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Das Jugendalter

Herausgegeben von Rolf Göppel

Der Autor

Tillmann F. Kreuzer, Dr. päd., Dipl.-Päd., Mag., Akademischer Rat an der PH Ludwigsburg am Institut für Erziehungswissenschaft in der Abteilung Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Psychoanalytische Pädagogik. Forschungsschwerpunkte in Kindheit, Jugend, Familie, Psychoanalytische Pädagogik, Psychoanalyse und Literatur sowie mentalisierungsbasierte Pädagogik. Mit-Herausgeber der Zeitschrift Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Analytischer und tiefenpsychologisch fundierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in freier Praxis.

Tillmann F. Kreuzer

Die Jugendlichen und ihre Geschwisterbeziehungen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030224-2

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-030225-9

epub:        ISBN 978-3-17-030226-6

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort
  2. 1   Gemeinsames Aufwachsen in der Familie: Der Rahmen, in dem Geschwisterbeziehungen sich entwickeln
  3. Die Bedeutung der Mutter für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen
  4. Die Bedeutung des Vaters für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen
  5. 2   Geschwisterlichkeit
  6. Definitionen und Formen von Geschwisterlichkeit
  7. Aktuelle Trends bezüglich Familiengröße, Geschwisterzahl und deren Folgen
  8. Kinderlosigkeit und Geschwisterlosigkeit
  9. Varianten der »Geschwisterlichkeit« jenseits der Normalform der leiblichen Geschwister
  10. Ist die Vielfalt der unterschiedlichen Formen und Qualitäten von Geschwisterbeziehungen letztendlich theoretisch unverstehbar und undurchdringbar?
  11. 3   Geschwisterkonstellationen und ihre Folgen – Traditionen und Positionen der Geschwisterforschung
  12. Die Anfänge bei Freud und Jung
  13. Geschwisterpostion und Lebensstil: Alfred Adler
  14. Die Ausdifferenzierungen durch Walter Toman
  15. Weitere Studien
  16. Das Thema »häusliche Verpflichtungen Jugendlicher« und die Geschwisterforschung
  17. Das Thema »care giving« und »tutoring« durch ältere Geschwister
  18. 4   Mustertypen, Kernthemen und Kernkonflikte von Geschwisterbeziehungen
  19. Geschwisterbeziehungstypen nach E.M. Hethrington
  20. Geschwisterbeziehungstypen nach D.T. Gold
  21. Loyaliltät und Rivalität als Kernthemen von Geschwisterbeziehungen
  22. Die Bedeutung der Geschlechterkonstellation in Geschwisterbeziehungen
  23. 5   Entwicklungsaufgaben und Probleme des Jugendalters
  24. Zur seelischen Dynamik des Jugendalters
  25. Selbstfindung und Selbstwerdung in der Jugend
  26. Jugend als eine abgrenzbare Entwicklungs- oder Lebensphase?
  27. Fragestellungen, Themen und Thesen der Jugendforschung
  28. Phasen und innerseelische Konflikte der Jugendlichen in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie
  29. 6   Jugendliche, ihre Eltern und ihre Geschwister im Jugendalter – neue Herausforderungen, neue Konflikte, veränderte Beziehungen
  30. Familienerziehung: Können Eltern die Erziehung an Geschwister übergeben?
  31. Wie wird die Übergabe von Verantwortung von den Jugendlichen erlebt? Inwiefern stellt sie sich als Bürde dar?
  32. Wie wirkt sich Ungleichbehandlung durch die Eltern auf die Geschwisterbeziehung aus?
  33. Welche Rolle spielen Geschwister beim Zerbrechen der Ursprungsfamilie füreinander?
  34. Geschwister – lebenslang Vertraute und Verbündete oder eher Konkurrenten und Rivalen?
  35. Welche Besonderheiten ergeben sich beim Aufwachsen mit chronisch kranken oder behinderten Geschwistern im Jugendalter?
  36. 7   Inwiefern fungieren ältere Geschwister für ihre jüngeren Geschwister als »Erzieher«?
  37. Ältere Geschwister erziehen durch zeigen und vormachen, jüngere Geschwister lernen durch nachahmen
  38. Welcher Stellenwert kommt der Erziehung von Geschwistern durch Geschwister in der Pädagogik zu?
  39. Welche Rolle spielen explizite »Erziehungsziele« im Umgang der Geschwister?
  40. 8   Schluss: Geschwister als Herausforderung und Chance
  41. Literatur

Vorwort

 

 

»Meine Geschwister waren enorm wichtig für meine Entwicklung! In den ersten Jahren war es vor allem meine Schwester, die eine große Rolle gespielt hat. Sie war Spielkameradin, Erzieherin, Vorbild und Gesprächspartner. … Meine Schwester war auch oft meine engste Vertraute. Wir haben über Probleme in der Schule, mit den Eltern, mit Freundinnen und später dann auch über Jungs und den Glauben gesprochen.«

 

Leonie (20 Jahre), jüngste Schwester von fünf Geschwistern

»Meine Schwester war maßgeblich an meiner Prägung im Kindes- und Jugendalter beteiligt. Im Jugendalter hingegen änderte sich unser Verhältnis. Auch wenn es hin und wieder zu Auseinandersetzungen kam, intensivierte sich unser Kontakt ab dem 12. Lebensalter. In dieser Phase war meine Schwester für meine Erziehung und Sozialisation bedeutender als meine Eltern und erster Ansprechpartner, auch hinsichtlich persönlicher Belange, was wiederum auf Wechselseitigkeit beruhte. Ab dem 14. Lebensjahr ging ich auch primär mit meiner Schwester und ihren Freunden weg, wodurch ich zunächst ihre deutlich älteren Freunde kennen lernte. Es baute sich eine immer engere Bindung und ein gemeinsamer Freundeskreis auf. Auch heute unternehme ich viel mit meiner Schwester und wir besitzen einen sich in großen Teilen überschneidenden Freundeskreis.«

 

Jannis (20 Jahre), jüngerer Bruder einer Schwester

»Geschwister kennen sich inniger als Freunde oder Eltern, vorausgesetzt der Altersunterschied ist nicht zu groß. Auch ein räumliches Zusammensein (gleiches Zuhause) spielen hierbei eine Rolle. … Vor allem in der Pubertät wurden Freunde für mich zusehends wichtiger. Da meine Geschwister 5 bzw. 8 Jahre jünger sind als ich, fehlt diesen in einem gewissen Alter die Mitsprachemöglichkeit. …

Heutzutage kommt meine jüngere Schwester häufig hier her, um mich zu besuchen. Bei gemeinsamen Unternehmungen sind oftmals Freunde von mir dabei, mit diesen versteht sie sich gut … Speziell das Problem des Altersunterschieds bedingt im Jugendalter, dass Jugendliche sich bevorzugt mit Gleichaltrigen austauschen.«

 

Jörg (21 Jahre), ältester Bruder von vier Geschwistern

Geschwister sind für diejenigen, die Geschwister haben, aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Sie beeinflussen sich wechselseitig, wie Leonie, Jannis und Jörg dies in den einführenden Zitaten deutlich unterstreichen. Geschwister sind gegeben, aussuchen kann man sie sich nicht. Sie sind neben den Eltern die ersten Bezugspersonen im Leben eines Kindes. Sie sind für die persönliche Entwicklung von größter Bedeutung – egal ob im Negativen oder wie in den Narrationen mehrheitlich im Positiven. Geschwisterbindungen entstehen und sind intime wie auch öffentliche Beziehungen zwischen zwei oder mehr Geschwistern. Sie sind von zentraler Bedeutung und damit eine nicht zu vernachlässigende Einflussgröße in ihrem Leben.

In diesem Buch stehen die Jugendlichen und ihre Geschwister (beziehungen) im Zentrum des Interesses. In einem Forschungsprojekt konnten durch eine qualitative Interviewstudie von Studierenden an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Narrationen erhoben werden, die als Grundlage dienen. Bei den Narrationen der Studierenden handelt es sich um Äußerungen junger Menschen, die in der Phase des jungen Erwachsenenalters, dem emering adulthood, angekommen sind. Es sind junge Erwachsene, die sich meist noch selbst als »Jugendliche« (ca. 80 %) bezeichnen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben im rekonstruktiven Verfahren der Narrationen (vgl. Bohnsack 2008) ihre Jugend und ihre Beziehungen zu ihren Geschwistern beschrieben. Dabei erklären sie vielfach und vielfältig, dass Geschwister weder austauschbar noch ersetzbar sind, wie beispielsweise Freunde. Für die meisten jungen Menschen waren und sind ihre Geschwister unersetzlich. Ihre Beziehungen gestalten sich bunt – jeweils beeinflusst durch das gemeinsame Aufwachsen und die Förderung der Beziehung durch die Eltern.

So wendet sich das erste Kapitel (image Kap. 1) der Familie, dem äußeren Rahmen der Geschwister, zu. Die Grundlage jeder Geschwisterbeziehung ist das gemeinsame Aufwachsen. Es entsteht eine lebenslang miteinander verbundene Geschichte, die mit der Wendung der Familie von der Triade hin zur Polyade beginnt. Dies bedeutet, dass die Familie bereits existiert und weiterwächst, wenn ein zweites oder drittes oder weiteres Kind hinzutritt. Das gemeinsame Aufwachsen der Geschwister in einem Haushalt ist in der Regel bindungsfördernd und es ermöglicht einen lebenslangen Austausch an Erfahrungen und Erinnerungen. Dies findet bei einem positiven, aktiv durch die verschiedenen Elternteile geförderten Kontakt auch bei Adoptiv- und Halbgeschwistern, oder in weitere entstehenden Familienformen und -strukturen statt. Verantwortlich hierfür sind vor allem die Eltern – was in den Narrationen immer wieder betont wird.

Innerhalb des intimen Rahmens der Familie können Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeit zur Interaktion erproben und entwickeln. Diese Entwicklung wiederum nimmt Einfluss darauf, wie sich die Geschwisterbeziehung selbst gestaltet. Heute gestaltet sich diese Entwicklung zunehmend schwieriger, da die Anzahl von Geschwistern in Familien abnimmt und die meisten Jugendlichen nur noch mit einem Geschwister aufwachsen (Sohni 2004, World Vision 2010), oder aber eine neue Form von Geschwisterlichkeit in Patchworkfamilien entsteht, in der sowohl biologische als auch soziale Geschwister in Verbindung zueinander treten (Papastefanou 2002). Geschwister gehen quantitativ in ihrer Anzahl in einer Familie zunehmend zurück und oftmals gibt es nur noch Paargeschwister, welche oft nicht mehr gemeinsam, sondern in verschiedenen Räumen aufwachsen. Hierbei sind neben unterschiedlichen Zimmern in der elterlichen Wohnung oder im elterlichen Haus auch nicht geteilte Umwelten gemeint – wie beispielsweise unterschiedliche Kindergärten oder verschiedene schulische Einrichtungen.

Im zweiten Kapitel (image Kap. 2) werden die »Definitionen und Formen von Geschwisterlichkeit« sowie die verschiedenen Möglichkeiten von Geschwisterlichkeit diskutiert. Wer zählt als Geschwister und welche »Voraussetzungen« müssen erfüllt sein? So zählen neben den Vollgeschwistern, die gemeinsam oder getrennt voneinander aufwachsen können, ebenso Halb-, Stief- oder Adoptivgeschwister dazu. Im Kapitel werden die jeweils unterschiedlichen Beziehungskonstellationen aufgegriffen und in ihrer eigenen Dynamik dargestellt.

Im dritten Kapitel (image Kap. 3) »Geschwister als Umgebungsfaktoren – Positionen und Konstellationen in der Forschung« werden die bisherigen Forschungsergebnisse näher betrachtet. Dazu wird näher auf die Ursprünge der Geschwisterforschung bei Alfred Adler und Walter Toman eingegangen. Insbesondere Toman hat sich mit den »Familienkonstellationen« (1965/2020) auseinandergesetzt, welche in Bezug auf die Haupttypen der Brüder und Schwestern kursorisch vorgestellt werden. Weiter rücken zwei wesentliche Aspekte in den Vordergrund, die bisher meist nicht untersucht worden sind: die häuslichen Verpflichtungen sowie der Betreuungsgedanke – »care giving«. Diese Art der geschwisterlichen Solidarität äußert sich in den Narrationen überwiegend durch gegenseitige Verpflichtungen, Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Hilfeleistung, meist vom älteren dem jüngeren Geschwister gegenüber, oftmals ab einem gewissen Alter – oder gerade in der gemeinsam erlebten Adoleszenz, wechselseitig.

Die Besonderheiten der Geschwisterbeziehung im Jugendalter werden in Kapitel vier (image Kap. 4) thematisiert. Es werden verschiedene Typologien vorgestellt, welche in der Forschung herausgearbeitet worden sind. Zudem treten verschiedene Aspekte der Geschwisterbeziehung wie der Position oder die Konstellation sowie die Fragen nach den Genen und der Umwelt in den Vordergrund. Das Bedingungsgefüge von Jugend, die besonderen Aspekte der Geschwisterbeziehungen und die Bindung unter den Geschwistern, treten in besonderer Art und Weise hervor.

In Kapitel fünf (image Kap. 5) rückt die »Jugend als Lebensphase« sowie deren Erforschung in den Mittelpunkt. Hier wird die Dynamik der Jugend beleuchtet sowie der Frage nachgegangen, inwiefern diese Lebensphase sich von der vorherigen Kindheit und dem nachfolgenden Erwachsenenalter abgrenzen lässt. Es wird auch der Frage: Jugendforschung – Grundlage für die Geschwisterforschung? nachgegangen. Hier findet eine Verbindung zwischen den beiden Forschungsschwerpunkten statt. Weiter werden die Phasen der Jugend in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie näher vorgestellt, die sich in die Prä- und Frühadoleszenz sowie die Spät- und Postadoleszenz unterteilen lassen.

Im nachfolgenden, sechsten Kapitel (image Kap. 6) »Phänomenologie des Jugendalters« sollen verschiedene Leitfragen zum Verhältnis der Geschwister mit-, unter-, von- und zueinander sowie zu ihren Eltern und Freunden diskutiert werden. Dabei werden Themen der Familienerziehung sowie der damit verbundenen Übergabe von Verantwortung an die Ältesten thematisiert. Wird dies von den Geschwistern als Bürde erlebt? Oder: Haben es älteste immer schwerer als jüngste Geschwister? So konnte herausgefunden werden, dass bei empfundenen Ungerechtigkeiten ein Geschwisterkind oft die Funktion übernimmt, verantwortlich für einen Ausgleich zwischen den Geschwistern zu sein oder sich so zu verhalten, dass es zum Ausgleich kommt (Ferring/Boll/Filipp 2005). Weiter wird gefragt, ob Geschwister gegenüber Eltern eine Einheit bilden können. Entsteht daraus eine tiefwurzelnde, lebenslange Verbundenheit oder bietet diese überhaupt erst die Möglichkeit, dass Geschwister füreinander einstehen können? Wie bedeutsam werden Geschwister, wenn die elterliche Paarbeziehung zerbricht und die familiäre Welt ins Wanken gerät?

Immer wieder wird auch über den Neid oder die Eifersucht unter Geschwistern diskutiert – aber welchen Anteil haben Eltern daran? Wie erleben Geschwister es, wenn ihre nächsten Angehörigen erkranken oder eine Behinderung erfahren? Erleben ältere das Hinzutreten jüngerer Geschwister tatsächlich heute noch als eine Entthronung?

Das abschließende siebte Kapitel (image Kap. 7) »Inwiefern fungieren ältere Geschwister für ihre jüngeren Geschwister als ›Erzieher‹?« widmet sich explizit dem Erziehen in der Geschwisterbeziehung. Anhand theoretischer Positionen wird das Zeigen, das Vorleben und das Vormachen als Anleitung von älteren für jüngere Geschwister thematisiert. Dadurch wird auch ersichtlich, dass ältere Geschwister keinen expliziten Auftrag zur Vermittlung von Normen und Werten haben, sondern ausschließlich durch die gemeinsam geteilte Lebensumwelt erziehen. Ein funktionales und wechselseitiges Erziehen steht im Vordergrund – denn auch die jüngeren Geschwister haben ihren Einfluss. Es wird den Fragen nachgegangen: Wie wirkt sich Erziehung von Geschwistern im erzieherischen Prozess aus? Welche Erziehungsziele gelten für Geschwister? Gibt es diese »Ziele« überhaupt?

So sind die Geschwisterbeziehungen eingebettet in die Familienrealitäten und abhängig von einer Vielzahl unterschiedlichster Faktoren, die sich je nach Lebensalter und Entwicklung der individuellen oder familiären Schicksale verändern können. Sie können an Einfluss gewinnen oder verlieren – sie sind eben durch ihre unterschiedlichen Familienrealitäten geprägt. Diese definieren sich durch die Entstehungsgeschichte der Familie, ihre Werte und Normen, den Umgang der Eltern untereinander, mit den Kindern. Weiter durch das Verhalten der Geschwister untereinandern, wie sie auf einander reagieren und miteinander agieren, wenn es darum geht, bspw. eine kindliche Perspektive gegenüber der elterlichen durchzusetzen.

Diese individuellen familiären Realitäten sind ein weites Feld. Die einwirkenden Faktoren können sich in diesem Feld letztendlich nicht gänzlich erschließen lassen – so sind die geschilderten Realitäten jeweils nur ein Auszug, in denen versucht wird, den Jugendlichen und ihren Geschwistern in ihrem Labyrinth zu folgen.

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Gemeinsames Aufwachsen in der Familie: Der Rahmen, in dem Geschwisterbeziehungen sich entwickeln

Im ersten Kapitel wird die Familie als naturgegebener und kulturell geprägter Rahmen des Aufwachsens betrachtet. Hierbei stehen besonders Mutter und Vater im Fokus sowie die Frage, wie sich ihr elterliches Verhalten auf die Kinder und die Geschwisterbeziehungen auswirken kann.

Die wichtigste Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder zu lieben, zu pflegen und zu erziehen. Die Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen sind in dieser Entwicklungsphase oftmals konfliktreich, weisen auf die Dauer ihres Lebens betrachtet jedoch eine hohe Stabilität auf, die sich auch auf die Geschwisterbeziehungen auswirkt.

Jugendliche benötigten in der Adoleszenz ein Netzwerk, um die sich ihnen stellenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Dazu zählen neben Vater und Mutter vor allem die Geschwister.

In der Familie sammeln Kinder ihre ersten Erfahrungen mit anderen Menschen – Eltern, Geschwistern oder anderen nahestehenden Verwandten. »In der familiären Interaktion entwickeln sich Vorstellungen und Zuschreibungen von Rollen und Positionen der einzelnen Mitglieder innerhalb des Familiengefüges; es bilden sich Vorstellungen von Elternschaft, von Kind-Sein und dem Platz innerhalb der Familie, den jeder Einzelne innehat« (Ritzenfeldt 1998, S. 15). Bindungen entstehen, auf deren Basis später Ablösung und Autonomie schrittweise erprobt wird. Hier findet die Sehnsucht nach Beständigkeit ihren Ort und ermöglicht dadurch die Neugier auf Fremdes.

Das Fehlen der Geschwister bedeutet einerseits, dass es keine Konkurrenten um die elterliche Zuwendung gibt und dass andererseits in diesem familiären Rahmen keine Verantwortung für andere übernommen werden kann. Damit entfällt auf der horizontalen Ebene die Erfahrung, beziehungsweise Fertigkeit, für seine eigenen Belange gegenüber anderen einzutreten und diese auszuhandeln. Das Üben grundlegender sozialer Kompetenzen wie beispielsweise Einfühlungsvermögen, Verzicht, Sensitivität, Konfliktfähigkeit, Toleranz und Respekt vor den unterschiedlichen Erwartungen anderer Menschen können in außerfamilären pädagogischen Institutionen nur erschwert erworben werden und das Kind muss immer mit dem Ausschluss aus der Gruppe rechnen. Trotz aller Diskussionen um die Stabilität und den vermeintlichen Funktionsverlust der Familie ist sie noch immer der häufigste und selbstverständliche Rahmen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft. Sie wird immer Teil des sich wandelnden gesellschaftlichen Lebens bleiben, Geschwisterbeziehungen sind darin eingelagert. »Die Familie mit Eltern und Geschwistern ist für das Kind die erste soziale Gruppe, das erste langjährige Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen« (Frick 2006, S. 10).

Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass sich die Familie modernisiert. Zwar wird die Bezeichnung der Familie als »Keimzelle der Gesellschaft« (vgl. König 1945) bis heute kontrovers diskutiert, aber von einem »Zerfall der Familie« (Finger-Trescher 2000, S. 68) oder von ihrem Niedergang (Bertram 2003) kann weder mit Blick auf die aktuelle Realität noch mit Blick auf die Zukunftswünsche und -pläne der heutigen Jugendlichen gesprochen werden. Der gesellschaftliche Wandel geht jedoch einher mit der Auflösung bestimmter Strukturen, da für den individuellen Lebenserfolg nicht mehr primär die Abstammung oder die schichtenspezifische Zugehörigkeit, sondern das Bildungs- und Leistungsprinzip maßgebend geworden sind.

So wandelt sich auch Familie. Unterschiedliche Generationen von Kindern, die in unterschiedlichen Familienkonstellationen mit je unterschiedlichen Erziehungsleitbildern aufgewachsen sind, wurden in der Literatur als »(Nach-)Kriegskinder«, »Krisenkinder« bzw. »Konsumkinder« beschrieben (vgl. Preuß-Lausitz 1995).

Ulrich Becks (1986) These, dass die Individualisierung der Gesellschaft vornehmlich durch die Auflösung traditioneller Milieus und durch die Aufhebung der klassischen Geschlechterrollen ermöglicht wurde, wodurch auch eine Pluralisierung der Beziehungs- und Familienformen erfolgen konnte, kann zugestimmt werden. Der Familienbildungsprozess, die Dauer des Zusammenlebens, die innerfamiliäre Rollenaufteilung (»Hausmann«) veränderten sich und äußere Anreize wie etwa das Elterngeld oder die Elternzeit wurden neu geschaffen (vgl. Gotschall/Voß 2003; Mischau/Oechsele 2005).

Die Bedeutung der Mutter für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen

In den primären Beziehungen werden die Grundlagen für gelingende Beziehungen innerhalb der Familie, unter Geschwistern und in den gesellschaftlichen Bezügen gelegt. Gelingende Primärbeziehungen führen dazu, dass anstehende entwicklungsbedingte Veränderungen im Lebensverlauf gut bewältigt werden.

Aus einem dyadischen Beziehungssystem und -modell (Sohni 1991, S. 214) zwischen den Partnern, in der Regel Mann und Frau, wird durch die Geburt des ersten Kindes ein triadisches Grundmodell. Diese kann sich dann durch weitere Geschwister über eine Tetrade weiter zur Polyade entwickeln.

Mütterlichkeit

Während Sigmund Freud die Mutter als Hauptverantwortliche für die gelingende Entwicklung des Kindes betrachtete, können wir heute nicht mehr von einem vorherrschenden Mutterbild sprechen, höchstens von Leitbildern, da verschiedene Lebensformen in der Postmoderne nebeneinander existieren, kulturellen und schichtenspezifisch bedingten Aspekten unterliegen und in der Übertragung auch auf Geschwister wirken. Sharon Hays (1998, S. 174f.), die das propagierte Mutterbild als »historisch konstruierte Ideologie« bezeichnet, fasst das heutige Leitbild einer »Supermutter« überspitzt zusammen:

»Mühelos schafft sie den Spagat zwischen Heim und Arbeit. Diese Mutter kann mit der einen Hand einen Kinderwagen schieben und mit der anderen die Aktentasche tragen. Sie ist immer gut frisiert, ihre Strumpfhosen haben nie Laufmaschen, ihr Kostüm ist stets frei von Knitterfalten, und ihr Heim ist natürlich blitzsauber. Ihre Kinder sind makellos: Sie haben gute Manieren, sind aber nicht passiv, sondern putzmunter und strotzen vor Selbstbewusstsein.«

Mütterlichkeit wird heute zunehmend unter dem Gesichtspunkt »Arbeit mit den Kindern« betrachtet. Hierbei geht es um folgende drei Komponenten: Zum Ersten um die Komponente der physischen Versorgung, also die Ernährung und Pflege der Kinder. Zweitens um die sozial-kommunikative Komponente, was die Integration des Kindes in das soziale Umfeld meint und drittens um die psychisch-emotionale Komponente. Eine wichtige Erkenntnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, dass neben den Müttern auch andere Bezugspersonen, bspw. Väter, Großeltern oder Geschwister, partiell die Betreuung der Kinder übernehmen können. Trotzdem ist die Bedeutung der frühen und intensiven Mutterbindung auch in der jüngeren Forschung immer wieder bestätigt worden (vgl. Kreuzer 2007).

Mütter und Töchter

In den Narrationen fanden sich bezogen auf den Betreuungs- und Versorgungsaspekt bei ältesten Geschwistern in der Regel nur wenige älteste Brüder, die im jugendlichen Alter ihre jüngeren Geschwister versorgend im Haus betreuten, während älteste Schwestern diese Rolle überwiegend übernommen hatten. Dies entspricht der Ansicht Donald W. Winnicotts (1960), dass es die mütterliche Fürsorge sei, welche von der Tochter in der Übertragung übernommen wird, die ihr die Fähigkeit verleiht, die »holding funciton« gegenüber dem jüngeren Geschwisterkind auszuüben. Da die Summe all dieser Erfahrungen des vertrauensvollen haltendsorgenden Umgangs zwischen den Geschwistern sich in deren Gefühlsleben verankert, können diese Erfahrungen lebenslang von grundlegender Bedeutung sein. Hier kann die prägende Erfahrung gemacht werden, geliebt oder vernachlässigt zu werden.

Dies lässt sich beispielsweise in den Narrationen von Sina (20 Jahre), älteste Schwester von vier Geschwistern, finden:

»Meinen kleinsten Bruder habe ich sehr oft als mein ›Kind‹ angesehen. Er wurde von mir gefüttert, im Puppenwagen spazieren gefahren, in mein Puppenbett gelegt und von mir versorgt. … Fakt ist, dass wir sehr viel und sehr gern miteinander gespielt haben und als Geschwister viel miteinander gemacht haben.

Da ich die ältere Schwester war, lag die Verantwortung für meinen Bruder bei mir. Eigentlich teilte meine Mutter die Aufgaben für den Haushalt fair auf. Ich sollte uns mittags das Essen warm machen und das Geschirr abräumen.«

Charles (20 Jahre) wiederum schildert dies aus der Sicht eines mittleren Bruders, der ältere sowie jüngere Schwestern hat:

»Meistens saß ich am Esszimmertisch und habe dort meine Hausaufgaben gemacht. Im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren hat mir meistens meine ältere Schwester geholfen, wenn ich Hilfe gebraucht habe. Dies lief oft harmonischer ab als mit meiner Mutter, da ich mich hier eher gegen das Machen der Hausaufgaben gewehrt habe.

Als ich älter als achtzehn Jahre war, habe ich dann ab und an meiner jüngsten Schwester bei den Hausaufgaben geholfen. Das war aber doch recht selten, lief aber meist harmonisch ab. Meine Mutter hat hier jedoch eine größere Rolle gespielt als bei mir. Auch lief es bei meinen Schwestern viel harmonischer ab als bei mir.«

Die psychoanalytisch-pädagogische Forschung hat unter Berücksichtigung verschiedener Theorien, bspw. der Objektbeziehungstheorie nach Michael Balint (1966), Donald W. Winnicott (1967, 1974) und Otto Kernberg (1978, 1985), der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut (1973, 1979) oder der Säuglingsforschung nach Martin Dornes (1997, 2006, 2009, 2010), Joseph Lichtenberg (1991) und Daniel Stern (1992), die Bedeutung der Beziehungsdynamik von Mutter-Vater-Kind für die Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Demzufolge erwachsen aus den mütterlichen Eigenschaften soziale Haltungen und Einstellungen wie lieben, versorgen, einfühlen, verstehen, verbinden und integrieren, die an die nächste Generation weitergegeben werden und das Verhältnis und die Güte der Beziehung der Geschwister untereinander prägen. Heute ist der Begriff »Mütterlichkeit« nicht mehr nur an ein geschlechtsspezifisches Verstehen gebunden, sondern transportiert wesentliche menschliche Werte, die von Müttern, Vätern und Geschwistern vermittelt werden können (Winnicott 2008, S. 135f.).

Auswirkungen dyadischen Geschehens zwischen Mutter und Tochter und zwischenältester und jüngerer Schwester

Die Mutter ist für viele Fragen auch heute noch die bedeutsamste Ansprechpartnerin für Jugendliche, was sich nicht nur durch die Shell- Jugendstudien, sondern auch durch die KIM- oder JIM-Studien sowie die Jugendstudie Baden-Würrtemberg (2013) belegen lässt. Für Töchter stellt sie die wichtigste Person im geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozess dar. Für die Ältesten steht sie zur Geschlechtsrollenidentifizierung zur Verfügung, was die älteren an jüngeren Schwestern weitergeben.

Nach Jaques Lacan (1949) gleicht die Mutter-Tochter-Beziehung der analytischen Metapher des Spiegels. Die Mutter findet Anteile von sich selbst in ihrer Tochter und diese sieht eigene Anteile von sich in ihrer Mutter. Diese kann sie entweder ablehnen oder bejahen (Schottlaender 1961, S. 57f.). Diese Projektionen werden oftmals von der Ältesten an jüngere Schwestern weitergegeben. Häufig sind im Jugendalter bei Mädchen auf ihrer Identitätssuche und der Entwicklung ihres Selbst Verunsicherungen wahrzunehmen, wenn beim Nachdenken über sich und die Mutter Ähnlichkeiten und Unterschiede festgestellt werden. Sollte die Mutter-Tochter-Beziehung während der Adoleszenz konflikthaft verlaufen, wovon in der Regel auszugehen ist, ist die Gefahr für die Schwester-Schwester-Beziehung groß, auch konfliktreich zu verlaufen. Von Beginn an ist die Beziehung durch Gleichgeschlechtlichkeit bestimmt. Die Tochter wird zum Identischen der Mutter, vor allem die Älteste identifiziert sich mit ihr und kann im Übertragungsprozess die Identifizierung auf ihre jüngeren Geschwister übertragen. Hierzu bedarf es u. a. ein »bemutterndes« Verhalten gegenüber den Jüngeren. Diese primäre Identifikation und ihre Wirkung kann lebenslang bestehen bleiben.

Somit wird nachvollziehbar, wie stark die Verbindung der Gefühlswelten zwischen Mutter und Tochter sind und dass diese Problematik aus der Beziehungsdynamik resultiert: Die Ablösung der Tochter von der Mutter ist oftmals ein langwieriger und anstrengender Prozess, an dessen Ende neben der Ausbildung eigener Anteile auch die Akzeptanz von Anteilen der Mutter stehen kann. Der Vater wird hierfür als dritte Person dringend benötigt, um den Ablösungsprozess zu unterstützen und zu erleichtern. Die (reale) Abwesenheit des Vaters kann zu seiner Idealisierung führen, andererseits dazu, dass Töchter sich von der Mutter nicht ablösen können, bzw. Mütter ihre Töchter nicht ziehen lassen können. Der Prozess des »Anklammerns« und »Abstoßens« zwischen ältester und jüngerer Schwester scheint sich zu wiederholen. In der Jugend ist es denkbar, dass dann die Beziehung der Schwestern untereinander zwischen »pathologischer Liebe und reaktivem Hass« hin und her schwankt (Petri 1994, S. 63).

Saskia (18 Jahre) ist ältere Zwillingsschwester und wächst mit fünf weiteren Geschwistern auf.

»Wenn meine Mutter gerade nicht da ist, bin ich immer für meinen kleinen Bruder da. Meine Geschwister bezeichnen mich schon als zweite Mama, da ich viel helfe, aber auch so streng wie Mama bin. Ich helfe meinem kleinen Bruder bei den Hausaufgaben und spiele mit ihm in der Freizeit. […] Mein großer Bruder ist eher der gemütliche und steht mir manchmal zu Seite. Jedoch bin ich als Älteste der Chef der Kinder.«

Ihre Beziehung zur Mutter und ihr Verständnis für ihre jüngeren Schwestern werden deutlich, als sie erzählt:

»In den Sommerferien wird meine Schwester mit ihrem Freund in den Urlaub fahren und ich werde mit auf eine Freizeit als Mitarbeiter gehen. Es ist Samstagmorgen und meine Mutter war mal wieder sehr früh einkaufen. Als ich aufgestanden bin, schlief meine Schwester noch. Immer wenn ihr Freund bei uns schläft, steht sie sehr spät auf. Ich lief nach unten in das Esszimmer, durch die Küche, zum Frühstück. Mein Platz ist der gegenüber von meiner Schwester. Auf ihrem Platz lagen schon wieder tausende von Sachen, die meine Mutter für sie eingekauft hat. Zum Beispiel Süßigkeiten, ein neues Strandtuch und ein neuer Bikini. Ich hingegen habe keine Dinge für mein Zeltlager bekommen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt und zog mich zurück. Ich habe nicht darüber gesprochen oder es mir anmerken lassen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter alles Gute meiner Schwester gab, um sie gut dastehen zu lassen, da ihr Freund aus gutem Elternhause kommt und seine Eltern eine eigene Firma haben. Das ging einige Tage so, bis ich mir mal Gedanken darüber gemacht habe, wie es wäre, wenn ich einen Freund hätte. Und dann ist mir klar geworden, dass meine Mutter wahrscheinlich das Gleiche für mich getan hätte. Heute weiß ich, dass meine Mutter nur das Beste für uns will und sie sich für mich und meinen Freund genauso einsetzt. Ich finde, dass ich richtig reagiert habe, denn hätte ich etwas gesagt oder es mir anmerken lassen, wäre nur eine große, unnötige Diskussion entstanden.«

Die Bedeutung des Vaters für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen

Das Vaterbild stand immer mit im Zentrum des forschenden Denkens über Familie. Das (re-)präsentierte Vaterbild wirkt besonders auf die Söhne und prägt das Verhältnis unter den Geschwistern.

Väterlichkeit

Im historischen Verlauf lassen sich mehrere Schritte, die zu einer Entfremdung des Vaters aus de Familie führen, beobachten: Die Arbeitswelt wird durch die Industrialisierung vom familiären Leben getrennt, Kriege entfremden den Vater aus der Familie und die ältesten Söhne übernehmen oft in jugendlichem Alter die Rolle des abwesenden Vaters und bestimmen dadurch auch das Verhältnis zu den jüngeren Geschwistern. Zurückgekehrt blieb dem Vater zum Schutz des bedrohten Selbst nur die Überbewertung der beruflichen Arbeit, denn hier konnte er seine eigene Identität begründen (vgl. King 2010a, S. 21). Die »Flucht« heutiger Väter in den Beruf kann damit erklärt werden, dass ihnen schon der eigene Vater gefehlt hat. In dieser negativen Sicht auf den Vater sehen Mary Target und Peter Fonagy (2003, S. 76) eine typische Erscheinungsform westlicher Kultur.

Jörg (21 Jahre), ältester Bruder von vier Geschwistern, beschreibt dies im Hinblick auf die Entwicklung seiner Beziehung zu den Geschwistern:

»Durch die Trennung meiner Eltern, vor mittlerweile acht Jahren, hat sich bzgl. der Entwicklung der Beziehung zwischen meinen Geschwistern und mir eine äußerst positive Wende zugetragen. … Als der Älteste war ich häufig zu Geduld, Verständnis sowie Rücksicht gezwungen. … Habe ich Aufgaben gestellt, hat sich mein jüngerer Bruder diesen gefügt, auch Vorschriften, die ich ihm manchmal in Erinnerung rufen musste, hielt er ein, meine Schwester war im Vergleich häufig uneinsichtiger und dickköpfiger.«

Wenn sich Väter heute zunehmend ihrer Bedeutung bewusst werden und einen Rollenwandel hin zu einer primären Betreuungsperson vollziehen, gestaltet sich auch die Situation des ältesten Bruders als Betreuungsperson neu. Männlichen Jugendlichen fällt es bisher meist schwer, Aufgaben zu übernehmen, die in traditionellen Rollenmustern in der Vergangenheit den Frauen zugesprochen wurden und auch heute oftmals noch so gesehen werden. Mit der Weiterentwicklung des Rollenverständnisses der Frau und die dadurch entstehenden Veränderungen im sozialen Gefüge wandelt sich auch die Rolle des Mannes, und die Kindererziehung wird zunehmend als Aufgabe des Paares angesehen (vgl. Pleck/Pleck 1997). Beispielsweise würde gerne ein Drittel der im Väterreport 2018 befragten Väter in Teilzeit arbeiten, um diesen Umstand zu ändern. Geschwister könnten so die Alltagspräsenz des Vaters wieder verstärkt wahrnehmen und dies sicherlich als bereichernd empfinden.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Jugendliche mit aktiven Vätern eine höhere soziale Kompetenz und eine höhere Stressresistenz besitzen. Sie zeigten mehr Einfühlsamkeit und geringere Geschlechtsrollenfixiertheit (BMFSFJ 2006b, S. 14).

Verena (18 Jahre), jüngste Schwester von zwei älteren Brüdern, erzählt:

»Da ich die Kleinste der Familie bin, lag die Verantwortung meist bei meinen großen Brüdern. Zum Beispiel als Mama und Papa am Abend im Theater waren, war es der Älteste, der mich ins Bett gebracht hat – Zähne putzen, waschen, vorlesen – das volle Programm!«

Väter und Söhne

Ebenso wie die Metapher des Spiegels für die Mutter-Tochter-Beziehung gesehen wird steht sie auch für die Vater-Sohn-Beziehung. Wie die Mutter erkennt der Vater sich ganz oder teilweise in seinem Sohn, wie dies auch umgekehrt der Fall ist. Anfangs ist der Vater als Dritter zur Loslösung aus der Dyade zwischen Mutter und Sohn unabdingbar, dann orientiert sich der Sohn am Vater, um seine Geschlechtsrollenidentität auszubilden. Diese Identitätssuche kann vom ältesten auf jüngere Brüder übertragen werden (vgl. Forer/Still 1979, S. 37).

Im Sozialisationsprozess benötigen Söhne ihren Vater als eine wichtige Bezugsperson; die Krisen der Adoleszenz können wiederholt zu ambivalenten Gefühlseinstellungen führen. Der Sohn kann zwischen gegensätzlichen Gefühlen dem Vater gegenüber hin- und hergerissen sein, und so ist es konsequent, davon auszugehen, dass sich dies auf die Beziehung zwischen ältesten und jüngeren Brüdern überträgt. Diese Ambivalenz kann sich bereits im ödipalen Konflikt andeuten. Frank Dammasch (2008b) widmet sich besonders dem Vaterbild und der Entwicklung des Jungen, der Triangulierung der Geschlechter, auch bezüglich dem Lernen, Denken und Handeln, aus psychoanalytischer und pädagogischer Sicht und knüpft dabei an die Bedeutung des Vaters auf der phallisch-ödipalen Entwicklungsstufe des Sohnes an, die Freud zum Kern der Subjektentwicklung ernannt hatte.

Martin (22 Jahre) schildert als ältester Bruder in einer Narration von solch einem phallischen Rivalisieren zwischen zwei Brüdern während der Jugendzeit:

»Als er [der jüngere Bruder, T.K.] dann in die Pubertät kam, begannen die kleinen Machtkämpfe. Er wollte stärker und besser sein. Heute gehen wir zusammen auf Partys und Feste, machen zusammen die Straßen unsicher und ab und zu kommt es sogar vor, dass wir uns gegenseitig die Mädchen ausspannen. So wurde aus dem Kumpanen in gewisser Hinsicht ein Konkurrent.«

Väter wirken im Entwicklungsprozess auf die Bildung der Geschlechtstypen besonders durch ihre Funktion als Rollenvorbild in den täglichen Interaktionen ein. Durch die Interaktionen kann der Sohn den sozialen Wert begreifen, lernt Signale bei der Regulierung des Sozialverhaltens zu verstehen und gibt als Ältester dies weiter, was sich im Spiel der Geschwister zeigt: Der Zwang zur Wiederholung von Reaktionen entsteht durch identifizierende Nachahmung, die sich sowohl in der männlichen Dyade vertikal wie auch horizontal erkennen lässt.

Hierin spiegelt sich das Strukturprinzip unserer Gesellschaft, die patriarchal geprägt ist und den Entfremdungsvorgang zwischen Vätern und Söhnen in der Regel verharmlost (Mitscherlich 1973/2003, S. 177). Der Entfremdungsvorgang kann durch positive Beziehungspunkte – über gemeinsame Interessen, wie Sport, Kultur, Politik oder das Spiel – abgemildert werden (vgl. Kreuzer 2016). Durch die Auseinandersetzung, primär mit dem Vater oder stellvertretend mit väterlichen Autoritäten, kann gelernt werden, soziale Konflikte zu bewältigen. Wird diese Möglichkeit der Auseinandersetzung nicht geboten, da der Vater abwesend ist, stellt dies für den Sohn eine erschwerte Ausgangposition dar, um sich in späteren Auseinandersetzungen mit Geschwistern, der Peergroup oder Vertretern bzw. Institutionen des »Vater Staates« zu verständigen; in der Folge können aggressive Verhaltensweisen entstehen.

Oliver (20 Jahre) erzählt von seinem Erleben mit seinem zwei Jahre älteren Bruder. Er streicht die Bedeutung des Älteren für ihn hervor, da die Geschwister »vaterlos« aufwuchsen. Gleichzeitig hat es den Anschein, dass der Ältere für den Jüngeren greifbar war und sich für ihn eingesetzt hat – in der Regel typische Aufgaben für Väter: