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EDITION Leid faden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

 

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krise, Leid und Trauer.

Petra Rechenberg-Winter

Menschen in
existenziellen
Krisen begleiten

Selbstbegegnung, Orientierung
und Haltung

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: hydra/photocase.de

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99400-0

Inhalt

Einführung

I Begegnung: Grundgedanken zu Begleitung und Selbstbegegnung

Orientierung – Gewissheit ist Ungewissheit

Haltung – Leitstern und Tatkraft

Zuhören – Dialog in Gegenseitigkeit

II Ausgewählte Betrachtungen

Fremd – Begegnung mit dem Anderen

Zeit – Chronos und Kairos

Krise – Leben in Vergänglichkeit

Selbstsorge – Ressourcen, Kräfte, Potenziale

Ich – selbstbestimmt leben

Staunen – Dankbarkeit und Lebensfreude

Alter – persönliche Sicht

III Selbstbegegnung, Selbstfreundschaft – Materialsammlung zum Selbstcoaching

Vorbemerkungen

Orientierung – aus dem Chaos zu neuer Homöostase

Haltung – eine Checkliste

Zuhören – eine Kunst

Fremd – auseinandersetzen

Zeit – Prioritäten

Krise – Wendepunkte

Selbstsorge – Lebensenergie

Ich – Familienblick

Staunen – Schreiben unterwegs

Alter – Wanderplan (nach Richter, 2010)

Lebenszyklus-Modell

Literatur

Einführung

»So könnte es sein, das Leben, und ich probiere es jetzt schon mal aus.«

(Hirsch, 2013, S. 69)

Menschen, die mit Menschen in krisenhaften Lebenssituationen arbeiten, sie begleiten, beraten, behandeln, erleben dabei alltäglich, wie fragil ein Leben sein kann, das bisher doch so robust und tatkräftig verlief, das stabil und verlässlich erschien. Plötzlich ändert sich etwas, und dieses Etwas ist nun imstande, den gesamten Lebensentwurf zu wenden. Nichts ist mehr wie vorher und wird es auch nie mehr sein. Nie mehr – Perspektive der Endlichkeit, Perspektive der Fragezeichen, Perspektive der Perspektivlosigkeit. Vertraute Lebensmuster tragen nicht mehr weiter, die persönliche Welt ist zertrümmert und mit ihr alle Pläne zerstört.

Wenn sich Menschen dann anderen anvertrauen, deren Hilfe erbitten und deren Unterstützung in ihrem Ringen um neue Orientierungspunkte und eine mögliche neue Lebensausrichtung, dann stehen elementare Fragen im Raum, was denn das jeweilige Leben trägt, was tragfähigen Sinn verleiht und tragende Kräfte entfalten kann. Fragen nach dem eigentlich Bedeutsamen, dem Wesentlichen, dem, aus dem heraus sich die persönliche Existenz neu gestalten lässt.

Und diese elementare Suche nach dem Wesentlichen, das dem Wesen des jeweiligen Menschen entspricht und seinen Potenzialen, erfordert von Begleitenden neben aller professioneller Kompetenzen deren persönliche Auseinandersetzung mit Sinnfragen im weitesten Sinn. Weiterbildungen und entsprechende Qualifizierungen berücksichtigen dies mit Selbsterfahrungseinheiten, Supervision, ethischen Überlegungen und Haltungsfragen. Die jeweiligen Berufsverbände fordern kontinuierlich thematische Fortbildungen und fachlich-persönliche Reflexion berührender Arbeitssituationen.

Denn in dieser beständigen Auseinandersetzung der Begleitenden, inmitten komplexer Entwicklungsprozesse der von ihnen Begleiteten, erweist sich, dass dieses Tun des Einen das Tun des Anderen ist (Stierlin, 1976), dass jedes existenzielle Ringen der Begleiteten wechselwirksam mit Überlegungen zur Lebensausrichtung der Begleitenden verbunden ist. Daraus erwachsen Chancen, eigene tiefgreifende Lebensfragen zu betrachten, die es in anderen Berufen und Tätigkeitsfeldern so nicht gibt. Genau hier liegt für viele in begleitenden, beratenden und therapeutischen Kontexten Tätige eine zentrale Motivation, nämlich dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen und immer wieder neu Aspekte eines guten, gelingenden Lebens zu entdecken – individuell Bedeutsames aufzudecken, Wesentliches zu erfassen und ein gutes Leben zu führen.

Mit dem guten Leben beschäftigt sich die Philosophie seit der Antike und heute u. a. Sozialethik, Glücksforschung und psychotherapeutische Konzepte. Aristoteles nannte es Eudaimonia: Das gute Leben ist das letzte Ziel menschlicher Handlungen. Das gute Leben ist das, was nicht als Mittel zu etwas anderem, sondern als Zweck in sich selbst angestrebt wird. Deshalb ist das gute Leben das Einzige, worüber hinaus nichts anderes gewünscht werden kann.

Diese antike Philosophie (griech.: Liebe zur Weisheit) war keine akademische Disziplin, sondern Lebensform und Lebenshaltung, in der philosophisch leben bedeutete, alles am Wesentlichen zu messen, um Leben nachhaltig und sinnvoll so zu gestalten, dass wir jeden Tag neu lieben und genießen können (Kitzler, 2017).

Ein hoher Anspruch, dieses, mein kostbares Leben wesentlich zu gestalten und als ein gutes Leben verantwortungsvoll zu führen? Doch spricht denn etwas dagegen, nach diesem Stern zu greifen und ihn als Leitstern zu begreifen? Auf diesen Kurs meinen Lebenskompass auszurichten, mich an diesem Stern zu orientieren, wissend, dass ich ihn womöglich zwar nie ganz zu fassen bekomme, mir doch von ihm immer wieder leuchten lassen kann, mitten hinein in meine »kritische Wachheit« und mein »wachsendes Bewusstwerden« (Dürckheim, 2004, S. 75).

Das Gute, das mir Wesentliche, immer wieder zum Leben zu bringen und mein Leben danach auszugestalten, regt zu philosophischen Fragen an, zu ganz philosophisch-praktischen, wie: »Was ist in der jeweiligen Lebenssituation für mich sinnstiftend?« »Was ist mir unverzichtbar und bedeutsam?« Alte Fragen nach dem guten Leben, die sich jedem Menschen stellen, der sich für sein eigenes Leben zuständig und verantwortlich weiß – es sind zentrale Fragen nach Lebenskunst und Lebenskönnerschaft.

Seit der Antike beschäftigt das Philosoph*innen, die dazu entsprechend ihrem historischen und persönlichen Kontext ganz unterschiedliche Überlegungen führten und führen. Sie, die uns einen weiten Erfahrungsvorsprung voraus sind, können wir befragen, wie sie sich zu Lebensaspekten stellten, wie sie sich mit zentralen Lebensherausforderungen auseinandersetzten, wie sie diese durchdenkend zu ihrem Standpunkt ausbildeten.

Was bedeutete für sie gutes Leben? Woran erkannten sie es? Wie ließ es sich umsetzen? Wie reagierte ihre Umgebung? Mit wem legten sie sich an? Wem boten sie die Stirn? Wo menschelten sie und wo knickten sie ein? Wo fanden sie das für sie Wesentliche, das Richtige, das ihnen sinnvolle Richtungen wies? Gab es für sie das Richtige im Falschen, und was war für sie richtig falsch? Inwieweit gelang ihnen Selbstkultivierung angesichts der unzähligen Unverfügbarkeiten, die ihr Leben ihnen zumutete?

Schauen wir uns also bei diesen Denker*innen ein wenig um. Dabei wähle ich als Autorin den Zugang über die Philosophische Praxis, die Hilfe und Rat suchenden Menschen philosophische Gespräche anbietet, also Begegnungen, in denen die Philosophische Praktiker*in mit ihrem Gast dessen Anliegen durchdenkt, hinterfragt, dekonstruiert, auf neue Weise durchleuchtet, sortiert, bedenkt, irritiert, provoziert und erkennt. In ihrem ergründenden Gespräch erfahren beide etwas vom Leben – voneinander und miteinander. Diese alltagspraktische Form der Philosophie denkt nicht im Elfenbeinturm vor, sondern sie denkt mit anhand von Leitfragen wie: Was weiß ich? Was tue ich? Was hoffe ich? Wer bin ich? (Achenbach, 1984, S. 20). Damit kommt die Philosophie heute wieder auf den (antiken) Marktplatz zurück, mischt sich unters Volk, um zu hören, zu verstehen, zu erkennen und um zu trösten, zu bilden, zu versöhnen (Lindseth, 2014, S. 129). Auf die Fahne hat sie sich geschrieben: Klärung und Orientierung mittels eigenständigen, kritischen Denkens, in einem beidseitigen Vor- und Nachgehen und grundlegender Gegenseitigkeit (Staude, 2010, S. 12).

Hier erkennen wir eine große Schnittmenge zur professionellen Begleitung, sei es in Form von psychosozialer Beratung, Lebensbegleitung, Coaching, Supervision, Organisationsberatung, Psychotherapie oder Trauerbegleitung. Unabhängig vom jeweiligen Format suchen Menschen in Krisensituationen Ansprechpartner*innen, mit denen sie ihre existenziellen Veränderungen, Chaoserfahrungen oder ihr Leiderleben so bearbeiten können, dass sich etwas klärt und verstehbar wird, sodass sie sich im grundsätzlich veränderten Leben neu auszurichten vermögen.

Begleitung heißt für uns, den Menschen, die sich uns anvertrauen, einen geschützten Resonanzraum zur Verfügung zu stellen, einen Zeitraum, in dem sie zu ihrer Selbstwirksamkeit zurückfinden, tragende Lebensperspektiven entwickeln, drängenden Sinnfragen nachspüren, verwickelte Beziehungen klären können. Diverse psychotherapeutische Verfahren ebenso wie kunstanaloge Zugänge und philosophisch-praktische Ansätze ergänzen sich zu einem reichen, bunten Strauß heilender, stärkender, entwicklungsfördernder Unterstützungsangebote, aus denen Begleitung Suchende das für sie Passende wählen können.

Unsere persönliche Erwartung an philosophisch-praktischreflexive Betrachtung unserer Erfahrungen als Professionelle und vor allem als Menschen könnte etwa der Wunsch sein, Leben als Begegnung zu spüren: dialogisch aneinander zu wachsen, mit philosophischer Betrachtung systemische Grundgedanken von Selbstsein und Gebundenheit zu reflektieren, Verstehen als großes Missverständnis (Erich Fromm) zu erkennen, Logik der Worte, Sätze, Argumente im (neosokratischen) Gespräch an einer bedeutsamen Frage zu erdenken, sich mit Zauber und Entzauberung des Wortgebrauchs auseinanderzusetzen (Wittgenstein), Wahrheitsexperten zu entlarven und dem eigenen Handlungsgewissen verpflichtet darüber miteinander nachzudenken, wie sich jede*r von uns im Umgang mit sich selbst, mit Mitmenschen und der Umwelt bemüht, sich selbst nicht zu verfehlen (Karl Jaspers).

Sich Wesentlichem stellen, ist ein persönliches (Sich-)Infrage-Stellen. Das fordert ein gewisses Maß an Identität, die dabei auf den Prüfstand gestellt und gleichzeitig (neu) ausgebildet wird. Es ist die Chance, sich individuelle Weltbeschreibungen vorzulegen und zu überprüfen, wie ich die Welt erlebe und sehe, welche Geschichten ich mir davon und von mir mittendrin erzähle. Und auf jede dieser Fragen, wie dies denn nun ist, folgt die nächste und auch dabei wieder, wie ich mich dazu verhalte, welche Handlungsmaßstäbe mich leiten, welche Entscheidungen ich treffe. Diese Fragen lassen sich nicht ein für alle Mal beantworten, sondern ihre Antworten sind sozusagen eingeklammert in weitere, neue Fragen.

Wesentlich leben fordert und fördert persönliche Verortung, Orientierung und eine Metaorientierung, die wiederum meine Orientierungsprozesse reflektiert.

Berufliche Erfahrungen als Begleiterin und meine persönlichen als individueller Mensch führten zur Konzeption dieses Buchs, in dem existenzielle Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. Die Edition Leidfaden befasst sich überwiegend mit dem Erleben trauernder Menschen. In diesem Buch stehen Perspektiven der sie begleitenden professionell Tätigen im Fokus, mit denen sie sich achtsam, aufmerksam, aufrichtig und verantwortungsvoll ihren eigenen Entwicklungsprozessen stellen.

Nun ist dies ein endlos weites thematisches Feld, in dem wir uns schnell hoffnungslos verlaufen, würden wir nicht einige begleitrelevante und lebensbedeutsame Aspekte auswählen. Themen, die mir aktuell wichtig erscheinen und die mich persönlich besonders interessieren, um sie jeweils philosophisch zu beleuchten. Hier werden sie mit einigen Praxisbeispielen verbunden, mit Reflexionsanregungen und daraus abgeleiteten (Selbst-)Coachingfragen. Geleitet vom Verständnis der dynamischen Zusammenhänge des fürsorglichen Blicks auf und Engagements für andere und einer guten, liebevollen Sorge für sich selbst. Der andere Mensch, mit dem ich in Beziehung trete, den ich in den Blick nehme, ist Teil meiner Orientierung, und ich gehe mir selbst im Anderen bereits voraus. Zwischenmenschliche Begegnung ist immer Selbstbegegnung.

In diesem Buch betrachte ich Wesentliches aus dem Leben von Begleiter*innen und nehme dabei die systemische Sicht- weise ein, die ich mit Betrachtungen aus der Philosophischen Praxis verbinde. Systemisches Grundverständnis, das den einzelnen Menschen sowohl im Kontext seiner relevanten Bezugssysteme als auch in deren wechselwirksamer Gegenseitigkeit versteht, unterstützt Menschen im Erkennen individuell überzeugender und tragfähiger Wirklichkeiten und erkennt Vielschichtigkeiten und Vielsichtigkeiten an. Dabei geht es davon aus, dass Menschen nicht die einzig wahre, objektive Wahrheit erkennen können, so es diese überhaupt gibt, es jedoch äußerst gewinnbringend ist, sich mit den verschiedensten Weltsichten und unterschiedlichsten Welterfahrungen zu befassen, die uns, jede auf einzigartige Weise, einen Teil Wahrheitsmöglichkeit zeigen: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners«, sagen Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen (2019).

Philosophische Praxis ist keine Psychotherapie, doch entfaltet sie reflexiv betrachtend, meditativ-transformativ therapeutische Wirkung. Beide verbindet der Anspruch an sich selbst, die eigene Person resonant zum Einsatz zu bringen, und die Zielsetzung, dem Gegenüber hilfreich zu sein in der Erweiterung des (Selbst-)Verständnisses, der Entdeckung persönlicher Sinnzusammenhänge und der Integration von Verhaltensänderung. Beide verstehen Menschsein als Verantwortlichsein, innerweltliches Erleben zu gestalten und zu überprüfen im autonomen Denken und erfahrener Selbstwirksamkeit, reichhaltige Emotionalität zu steuern und Elternschaft für sich selbst zu übernehmen: »Die Seele ist Werden, Entfaltung, Differenzierung, nichts Endgültiges und Vollendetes« (Jaspers, 1946, S. 9).

»Philosophie ist nicht nur eine bestimmte Art, die Welt zu sehen, sondern eine Art, zu leben« (Hadot, 2011, S. 9). Sie ist philosophisches Grundverständnis und mit der Forderung verbunden, »es aushalten zu können, dass nirgends der feste Boden ist, aber gerade dadurch der Grund der Dinge spricht« (Jaspers, 2000).

»Psychologie und Philosophie gehen Hand in Hand. Sie sind verbunden im Ziel einer Minimierung oder gar Überwindung des Leidens« (Mall u. Peikert, 2017, S. 53). Beide betonen die Eigenverantwortlichkeit für das Bedürfnis, »dem Leben Sinn zu verleihen« (Yalom, 2010a, S. 558). Es geht um die eigene Ausgestaltung eines existenziell erfüllten Lebens, das sich selbst aufgegeben ist und sich der Mitwelt verpflichtet. Die Frage, wer ich bin, stellt sich jederzeit, unabhängig davon, ob nun aktuell in einer begleiteten oder begleitenden Rolle.

Die Entwicklung der Einen (begleitete Menschen) bedingt wechselseitig die der Anderen, die der relevanten Bezugsmenschen und der Begleitenden, für die jede Begleitung eine Begegnung mit einer anderen, einzigartigen Biografie und individuellen Bearbeitungsmustern ist und damit voller Chancenreichtum für eigene Entwicklung.

Es gibt keine professionelle Routine, und auch wenn die Überschriften der Anliegen sich gleichen mögen, es sind nie dieselben. Jeder Begleitprozess ist ein Unikum für alle Beteiligten und eröffnet damit Entwicklungschancen für alle. Viele Professionelle sehen darin ein großes Privileg, sich vielfältigen Lebensaspekten öffnen zu dürfen, die außerhalb ihres eigenen Erfahrungsspektrums liegen. Davon etwas im bejahenden »Zwischen« unterschiedlicher Lebenswelten kennenzulernen und sich mit dem auseinandersetzen zu dürfen, was Begleitete ihnen anvertrauen, lässt sich als Geschenk verstehen. Ein Geschenk voller kostbarer Einblicke in mir fremdes Lebenszugehöriges, das eigene Lebenserfahrungen aus anderer Perspektive beleuchtet, bisher wenig beachtete Lebenswirklichkeiten zeigt, mit Abgewehrtem konfrontiert, Auseinandersetzungsprozesse aktiviert, Konfliktkompetenz schult und Kommunikation auch ohne Konsens wertschätzt. Entdeckung des Eigenen im Fremden und des Fremden im Eigenen, Begegnung mit dem Anderen, dem Unvertrauten, dem Befremdlichen, Verstörenden, Ängstigenden.

Dieses Buch zielt darauf ab, persönliche Kräfte und Ressourcen deutlicher zu erkennen, eigene Möglichkeitsräume beherzt zu gestalten, über ein sensibles Zeitverständnis nachzudenken und mehr die Kostbarkeit der Gegenwart zu spüren. Es möchte anregen, Sehnsüchte und Impulse mutiger aufzugreifen und weniger persönlich Bedeutsames aufzuschieben.

Wie schon gesagt: Nicht zuletzt beinhaltet die Begleitung von Menschen in und durch existenzielle Krisen intensive Begegnungen mit Unwiederbringlichem, das Vergegenwärtigen von Vergänglichkeit und Neubeginn, von Lebensgesetzmäßigkeiten und individuellen Gestaltungsräumen. Dies erfordert große Achtsamkeit sich selbst gegenüber und den Lebensfragen, die sich persönlich daraus ableiten. Self-Care, selbstbestimmt leben bedeutet ein bewusstes Fortschreiten, das unser Menschsein wachsen lässt, angeregt im dialektischen Verständnis von Selbst- und Fremdverstehen. Es verlangt demütige Relativierung des eigenen Weltverständnisses im ernsten Versuch, Anschauungen und Erkenntnisse nachzuvollziehen, die sich außerhalb des eigenen Denkhorizonts situieren. Das umfasst das Suchen nach Gemeinsamkeit im Anderen und führt eventuell zu einer neuen Bewertung von Vielfalt, erkennend, dass unsere Gleichheit in der Diversität besteht.

Es ist tätiges Philosophieren, aufkommende Fragen und verwirrende Widersprüche aufzunehmen und anzuerkennen, dass Lebensfragen nicht per se allgemeingültig unabschließbar und nur individuell im jeweiligen Kontext zu lösen sind.

Für mich als Begleiterin ergibt sich daraus die Selbstverpflichtung: denkend zu handeln und handelnd zu denken und beides als untrennbar zu begreifen, will ich mannigfaltige konkrete und oft leidvolle Erfahrungen des Lebens durchdenken als Mittel zum Zweck besseren Lebens. In konkreten Fällen ist vom Denken dann stets ein zu verantwortendes Handeln gefordert.

Dieses Buch verbindet in jedem Kapitel theoretische Überlegungen mit thematisch zugeordneten Reflexionsfragen und Impulsen zu vertieften Betrachtungen und im Teil III zur ausführlicheren Bearbeitung mit poesietherapeutischen Übungen. All dies spricht in erster Linie Sie als Begleitende an und ist natürlich ebenso dafür geeignet, es in Ihrer Praxis einzusetzen.

Als ich mich selbst zu lieben begann

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin

und dass alles, was geschieht, richtig ist,

von da an konnte ich ruhig sein.

Heute weiß ich: Das nennt man VERTRAUEN.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid nur Warnungen für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben. Heute weiß ich: Das nennt man AUTHENTISCH SEIN.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich aufgehört, mich nach einem anderen Leben zu sehnen, und konnte sehen, dass alles um mich herum eine Aufforderung zum Wachsen war. Heute weiß ich, das nennt man REIFE.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich aufgehört, mich meiner freien Zeit zu berauben, und ich habe aufgehört, weiter grandiose Projekte für die Zukunft zu entwerfen. Heute mache ich nur das, was mir Spaß und Freude macht,

was ich liebe und was mein Herz zum Lachen bringt,

auf meine eigene Art und Weise und in meinem Tempo.

Heute weiß ich, das nennt man EHRLICHKEIT.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war,

von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen

und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von

mir selbst. Anfangs nannte ich das gesunden Egoismus,

aber heute weiß ich, das ist SELBSTLIEBE.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich aufgehört, immer recht haben zu wollen, so habe ich

mich weniger geirrt.

Heute habe ich erkannt: Das nennt man DEMUT.

Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich mich geweigert, weiter in der Vergangenheit zu leben

und mich um meine Zukunft zu sorgen.

Jetzt lebe ich nur noch in diesem Augenblick, wo ALLES stattfindet, so lebe ich heute jeden Tag und nenne es BEWUSSTHEIT.

Als ich mich zu lieben begann,

da erkannte ich, dass mich mein Denken

armselig und krank machen kann.

Als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte,

bekam der Verstand einen wichtigen Partner.

Diese Verbindung nenne ich heute HERZENSWEISHEIT.

Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen zu fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander

und es entstehen neue Welten.

Heute weiß ich: DAS IST DAS LEBEN!