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Magdalena Gercke

Berufsbezogene Orientierungsmuster von Lehramtsstudierenden im Hinblick auf schulische Inklusion

Die Autorin

Magdalena Gercke ist Akademische Rätin a. Z. im Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik der Universität Erfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Inklusions- und Lehrer*innenprofessionsforschung.

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktorin der Philosophie (Dr. phil.), angenommen an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt unter dem Titel:

Ein rekonstruktiver Vergleich berufsbezogener Orientierungsmuster von Studierenden der Lehrämter Grund-, Regelschule und Förderpädagogik im Hinblick auf schulische Inklusion.

Impressum

1 Einleitung

„Ich glaube, die Sonderpädagogen haben allein durch die fachliche Ausbildung einen anderen Blick auf die Kinder und bringen auch mehr Wissen mit, das im Unterricht anzuwenden ist. Was ich als normale Grundschullehrerin nicht kann […].

Ich selber stoße an meine Grenzen, weil ich das fachliche Wissen nicht mitbringe, also, weil ich wirklich auf Kinder gestoßen bin, die nicht in mein Grundschullehrerschema reingepasst haben“.

Sabrina Friedel, Grundschullehrerin

Das Zitat von Sabrina Friedel stammt aus einem Interview, das im Rahmen eines Schulbegleitforschungsprojekts1 geführt wurde. Sie resümiert an dieser Stelle ihre Erfahrungen aus dem integrativen Unterricht an ihrer Grundschule. Besonders bemerkenswert ist ihre Einschätzung in Bezug auf sich selbst im zweiten Teil der Aussage. Die Bezeichnung „Grundschullehrerschema“ deutet ein Passungsproblem in der Arbeit im integrativen Unterricht an. Auslöser seien bestimmte Kinder. Dabei verweist das „Grundschullehrerschema“ auf eine kollektive, berufsbezogene Dimension dieses Erlebnisses. Sonderpädagog*innen hätten im Gegensatz zu ihr, einer Grundschullehrerin, einen „anderen Blick auf die Kinder“ und ein anderes Wissen durch ihre fachliche Ausbildung. Es ist also einerseits ein konkretes Wissen, andererseits aber auch eine unspezifische, scheinbar schwer beschreibbare Haltung oder ein (berufliches) Verständnis, das die Grenze zwischen den zwei Professionen, Grundschullehrkraft und Sonderpädagog*in, aus Friedels Sicht markiert.

Das Zitat steht exemplarisch für den Ausgangspunkt der vorliegenden Dissertation zu berufsbezogenen Orientierungsmustern im Hinblick auf schulische Inklusion. Der Begriff „Grundschullehrerschema“ löste erste Überlegungen zur Forschungsarbeit aus: Was ist es? Welche Funktion hat es? Was hat es mit Wissen und einem „Blick auf Kinder“ zu tun? Wie und warum kann es ein Passungsproblem auslösen? Und vor allem: Woher kommt dieses Schema? – und gibt es dann auch ein ‚Sonderpädagogen-Schema‘ oder ein ‚Regelschullehrer-Schema‘? Vor allem vor dem Hintergrund aktueller Bemühungen, ein inklusives Bildungssystem zu etablieren, stellt sich dann auch die Frage, was sich verändern müsste, damit Sabrina Friedel alle Kinder anerkennen und inklusiven Unterricht gestalten kann.

Diese Überlegungen führten zu der Entscheidung, den Ort in den Fokus zu nehmen, an dem Wissen über den Lehrberuf erstmalig systematisch erworben wird – das Lehramtsstudium an Hochschulen. Das Studium erfolgt in den meisten Bundesländern getrennt nach bis zu sechs verschiedenen Lehramtstypen.2 D. h. die Curricula und Ausbildungsinhalte unterscheiden sich je nach angestrebtem Lehramtstyp. Wird dort eine lehramtstypspezifische Auslegung des Berufs, wie z. B. das „Grundschullehrerschema“, angebahnt?

Die Vorbereitung auf schulische Inklusion – verstanden als eine normative Zielvorstellung der aktuellen Lehrer*innenbildung – wurde zuletzt von der Hochschulrektorenkonferenz [HRK] und Kultusministerkonferenz [KMK] (2015) als Querschnittsthema in allen Ausbildungsbereichen des Lehramts gefordert. Für die Gestaltung inklusiver Prozesse sollen sich also alle Lehrkräfte ungeachtet ihres Einsatzortes in den verschiedenen Schulformen verantwortlich und kompetent fühlen. Zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Kontext einer „inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung“ (Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung [Agency], 2012) belegen die Aktualität und Dringlichkeit dieses Anliegens im deutschsprachigen Raum. Führen diese Entwicklungen dazu, dass Lehramtsstudierende den Auftrag, inklusive Prozesse in Schule und Unterricht mitzugestalten, gleichermaßen annehmen?

An der Schnittstelle zwischen normativen Zielen und Ausbildungspraxis im Lehramt liegend, ordnet sich die vorliegende Arbeit in die Studien zur Professionsforschung und Lehrer*innenbildung ein. Es wird danach gefragt: Wie setzen sich Lehramtsstudierende mit den Herausforderungen schulischer Inklusion vor dem Hintergrund ihrer berufsbezogenen Orientierungsmuster auseinander? Daraus leiten sich Teilfragen ab: Welche berufs- und inklusionsbezogenen Orientierungsmuster zeigen sich unter Lehramtsstudierenden? Wie schließen sie an das Thema schulische Inklusion an? Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Lehramtstypen?

Das Erkenntnisinteresse ist ein überwiegend exploratives. Es geht darum, genauer zu verstehen, wie sich Studierende den Lehrer*innenberuf aneignen, d. h. wie und womit sie sich auseinandersetzen und vor allem, wie sie dabei das Thema schulische Inklusion verarbeiten. Auf theoretischer Ebene wird ein Beitrag zur Systematisierung und Konzeptualisierung der ersten Professionalisierungsschritte im Studium geleistet. Auf empirischer Ebene liefern die Forschungsergebnisse Thesen, mit denen bestehende Erkenntnisse aufgeklärt und weitere Forschungen initiiert werden können. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, eine bestimmte Studienstruktur oder Ausbildungsinhalte von angehenden Lehrkräften zu bewerten. Gleichwohl werden die Ergebnisse im Kontext der Ausbildungspraxis reflektiert. Empfehlungen für die konkrete Gestaltung eines Lehramtsstudiums, das auf schulische Inklusionsprozesse vorbereitet, können diskutiert werden.

1.1 Konzeption und Inhalt

Die Arbeit ist in vier Teilbereiche A-D gegliedert. Jeder Teil liefert einen eigenen Beitrag zum Erkenntnisinteresse der Arbeit und besteht aus zwei bis drei fortlaufend nummerierten Kapiteln.

In Teil A wird das aktuelle Entwicklungs- und Forschungsgeschehen zur „Inklusionsorientierte[n] Lehrer*innenbildung und Professionalisierung“ analysiert. Dabei wird in Kapitel 2 aufgezeigt, wie eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung in Deutschland derzeit konzeptualisiert wird. Darüber hinaus werden Forschungsbefunde präsentiert und diskutiert, die eine Annäherung an eine erste Antwort auf die Frage nach berufsbezogenen Orientierungsmustern von Studierenden im Zusammenhang mit schulischer Inklusion liefern. Die Darstellung des Forschungsstandes in Abschnitt 2.2 wird mit einer Begriffsdiskussion eröffnet, bevor relevante Ergebnisse dargestellt werden. Die Verwendung des Konzepts der Orientierungsmuster erfährt eine erste Begründung. Kapitel 3 vollzieht den Anschluss an unterschiedliche Professionalisierungsansätze im Lehramt. Die Frage, wie der Lehrberuf ausgebildet wird, kommt nicht ohne eine normative Zielperspektive aus, nämlich der Vorstellung, wie eine gute, erfolgreiche oder professionelle Lehrkraft arbeitet. Darum werden die drei dominanten Professionalisierungsansätze mit Blick auf die Anforderungen schulischer Inklusion diskutiert. Am Ende dieses Kapitels erfolgt damit eine begründete Entscheidung für ein spezifisches Professionalisierungskonzept in dieser Arbeit.

In Teil B „Bildungssoziologische Perspektiven auf die erste Phase der Lehrer*innenbildung“ erfährt dieses Konzept eine weitere theoretische Fundierung. Hier wird der Anspruch eingelöst, einen eigenen Beitrag zu einem besseren Verständnis der ersten Professionalisierungsschritte im Lehramtsstudium zu leisten. Bourdieus Habitus- und Feldtheorie liefert die praxeologische Grundlage, die um bildungs- und subjektivierungstheoretische Perspektiven erweitert wird (Kapitel 4). Anschließend werden diese Grundlagen mit Blick auf das Subjekt (Kapitel 5) und das Feld (Kapitel 6) für die erste Phase der Lehrer*innenbildung fruchtbar gemacht.

Der theoretischen Analyse folgt Teil C, die „Empirische Studie“. Es wird sich zeigen, dass die zuvor dargestellten Mechanismen und Prozesse nur empirisch weiter zu klären sind. Die Studie fungiert also als empirische Fundierung und erste Prüfung der zuvor entwickelten gegenstandsbezogenen Theorie. Zunächst werden Konzeption und Durchführung des Forschungsvorhabens beschrieben (Kapitel 8). Die anschließenden drei Kapitel bilden die rekonstruktive Auswertung des Datenmaterials. Kapitel 9 ermöglicht einen deskriptiven Zugang zum Datenmaterial, wodurch methodische Entscheidungen im Auswertungsprozess nachvollziehbar werden. Kapitel 10 und 11 folgen den Schwerpunkten der forschungsleitenden Frage nach berufsbezogenen Orientierungsmustern von Studierenden unterschiedlicher Lehramtstypen im Hinblick auf schulische Inklusion.

Teil D „Schlussbetrachtung“ führt die Ergebnisse der vorangegangenen Teile zusammen. Es wird diskutiert, welche Erkenntnisse und weiterführenden Thesen durch den spezifischen theoretischen Ansatz zusammen mit den vorliegenden empirischen Ergebnissen gewonnen werden können (Kapitel 12). Der Forschungsprozess wird systematisch reflektiert, woraufhin weitere Forschungsperspektiven abgeleitet werden (Kapitel 13). Darüber hinaus werden in einem Ausblick Implikationen für die curriculare Gestaltung des Lehramtsstudiums im Zusammenhang mit ersten Professionalisierungsschritten im Lehramt aufgezeigt (Kapitel 14).

1.2 ‚Schulische Inklusion‘ im Kontext der Arbeit

Der Terminus ‚schulische Inklusion‘ wird in der Arbeit häufig verwendet, um eine Zielsetzung aktueller bildungsbezogener Entwicklungsprozesse in Deutschland zu bezeichnen. Da sich seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ein umfassender Inklusionsdiskurs in bildungspolitischen und -wissenschaftlichen Zusammenhängen etabliert hat, wird im Folgenden das Verständnis von ‚schulischer Inklusion‘ im Kontext dieser Arbeit aufgezeigt. Das ist notwendig, um in den genannten Zusammenhängen transparent und anschlussfähig zu bleiben.

Schulische Inklusion wird in den theoretischen Teilen dieser Arbeit vor allem als Eingrenzung der umfassenden theoretischen und praktischen Bezüge des Inklusionsbegriffes verwendet. Es wird nicht von inklusiver Bildung geschrieben, da Bildung subjektseitig sehr viel mehr impliziert als das, was in der Institution Schule stattfindet.3 Inklusive Bildung ist als Prozess über die gesamte Lebensspanne in formellen und informellen Settings zu verstehen (vgl. UN-BRK, 2008, Art. 24, Abs. 1). Schulische Inklusion bezieht sich auf einen umfangreichen Entwicklungsprozess, der innerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems stattfindet. Die menschenrechtsbasierte Definition von Inklusion in der Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission liefert für die Arbeit einen Rahmen. Schulische Inklusion

„wird also als ein Prozess verstanden, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und [jungen] Erwachsenen eingegangen wird. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation an Lernprozessen [und Schulkultur] […], sowie durch Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der [schulischen] Bildung. Dazu gehören Veränderungen in den Inhalten, Ansätzen, Strukturen und Strategien. Diese Veränderungen müssen von einer gemeinsamen Vision getragen werden, die alle Kinder innerhalb einer angemessenen Altersspanne einbezieht, und von der Überzeugung, dass es in der Verantwortung des regulären Systems liegt, alle Kinder zu unterrichten“ (Deutsche UNESCO-Kommission, 2010, S. 9, adaptiert MG).

Dabei erscheint allerdings die Ausweitung auf alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und damit auf alle denkbaren Facetten von Heterogenität problematisch. Deshalb wird der UNESCO-Definition eine Einschätzung von Kiuppis und Hausstätter (2014) zur Seite gestellt. Mit dem Titel „Inclusive Education for All, and especially for some?“ weisen sie auf das Spannungsverhältnis zwischen einer diffusen Ausweitung des Inklusionsbegriffs auf alle und einer Einengung auf wenige, z. B. Menschen mit Behinderungen, hin. Sie schlagen einen mittleren Grad vor, sodass in inklusiven Prozessen vor allem Menschen in den Blick genommen werden, die zu vulnerablen und marginalisierten bzw. von Marginalisierung bedrohten Gruppen gehören (vgl. auch Biewer, 2010, S. 193). Dieser Fokussierung wird auch hier gefolgt.

Es kann davon ausgegangen werden, dass im Rahmen schulischer Inklusion inklusive Lern- und Bildungsprozesse stattfinden. Darüber hinaus adressiert der hier verwendete Begriff institutionelle und professionelle Veränderungen und Entwicklungsprozesse, wie in Tab. 1 dargestellt. Die Tab. 1 basiert auf den 15 Dimensionen schulischer Inklusion nach Krämer, Przibilla und Grosche (2016). Die Autoren sammelten aus wissenschaftlichen Aufsätzen, Büchern, Vorträgen und Gesprächen von und mit Expert*innen der Inklusionsforschung 644 Merkmale schulischer Inklusion, die sie in insgesamt 800 Analyseeinheiten zerlegten und mittels qualitativer Inhaltsanalyse zu 108 Indikatoren verdichteten. Diese wurden in 15 Dimensionen gruppiert (ebd.).

Tab. 1: Dimensionen schulischer Inklusion (Krämer et al., 2016, S. 89)

1. 

Sozialisation, Verständnis & Denken

2. 

Schulform, Ausstattung & Ressourcen

3. 

Partizipation & Chancengleichheit

4. 

Respekt, Wertschätzung & Anerkennung

5. 

Curricula, Entwicklungs- und Kompetenzstufen

6. 

Leistungen, Bewertungen & Hierarchien

7. 

Kooperation, Zusammenarbeit & Multiprofessionalität

8. 

Expertise, Qualifikation & Weiterbildung

9. 

Diagnostik & Ergebnisse

10. 

Förderung & Unterstützung

11. 

Gemeinsamkeit, Partizipation & Heterogenität im Unterricht

12. 

Methoden, Individualisierung & Differenzierung im Unterricht

13. 

Offenheit, Wahlmöglichkeit & Authentizität im Unterricht

14. 

Klassenführung, Regeln & Rhythmisierung im Unterricht

15. 

Konflikte, Probleme & Beschwerden

Für diese Arbeit sollen die 15 Dimensionen dazu dienen, schulische Inklusion zu skizzieren. Eine vertiefende, inhaltliche Beschreibung der Dimensionen und der dazugehörigen Indikatoren ist dafür nicht nötig. Wenn sich im Folgenden z. B. auf „Herausforderungen schulischer Inklusion“ bezogen wird, dann sind damit die Konsequenzen für alle an Schule beteiligten Akteur*innen gemeint, die sich aus den 15 Dimensionen ergeben.4

Teil A Inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung und Professionalisierung

Die Relevanz der zentralen Frage nach berufsbezogenen Orientierungsmustern von Studierenden im Hinblick auf schulische Inklusion ergibt sich aus den aktuellen Diskussionen um eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung. Teil A eröffnet somit den inhaltlichen Rahmen der Forschungsarbeit.

2 Entwicklungs- und Forschungsstand zur inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung

Das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfrage dieser Arbeit stehen im direkten Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Auftrag, Lehramtsstudierende auf ihrem Weg in den Beruf auf die Herausforderungen schulischer Inklusion vorzubereiten. Spätestens seit 2009 werden auf Bundes- und Landesebene verschiedene Anstrengungen unternommen, um diesem Auftrag gerecht zu werden. Die Bezeichnung „inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung“ bezieht sich im Kontext dieser Arbeit auf die erste Phase, d. h. das Lehramtsstudium an Hochschulen in Deutschland.5 Die Erforschung berufsbezogener Orientierungsmuster in Anbetracht schulischer Inklusion findet in diesem Rahmen statt. Dazu werden im folgenden Kapitel zunächst aktuelle Entwicklungskonzepte und -trends aufgezeigt, bevor einschlägige Forschungsbefunde diskutiert werden.

2.1 Hochschulische Entwicklungskonzepte und -trends

Die Beschreibung aktueller, inklusionsorientierter Entwicklungen und Trends in der Lehrer*innenbildung an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland findet im Folgenden auf drei Ebenen statt: lehramtsbezogene Studiengänge und -curricula, Lehrveranstaltungen sowie hochschulische Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF], 2013).

2.1.1 Lehramtsbezogene Studiengänge und -curricula

Zunächst stellt sich die Frage, wie allgemeine und sonderpädagogische Lehramtsstudiengänge6 zueinander profiliert werden. Es gibt unterschiedliche Ansätze, die dieses Verhältnis (neu) bestimmen. Sie stammen aus dem angloamerikanischen Sprachraum und werden auch auf die deutsche Hochschullandschaft angewendet. Es handelt sich um „[…] the Infusion model, the Collaborative Training model and the Unification model“ (European Agency for Development in Special Needs Education [European Agency], 2010). Das Infusion Modell beschreibt eine Variante, in der allgemeine Lehramtsstudierende einige wenige Kurse zu schulischer Inklusion und Heterogenität absolvieren. Das sonderpädagogische Lehramt bleibt eigenständig und unabhängig davon erhalten. Im Collaborative Training Modell bleiben ebenfalls die getrennten Studiengänge erhalten. Studierende der allgemeinen und sonderpädagogischen Lehrämter besuchen allerdings gemeinsame Veranstaltungen und/oder absolvieren Praxisphasen in Tandems. Das Unification Modell vereint allgemeine und sonderpädagogische Studiengänge, d. h. alle Lehramtsstudierende absolvieren das gleiche Curriculum, das sie auf den Einsatz in inklusiven Settings vorbereitet (ebd., vgl. auch Lütje-Klose, Miller & Ziegler, 2014, S. 74). Nach Lindmeier (2013, S. 181) unterscheiden sich die drei Modelle in ihrer curricularen Kohärenz, in der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fächern, in der Tiefe und Breite des Wissens, in der Beurteilung von Lehr-/Lernergebnissen und in der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Schulen.

Einen detaillierten Einblick in die Organisation und Inhalte der Lehrer*innenbildung in Deutschland gibt der „Monitor Lehrerbildung“.7 In einer Befragung haben im Herbst 2014 61 von 65 teilnehmenden lehrer*innenbildenden Hochschulen sowie ein Jahr später die Länder Auskunft u. a. zu curricularen und inhaltlichen, inklusionsbezogenen Aspekten gegeben. Mit Blick auf die Organisation von sonderpädagogischen und allgemeinen Lehramtsstudiengängen zeigte sich, dass keine der 20 befragten sonderpädagogischen Studienstätten plant, das eigenständige sonderpädagogische Lehramt abzuschaffen (Monitor Lehrerbildung, 2015a, S. 5). Allerdings gab es fünf Universitäten, an denen es Studienangebote mit integrierter Sonderpädagogik gibt.

Zwei überdachten ein derartiges Angebot zum Zeitpunkt der Befragung, weitere sieben planten Umstrukturierungen (Monitor Lehrerbildung, 2015a). Moser und Demmer-Dieckmann (2013, S. 161 f.) identifizierten in der bundesdeutschen Hochschullandschaft vier Modelle.

Hochschulrektoren- und Kultusministerkonferenz empfehlen, Inklusion als Querschnittsaufgabe an den Hochschulen zu verorten (HRK & KMK, 2015). Bereits zuvor hat die KMK diesen Anspruch mehrfach in ihren Rahmenvereinbarungen, Empfehlungen und Standards zur Lehrer*innenbildung deutlich gemacht (KMK, 2010, 2004b, 2008, 2011; Laubner & Lindmeier, 2017). Grundlagen zum Umgang mit Heterogenität und Inklusion in den allgemeinen Lehramtsstudiengängen sowie Grundlagen der Förderdiagnostik sind seit 2013 in allen Lehramtsstudiengängen im Rahmen bildungswissenschaftlicher Ausbildungsanteile anzubieten (vgl. Rahmenvereinbarungen über Ausbildung und Prüfung der verschiedenen Lehramtstypen: KMK, 1994, 1995, 1997b, 1997c, 1997d in den je aktuellen Fassungen). Den für alle Lehrämter gültigen „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ (KMK, 2004b) wird dabei eine große Signalwirkung für die Inklusionsorientierung in der Lehrer*innenbildung zugeschrieben (Lindmeier, 2015). In der Fassung von 2014 werden dort die Kernkompetenzbereiche Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren inklusionsorientiert ausgedeutet. Bezüge zu ‚Heterogenität und Diversität‘ firmieren dort als ein populäres Begriffspaar, vor allem in den Kompetenzbereichen Erziehen und Beurteilen. Im Bereich Unterrichten geht es dann vor allem darum, „was bei der Planung von Unterrichtseinheiten auch in leistungsheterogenen Gruppen beachtet werden muss“ (KMK, 2004b, S. 7). Bei Beurteilungen sollen unterschiedliche Lernvoraussetzungen sowie Hoch- und Sonderbegabungen beachtet werden. Dazu gehöre eine Lernprozessdiagnostik. Letztlich sollen im Bereich Innovieren auch Herausforderungen in inklusiven Schulentwicklungsprozessen in den Blick genommen und diese Themen „als Reflexions- und Beobachtungschwerpunkt in unterrichts- und schulnahen Lehrveranstaltungen bzw. als Schwerpunktbereich in Praktikumsphasen verankert werden“ (HRK & KMK, 2015, S. 14).

Da auch Lehrer*innenbildung zu einer der föderalen Aufgaben der Bundesländer gehört, verlaufen Entwicklungen an den Hochschulen unterschiedlich. Ein Überblick über die gesetzlichen Regelungen und Richtlinien für die Lehrer*innenbildung allgemeiner Lehrämter in den verschiedenen Bundesländern zur Inklusion zeigt, dass die Spannbreite von „kein Thema im Rahmen der landesweiten Vorgaben“, z. B. Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, über wenige, unverbindliche (z. B. Sachsen) oder verbindliche Vorgaben (z. B. Thüringen) bis zu sehr umfangreichen Regelungen (z. B. Mecklenburg-Vorpommern) reicht (Walm, 2013). Über die Situation an den einzelnen lehrer*innenbildenden Hochschulen sagen diese rechtlichen Regelungen allerdings noch nicht viel aus. Das zeigen Beispiele an der Martin-Luther-Universität Halle/Saale in Sachsen-Anhalt oder der Universität Flensburg in Schleswig-Holstein: Beide Bundesländer machen keine rechtlichen Vorgaben, an den Universitäten wird das Thema Inklusion in der Lehrer*innenbildung jedoch aufgegriffen und modular umgesetzt (Walm, 2013).

Durch die Befragung der Hochschulen des Monitors Lehrerbildung8 zeigt sich auf curricularer Ebene, dass „Inklusion“ vor allem ein Querschnittsthema in den Bildungswissenschaften, es also kein gesondertes Modul oder spezielle Veranstaltung ist, darstellt (vgl. Abb. 1). Es darf allerdings die Frage gestellt werden, inwiefern hier die Bezeichnung Querschnittsthema gerechtfertigt ist, wenn sich der Querschnitt nur auf einen der drei Ausbildungsbereiche bezieht.

Abb. 1: Inklusion als Querschnittsthema (Monitor Lehrerbildung, 2015a, S. 6, eigene Nachbildung)

Nur an vier Hochschulen ist es ein „echtes“ Querschnittsthema, also in allen Ausbildungsbereichen verankert, acht weitere planen eine derartige Umsetzung (Monitor Lehrerbildung, 2015a, S. 74). Als eigenständiges Modul und damit verpflichtend ist das Thema Inklusion in weniger als der Hälfte der Lehramtsstudiengänge verankert (Abb. 2).

Die Autor*innen des Monitors Lehrerbildung kommen zu dem Schluss, dass Inklusion überwiegend als einer neben anderen Ausbildungsinhalten behandelt wird. In den wenigsten Fällen durchdringt es die Curricula als „innovativer Grundgedanke“ (ebd., S. 9). Auch Lindmeier (2015) stellt für den deutschen Raum fest, dass die Einführung von Basismodulen zu „Inklusion und Umgang mit Heterogenität“ in den Bundesländern derzeit favorisiert wird. Der Trend geht also in Richtung des Infusion Modells.

Neben den bisher aufgezeigten Entwicklungen gibt es auch Konzepte, die auf einer fundamentalen Kritik der Lehrer*innenausbildung basieren und völlig neue Strukturen vorschlagen. Diese würden Lehramtsstudierende dann auch besser auf schulische Inklusion vorbereiten. So beschreibt Feuser (2013) eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung als „aufklärungsbasiertes Studium“, das

„unter politologischen, ökonomischen, soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten die Analyse der Geschichte von Ausgrenzung und Vernichtung von als behindert und in anderer Weise als abweichend und minderwertig erachteten Menschen betreibt und die eigene Verflochtenheit in diese bevölkerungs- und bio-politischen, rassistisch-eugenischen und lebensphilosophischen Zusammenhänge zur Bewusstheit bringt“ (ebd., S. 45).

Abb. 2: Verpflichtende Lehrveranstaltungen oder Module zum Thema Inklusion an den Hochschulen (Monitor Lehrerbildung, 2014b, eigene Nachbildung mit Ergänzung absoluter Zahlen aus Monitor Lehrerbildung, 2015a, S. 6)

Hochschuldidaktisch hält er mehrsemestrige Projektstudien für angemessen. Diese Projekte umfassen gleichermaßen Theoriebildung, Forschung und Praxis. Sie sind nicht nur auf inklusive Prozesse ausgerichtet, sondern schließen auch Menschen mit Behinderungen ein, sodass diese Projekte selbst auch als inklusiv zu bezeichnen sind (ebd., S. 46). Damit würde die Grundlage geschaffen werden, „dass Lehrkräfte dauerhaft in der Lage bleiben, sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse anzueignen und in die eigene professionelle Praxis zu integrieren sowie sich an Schulentwicklung […] zu beteiligen“ (Heinrich, Urban & Werning, 2013, S. 82). Seine „inklusive LehrerInnen-Bildung“ konzipiert Feuser (2013) auf Bachelorniveau als „inklusives Projektstudium, das in modularisierter Form interdisziplinär angelegt, transdisziplinär orientiert ist und multiprofessionell durchgeführt wird und in das alle Forschungs-, Leistungs-, Praxis- und Prüfungsanteile pädagogischer und therapeutischer Art wie alle weiteren Fachanteile integriert sind“ (ebd., S. 58). Auf Masterniveau folgen Spezialisierung und Vertiefung. Auch Merz-Atalik (2014) entwirft Thesen zu einer umfangreichen Neustrukturierung der Lehrer*innenbildung. Diese beziehen sich z. B. auf ein stufenbezogenes Lehramtsstudium (statt Schulformorientierung), die Aufhebung der Fachrichtungs- und Förderschwerpunktdenominationen in Studiengängen, Pflichtmodule zu Teamarbeit oder inklusiver Didaktik und ein inklusives Lehren in der Hochschuldidaktik (ebd., S. 276). Sowohl Feuser (2013) als auch Merz-Atalik (2014) plädieren damit für einen grundlegenden Wandel in der Lehrer*innenbildung.

2.1.2 Lehrveranstaltungen

Betrachtet man die aktuellen Entwicklungen auf der Ebene der Lehrveranstaltungen, zeigt sich, dass in der Mehrheit der Bundesländer die Themenschwerpunkte „Inklusion“ und „Umgang mit Heterogenität“, wie von der KMK beschlossen, auch in den Lehramtsstudiengängen angeboten werden. Der Umfang variiert jedoch je nach Lehramtstyp (Monitor Lehrerbildung, 2015b). „Individuelle Förderung/Binnendifferenzierung“ sind weniger populär und „Teamteaching“ ist nur in wenigen Bundesländern als verpflichtendes Thema vorgesehen (ebd.).

Zurzeit findet sich eine Vielzahl an Berichten über universitäre Lernangebote für Lehramtsstudierende, die auf Inklusion ausgerichtet sind (z. B. Inklusion in Praxisphasen: Amrhein, 2011b; Höhle, 2015; Sawalies, Veber, Rott & Fischer, 2015; Fallsupervision und Beratung: Rumpold, 2015; kooperative Lernsettings/Lernwerkstätten: Kopp, 2009; Breyer & Erhardt, 2013; Rank & Scholz, 2016; Sickert, 2016; Inklusive Didaktik: Amrhein & Dziak-Mahler, 2014). Sie sind zum Teil in Forschungs- und Evaluationsprojekte eingebettet.9

Die große Anzahl dieser Publikationen bestätigt quantitative Analysen zum Lehrangebot: Während vor 2009 an der Hälfte der deutschen Hochschulen z. B. noch gar keine Veranstaltungen für Grundschullehramtsstudierende zum Thema Gemeinsamer Unterricht angeboten wurden (Franzkowiak, 2009), ermitteln Sawalies et al. (2015) in einer explorativen Studie an 25 ausgewählten Hochschulstandorten 244 inklusionsbezogene Veranstaltungen im Rahmen allgemeiner Lehramtsstudiengänge. Dabei werden diese nicht exklusiv für ein bestimmtes Lehramt angeboten und auch die inhaltliche Fokussierung verfolgt ein eher weites Inklusionsverständnis.

2.1.3 Forschungs- und Entwicklungsförderung

Im Zusammenhang mit Innovationen in der Lehrer*innenbildung werden seit 2014 Forschungs- und Entwicklungsprojekte vom Bund gefördert. Die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des BMBF (2013) zielt u. a. darauf ab, die „Fortentwicklung der Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der Heterogenität und Inklusion“ zu unterstützen (BMBF, 2013, § 1, Abs. 1). Es wurden insgesamt 49 Projekte positiv beschieden, womit 59 Hochschulen in das Programm aufgenommen wurden. Ein genauerer Blick auf die bewilligten Projekte gibt Antworten darauf, welche Hochschulstandorte derzeit intensiver, d. h. mit einem Mehr an finanzieller Ausstattung, an einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung arbeiten und zu welchen konkreten Aspekten diese Forschungs- und Entwicklungsarbeit geschieht.

Das BMBF (o. J.) gelangt zu der Einschätzung: „Nahezu alle Projekte unternehmen wesentliche Anstrengungen, die angehenden Lehrerinnen und Lehrer besser mit pädagogischen und diagnostischen Kompetenzen auszustatten, die notwendig sind, um der Vielfalt in unseren Schulen heute gerecht zu werden“. Eine Durchsicht der Projektbeschreibungen (Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt e. V. [DLR], 2015) bestätigt dies: 36 von 49 Projekten beziehen in ihrer Kurzbeschreibung Fragen der Inklusion und Heterogenität/Diversität mit ein. Die Intensität, mit der sich innerhalb der Projekte diesen Themen gewidmet wird, scheint jedoch erheblich zu variieren. So geben z. B. zwei der 36 Projekte die Begriffe sehr unspezifisch bzw. nur in Stichworten an. Zehn Projekte benennen das Thema Inklusion, vier das Thema Heterogenität hingegen bereits im Titel, was eine intensivere Bearbeitung nahelegt.10 In Tab. 2 sind diese 14 Projekte in einer Übersicht zusammengefasst.

Tab. 2: Inklusionsbezogene Projekte im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des BMBF

 

Universität

LA-Typ11

Projekttitel

BE

Humboldt-Universität zu Berlin

2, 3, 4, 5, 

6

Fachdidaktische Qualifizierung Inklusion angehender Lehrkräfte an der HU zu Berlin (FDQI-HU)

BB

Universität Potsdam

1, 2, 4

Professionalisierung – Schulpraktische Studien – Inklusion: Potsdamer Modell der Lehrerbildung (PSI-Potsdam)

BY

Universität Augsburg

1, 3, 4

Förderung der Lehrerprofessionalität im Umgang mit Heterogenität (LeHet)

BY

Universität Bayreuth

3, 4, 5

Fachliche & kulturelle Diversität in Schule & Universität (Diversitaet_Bayreuth)

MV

Universität Rostock

1, 3, 4, 5, 6  

Qualitätsverbesserung des Praxisbezuges sowie die Orientierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an den Anforderungen der Heterogenität und Inklusion (LEHREN)

NI

Leuphana Universität Lüneburg

1, 3, 5

Theorie-Praxis-Vernetzung in der Lehrerbildung in den Handlungsfeldern „Heterogenität und Inklusion“, „Kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung“ und „Professionsbezogene Unterstützungsangebote im Studium“ (ZZL-Netzwerk)

NW

TU Dortmund

1, 3, 4, 5,

6

Das Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrer/innenbildung (DoProfiL)

NW

Universität Bielefeld

1, 3, 4,

6

Bielefelder Lehrerbildung: praxisorientiert-forschungsbasiert-inklusionssensibel (Biprofessional)

NW

Universität zu Köln

1, 3, 4, 5,

6

Heterogenität und Inklusion gestalten – Zukunftsstrategie Lehrer*innenbildung Köln (ZuS)

NW

Universität Duisburg-Essen

1, 3, 4, 5

Professionalisierung für Vielfalt: dynamisch | reflexiv | evidenzbasiert (ProViel)

NW

Westfälische Wilhelms-Universität Münster

1, 3, 4, 5

Dealing with Diversity. Kompetenter Umgang mit Heterogenität durch reflektierte Praxiserfahrung (WWU-QLB)

SL

Universität des Saarlandes

2, 3, 4, 5

Optimierung der saarländischen Lehrer/innenausbildung: Förderung des Umgangs mit Heterogenität und Individualisierung im Unterricht (SaLUT)

ST

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

1, 3, 4,

6

Kasuistische Lehrerbildung für den inklusiven Unterricht (KALEI)

SH

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

4, 5

Lehrkräftebildung mit den Schwerpunkten Stärkung des Professionswissens, der Theorie-Praxis-Verknüpfung, Inklusion, Diagnostik, Recruiting (LeaP@CAU)

TH

Universität Erfurt

1, 3, 5,

6

Identität, Immersion und Inklusion. Eine integrierte Initiative zur nachhaltigen Qualitätsentwicklung der Erfurter Lehrerbildung (QUALITEACH)

Sonderpädagogische und nicht sonderpädagogische Studienstätten sind in der Auswahl gleichermaßen vertreten. Pädagogische Hochschulen kommen nicht vor. Von den ehemals ostdeutschen Bundesländern sind alle außer Sachsen in der Auswahl enthalten. Die Ausrichtung der Projekte entspricht in etwa dem, was die KMK (o. J.) an aktuellen Reformbemühungen in der Lehrer*innenbildung beschreibt. Vor allem die Praxisorientierung wird von der Hälfte der ausgewählten Projekte bereits im Titel aufgegriffen und auf Inklusion ausgerichtet.

Zwar wird von der KMK das Thema „Inklusion“ als Querschnittsthema in Bezug auf alle Projekte herausgestellt. Inwiefern es allerdings innerhalb der Projekte als tatsächliches Querschnittsthema verankert ist bzw. in den Lehramtsstudiengängen etabliert werden soll, ist offen. Die professionalitätstheoretische Anbindung der Projekte lässt sich bei aller Kompetenzrhetorik in den Kurzbeschreibungen (DLR, 2015) nur erahnen.

Einige Beispiele sollen die Bandbreite der inhaltlichen Auslegung und Ausgestaltung einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung an den Hochschulen verdeutlichen.12

In den Projekten der Universität zu Köln „ZuS“ und der Universität Duisburg-Essen „ProViel“ werden z. B. konkrete Inklusionsmodule entwickelt und erprobt (DLR, 2015). Im Rahmen von „ProViel“ geschieht dies als bildungswissenschaftliches Modul plus Wahlpflichtbereich zu unterschiedlichen Schwerpunkten (ebd., S. 39). Die Entwicklungsrichtung scheint hier recht klar am Infusion Modell orientiert zu sein.

Im Rahmen des QUALITEACH-Projekts der Universität Erfurt arbeitet ein Kompetenz- und Entwicklungszentrum Inklusion an der Verbreitung und Aufbereitung sonderpädagogischen Spezialwissens sowie sonder- und inklusionspädagogischer Inhalte und Fragestellungen für alle Bereiche der lehramtsbezogenen Studiengänge (Sallat, Schuchort, Steinert & Stoll, 2018). Dazu werden neben Beratungs- und Begleitangeboten für Lehrende der Bildungswissenschaften, Fachdidaktiken sowie Fachwissenschaften und Workshop-Angebote für Studierende auch „videobasierte Lerneinheiten zu möglichen Problemlagen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Fachunterricht/gemeinsamen Unterricht“ entwickelt (ebd.). Hier wurden also unterschiedliche Initiativen mit Blick auf alle Ausbildungsbereiche im Lehramtsstudium angestoßen. Darüber hinaus zeigt sich eine Tendenz zur ‚Sonderpädagogisierung‘ des Inklusionsdiskurses. Dadurch, dass hier die Sonderpädagogik in die Verantwortung geht, eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung zu etablieren, besteht die Gefahr, dass die Zwei-Gruppen-Theorie mit getrennten Verantwortlichkeiten unter Lehrenden und Studierenden aufrechterhalten bleibt.

An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird an einer „kasuistischen Lehrerbildung“ gearbeitet, „die Studierende dazu befähigt, die Heterogenität von Lerngruppen wahrzunehmen, anzuerkennen und entsprechende Lernsituationen didaktisch zu reflektieren“ (DLR, 2015). Dabei geht es vor allem um die curriculare Profilierung einer heterogenitätssensiblen, inklusiven Didaktik. Fallreflexionen schlagen eine „Brücke zwischen Bildungswissenschaften, Fachdidaktik und Fächern“, wodurch pädagogisch relevante Differenzen, z. B. auch interkulturelle Fremdheitserfahrungen, in den Blick genommen werden sollen (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg [MLU Halle-Wittenberg], 2016). Das Projekt zielt auf die „Herausbildung eines reflexiven, erkenntniskritischen wissenschaftsbasierten Habitus“ und die „Anbahnung kooperativ-multiperspektivischer Praxis und Handlungsreflexion“ (Helsper, 2016). Varianten und Formen der Kasuistik sind sehr breit angelegt, sodass auch biografische Arbeit als „eigener Fall“ einbezogen wird (ebd.). Der Ansatz erscheint hier weniger kompetenztheoretisch orientiert und spricht andere Wissensebenen an. Dadurch spiegelt die Projektbeschreibung ein breiteres Inklusionsverständnis als die anderen beiden wider.

Aus keiner der Projektbeschreibungen geht hervor, inwiefern sonderpädagogische und allgemeine Lehramtsstudiengänge, sofern an der Universität vorhanden, zueinander profiliert werden.

Fazit

Inklusionsbezogene Entwicklungen in den Lehramtsstudiengängen folgen überwiegend der Logik des Infusion Modells. Allerdings deuten die Projekte der aktuellen Forschungsförderung an, dass sich schulische Inklusion mehr und mehr als tatsächliches Querschnittsthema in der Lehrer*innenbildung etabliert. Die Wirksamkeit und Effekte dieser Veränderungen sind bisher, aufgrund der relativ langen Ausbildungsdauer, noch nicht absehbar.

Eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung steht vor der Herausforderung, „eine Vorstellung von gelingender Lehrerbildung für die Praxis zu entwerfen, die noch nicht existiert bzw. – je nach bildungspolitischer Lesart – erst durch eben jene Professionelle hergestellt werden soll, die diese Lehrerbildung durchlaufen haben“ (Heinrich et al., 2013, S. 100). Hierin zeigt sich die Ambivalenz des Auftrags: Lehrer*innenbildung muss sich auch an aktueller Schulpraxis orientieren, die in vielen Teilen noch weit entfernt von inklusiver Qualität ist.

2.2 Forschungsbefunde

Die Lehrer*innenbildung ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld in der Bundesrepublik Deutschland. Erst nach den nationalen und internationalen Leistungsvergleichsstudien zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden systematische Forschungen intensiviert (Abel & Faust, 2010; Hascher, 2014). Die Forschungsthemen „Inklusion“, „Integration“ oder „Sonderpädagogik“ sind bislang keine ausgewiesenen Schwerpunkte in den Systematisierungen zur Lehrer*innen-(bildungs-)forschung (Cramer, 2016).

Allerdings zeigt der aktuelle Überblick von Laubner und Lindmeier (2017)13, dass es mittlerweile diverse Forschungsbefunde und -vorhaben zur inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung gibt. Insbesondere werden individuelle Eingangsbedingungen und Merkmale der Lehramtsstudierenden untersucht. Es dominieren Forschungen zu Einstellungen, Teachers’ Beliefs und (Selbstwirksamkeits-)Überzeugungen (Laubner & Lindmeier, 2017). Es wurden keine einschlägigen Studien zu den Themen „Begleitumstände und Studiensituation“, „Kompetenzentwicklung und Standards“, „international-vergleichende Studien“ sowie „fachliche und fachdidaktische Ausbildung“ gefunden (Laubner & Lindmeier, 2017, S. 172 ff.). Kleinere und zum Teil regional ausgerichtete Studien existieren in den Bereichen Wirksamkeit, Evaluation sowie Erfahrungen und Bewertungen aus Sicht der Studierenden und Lehrenden (ebd.).

Subjektive Persönlichkeitsmerkmale von Studierenden sind im Kontext dieser Arbeit von besonderem Interesse, da ihnen eine Filterwirkung in Bezug auf die Rezeption von Studieninhalten zugewiesen werden. D. h. Studierende nehmen nur die Inhalte als relevant wahr, die auch zu den eigenen, bereits vorhandenen Überzeugungen passen (Czerwenka & Nölle, 2014; Moser, Kuhl, Redlich & Schäfer, 2014). Deshalb werden in diesem Abschnitt Ergebnisse präsentiert, die in der Systematik Cramers (2016) auf Mikroebene die Studierenden betreffen, dabei aber auch Studieninhalte und -organisation mit einbeziehen. Die Darstellung des Erkenntnisstands orientiert sich an diesen Schwerpunkten, beginnt jedoch mit einem Exkurs zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung.

2.2.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzungen

Bevor über relevante Forschungsergebnisse berichtet und diese diskutiert werden können, muss darauf hingewiesen werden, dass die lehramtsbezogene, empirische Forschung in den Bereichen „Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele“, „motivationale Orientierungen“ und „Selbstregulation“ (Baumert & Kunter, 2011)14 von einem begrifflichen Wirrwarr geprägt ist. Einstellungen, Haltungen, (berufsbezogene) Überzeugungen, Orientierungen, Teachers’ Cognitions/Conceptions/Views, Teachers’ Beliefs, Deutungsmuster, subjektive Theorien u. a. werden mitunter synonym verwendet (Hecht, Niedermair & Feyerer, 2016; Reusser & Pauli, 2014; Ruberg & Porsch, 2017; Voss, Kleickmann, Kunter & Hachfeld, 2011). Es zeigen sich jedoch Unterschiede in den methodologischen Grundlagen und dem methodischen Vorgehen entsprechender Studien.

Eine umfängliche Abgrenzung und Systematisierung aller o. g. Begriffe sind im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Jedoch ist eine Auseinandersetzung mit den prominentesten Konstrukten wichtig, um die Verwendung unterschiedlicher Termini in der Darstellung des Forschungsstandes nachvollziehen zu können. Daher werden nachfolgend „Einstellungen“, „Teachers’ Beliefs“ und „Überzeugungen“ zueinander in Beziehung gesetzt und forschungsmethodische Zugänge erörtert. Gleichzeitig soll damit vermieden werden, dass sich mit der Verwendung des Begriffs „Orientierungsmuster“ im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein weiteres Konstrukt in die Aufzählung unscharf verwendeter Begriffe einreiht.

Begriffsbestimmung

Das Konzept der Teachers’ Beliefs umfasst „Einstellungen, von denen angenommen wird, dass sie als subjektseitige Werthaltungen handlungsleitend wirksam sind“ (Moser et al., 2014, S. 663). So werden im „Beliefsinventar Lehrkräfte im Bereich schulischer Förderung (BILF)“ (Kuhl, Moser, Schäfer & Redlich, 2013) positive und negative Einstellungen zu Inklusion erfasst (Moser et al., 2014, S. 668). Damit erscheinen Teachers’ Beliefs als ein den Einstellungen übergeordnetes, clusterhaft organisiertes Konzept. Gleichzeitig werden Beliefs von (epistemologischen) Überzeugungen abgegrenzt, da letztere eine rationale Zugänglichkeit signalisieren (ebd., S. 663). Das widerspricht allerdings der Merkmalsbeschreibung von berufsbezogenen Überzeugungen, wozu neben personen- und kontextbezogene auch epistemologische Überzeugungen gehören (Reusser & Pauli, 2014; Voss et al., 2011). Reusser und Pauli (2014) übersetzen Teachers’ Beliefs mit dem Begriff der Überzeugungen: beide sind affektiv aufgeladen, gegenstandsbezogen, theorieförmig organisiert, schwer zugänglich und relativ stabil (vgl. auch Baumert & Kunter, 2011, S. 41).15

Berufsbezogene Überzeugungen weisen eine bestimmte Nähe zu subjektiven Theorien, Vorstellungen/Auffassungen (conceptions) und pädagogischen Haltungen/Weltbildern und dem Berufsethos auf (Reusser & Pauli, 2014, S. 646 ff.). Gleichzeitig können sie hinsichtlich ihrer disziplinären Einbettung und methodischen Zugänge abgegrenzt werden (ebd.). Einige Merkmale von berufsbezogenen Überzeugungen ähneln wiederum dem Konstrukt Einstellung. Folgt man der sozialpsychologischen Literatur, besitzen Einstellungen eine kognitive Komponente bzw. gibt es kognitiv basierte Einstellungen, die sich auf den Überzeugungen der Menschen über die Eigenschaften des Einstellungsobjekts gründen (Aronson, Wilson & Akert, 2011, S. 226). Überzeugungen sind demnach „nicht weiter zerlegbare kognitive Einheiten von Einstellungen und Werthaltungen“ (Konnemann, Asshoff & Hammann, 2012, S. 57; zit. n. Ruberg & Porsch, 2017, S. 395). Demnach wären Überzeugungen ein Teil von Einstellungen. Der Befund, dass Selbstwirksamkeitsüberzeugungen16 hingegen Einstellungen beeinflussen (Engelbrecht, 2014; Hellmich, Görel & Schwab, 2016), deutet eher darauf hin, dass Überzeugungen ein von ihnen unabhängiges Konstrukt sind.

Es liegen also widersprüchliche Konzeptualisierungen vor, deren jeweilige Gültigkeit hier nicht abschließend geklärt werden soll und kann. Die Problematik gründet sich auch auf unterschiedliche Forschungstraditionen und disziplinäre Zugänge der Autor*innen. Teachers’ Beliefs sind eng mit der kompetenzorientierten Professionalisierungsforschung im Rahmen der empirischen Bildungsforschung verbunden (Moser, 2017). In der Konzeptualisierung berufsbezogener Überzeugungen zeigt sich indes eine Anlehnung an die Soziologie Bourdieus und Oevermanns, wenn sie als „individuell verinnerlichter (kollektiver) Habitus“ (Reusser & Pauli, 2014, S. 644) bezeichnet werden.

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