahrscheinlich, von ‚unserem posttheoretischen Modell‘ […] zu sprechen“ (ebd., S. 150). Mit dem Aufstieg dieses Programms empirischer Forschung
treten die systematische Verständigung und theoretische Reflexion von Begriffen in den Hintergrund.

Es bleibt im Text von Reichenbach allerdings nicht bei der polemischen Kritik an der empirischen Bildungsforschung. Ebenso kritisch und polemisch begegnet Reichenbach dem Feld erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung, das er als „Sockenhersteller-Kaste“ (ebd., S. 151) beschreibt. Die Kritik bezieht sich darauf, dass Theoretiker*innen einen Diskurs unter sich aufziehen und sich verhalten, wie „Sockenhersteller, die nur für andere Sockenhersteller Socken herstellen“, so Reichenbach mit Marquard (ebd., S. 150 f.). Insofern als sich diese Theorie-Diskurse nur um sich selbst drehen, weist ihnen Reichenbach ebenfalls das Prädikat zu, posttheoretisch zu sein.

Wie es immer bei derartigen polemischen Kritiken der Fall ist, kann man eine Reihe von Einwänden geltend machen, darunter fehlende Differenzierungen, unzulässige Generalisierungen sowie eine fehlende begriffliche Bestimmung des Verhältnisses von erziehungswissenschaftlichem Wissen, Forschung und Theorie. Reichenbach räumt selbst ein, dass seine Typisierung eine grobe rhetorische Vereinfachung sei (ebd.). Dessen ungeachtet hält er an seinem Gesamteindruck von der erziehungswissenschaftlichen Disziplin und ihrem von außen und innen gesetzten Innovationsdruck fest – sicherlich auch um weitere Analysen und Bestandsaufnahmen sowie eine Auseinandersetzung zur Disziplinentwicklung bezüglich der Rolle von Theorie in Gang zu setzen. Bei aller Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten scheint es bedeutsam zu bestimmen, in welche Richtung sich das Fach bewegt.

Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien einige Entwicklungen hierzu angegeben, darunter die Beobachtung, dass die „Allgemeine Pädagogik“ keinen besonderen Fokus in der Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der Disziplin (mehr) bildet. Analoges lässt sich für Buchpublikationen mit systematischen Entwürfen „Allgemeiner Pädagogik“ oder „Systematischer Pädagogik“ sagen. Bildeten diese lange Zeit einen wichtigen Bezugspunkt für die pädagogische Selbstverständigung und den fachlichen Einbezug, so ist mit und nach der Einführung der modularisierten Studiengänge eine Ausdifferenzierung dieses Publikationsgenres in Gang gekommen. Zum einen spiegeln diese Bücher die Vielfalt von Themen und Zugängen wider; zum anderen verfolgen sie stärker das Ziel des einführenden Überblicks (von Ausnahmen abgesehen). Zur Ausdifferenzierung des Faches gehört sicherlich auch, dass philosophische Bezugsautor*innen und sozialwissenschaftliche Methodenprogramme mitunter einen programmatischen oder quasi-paradigmatischen Status in der Erziehungswissenschaft erhalten. Davon zeugen Einführungen und Handbücher, aber auch Methodenschulen für Postgraduierte.

Alle diese Phänomene wären sicherlich genauer systematisch und empirisch zu ergründen, wobei gleichermaßen epistemologische wie auch disziplin- und wissenschaftspolitische Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssten. So lässt sich die fachinterne Diskussion um die erziehungswissenschaftliche Methodenausbildung nicht ohne den Gesichtspunkt der entsprechenden Qualifizierung von Absolvent*innen für die empirische Projektforschung verstehen, die in Konkurrenz zu Absolvent*innen aus der Soziologie und Psychologie treten. Des Weiteren ist es unerlässlich, die Einbettung der Erziehungswissenschaft in einen weiteren bildungspolitisch und bildungsökonomisch gelagerten Rahmen einzustellen. Letzteres soll im ersten Teil dieses Einleitungsbeitrags geschehen, da sich mit diesem Punkt die Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung verknüpft.

Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der folgenden Überlegungen sei vorweggenommen: Im Lichte von Datafizierung und globaler Ökonomie scheint Reichenbachs Diagnose von einer Polemik zu einer Wirklichkeitsbeschreibung der Erziehungswissenschaft überzugehen. Anders aber als Reichenbach dies in seinem Vortrag dargestellt hat, soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Theoriearbeit in der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie im Besonderen nicht von selbstbezüglichen Diskursen entlang von Meisterdenker*innen geprägt ist. Dass es demgegenüber eine vielgestaltige theoretische „Wissenarbeitsforschung“1 gibt, die Problemstellungen des Fachs (und deren Verhandlungen in den Bereichen Wissenschaft, Policy und Praxis) ebenso identifiziert wie auf die Schlüsselprobleme der Gegenwart überhaupt eingeht, ist Einsatz und Programm dieses Bandes.

Im ersten Teil der Einleitung wird – wie schon angedeutet – ein bildungspolitischer und -ökonomischer Rahmen skizziert, der unter dem Eindruck von Datafizierung die Frage nach dem „Ort der Theorie“ neu aufwirft. Der Ausdruck „Aufgabe von Theorie“ im Titel des ersten Teils spielt auf die doppelte Bedeutung von „Aufgabe“ an: einerseits als Enden von Theorie im Sinne einer problematischen Entwicklung und andererseits verstanden als zu erneuernder Auftrag. Im zweiten Teil der Einleitung werden Streifzüge im Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie unternommen, die von der Auseinandersetzung um die „Allgemeine Pädagogik“ ihren Ausgangspunkt nehmen. Ziel der Darstellung ist nicht, die sehr unterschiedlichen begrifflichen Einsätze als großes harmonisches Denkkollektiv darzustellen. Es geht vielmehr darum, Praktiken und Formen des Theoretisierens herauszustellen, die sich für die erziehungswissenschaftliche Erkenntnisbildung als überaus fruchtbar erwiesen haben. Im dritten Teil der Einleitung wird ein Vorblick auf die in diesem Band versammelten Beiträge gegeben.

1 Entwicklung der Erziehungswissenschaft –
Aufgabe von Theorie

Zum disziplingeschichtlichen Erkenntnisstand gehört die Auffassung, dass sich in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren eine Empirisierung bzw. Versozialwissenschaftlichung vollzogen habe (stellvertretend für zahlreiche Publikationen vgl. Dinkelaker et al. 2016). Eine paradigmatische Bedeutung wird dabei der sogenannten „realistischen Wendung“ zugeschrieben, die – so Heinrich Roth in seiner Antrittsvorlesung von 1963 (Roth 2007, S. 94) – auf eine erfahrungswissenschaftliche Grundlegung der Erziehungswissenschaft ausgerichtet sein sollte. Bis heute speist der Rekurs auf diesen Aspekt gegenwärtige Selbstpositionierungen. So wird z. B. angeführt, dazumal habe eine philosophisch orientierte Normendebatte dominiert, sodass für eine an Überprüfbarkeit und Objektivierung ausgerichtete erziehungswissenschaftliche Forschung kein Raum vorhanden gewesen sei (vgl. z. B. Bos/Postlethwaite 2014, S. 253; vgl. dagegen analytisch zur Normproblematik Meseth et al. 2019).

Wie oben bereits gegenüber Reichenbach eingewandt worden ist, sind Bestandsaufnahmen entlang stilisierter Paradigmen und Positionen engführend und missverständlich, weil sie zu Gegenüberstellungen verleiten, die dem Stand der Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Fachs nicht gerecht werden und die schon in den 1960er Jahren nicht als für die akademische Pädagogik repräsentativ gelten konnten. Unterscheidungen wie „Geisteswissenschaft versus empirische Erziehungswissenschaft“ oder „Normativität versus Deskriptivität“ affirmieren überdies ein begrifflich-kategoriales Raster, das längst einer kritischen Analyse unterzogen wurde (Ruhloff 1979).

Ein weiteres Problem der paradigmenorientierten Darstellungen deutete sich im Auftakt bereits an; denn diese erwecken den Eindruck, man könnte die Entwicklung von Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft in den vergangenen 60 Jahren aus der immanenten Perspektive wissenschaftlicher Diskurse verstehen. Es liegen mittlerweile eine Reihe von Beiträgen vor, welche die Wissenschaftsentwicklung in die Kontexte technokratischer Expertise und Medikalisierung sowie einer sich entwickelnden Bildungsökonomie stellen (vgl. z. B. Tröhler 2015). Im Kontext der politischen Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg kam der optimalen Abrufung der Begabungs- und Lernpotenziale der Bevölkerung eine zentrale Bedeutung zu, was dazu führte, wie Rohstock (2014) gezeigt hat, dass Computerwissenschaftler und Psychologen zu wichtigen Akteuren der Bildungsentwicklung wurden. In einem aktuellen Sammelband von Ydesen (2019) wurde kürzlich der Aufstieg der OECD als globaler transnationaler Autorität im Bildungssystem rekonstruiert. Dieser Aufstieg habe sich maßgeblich über die Einrichtung von Indikatoren (Social Indicator Development Program; vgl. Ydesen 2019a, S. 294) vollzogen, welche der Bildung sowie der Entwicklung des Bildungssystems zugleich eine ökonomisch-kapitalistische und westliche Perspektive unterlegt hätten (ebd., S. 295). Die OECD konsolidiert nicht nur dadurch ihre Macht, dass sie als feststellende Instanz für die Qualität von Bildung auftritt. Sie bildet vielmehr einen Regierungskomplex, der politische Agenden setzt und die Herausbildung von Märkten im Bildungsbereich befördert. Die aktuellen Entwicklungen lassen sich unter der Überschrift einer „Global Education Industry“ fassen, in der gleichermaßen innovative Ideen, Vernetzungen und Policies zum Gegenstand von Markt und Transaktion werden (vgl. Parreira do Amaral/Steiner-Khamsi/Thompson 2019).

Vor gut zehn Jahren haben Casale et al. (2010) bereits die Veränderung der Lehrerbildung im Zuge der oben genannten Transformationen zum Thema gemacht. Ihre Feststellung lautet, dass spezifische Wissensbestände (wie Sprache, kultureller Kanon, nationale Geschichte) in ihrer Bedeutung für universitäre Bildung deautorisiert würden und mit Berichten wie „Understanding the Brain: The Birth of a Learning Science“ (OECD 2002) nichts anderes als eine „neue Wissenschaft“ unter den Maßgaben von Effizienz und Evidenz gefordert werde (Casale et al. 2010, S. 51). Wenn Casale et al. die Entwicklungen als „Geburt der Lernwissenschaft“ fassen, welche den „Untergang der Erziehungswissenschaft“ mit sich bringe (ebd., S. 53), so klingt darin gerade auch die Diagnose einer Absage an eine spezifisch erziehungswissenschaftliche Theoriebildung an; denn die Lernwissenschaft werde von ihren Proponenten als transdisziplinäres Feld begriffen, dem eine einheitliche psychologisch ausgerichtete Grundlage unterstellt werde (ebd., S. 54). Wie ich im Folgenden zeigen möchte, verschärft sich die kritische Diagnose von Casale et al. durch Datafizierung bzw. Big Data.

Schon 2014 hatte Rob Kitchin in einem Beitrag für die Zeitschrift „Big Data & Society“ zu bedenken gegeben, dass sich mit den wachsenden Datenmengen sowie den Möglichkeiten ihrer algorithmischen Verarbeitung ein „Paradigmenwechsel“ in der Wissenschaft ankündige: Die bloße Möglichkeit, Daten in beliebiger Weise aufeinander zu beziehen, um Korrelationen zu erschließen, führt nach Auffassung von Kitchin zu einer Entwertung von Theorie – Kitchin spricht in seinem Beitrag sogar vom „Ende der Theorie in der Wissenschaft“ (ebd., S. 4, hier wie im Folgenden: Übers. C. T.; vgl. auch Anderson 2008). Dabei ist wichtig festzuhalten, dass in dem Beitrag nicht nur von jenen spezifischen Teilbereichen oder Teildisziplinen die Rede ist, die mit sogenannten grundlagentheoretischen Bezügen betraut sind, so wie dies in der Erziehungswissenschaft für die Bildungs- und Erziehungsphilosophie bzw. die Allgemeine Erziehungswissenschaft der Fall ist. Mit einem aufstrebenden Datenempirismus werden gleichermaßen Methoden einer empirischen Sozialforschung entwertet, die sich der sinnbezogenen Konstitution ihrer Gegenstände annimmt. Der Modus Operandi einer „datengetriebenen Wissenschaft“ (ebd., S. 5) sei – so Kitchin – eine rein induktive Angelegenheit, die auf die Vielfalt von Daten und ein angemessenes data mining zurückgreife (ebd.). Dementsprechend nennt Kitchin im Anschluss an Hey, Tansley und Tolle (2009) dieses Paradigma „explorative Wissenschaft“ („exploratory science“, ebd.).

Kitchins Darstellung einer datengetriebenen Wissenschaft mag auf den ersten Blick überzogen erscheinen und selbstverständlich hält Kitchin selbst die Engführungen und Reduktionismen fest, die ein solches Wissenschaftsmodell kennzeichnen. Während die epistemologische Kritik an einem solchen Modell vielfach formuliert und vorgetragen worden ist, muss dennoch festgehalten werden, dass diese kaum Einfluss auf die Entwicklungen zu nehmen scheint. Das konnte man schon sehr gut an den Operationen rund um die sogenannte Evidenzorientierung beobachten, die in den USA mit einer extremen förderpolitischen Verengung einhergegangen ist (Jornitz 2008; vgl. dazu auch Bellmann/Müller 2011; Herzog 2011).

Große Firmen wie Pearson verfolgen gegenwärtig das Ziel, für den Bildungssektor relevante Daten zu sammeln und zur Verfügung zu stellen, um allen Interessierten die Möglichkeit zu bieten, an einer evidenzbasierten Weiterentwicklung des Bildungssystems teilzuhaben (vgl. dazu Thompson 2019). Es ließen sich zahlreiche weitere Initiativen von ökonomischen Akteuren angeben, die im Sinne einer Dienstleistung Datenverarbeitungen mit einem wissenschaftlichen Anspruch und einer pädagogischen Innovation verknüpfen. Ed Tech Firmen
bieten technische Lösungen an, um Datensätze (z. B. von Studierenden) aus verschiedenen Anwendungen zusammenzuführen, um damit eine Grundlage für eine möglichst vollständige und pädagogisch individualisierte Intervention zu erstellen. Das sogenannte Pittsburgh Science of Learning Center, eine Institution an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, hat einen „DataShop“ entwickelt, der zwei „Dienstleistungen“ („services“) anbietet: eine Infrastruktur, um große Mengen von Forschungsdaten zu speichern und verfügbar zu machen, sowie eine Reihe von Analyse- und Berichtsinstrumenten für die gesammelten Daten.2

Im Horizont derartiger Entwicklungen hat Ben Williamson die Frage aufgeworfen, wem eigentlich Theorie ‚gehöre‘: „Who Owns Theory?“ (Williamson 2017). Diese Frage deutet auf das Urheberrecht hin; denn die Erkenntnisse und Ergebnisse aus den Datenverarbeitungsprozessen gehen aus einem Algorithmus hervor, der – als geistiges Eigentum – z. B. einer Firma gehört: „Pearson and Lytics Lab do not just own the big data technologies and the information they collect but own the algorithms and analytics required to make sense of those data, and thereby potentially to generate novel theories about diverse processes of learning and education“ (Williamson 2017, S. 106). Theorie wird zu einem Eigentum und deren Nachvollziehbarkeit zu einem Firmengeheimnis. Worauf Williamson in seinem Beitrag außerdem hinweist, ist, dass in die Art der Datenverarbeitung spezifische Vorannahmen eingebracht würden, welche die Perspektive der datengetriebenen Wissenschaft selbst befördern. Für diese politisch-ökonomisch justierte Ausrichtung der Datenforschung würde wiederum Akteure aus der Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen, da sie den Projekten und Initiativen wissenschaftliche Autorität verleihen würden.3

Der Beitrag von Williamson geht also über Kitchins Bestandsaufnahme hinaus, indem er – über die paradigmatische Neuausrichtung hinaus – verdeutlicht, dass und wie sich ein ‚Ortswechsel‘ der Theorie vollzieht – und zwar hin zum privatwirtschaftlichen Sektor. Die dort etablierte datenwissenschaftliche Expertise mit der entsprechenden technischen Infrastruktur und politisch-ökonomischen Vernetzung wird mit ihrer zunehmenden Konsolidierung als hybrides Feld zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft früher oder später die Frage provozieren, inwiefern noch andernorts – konstituiert durch eine akademische und historisch-systematische Perspektive – erziehungswissenschaftlich geforscht werden kann. Akteure wie die OECD befördern diese Entwicklung im Bereich der Digitalisierung bzw. Datafizierung und verstehen diese als Bildungsinnovation im Sinne einer „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) überkommener Bildungstraditionen (vgl. OECD 2017).

Deutlich wurde an der vorausgehenden Darstellung, dass die Diskussion um Theorie nicht auf den Bereich innerwissenschaftlicher Verständigung beschränkt werden kann. Der Aufstieg der Erziehungswissenschaft wie auch ihre Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten steht in einem engen Bezug zu einer politischen Ökonomie der Bildung, die mittlerweile zu einer globalen Angelegenheit geworden ist und die als Feld einer datengetriebenen Bildungsforschung die Grenzen von Wissenschaft diffundieren lässt. Auf dieser Grundlage gilt es, zwei Gesichtspunkte von Theorie zu profilieren: Im Anschluss an die vorausgehenden Ausführungen ist festzuhalten, dass die bestehenden Entwicklungen selbst zum Gegenstand von Theorie werden müssen. Dies impliziert einen Theoriebegriff, der über eine bloße Identifizierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen hinausweist und deren kritische Durchdringung anvisiert. Theorie ist damit – erstens – immer als eine Antwort zu begreifen, die sich aus einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen bzw. deren Problematisierung ergibt. Zum Zweiten ist herauszustellen, dass und wie Theorie die Pluralität von Erziehungs- und Bildungswirklichkeiten konstituiert und dabei immer einen Raum eröffnet, einen Gegenstand, Sachverhalt etc. anders zu denken. Es geht hier um den Möglichkeitssinn von Theorie, der nicht zuletzt einen Raum der Auseinandersetzung eröffnet. Die anschließenden Streifzüge durch das Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie sind an diesen beiden Gesichtspunkten orientiert. Sie sollen zugleich einen Vorblick auf die Beiträge dieses Bandes ermöglichen.

2 Theoriearbeit in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie

Mit dem Verständnis von Theorie als Beschaulichkeit zeichnen sich schon in der antiken Philosophie die Abgrenzungen ab, welche die Stellung der Theorie und die Kritik an ihr (bis heute) bestimmen. Die Abständigkeit der theoretischen Haltung gegenüber den Anforderungen der Lebensführung ist in der Anekdote festgehalten, in der eine thrakische Magd den Thales verlacht, der bei der Beobachtung des Sternenhimmels in einen Brunnen fällt (Diog. Laert. I/1). Diese Anekdote steht für die Auffassung, dass man mit Theorie untauglich für das alltägliche Leben wird. Dann aber wird immer wieder eine andere Erzählung zu Thales aufgegriffen (ebd.): Durch seine Beobachtungen der Natur sah er eine gute Olivenernte voraus und machte mit der Anmietung von Olivenpressen ein Vermögen. Egal, ob man sich stärker auf die Untauglichkeit oder auf die Überlegenheit des Theoriewissens bezieht – beide stimmen darin überein, die Theorie von ihrer Nützlichkeit her zu denken.

Nützlichkeit und Anwendungsbezug bilden Gesichtspunkte, die gleichermaßen pädagogische Begriffe wie auch das Wissenschaftsverständnis der Pädagogik geprägt haben. Es sei hier exemplarisch an die Auseinandersetzung um das Verhältnis von „Bildung“ und „Ausbildung“ erinnert – eine Auseinandersetzung, die, obgleich sich damit klassische Positionen bzw. Differenzen gar nicht angemessen beschreiben lassen, bis heute aufgegriffen und für polemische Rhetoriken genutzt wird. Nützlichkeit und Anwendungsbezug haben ebenfalls stark das Selbstverständnis der Pädagogik als Wissenschaft bestimmt. Als Erstes kommt womöglich der Titel „Pädagogik als ‚praktische Wissenschaft“‘ in den Sinn: Mit diesem Konzept wird die Hervorbringung pädagogischen Wissens an die Aufklärung und Verbesserung der pädagogischen Praxis rückgebunden (vgl. Schäfer 2012). Diese geisteswissenschaftlich anmutende Vorstellung artikuliert sich jüngst als „evidenzbasierte Bildungsforschung“, in der das nach „Goldstandard“ erzeugte Wissen den bestmöglichen Output oder die höchste Effizienz pädagogischen Handelns ermöglichen soll (vgl. Thompson 2014).

Den Engführungen und Verzeichnungen, die in diesen Darstellungen von „Bildung“ und „Wissenschaft“ liegen, kann hier nicht ausführlich nachgegangen werden. Bestimmend ist ein Reduktionismus, der eingangs über die polemische Kritik von Reichenbach bereits zur Sprache kam. In der Nachfolge einer kritisch rationalistischen Position wird Theorie als Zusammenhang von Sätzen gedacht, die auf die Beschreibung der Realität ausgerichtet ist, damit sie durch Letztere überprüfbar ist und bleibt. Von hier aus rückt die Theorie in eine vorwissenschaftliche Stellung ein: Man versteht sie zum einen als Grundlage, die der eigentlichen wissenschaftlichen Wissensproduktion im Sinne einer empirischen Überprüfung vorausgeht. Zum anderen wird Theorie selbst auf eine propädeutische Funktion reduziert – im Sinne „fachlicher Grundlagen“4.

Es wäre sicherlich lohnenswert, für die Breite der Erziehungswissenschaft zu sichten und zu rekonstruieren, auf welche Theoriebegriffe wie rekurriert wird. Neuartige Erkenntnisse könnten dadurch zustande kommen, dass der Umgang mit „Theorie“ nicht vorschnell mit den üblichen wissenschaftlichen Paradigmen identifiziert wird, sondern die Aufmerksamkeit stärker auf die Praktiken und Formen gerichtet wird, wie Theorie eingesetzt wird. An die Stelle eines (holistischen) Erkenntnisprogramms treten der Umgang mit Wissensformen und der Vollzug des Erkenntnisbildungsprozesses. Eine solche praxeologisch inspirierte Perspektive würde von historischen Reflexionen profitieren, ist doch mit Fleck (1980) zu konstatieren, dass es sich bei der Wissenschaft um eine soziale und kulturelle Angelegenheit handelt. Für jeden wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang ist zentral, was ihm vorausgeht und auf welche Wissensgrundlagen, Forschungsroutinen und Praktiken der Organisation von Wissen er sich stützen kann. Auf diese Weise werden die Pluralität und Kontingenz im wissenschaftlich-theoretischen Arbeiten zugänglich und die Dichotomie von „theoretischem Wissen“ und „anwendungsbezogenem Wissen“ eingeklammert. Man sieht sich komplexen Ausdifferenzierungsprozessen gegenüber, in denen gleichermaßen das, was als „Grundlegung“ und was als „Anwendung“ verstanden wird, Refigurationen unterliegt.

Die folgende Darstellung muss sich darauf beschränken, das gegenwärtige Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie im Hinblick auf Theorie als Ausprägung einer „Wissensarbeitsforschung“ zu fokussieren. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Auseinandersetzung um die Allgemeine Pädagogik, mit der ein doppelter Aspekt verbunden ist, der im Weiteren genauer zu erläutern ist: Der Problematisierung von disziplinären Einheitsvorstellungen steht eine spezifisch philosophische Signatur von Theoriebildung zur Seite.

Die Debatte um die Allgemeine Pädagogik steht für eine Entwicklung weg von systematischen Einheitsentwürfen hin zu einem „Schauplatz“ disziplinärer Auseinandersetzung, der selbst von Pluralität und Differenz geprägt ist. Einer Beschreibung Norbert Rickens folgend hat sich verschoben, „was unter ‚Allgemeiner Pädagogik‘ verstanden werden kann, von einer (vermeintlichen) fundierenden Grundlagenreflexion zu einer problematisierenden Grenzreflexion“ (Ricken 2010, S. 21). Ähnlich weist Michael Wimmer (2014) der Allgemeinen Erziehungswissenschaft die Aufgabe zu, sich „jedem System“ zu verweigern (Wimmer 2014, S. 384, Hervorh. i. O.) und „die Tugend der Kritik und ihre Tradition zu pflegen und zugleich einer genealogischen Dekonstruktion zu unterziehen, ohne sie aufs Spiel zu setzen, d. h. zugleich die dogmatische Form der Kritik und das, was diese kritisierte, zu problematisieren“ (ebd., Hervorh. i. O.). Wimmer versteht diese Bestimmung gerade auch als Antwort auf gegenwärtige Transformationsprozesse, die im weitesten Sinn auf den Legitimationsverlust von Wissen zu beziehen sind.

Diese Charakterisierung der Allgemeinen Pädagogik steht mit einer philosophischen Dimension erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung in Verbindung, welche für die Konstitution der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie und ihre Arbeit zentral war bzw. ist. Mit dem Bezug auf Philosophie ist nicht gemeint, dass Bildungs- und Erziehungsphilosophie eigentlich im Fach „Philosophie“ verortet sein sollte, wie das mitunter formuliert wird (Stojanov 2017). Auf der ersten Tagung der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ im Jahr 2000 an der TU Dortmund führte Jörg Ruhloff im Rahmen einer Zwischenbilanz für die Kommission aus, dass das Verhältnis der Fachphilosoph*innen zur Erziehungs- und Bildungsphilosophie eher von Unkenntnis und Desinteresse geprägt sei (Ruhloff 2002, S. 85). Gegen eine regionalphilosophische Bestimmung wandte sich auch Wolfgang Fischer (1997), der den philosophischen Zug der Bildungs- und Erziehungsphilosophie im Wesentlichen als Legitimitätsanalyse und -kritik pädagogischen Wissens5 fasste (Fischer 1989; 1996).

Mit der Legitimitätsanalyse und -kritik – oder breiter gesprochen – mit der „Arbeit am Begriff“ wird eine Vielzahl philosophischer Systematiken für die Bildungs- und Erziehungsphilosophie relevant und zwar nicht nur für die Prüfung und Reflexion pädagogischen Wissens, sondern auch für systematische Theoriekonstruktion bzw. -bildung. Wie oben bereits angeführt, sollen im Folgenden nicht die philosophischen Schulen und Traditionen leitend sein. Der Fokus liegt auf dem Vollzug theoretischen Arbeitens und darauf, welche Erkenntnisinteressen sich damit verdichten – über verschiedene Paradigmen und Schulen hinweg. In der folgenden Skizze bildet die „Allgemeine Pädagogik“ insofern eine Referenzfolie, als sich damit Streifzüge durch das Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie unternehmen lassen, für die skeptisch-kritische Sondierungen pädagogischen Wissens (a), die Frage der kategorialen Systematik (b) sowie der disziplinären Grenzverschiebungen (c) wichtige Stationen bilden.

(a) Die bereits angesprochene Legitimitätsanalyse und -kritik, die Wolfgang Fischer in seinem skeptisch-transzendentalkritischen Einsatz ausformuliert hat, lässt sich als markante und wichtige Spielart der Untersuchung pädagogischen Wissens im Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie kennzeichnen. Die Aufgabe von Theorie als Wissensarbeitsforschung besteht hier in einer skeptischen Inblicknahme jener Voraussetzungen, die in pädagogischen Aussagen, Tätigkeiten, Positionen etc. (meist unbedacht) wirksam sind. Durch die transzendentale Analyse können Letztere in ihrer Geltungsreichweite bestimmt und ggf. revidiert werden. Für die pädagogische Skepsis, wie Fischer sie dachte, war zum einen – mit Kant – die Täuschungsanfälligkeit der menschlichen Vernunft relevant, welche es erforderlich machte, der Skepsis eine geradezu methodische Funktion zuzuweisen (Fischer 1996). Zum anderen war eine Blickverschiebung zentral, welche die Position des Denkens oder der Theorie vom Wahrheitsanspruch zunächst ablöste: Zwar kann sich der skeptische Blick auf alle möglichen pädagogischen Gegenstände und Wissensformen richten; zugleich bedeutet dies auch, die Frage nach einem legitimen pädagogischen Wissen nicht positional zu besetzen.

Für das Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie wird hier deutlich, dass erziehungswissenschaftliche Theoriebildung nicht auf Gegenstandstheorien begrenzt ist. Dass eine wichtige Dimension von Theoriebildung gerade auch darin zu sehen ist, welche Verhältnisse (oder auch Widersprüche) zwischen pädagogischen Konzepten und gesellschaftlicher Praxis bestehen, hat u. a. Carsten Bünger prägnant dargestellt, als er die Rolle der Bildungstheorie als Befragung von sozial wirkmächtigen Bildungsbeanspruchungen gefasst hat (Bünger 2019, S. 38). Was hier einerseits greifbar wird, ist, dass Anspruch und Aufgabe von Theorie unter (den Eindrücken von) gesellschaftlichen und historischen Transformationen stehen, wie es oben mit Wimmer (2002) bereits angedeutet wurde (vgl. dazu auch Casale 2011). Andererseits ist die Bildung pädagogischen Wissens mit einem Problemindex versehen: Pädagogische Gegenstandstheorien sind nicht von Finalität gekennzeichnet. Vielmehr sind diese von einer Operativität her zu denken, pädagogische Vollzüge der Wissens- und Denkarbeit zugänglich zu machen.

Der bis hierhin verfolgte Anspruch einer skeptisch-kritischen Sondierung pädagogischen Wissens wird auch dadurch aufgenommen, dass auf Kritik abzielende Kategorien als für pädagogische Wissensbildung relevant ausgewiesen werden, darunter – neben „Kritik“ selbst (Pongratz/Nieke/Masschelein 2004) – ein „nicht-affirmatives pädagogisches Denken“ (Benner 2008), „Widerstreit“ (in je eigenen Akzentuierungen: Koller 2003; Ruhloff 1991) oder auch „Befremdung“ (Ruitenberg 2009). Sabrina Schröder und Daniel Wrana haben in diesem Sinn die Kategorie der „Problematisierung“ ausgearbeitet: Über die Potenzierung des Möglichkeitsstatus pädagogischer Beschreibungen bzw. Diskurse wird die Unmöglichkeit der Schließung des Pädagogischen offenbar (Schröder/Wrana 2017, S. 68 ff.).

(b) Wo die Frage pädagogischer Begriffe und Kategorien aufgenommen wird, ist es wichtig herauszustellen, dass bei aller Pluralisierung und Vervielfältigung ein systematischer Anspruch des Theoretischen aufrechterhalten wird – im Sinne einer Konsistenz und Kohärenz erziehungswissenschaftlicher Theoriearbeiten. In diesen werden Phänomenbeschreibungen, Begriffe, Transformationen zum Ausgangspunkt einer systematisch geleiteten Fokussierung. So kann aus anerkennungstheoretischer Sicht die Relationalität menschlicher Existenz systematisch für eine begriffliche Neufassung von „Bildsamkeit“ genutzt werden (Ricken 2012). Mit einer solchen theoretischen Operation wird die Beschreibung der „sozialen Konzeption des Menschlichen“ in systematischer Abgrenzung zum anthropologischen Topos der Weltoffenheit des Menschen zur expliziten Aufgabe (ebd., S. 347). Dass diese Formen systematischer Bearbeitung für die Erziehungswissenschaft in ihrer gesamten Breite produktiv sind, wird besonders an den Kommissionsbänden „Die Sozialität der Individualisierung“ (Ricken/Casale/Thompson 2016) und „Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts“ (Koller/Casale/Ricken 2014) ersichtlich.

Die systematische Theoriearbeit ermöglicht, eingespielte pädagogische Denkgewohnheiten mit einem Fragezeichen zu versehen. Dazu seien einige Studien genannt, darunter Käte Meyer-Drawes Studien zur Leiblichkeit, durch die eine situierte Vernunft Gestalt annimmt und rationalistische Orientierungen in Pädagogik und Erziehungswissenschaft einer Kritik unterzogen werden (Meyer-Drawe 1984; 1997; 2008). Roland Reichenbachs Ausführungen zum dilettantischen Subjekt (2001) lassen sich als systematischer Einsatz der Erziehungstheorie fassen, der von der Faktizität und Konfliktgeladenheit pädagogischer Begegnungen bzw. Beziehungen ausgeht und damit auf der Grundlage der Pluralität menschlichen Handelns einen Einspruch gegen eine pädagogische Schönwetter-Rhetorik erhebt.

Anzuführen sind an dieser Stelle auch Michael Wimmers Studien zum Paradoxieproblem der Pädagogik (zuletzt Wimmer 2016) bzw. zur „Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen“ (Wimmer 2014). Unmöglichkeit und Ausweglosigkeit werden in ihrer systematischen Produktivität für die Pädagogik bestimmt, z. B. im Hinblick auf die paradoxe Struktur einer Erfahrung des Neuen, die für Lern- und Bildungsprozesse zentral ist.

„Würde das Rätsel des Lernens gelöst, verschwände paradoxerweise auch die Möglichkeit des Radikal Neuen und damit das, was man Lernen nennen könnte. Lernen ist daher doppelt paradox, als Begriff wie auch als Prozess, den der Begriff bezeichnet. Er nötigt das Denken zur Entwicklung eines neuen Gedankens, der an keine bisher bekannte Theorie des Lernens anschließen oder aus bekanntem Wissen abgeleitet werden kann. Die Lerntheorie steckt in demselben Paradox wie ihr Gegenstand und wird von ihr angetrieben, wie das Lernen selbst wohl auch“ (Wimmer 2017, S. 363).

Während die Beiträge von Meyer-Drawe, Reichenbach und Wimmer bei den systematischen Grundlagen von Theoriearbeit ansetzen, indem sie auf die Rolle der Vernunft, die Abständigkeit idealistisch-pädagogischer Konzepte und die Bedeutsamkeit des Paradoxieproblems für Pädagogik eingehen, erstreckt sich die systematische Arbeit in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie auch darauf, den Standpunkt des Theoretisierens und die Möglichkeit der historisch-systematischen Rekonstruktion selbst zu bestimmen. Im Lichte der oben bereits angeführten gesellschaftlichen und historischen Transformationen ist es dann systematisch angezeigt, Theoriediskurse selbst zu historisieren, wie dies beispielsweise Martina Lütke-Harmann (2016) in ihrer Studie zur politischen Epistemologie (und zu Verhältnisbestimmung des Politischen zum Sozialen) unternommen hat. Eine andere systematische Blickrichtung ist von Carsten Bünger und Sabrina Schenk aufgenommen worden, die das Tradieren als Übersetzen ausformuliert haben (Bünger/Schenk 2019).

(c) Der Begriff der Übersetzung lässt sich auch aufgreifen, um jene erziehungswissenschaftliche Theoriearbeit zu charakterisieren, die sich unter dem Stichwort der „disziplinären Grenzverschiebungen“ als Lektüren zu Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Niklas Luhmann, Hannah Arendt u. a. entsponnen haben. Kerstin Jergus hat beispielsweise die Rezeption der Arbeiten Butlers für eine systematisch-erziehungswissenschaftliche Feldvermessung genutzt. Die Produktivität des Blicks kommt durch die Irritation der Ordnungen des Innen und Außen zustande, die sich im genannten Beitrag auf die Hervorbringung des Subjekts richtet.

„Dass Kritik wie Bildung ein Subjekt adressieren, dessen Souveränität sie hervorbringen wie eben dadurch kreuzen, wird für erziehungswissenschaftliche Theorien und Forschungen zur Frage danach, durch welche Sprache, durch welche Normen, durch welche Machtverhältnisse sie gesprochen und in Anspruch genommen werden, wenn das Subjekt den Ausgangs- und Fluchtpunkt ihrer Überlegungen darstellt“ (Jergus 2012, S. 36).

Dass in diesen und anderen Beiträgen (vgl. zum Innen und Außen auch Masschelein/Ricken 2002) die Wissensordnungen der Erziehungswissenschaft zur Frage stehen, ist für zwei weitere Schauplätze der Theoriearbeit von Bedeutung, die hier unter den „disziplinären Grenzverschiebungen“ angesprochen werden sollen: zum einen das Verhältnis von erziehungswissenschaftlicher Theorie und Empirie und zum anderen eine kulturwissenschaftliche Forschung, die kulturelle Werke für die erziehungswissenschaftliche Wissensbildung nutzt.

Zum Verhältnis von Theorie und Empirie sei festgehalten, dass wechselseitige Anregung und Weiterführung an die Stelle kurzsichtiger Frontstellungen gerückt sind. Bildungsphilosophische Reflexionen werden genutzt, um die empirische Zugangsweise zu Bildungsprozessen zu reflektieren (Kokemohr 2007; Nohl 2006b; Brinkmann 2015). Die hier verfolgten Fragen betreffen in ihrer Grundsätzlichkeit die Identifizierung bzw. Identifizierbarkeit von Bildungsprozessen selbst (Koller 2006; Schäfer 2006; Thompson/Jergus 2014). Umgekehrt eröffnen empirische Studien die Möglichkeit, systematischen Problemstellungen nachzugehen, wie dies z. B. im Zusammenhang der Spontaneität von Bildungsprozessen (Nohl 2006a), zu Weltbezug bzw. Weltvergessenheit des Bildungsdenkens (Wigger 2006; Rosenberg 2010) oder zum Verhältnis von Bildung und Subjektivierung erfolgt ist (vgl. auch Ricken/Casale/Thompson 2019).

Die Annäherung von Theorie und Empirie verlief auch über eine stärkere kulturwissenschaftliche Akzentuierung der Erziehungswissenschaft. In diesen Zusammenhang gehört die Filmbildungsforschung, aber auch die Auseinandersetzung mit Literatur und Serien (vgl. in Stellvertretung für viele Beiträge: Sanders 2014; Koller/Rieger-Ladich 2006). Die Produktivität für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung lässt sich in mindestens zweifacher Hinsicht bestimmen. Neben der oben bereits angesprochenen Irritation pädagogischer Denkfiguren (vgl. Koller/Rieger-Ladich 2014) liegt das große Potenzial dieser Theoriearbeit darin, die Darstellungsformen der kulturellen Werke bzw. Praxen für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar zu machen.